Zitat von
Majonese
Den Weg über den Strand zurück zum Haus von Rebeccas Eltern verbrachten die beiden Frauen im Stillen, wenn man von Rebeccas gelegentlichen Tics absah.
Sie war sehr froh, dass sie sich etwas wärmer angezogen hatte, denn der Wind blies ihnen nun besonders gnadenlos entgegen. Die Luft selbst war zwar eigentlich immer noch warm, doch der frische Zug ließ sie dennoch frösteln. Und nicht nur das Wetter war unterkühlt.
Alle beide gingen ihren eigenen Gedanken nach und die überschwängliche Freude über ihr Wiedersehen hatte einen Dämpfer erhalten. Am liebsten hätte Rebecca weiter mit ihrer besten Freundin herumgealbert und gelacht, doch ihr war sehr genau klar, wie schwierig es Amaia fallen musste, überhaupt die Kraft aufzubringen, um hier bei ihr zu sein, während ihre eigene Familie ein furchtbarer Scherbenhaufen war. Natürlich stand es nicht in Rebeccas Macht irgendetwas an der Familie ihrer Freundin zu ändern, so sehr sie es sich auch wünschte.
Irgendwie kam es Rebecca mit einem Mal ein wenig jämmerlich vor, wie sie sich über ihr Tourette beschwerte, wo Amaia es aus ihrer Sicht doch so viel schwerer hatte. Immerhin hatte Rebecca noch ihre Familie, die hinter ihr stand und sie unterstützte. Amaia hingegen musste sich zuhause mit einer gleichgültigen Mutter und einem widerlichen Stiefvater herumschlagen. Insgeheim bewunderte sie ihre Freundin dafür, dass sie noch immer an ihrer Familie festhielt und sie nicht hinter sich ließ. Aber ihr war auch klar, was es Amaia abverlangte.
Also gab sie ihr die Zeit, sich wieder ein wenig zu sammeln.
Nach einer Weile, sie waren fast wieder auf Höhe des Hauses von Rebeccas Eltern, blieb Amaia stehen und schaute wieder auf das Meer hinaus. "Ich bin echt froh, wieder hier zu sein", stellte sie mit dem Anflug eines Lächelns fest. "Trotz der ganzen Scheiße zuhause..."
Rebecca wollte eigentlich etwas sagen, doch sie schüttelte nur heftig mit dem Kopf. "Fuck off!"
"Es ist ansonsten einfach viel zu schön hier", fuhr Amaia fort.
"In Alaska habt ihr ja auch keine Strände wie hier."
"Das wird dich wahrscheinlich überraschen, aber in Alaska gibt es nicht nur Schnee und Eis. Es gibt auch ein paar echt hübsche Strände."
"Aber die sind ohne mich!", hielt Rebecca dagegen und ein Tic brachte sie dazu, den Rücken durchzudrücken und ihre Arme weit von sich zu strecken, als wolle sie für ein Urlaubsfoto posieren.
"Ja, stimmt", schnaubte Amaia belustigt. "Mit dir ist es natürlich noch viel schöner..." Schnell kehrte der Ernst in ihr Gesicht zurück und sie seufzte schwer.
"Mai?", begann Rebecca nach einer Weile behutsam. "Du weißt, dass du im Zweifel immer bei uns wohnen kannst!"
Ihre Freundin lachte kurz auf. "Dein Dad hat mir das auch schon angeboten. Und das ist echt toll von euch, wirklich! Aber ich will es mit Mom zumindest versuchen. Ich meine...sie ist meine Mom! Vielleicht hilft es ihr ja, wenn ich nicht den ganzen Tag bei ihr zuhause bin, ihr ein bisschen Platz lasse. Ich glaube, wir müssen uns erst einmal wieder ein bisschen aneinander gewöhnen. Immerhin haben wir uns ja seit fast drei Jahren nicht mehr gesehen und...jaah...mal schauen." Sie bemühte sich, ein Lächeln aufzusetzen, doch es war eher eine schiefen Grimasse. Wieder folgte ein beklommenes Schweigen.
"Hey, weißt du was, wir haben noch was vergessen", sagte Amaia plötzlich, kramte ein kleines Gerät aus ihrer Hosentasche hervor und streckte ihren Arm nach Rebecca aus. "Na komm, schon!"
Ein wenig kamerascheu druckste Rebecca zuerst herum, doch schließlich ließ sie zu, dass ihre Freundin ihren Arm um ihre Schulter legte und sie mit dem Rücken in Richtung Meer drehte. Die andere Hand, in der sie den kleinen Apparat hielt, streckte sie ein wenig von sich und drückte einen Knopf. Eine winzige Kameralinse öffnete sich und ein Holodisplay erschien, der das Bild der Kamera gut sichtbar vor ihnen projizierte. Rebecca rückte ein wenig näher und legte ihren Kopf auf Amaias Schulter.
"Einmal lächeln!", meinte Amaia und drückte auf den Auslöser. Ein leises Klicken ertönte, als das Bild aufgenommen wurde. "So...und jetzt noch eins, wo du ticst!"
"Hey!", empörte sich Rebecca, auch wenn sie wusste, dass Amaia nur scherzte. Und gerade als sie etwas erwidern wollte, ticte sie tatsächlich. Die Muskeln in ihren Füßen schienen sich zu verflüssigen und innerhalb einer Sekunde breitete sich der Reiz nach oben bis in ihren Rücken aus. Für einen kurzen Moment hatte Rebecca das Gefühl, ihr Torso lag auf zwei wackligen Stelzen aus Wachs, bis plötzlich ein Ruck durch ihre Beine schoss. Unwillkürlich verlagerte sie ihr Gewicht auf ihre Fußspitzen und riss ihr Becken nach vorne, sodass der Schwung sie vorwärts trug. Sofort kam sie aus dem Gleichgewicht und stürzte mit einem spitzen Aufschrei nach vorne in den Sand. Sie schaffte es gerade noch, ihre Hände nach vorne zu bringen, um nicht mit dem Gesicht voran aufzuschlagen.
"Becky!" Sofort eilte Amaia zu ihr, um sich zu vergewissern, dass ihre beste Freundin okay war.
Doch der Schrecken über den Tic hielt nur kurz an und wich schnell Heiterkeit. Kaum spürte sie ihre Beine wieder und konnte sich bewegen, rollte sich Rebecca auf den Rücken und ein lautes Lachen entfuhr ihr. "Och, Mann!", stöhnte sie, hob den Kopf leicht an und sah den ganzen Sand auf ihrer Kleidung. "Ich hasse diesen Tic!"
"Tic?", wiederholte Amaia, die Sorge wich nur langsam aus ihrem Gesicht. "Geht's dir gut?"
"Ja, alles in Ordnung", kicherte Rebecca, während sie sich aufrappelte und den Sand von ihren Sachen klopfte. Sie warf einen raschen Blick den Strand entlang, doch es schien niemand in ihrer unmittelbaren Nähe zu sein, der ihr Missgeschick wirklich gesehen haben konnte. Die Spaziergänger in der Ferne würden hoffentlich nicht allzu sehr in ihre Richtung geschaut haben. Möglichst unauffällig betastete sie die Rückseite ihrer Oberschenkel und ihren Hintern, wie um sich zu vergewissern, dass alles noch da war. Ihre Muskeln fühlten sich aber wieder an wie sie sollten.
"Was war das denn?", fragte ihre Freundin und schien nicht so recht zu wissen, ob sie auch lachen sollte oder nicht. "Deine Beine sahen aus, als ob sie ein Eigenleben hätten!"
"Ich sage ja, ist ein Tic...den hab ich zum Glück nur ganz selten..."
"Das ist irgendwie gruselig."
"Jaah..." Natürlich war es für sie selbst schon unangenehm genug, wenn sich ihr Körper verselbstständigte. Rebecca konnte sich aber nur schwer vorstellen, wie es für jemand anderen sein musste, sie so ticcen zu sehen. Gruselig war dafür wahrscheinlich noch das netteste Wort. "Wehe, du hast davon auch ein Foto gemacht!"
"Ach Mist, leider nicht..."
Die beiden erreichten ohne weitere Vorkommnisse das Haus von Rebeccas Eltern und die junge Frau öffnete die Haustür, indem sie das ID-Implantat in ihrer linken Hand an den Scanner unterhalb der Türklingel hielt. Sofort wehte ihnen ein äußerst appetitanregender Geruch entgegen und Rebecca stutzte. Eine böse Vorahnung erwachte in ihr, doch sie ließ sich nichts anmerken. "Du kannst deine Sandalen hierlassen", meinte sie, während sie ihre eigenen Schuhe auszog. "Dad wird stinkig, wenn wir Sand im Haus verteilen, er hat gestern erst geputzt."
Barfuß trat sie in den Flur, Amaia folgte ihr.
Ihre Vermutung bestätigte sich, als in die Küche spähte und ihren Vater sah, wie er vor zwei dampfenden Töpfen am Herd stand. "Dad!"
Er blickte kurz über die Schulter. "Oh hey, ihr beide kommt genau richtig, das Essen ist gleich soweit..."
"Dad, wir haben doch noch genug von gestern!", seufzte Rebecca entrüstet. Das war noch eine Untertreibung, er hatte am Vortag genug Burger, Kartoffelauflauf und Salat für die ganze Woche gemacht, da er nach eigener Aussage nicht genug Zeit haben würde, noch was zu kochen. "Fuck off! Hey! Warum machst du denn jetzt schon wieder was?"
"Ich dachte mir, wenn Amaia schonmal hier ist, können wir nochmal was Frisches essen", meinte er leichthin. "Die Reste werden schon nicht schlecht, keine Angst."
Rebecca rollte mit den Augen, sagte aber nichts weiter.
"Danke, das ist voll lieb von dir", freute sich Amaia über die Geste. Nicht nur, dass Rebeccas Vater extra nochmal für sie kochte, es war zudem auch kein Zufall, dass er Mango Curry mit Reis machte, es war immerhin eines von Amaias Lieblingsgerichten. "Kann ich dir irgendwie helfen?"
"Ja, ihr könntet schonmal den Tisch decken."
"Na klar!"
"Die Teller sind übrigens in dem Schrank über der Spüle..."
Amaia lachte auf. "Weiß ich doch, ich bin ja schon oft genug hier gewesen! Glaub mir, ich kenne euer Haus mittlerweile wahrscheinlich besser, als ihr selbst!"
Da sie mit ihren Tics ohnehin keine allzu große Hilfe war, hielt sich Rebecca ein wenig zurück und beobachtete, wie Amaia ihrem Vater dabei half, das Essen fertigzumachen und es rüber auf den Esstisch zu bringen. Sie unterhielten sich, scherzten, lachten. Von der Schwermütigkeit, die ihre Freundin noch vor einigen Minuten am Strand gezeigt hatte, war nun nichts mehr zu spüren und Rebecca stellte nicht zum ersten Mal fest, dass ihr diese Version von Amaia deutlich besser gefiel. Im Stillen nahm sie sich fest vor, ihrer Freundin so gut wie sie nur irgendwie konnte beizustehen. Und daran würden sie auch ihre Tics nicht hindern können, da war sich Rebecca absolut sicher.