Zitat von
Jean-Luc Picard
Ich glaube Du überinterpretierst hierbei kulturelle Analysen.
Ich hatte das nicht als alleinigen Faktor gemeint. Sorry, falls ich das zu verkürzt dargestellt habe.
Die Hass- und Gewaltspirale entsteht dadurch, dass sich beide Parteien seit zig Jahrzehnten in einem politischen, militärischen und sozialen Konflikt befinden. Diese Lebensrealitäten sind das Maßgebende für die Frage nach dem Raum für andere Moralvorstellungen oder andere Menschenbilder.
Das ist mir bekannt. Für mich ist das Bekannte aber nicht mehr interessant, da sich alles darum dreht, ohne dass es noch zu etwas führen würde.
Es sind nicht die kulturellen Gegebenheiten, die die Dynamik erzeugen, es ist der tatsächliche Interessenskonflikt, der mit allen verfügbaren Mitteln ausgetragen wird.
Ich meinte nicht, dass kulturelle Besonderheiten den Konflikt (oder die Dynamik dazu) erzeugen. Für mich stellte sich die Frage, inwiefern kulturelle Prägung (z.B. einen Hang, sich immer als alleiniges Opfer zu sehen, um den Hass gegen die andere Seite moralisch zu legitimieren und das an die jeweils nächste Generation weiterzugeben) ein Stellen der Vernunft über die Reaktion erschwert.
Es gibt bekanntlich einen Unterschied zwischen echt erleideten Traumata und solchen, die von Generation zu Generation weitererzählt werden und mit der heutigen Realität nichts mehr zu tun haben, außer dass sie Hass schüren. Sich auf solche Scheintraumata aus Vorväterzeit zu berufen, scheint dort eine beliebte Legitimation zu sein, z.B. wenn es darum geht, Palästinensern ihre Häuser wegzunehmen. Mit solchen Begründungen ließe sich vielleicht noch ein schöner Landbesitz finden, der meinen Vorvätern weggenommen wurde und der mir jetzt das Leben erleichtern würde, wenn ich ihn mir "zurückholen" könnte. Wenn es eine Familienerzählung gäbe, die ein Lied vom "schrecklichen Leid" und den "schrecklichen Verlusten" meiner Sippschaft sänge, dann würde ich mich womöglich auch trauen, mich als Opfer hinzustellen. Wie gut, dass ein solches Verhalten in unserer Kultur eher unerwünscht ist (wenngleich sich teilweise an Ostdeutschland "versündigt" wurde, ist aber nicht ganz dasselbe, aber ja, ganz frei davon sind wir leider doch nicht).
Wenn es in einer Kultur fest verankert ist bzw. als legitim gilt, mit Blut und Boden zu argumentieren, wie es bei den Konfliktparteien üblich ist, dann dürfte das einer Konfliktlösung stark im Weg stehen.
Es gibt leider auch Gründe dafür, dass die Hamas und die israelische Regierung nicht von ihren Völkern den Stinkefinger gezeigt bekommen. Und die dürften zu nicht zu vernachlässigenden Anteilen ziemlich abgründig sein. Das ist der Teil, der mich besonders interessiert.
Auf dieser Ebene ist es nicht anders als jeder andere Bürgerkrieg, bzw. Krieg. Die Realität des Krieges vernichtet jede Moral, das war und ist in allen Konflikten so, unabhängig von der Kultur.
Ich glaube nicht, dass sie jede Moral vernichtet, sondern dass es Unterschiede, die auch kulturelle Wurzeln haben, gibt.
Zum Beispiel weiß ich etwas davon, wie einige meiner christlich geprägten Vorfahren sich im zweiten Weltkrieg verhalten haben und was wegen ihrer teilweisen Verweigerung mit ihnen angestellt wurde, z.B. wurde mal eben ein Familienvater zur Strafe als Kanonenfutter an die Front geschickt, woraufhin er in Gefangenschaft geriet (wogegen die Mitläufer im Dorf, darunter auch der Verräter, bei ihren Familien bleiben durften). Dass er alles überlebte, war besonderes Glück.
Zumindest diese Seite meiner Vorfahren sah es gar nicht ein, Juden zu hassen oder die Nazis zu wählen, wodurch man ihr Steine in den Weg legte. Sie blieb standhaft, weil ihre kulturelle Prägung es ihr erlaubte, den gesunden Menschenverstand zu benutzen (der z.B. die Juden, die man kannte, als ganz normale Menschen zeigte und damit die Propaganda entlarvte) und ihr auferlegte, nicht die Hand über andere zu erheben.
Leider waren manche Dorfbewohner anders gestrickt, wie eben auch der Verräter. Aber das waren eben jene, die auch sonst die Zehn Gebote nicht ernst nahmen. Sie hatten mit der Gemeinschaft der Christen nichts zu tun, außer dass sie an allem teilnahmen, soweit es ihnen nützt, was den Kirchgang natürlich mit einschloss (man wollte sich nicht blamieren, typisches Mitläufertum).
Die Gesamtkultur hat den Krieg und andere Grausamkeiten leider nicht verhindern können, aber zu ihr gehörten auch immer Anteile, die sich dem entgegengestellt haben. Das waren nicht nur einzelne Sozialisierungen, sondern schon übergreifende Strömungen, z.B. solche, die sich christlichen oder aufklärerischen Werten verbunden fühlten. Man sollte, was das angeht, auch einfache Bauern nicht unterschätzen.
Heutzutage sind wir etwas weiter, indem wir uns nicht als Christen verstehen müssen, um ungefähr dieselben Werte zu teilen. Die Mitläufer unter den Dorfbewohnern wären unter heutigen Bedingungen etwas aufgeklärter und nicht ganz so mies, da sie moderner aufgewachsen wären. Es ist ein Teil unserer Kultur geworden, frei über Vieles nachzudenken und das, soweit gewünscht, auch öffentlich mitzuteilen. Wir brauchen weder den Heiligen Geist noch Gerede von Blut und Boden (z.B. uralte Besitzansprüche in die heutige Zeit tragend), um unser Handeln zu begründen. Wir sind so weit, dass solches Geschwafel auf uns "pathologisch" wirken würde. In den Kulturen der Konfliktparteien ist es aber noch ziemlich normal (was Lösungen behindert), in unserer hingegen unnormal (was helfen könnte). Diese alten Zöpfe müssen endlich abgeschnitten werden, z.B. um klar zu sehen, wo Verbrechen beginnen. Ohne die alten Zöpfe fehlt das süße Gift der falschen moralischen Rechtfertigungen.
Alte Zöpfe erkennt man an den Argumentationsweisen der Hausbesetzer und Landnehmer. Auf der anderen Seite gibt es das leider auch, z.B. eine Argumentation, dass das alles Land der Palästinenser gewesen sei und dass dieser Zustand wiederhergestellt gehöre. Beide Seiten dehnen ihren Opferbegriff weit über tatsächlich Erlebtes hinaus aus. Sie haben bereits mit der Muttermilch einen seltsamen Stellvertreter-Opferstatus vermittelt bekommen. Das muss aufhören. Es muss sich aus dem kulturellen Erbe ausschleichen. Ich denke schon, dass Aufklärung über solche Mechanismen helfen könnte und dass sich dadurch ein kultureller Wandel vollziehen könnte, und zwar auf beiden Seiten.
Die eigentliche Frage ist gar nicht, wann ein Friede im Sinne der Abwesenheit von gewaltsamen Kondflikt da sein würde, sondern wann und wie eine Form von gerechter Perspektive da sein kann. Es ist keine Frage von Sieg oder Niederlage der Hamas. Wenn Israel wollte, könnte es die Hamas jeder Zeit komplett und unwiderruflich auslöschen. Die Abwesenheit von gewaltsamen Auseinandersetzungen ist aber nicht dasselbe wie Frieden bzw. das Recht auf Selbstbestimmung der Völker.
Mir ist das schon bewusst. Ich meinte damit kein Friedensideal, sondern durchaus einen Zustand, wie du ihn beschreibst. Ich glaube schon, dass ein Leben unter der Ordnung Israels auch für Palästinenser ein besseres als das derzeitige wäre, auch dann, wenn vorerst an jeder Ecke ein Polizist mit Maschinengewehr stehen müsste. Die Radikalen könnten nicht mehr rekrutieren, es würde eine öffentliche Ordnung entstehen, und der Weg zu mehr Wohlstand wäre geebnet. Man kann den Israelis viel vorwerfen, aber nicht, dass sie untüchtig wären. In zwei Generationen wäre der Konflikt vergessen, es gäbe Universitäten, Industrie und Wohlstand.
Im Gegensatz zu manchen anderen bin ich der Auffassung, dass es derzeit noch gar nicht gut wäre, wenn die Palästinenser, bevor die Hamas beseitigt ist, so viel Selbstbestimmung bekämen, weil das bloß wieder in Gewalt ausarten würde. Die Hamas hat ein Werkzeug, das sie zu bedienen gelernt hat, das ist Propaganda und Gewalt. Mit anderen Werkzeugen kennt sie sich nicht so gut aus. Die Palästinenser müssten erst eigeninitiativ die Hamas trockenlegen, um mit der Verantwortung umgehen zu können.
Das aber bitte nicht als einen Wunsch meinerseits (falsch) verstehen. Mir wäre viel lieber, wenn alle friedlich an einen Tisch kämen und gewaltbehaftete Wege nicht beschritten werden müssten. Dann müsste die Hamas aber auch mal glaubhaft machen, dass sie Gewalt nicht duldet, solange es sich nicht um angemessene und zugleich zielführende Mittel der Verteidigung handelt, wobei nicht angemessen ist, dass man Raketen abfeuert, wenn nicht alle anderen Mittel ausgeschöpft sind. Andere Mittel könnten eben darin bestehen, sich internationale Hilfe zu suchen, was aber nur dann bei den richtigen Parteien Erfolg haben kann, wenn man sich von Gewalt distanziert. Es funktioniert bisher nicht, weil man sich nicht von Gewalt distanziert. Auch finanzielle Hilfen bzw. Aufbauhilfen sind immer wieder dadurch stark gefährdet, dass das Geld manchmal in falsche Kanäle gerät. Außerdem war von Anfang an klar, dass Israel nicht nachgeben würde.
Diese Vergeltungslogik (und dass sie nicht zielführend ist) sollte doch längst beiden Parteien ganz besonders bekannt sein, scheint sie aber nicht zu interessieren. Man ist ja ganz alleine Opfer und sowieso Gottes auserwähltes Volk, und schon immer war das der eigene Boden, seit Jahrhunderten, Jahrtausenden, jeder so, wie es ihm passt. Dabei waren diejenigen, die sich darauf berufen, zu der Zeit weder geboren noch in Planung. Endloses Aufrechnen eines längst vergangenen Krieges gehört auch dazu. Trotzdem kratzt man sich in den jeweils eigenen Reihen nicht daran, wenn sie den Schwachsinn öffentlich herausblöken, solange es den vordergründigen Interessen der eigenen Seite nützt. Das halte ich schon für ein Zeichen einer kulturellen Dimension. Solches schleicht sich nicht mal eben aus, sollte aber möglichst früh angegangen werden. Wir hatten eine Abrechnung mit dem Nationalsozialismus. Er ist gesellschaftlich geächtet, was mittlerweile als Bestandteil unserer Kultur gewertet werden kann. Ebenso könnte man mit dem Vergeltungsdenken (und dem Aufrechnen) der beiden Streitparteien abrechnen.
Das rückwärtsgewandte Denken ist toxisch und sollte neuem Denken, welches mehr von aktuellen Möglichkeiten und Chancen ausgeht und die Zukunft mitberücksichtigt, weichen. Es müsste für die betroffenen Sprachen ein Begriff, eine Phrase oder ein Satz dafür gefunden werden, der das dermaßen verdeutlicht, dass es viral geht.
Diese jahrzehntelange Totalverweigerung (kaum Lerneffekt), sich an die eigene Nase zu fassen, um erst mal Fehler bei sich selber (und auch bei der eigenen Regierung) abzubauen, finde ich schon sehr speziell (auf beiden Seiten). Die Israelis haben einigen Wohlstand, und dann sind sie wohl mit der Welt und sich zufrieden, solange dieser Wohlstand nicht zur Disposition steht? Auf die Straße geht man auch erst, wenn der eigene Wohlstand gefährdet ist? Darüber müsste man mal "mit Israel" (wen auch immer man zu sprechen bekommt) ein ernstes Wörtchen reden. Irgendwas scheint bei denen, so allgemein gesagt, im Großen und Ganzen nicht zu stimmen. Wenn einer besondere Macht zu friedensstiftenden Veränderungen hätte, dann doch wohl das israelische Volk, indem es, der Zukunft zugewandt, aufbegehrt und den Frieden einfordert.