Zitat von
Majonese
"Hast du dir eigentlich nochmal Gedanken wegen deinem Studium gemacht?", wollte ihr Vater nach einer Weile des Schweigens wissen, in denen sie ohne große Aufmerksamkeit die Werbespots verfolgten, die die Halbzeitpause ausfüllten.
Rebecca seufzte zur Antwort. Es war einige Tage her, dass sie ihm beim Abendessen von ihren Überlegungen erzählt hatte, ihr Studium in Wellington abzubrechen. Und sie hatte seitdem immer wieder darüber nachgedacht. Manchmal fühlte sie sich etwas zuversichtlicher und wollte es zumindest versuchen, doch gerade nach der Nummer im Restaurant heute erschien es ihr absurder denn je, als Lehrerin vor einer Schulklasse zu stehen und zu unterrichten. "Ich kann's mir immer noch nicht vorstellen", murmelte sie leise. "Die Sache ist halt die...", begann sie und spürte im selben Moment den nächsten Blitz durch ihren Kopf zucken. "Du kannst nicht sprechen! Sei still! Sei still! Buuiieeehh! Fuck off! Die Sache ist...ich weiß nicht, was ich sonst machen soll."
"Hmm..." Ihr Vater nahm zwei der Spielkarten, die noch immer auf dem Tisch lagen, und stellte sie vorsichtig aneinander gelehnt auf. "Aber glaubst du nicht, dass es noch andere Jobs gibt, die für dich geeignet wären?"
"Ja, ich könnte wahrscheinlich den ganzen Tag in einem Büro hocken und auf Bildschirme starren", meinte sie verdrossen und reckte ihren Kopf nach vorne. "Hey! Da würden die Tics vielleicht nicht ganz so schlimm sein."
"Aber da würdest du wahrscheinlich nach zwei Wochen durchdrehen."
"Ja, so in etwa", gab Rebecca mit einem schwachen Lächeln zu. Die Vorstellung, vierzig Stunden in der Woche an einem Schreibtisch zu setzen, war der Stoff, aus dem ihre Alpträume gemacht waren. Sie wollte viel lieber mit Menschen zusammenarbeiten, doch...wer wollte schon mit jemandem wie ihr zu tun haben? Schweigend beobachtete sie, wie ihr Vater weitere Spielkarten aneinanderstellte und anschließend eine horizontale Karte darauf legte. Dann setzte er mit ruhigen Händen eine zweite Ebene darüber.
Sie wusste, dass es gar nicht so einfach war, ein Kartenhaus zu bauen, sie hatte es als Kind schon häufiger versucht und war nicht selten schon an der ersten Etage gescheitert. Und gerade als sie dachte, ihr Vater stellte sich wirklich geschickt an, beugte sie sich unwillkürlich ruckartig nach vorne und pustete kräftig.
"Oh nein! Sorry!" Mit großen Augen betrachteten sowohl sie, als auch ihr Vater, wie die beiden Karten, die er gerade auf die mittlerweile dritte Ebene des Kartenhauses gestellt hatte umfielen, doch wie durch ein Wunder, reichte der Lufthauch nicht aus, um das ganze Konstrukt zum Einsturz zu bringen.
"Heh, wenn du mir das kaputt machst, baust du das wieder auf!", scherzte er gut gelaunt und tastete mit den Fingerspitzen ganz langsam nach den Karten, um sie wieder zu richten.
"Sehr witzig!" Rebecca rollte mit den Augen und warf ihren Kopf unkontrolliert hin und her.
Ihr Vater begann damit, sein Kartenhaus zu verbreitern, sein starrer Blick war voll und ganz auf sein Tun gerichtet. "So schwer ist das gar nicht", sagte er konzentriert und platzierte zwei weitere Karten. "Man muss einfach nur vorsichtig sein..."
Ihr entfuhr ein Schnauben. "Sag das meinen Tics", murrte sie, bevor sie in die Hände klatschte. "Die können sich nichts Schöneres vorstellen, als die Karten umzuhauen!"
"Ach, Quatsch...es ist wirklich simpel. Guck!" Und gerade als er großspurig eine weitere Karte oben drauf legte, kippte ein Teil seines Turms um. "Ohhh..." Hilflos musste er zuschauen, wie sein Werk Karte für Karte zusammenstürzte und er am Ende vor einem Haufen wild durcheinander liegender Spielkarten saß.
"Ha! Das war ich aber nicht!", rief Rebecca während sie mit dem Finger auf die traurigen Überreste des Kartenhauses zeigte und sich die Schadenfreude nicht verkneifen konnte.
"Aahhh...naja, dumm gelaufen..." Ihr Vater schüttelte mit einem Seufzen den Kopf, bevor er sich plötzlich nach vorne lehnte und den Kartenhaufen seiner Tochter hinschob. "So, jetzt bist du dran!"
"Was? Fuck off! Hey!" Sie schaute ihn verdutzt an. "Ach komm...!"
"Na los, probier's doch mal!"
"Wozu denn? Ich kann ja nicht mal eine Reihe aufstellen..."
"Nicht mit der Einstellung! Komm schon, die Karten beißen auch nicht."
Wieder rollte Rebecca mit den Augen, merkte aber, wie ihr innerer Widerstand nachließ. Sie kam nicht umhin, im Stillen zuzugeben, dass es ihr durchaus in den Fingern juckte, ihren Vater zu übertreffen. Gekonnt ignorierte sie die Stimme in ihrem Kopf, die ihr versuchte klarzumachen, dass es ihr niemals gelingen würde und sie ihre eigene Arbeit alle paar Sekunden mit einem Tic selbst zunichte machen würde.
"Pfff...na gut..." Sie rutschte wieder von ihrem Sessel herunter und hockte sich an den niedrigen Tisch. "Also, wie genau war das nochmal...?" Während sie sprach, nahm sie die ersten zwei Karten und versuchte sie vorsichtig aneinanderzulehnen. Doch plötzlich ließ sie die Karten einfach fallen und formte mit ihren Händen ein spitzes Dach über ihrem Kopf. Und auch beim zweiten Mal schaffte sie es nicht, die Karten aufzustellen, weil sie stattdessen ihre Hände auf dem Kopf zusammenlegen musste.
Erneut legte sie ihre Fingerkuppen über ihren Haaren zusammen und spürte die Ungeduld in sich aufsteigen. "Das gibt's doch nicht!" Beim vierten Mal kam sie nicht mal dazu, die Karten anzufassen, bevor ihre Arme wieder nach oben ruckten.
"Willst du nicht mal anfangen?", griente ihr Vater.
"Ich kann nicht!", rief sie verzweifelt und lachte über ihr ungewöhnliches Dilemma, bevor sie wieder ihre Hände über dem Kopf zusammenbrachte. "Ich will doch nur diese zwei blöden Karten...Ahhh!" Wieder und wieder wiederholte sie die sinnlose Geste und schaffte es einfach nicht, ihr eigentliches Ziel zu erreichen. Ihr Tic setzte ein, sobald sich in ihrem Kopf der Wille formte, die Karten zu greifen und langsam aufzustellen. Rebecca musste sie nicht einmal berühren, es reichte schon, sich die Handlung vorzustellen, um den Tic auszulösen. Trotzdem musste sie jedes Mal mehr lachen. Es war einfach zu absurd.
Schließlich versuchte sie ihr Tourette zu überlisten, indem sie blitzartig nach den Karten griff und sie ohne groß nachzudenken praktisch aufrecht auf den Tisch hämmerte und dann hastig die Hände wegzog, bevor sie ticcen konnte. Und erstaunlicherweise funktionierte es sogar. Die Karten blieben stehen. "Ohh! Ohh! Ich hab's geschafft!" Sie reckte triumphierend die Arme in die Luft.
Ihr Vater beugte sich nach vorne und beäugte unbeeindruckt ihr Werk. "Das ist aber nicht viel."
"Ha, wart's mal ab!" Es war, als stände sie unter Strom, nur dass es dieses Mal kein Tic war. Nein, es fühlte sich einfach...gut an. Spaßig. Aufregend. Und sie wollte mehr schaffen, als bloß zwei mickrige Karten. Vielleicht konnte sie es ja doch...
Also griff sie nach den nächsten Spielkarten und schaffte es zu ihrem eigenen Erstaunen problemlos eine zweite Stütze zu platzieren und schließlich eine horizontale Karte als Dach daraufzusetzen. Tatsächlich funktionierte es plötzlich überraschend gut und sie ticte immer erst danach. Kniff die Augen zusammen, warf ihren Kopf wild umher oder gab einige kehlige Laute von sich. Schließlich wagte sie sich an die zweite Etage. Sie spürte ein Kribbeln in ihrem Nacken, doch sie konzentrierte sich voll und ganz darauf, die Karten aufzustellen. Erneut erfolgreich und ohne Tic.
"HA! Schau dir das an!", rief sie aufgeregt und lehnte sich sicherheitshalber ein wenig zurück.
"Hey, nicht schlecht!", kommentierte ihr Vater mit einem anerkennenden Lächeln.
Rebecca betrachtete zufrieden ihr Werk. Ihr Kartenhaus war vielleicht nicht so groß wie das, welches ihr Vater zuvor gebaut hatte...aber es war trotzdem ein Kartenhaus. Es mochte albern wirken, wie sehr sie sich über sie etwas Banales freute, doch es war schon längst nicht mehr selbstverständlich, dass sie genug Fingerspitzengefühl aufbringen konnte, ein paar Spielkarten aufzutürmen. Vielleicht konnte sie ja sogar eine dritte Reihe...
"Spür' meinen Hass!", rief sie und holte mit ihrer Hand weit aus, bevor sie in ihr kleines Kartenhaus schlug und es augenblicklich zerlegte. "Och neeeeiin!", jammerte sie und lachte gequält.
"Das war ja fast schon gut!"
Als Antwort auf den Kommentar ihres Vaters zog Rebecca eine Schnute und griff wieder nach den Karten.
Angestachelt von ihrem anfänglichen Erfolg versuchte sie erneut ein einfaches Kartenhaus aus zwei Ebenen zu bauen, doch ihre Tics waren mittlerweile so aggressiv, dass sie kaum noch zwei Karten zusammenzustellen konnte. Ständig warf sie die Karten durch in die Luft, pustete sie umher oder formte mit ihren Händen wieder ein Dach über ihrem Kopf. Nach einer Weile schaffte sie es ein weiteres Mal, einen Turm zu bauen, doch in ihrer Freude über das Gelingen drang sofort ein Tic hervor und sie blies ihr Werk schon eine Sekunde später wieder um.
"Was war das denn?", lachte ihr Vater ungläubig.
"Aaahhh! Ich weiß nicht!", stöhnte Rebecca und verbarg ihr Gesicht mit ihren Händen. Mittlerweile war ihr ganz warm und das Gelächter trieb ihr die Tränen in die Augen, was es nicht einfacher machte, Millimeterarbeit mit den Spielkarten zu leisten. Sie nahm aus dem Augenwinkel wahr, wie ihr Vater kurz vom Sofa aufstand und sich entfernte, doch sie konzentrierte sich auf ihren nächsten Versuch, ein richtiges Kartenhaus zu bauen. Und er verlief genauso wie ihre ersten zwei.
Es war, als würde sie mit Sprengstoff hantieren. Hochexplosivem Sprengstoff, der jeden Moment ohne Vorwarnung hochgehen konnte. Manchmal schaffte sie es nicht einmal zwei Karten aufzustellen, manchmal baute sie ein kleines Kartenhaus, nur um es kurz darauf unbeabsichtigt selbst zu zerstören. Ihre Tics waren wie eine Zeitbombe, die jeden Moment hochgehen und ihre Arbeit zunichte machen konnte. Nur dass es hier ausnahmsweise um nichts ging, nichts auf dem Spiel stand.
Nachdem sie zum dritten Mal geschafft hatte, eine zweite Ebene auf den Turm draufzusetzen, lehnte sie sich kurz zurück und schüttelte ihre Hände ein wenig, um ihre Nerven zu beruhigen. Dabei bemerkte sie eine metallene weiße Kugel, die nahe dem Couchtisch rund einen Meter über dem Boden schwebte. Die Verkleidung an den Seiten des Balls war aufgeklappt und entblößte kleine Hoverpads, um die herum die Luft leicht zu wabern schien. Ein hellblaues kleines Auge war auf Rebecca gerichtet.
Wie eingefroren starrte sie der kleinen Kameradrohne entgegen, ihr aufgewühlter Verstand brauchte einen Moment, um zu erfassen, was vor sich ging. "Hey...ist das...filmst du das etwa?", empörte sie sich, halb ernst, halb im Spaß.
"Was denn?", fragte ihr Vater voller Unschuld und pflanzte sich wieder auf seinem Platz auf dem Sofa. Mit einem verschmitzten Grinsen griff er nach seiner Energydrink-Dose. "So kann deine Mutter wenigstens auch ein bisschen etwas von unserem Spaß abhaben."
Einen Moment starrte Rebecca die kleine blaue Linse der schwebenden Kameradrohne an. Es behagte ihr nicht sonderlich, dass eine Kamera sie bei ihrem Tun aufzeichnete, selbst wenn ihre Tics nicht wären. Doch sie fand es irgendwie süß, wie er an ihre Mutter gedacht hatte. "Hi Mom!", grinste sie in Richtung der Drohne.
Rebecca schaffte es kein einziges Mal, den Größenrekord ihres Kartenhauses zu brechen, sie zerriss und zerknickte unbeabsichtigt mehrere Karten und trotzdem hatte sie so viel Spaß wie seit Langem nicht mehr. Wie ein kleines Kind spielte sie mit den Karten, freute sich ausgelassen über jedes Gelingen und ärgerte sich über jedes Scheitern. Selbst ihre Tics konnten ihr das in diesem Moment nicht wegnehmen, im Gegenteil: sie waren genau der Grund, weshalb sie überhaupt so viel Freude daran hatte, ein blödes Kartenhaus zu bauen. Oder es zumindest zu versuchen. Denn ausnahmsweise konnte sie hier einfach ihre Tics erfahren, ohne groß Angst vor Konsequenzen haben zu müssen. Erst das Ende der Halbzeitpause brachte Rebecca schließlich dazu, die Karten liegen zu lassen und sich wieder auf ihren Sessel zu hocken. Immer noch mit einem Grinsen auf dem Gesicht.
Dass das Match zwischen Neuseeland und Irland im letzten Viertel eine unangenehme Wendung nahm und die Neuseeländer am Ende mit zwei Punkten unterlagen, war nur ein kleiner Dämpfer für ihre Laune. Und obwohl ihr Vater sich Mühe gab, das Ergebnis des Spiels mürrisch und frustriert zu kommentieren, spürte Rebecca sehr wohl, dass auch er sich über den gemeinsamen Abend gefreut hatte.