Viel Gewese um nichts, so in Etwa ließ sich der unangekündigte Besuch des Decius Vhan im Allgemeinen beschreiben. Genauso gut traf es wohl die menschengemachte Phrase „Mehr Schein, als Sein“. Der knappen, aber präzisen Zusammenfassung des Manns in Schwarz zufolge war Vhan nur aufgetaucht, um irgendeine krude Art der Biografie bei Van Zan abzuladen, ohne diesen als seinen Ghostwriter gewinnen zu wollen. Der alte Turianer hatte seine Erzählung mit der unvermeidbaren Drohung und dem Wort, dass wohl schon jeder Held von einem Schurken zu hören bekommen hatte: Dreh um, ehe es zu spät ist. Ebenso wenig, wie die Helden auf den Leinwänden aller Spezies umgedreht waren, würden Seeva und ihr dreckiges Zweidrittel-Dutzend den Kampf aufgeben. Sie fragte sich, ob Vhan wirklich so dumm oder so von der eigenen Überlegenheit überzeugt war, dass er hoffte einen Spectre auf diese Art und Weise einzuschüchtern. Oder galt die Nachricht wirklich nur Van Zan? Wenn ja, wollte der alte Turianer jetzt jedem Mitglied aus ihrer Gruppe mitteilen, dass eine Aufgabe die bessere Option war?
Die einzige echte Überraschung war, dass Seeva bereits den Vorteil der Geheimhaltung verloren hatte, ohne es zu wissen. Während sie ihren Feind von Anfang an kannte, tappte Vhan zuerst im Dunkeln. Selbst bei dem Angriff auf ihre Basis war sie davon ausgegangen, dass man sie nicht als Spectre erkennen würde. Dass Vhan sie nun kannte und trotzdem nicht kürzertrat, im Gegenteil sogar in die Offensive ging, warf weitere Fragen über Vhans Hybris auf. Van Zan hatte berichtet, wie Vhan erzählte, wie er sein Vermögen bekanntermaßen aus den Platinminen seines Heimatplaneten gewann, dass er die Alleinherrschaft über das Unternehmen durch den erweiterten Selbstmord seine ehemaligen Freundes gewonnen hatte und dass er diesen Reichtum einsetzte, um die Ziele einer Organisation zu unterstützen, deren Existenz Vhan zwar angedeutet hatte, jedoch nicht in ihrer Gänze beschrieb. Die Asari vermutete, dass es sich beim von Van Zan berichteten „Das Ganze ist viel Größer“ um eine reine Schutzbehauptung handelte. Niemand, nicht einmal Decius Vhan, handelte Böse aus dem Selbstzweck des Bösen heraus. Seeva war sich sicher, dass der alte Turianer wirklich glaubte, was er gegenüber Van Zan geäußert hatte.
*
Die starre Maske, die das Gesicht von Tiberias Qatar war, war das erste was Van Zan sah, als er den Operationsraum durch die Zugangstür betrat. Seeva fragte sich, wie sich der Mann in Schwarz als halbseidener Krimineller wohl fühlen musste, als er mit seinem Alias „Pennyworth“ und der Bezeichnung „technischer Berater“ durch die Sicherheitsschleusen das Gelände des salarianischen Militärs auf der Citadel betreten hatte. Die Salarianer setzten auf Kameras, Sicherheitsmechs und ein paar wachhabende Scharfschützen. Van Zan konnte sich mit einer für ihn hinterlegten Karte Zutritt zu gewissen Bereichen innerhalb der militärischen Zone verschaffen. Ein Sicherheitsmech der LOKI-Art eskortierte, bessergesagt begleitete, Van Zan bis zu dem Raum, den Seeva für ihre Zwecke beanspruchte. Da Decius Vhan schon wusste, wer hinter ihm her war, brauchte Seeva auch keine geheimen Basen errichten. Zumindest nicht dauernd.
In dem ausgedehnten, fast leeren Raum, der mit seiner niedrigen Decke wie eine flache Schachtel wirkte, befanden sich neben der Spectre noch der Turianer Qatar, Odessa und nun Van Zan. Die Attentäterin saß etwas entfernt auf einem Stuhl, wippte nervös mit den überschlagenen Beinen und kaute im heftigen Rhythmus eines Sklavengaleerentrommlers auf einem Kaugummi. Sie nickte dem Mann in Schwarz kurz zu. Es war das erste Mal, dass sich die beiden seit dem verheißungsvollen Feuergefecht im Industrieviertel wiedersahen.
Seeva manövrierte mittels ihres Omnitools verschiedene Holo-Bildschirme so, dass die Wandfront beinahe komplett von den Bildschirmen verdeckt war. Eine zeigte ein Sternensystem, ein weiterer die Position eines Schiffes mitsamt diversen danebenstehenden technischen Daten. Antrieb, Größe, Stauraum, Besatzung. Noch ein Monitor zeigte die Position eines zweiten Schiffes, dessen Namen im Pendant der Leiste des ersten Schiffs aufflackerte. Agony. Der letzte der Bildschirme zeigte die Echtzeitübertragung von mehreren bunten Punkten in dem 2D-Umriss eines Schiffes.
„
Hi.“ Odessa hatte sich von ihrem Stuhl erhoben und war an Van Zan herangetreten. Sie stellte das hektische Kaugummikauen ein, verschränkte die Arme vor der Brust und warf den Kopf zurück.
„
Ich… wollte mich bedanken; bei Ihnen. Ich weiß, dass Sie es waren, der mich geholt hat. Sie wissen schon, nachdem ich… angeschossen wurde. Ohne Sie wäre ich vermutlich nicht hier, denke ich mal.“ Das Kauen wurde intensiver. „
Wollte ich nur sagen.“ Ein verschüchtertes Lächeln huschte kurz über ihr Gesicht; Unsicherheit lag darin.
„
Alles klar“, hallte Seevas Stimme durch den Raum und verlangte nach Aufmerksamkeit. Sie bedeutete dem Trio sich zu sammeln. Auf dem Bildschirm, der die Punkte zeigte, kam Bewegung auf.
„
Wir werden gleich Zeuge des Enterns des Frachters Auxilium durch den batarianischen Angriffskreuzer Agony. Dieser Frachter gehört zu der Versorgungslinie von Quod Puritas.“ Auf dem Bildschirm, der die Position des Frachters aufzeigte, tauchte am äußersten Rand die Signatur der
Agony auf. Die
Auxilium würde den Kreuzer und seine Absichten bald enttarnt haben, Colonel Andor aber war ein erfahrener Pirat. Er verringerte den Abstand zu dem sich linear bewegenden Frachter, indem er einen Halbkreis beschrieb und erst den Anschein eines zufälligen Treffens vermittelte. Die Turianer fielen auf die Finte rein und änderten ihren Kurs erst, als Andors Schiff sich ihnen auf direktem Kurs näherte. Seeva verfolgte, wie der Frachter nun selbst abdrehte und eine andere Richtung zu wählen begann. Sie wusste, dass es zu spät war. Schon eröffnete die
Agony das Feuer und zerstörte Teile des Triebswerks. Die Spectre öffnete durch das Umlegen eines Knopfes einen Funkkanal.
„
Colonel Andor, Sie haben den Angriff begonnen“, stellte Seeva nüchtern fest.
„
So ist es, Commander. Die Fliege ist ins Netz gegangen, sozusagen“, antwortete der Batarianer und ließ ein kehliges Lachen hören. Die Audioübertragung und das, was sich in 2D als Entermannschaft darstellte war das Beste, was die Batarianer auf diese Entfernung zustande bekommen hatten.
„
Machen Sie weiter wie besprochen, Colonel. Funkstille bis Erfolg.“
„
Aye!“, knirschte Andor voller Kriegslust und schloss den Kanal.
*
„In der Kammer haben sich ein paar letzte Widerstandler verschanzt, Colonel“, sagte der schwer gepanzerte Lieutenant der Entertruppe.
„
Dort?“, fragte Andor und zeigte auf einen verriegelten und verrammelten Schott am Ende des schmalen Korridors, der zum Laderaum führte. Ein gutes Dutzend Batarianer stand vor der Tür, die Läufe ihrer Waffen auf sie gerichtet.
„Aye, Sir“, antwortete der Lieutenant.
Die kleine Crew der
Auxilium hatte kaum eine Chance gegen die an Mannschaftsstärke und Feuerkraft überlegenen Batarianer, dennoch hatten sie wie Löwen gekämpft und jeden eigenen Toten doppelt vergolten. Es war ein verlustreicher Sieg für Colonel Andor, der im Stillen die Asari verfluchte und sich wünschte, er hätte einen einfachen Volus-Händler aufgemischt. Jetzt aber war er zu weit gegangen und wollte es nur noch zu Ende bringen und im besten Fall jemanden dafür leiden lassen.
„
Legt nicht alle um“, befahl er darum, während sich zwei Batarianer mit einem Hacking-Tool von Omegas Schwarzmarkt an dem Bedienpanel der Tür zu schaffen machten. Es begann mit einem regelmäßigen Piepsen. Die Abstände zwischen den Tönen wurden schnell geringer. Andor zog die Revenant von seinem Rücken. Zischend dekomprimierte sich das große Gewehr. Der Batarianer prüfte sein Magazin, dann seine Schilde. Das Hacking-Tool piepste nun beinahe sekündlich.
„
Macht euch bereit, Jungs…“, rief der Colonel. Zustimmendes Knurren kam von seinen Piraten. Dann richteten sie wie ein Mann die Waffen auf das Loch, dass sich dort zischend auftat.