Band 2
KAPITEL 1
I Die Nordmar
Im Jahre des Addo 389, Am Vormittag des 24. September
Erste Wächterin Duren
Ihre Reise war beschwerlich und ihre Stimmung bitter, doch sie kämpften sich voran. Schneidende Winde, Schneestürme, dichter Wolkennebel und Pfade, die durch Einstürze und Steinschläge blockiert waren; all dies hatte ihr Vorankommen gehindert. Doch die Bergpässe des Silbergebirges waren keine unbekannte Herausforderung für die Nordmar, also bissen sie sich durch und hielten ihren steten Wanderschritt aufrecht. An diesem Tag war es klar, die Sicht unendlich weit, aber auch kalt und windig. Die Männer und Frauen trugen nur leichtes Gepäck, auch wenn dies für einen Menschen der Königreiche wohl kaum so aussehen würde: Ihre Erscheinung war breit und massig, denn sie trugen die buschigen Felle von Schneewölfen, dicke Wanderstiefel und manche hatten ihre Kapuzen tief ins Gesicht gezogen, andere trugen hohe Kragen aus dichtem Pelz. Der Abstand zwischen den Wanderern blieb stets gleich, immer drei Schritte hinter dem nächsten, fast wie in einem Tanz. Allem voran ging eine hochgewachsene Frau. Sie hatte lange blonde Haare, starke Wangenknochen und stahlblaue Augen. Der Wind spielte mit den hölzernen Perlen und dünnen Zöpfen in ihrem Haar. Ihr Name war Duren, erste Seherin der Stahlkrähen. Ihre Haut war übersät mit Tätowierungen, geschwungenen Mustern, die die Ströme des Windes darstellten und rituellen Symbolen, die ihre vielen durchlebten Zeremonien beschrieben. Ihre wachen Augen suchten ohne Pause, ruhten nie, sondern huschten zwischen dem felsigen Pfad und den Hängen der umliegenden Bergflanken hin und her. Sie hatte eine exzellente Kontrolle über ihren Geist und ihre Konzentration und derzeit stand sie unter höchster Spannung. Die Verantwortung um die Führung auf den Bergpfaden war zu groß, um sich Müßiggang zu leisten. Sie hob ihre Hand, wurde langsamer und der Zug kam zum Stehen. In der Ferne, weit, weit entfernt und an einer Bergflanke eines anderen Massivs und eines anderen Tals, erspähte sie etwas. Garaz, ihr Seilmann, stand hinter ihr und reckte neugierig den Kopf.
„Duren, was siehst du?“, fragte er.
Wolkenfetzen erschwerten die Sicht, doch dort war eine gräuliche Gestalt erkennbar, nicht größer als ein kleiner grauer Fleck, welcher sich langsam über die Felsen bewegte. Duren schloss die Augen, formte seine Hände zu einem Trichter und sang in den Wind. Sie begann mit einem tiefen Ton, stieg hinauf und endete mit drei spitzen, hohen Ausrufen. Der Schall reiste weit, warf sich von den Hängen zurück, reiste hinab und wieder hinauf aus den Tälern. Die Gestalt in der Ferne lief weiter, Durens Blick blieb konzentriert, doch plötzlich blieb sie abrupt stehen. Der Hall ihrer Stimme musste ihn erreicht haben. Die Figur hob die Arme zum Mund. Die große Nordmar lächelte und drehte sich zu ihrer Gruppe. Sie hob einen Zeigefinger. Sie lauschten. Leise und verweht durch die scharfen Winde erreichte sie das Echo einer Stimme, einer Stimme aus einer Kehle eines Nordmar. Die Männer fielen in Jubelschreie ein, riefen ihre Signale gegen die Hänge und klopften sich gegenseitig auf die Schultern. Angespornt und erheitert setzten sie ihren Weg fort. Duren musste ihre Männer zügeln eine sichere Geschwindigkeit zu halten, doch bald besserte sich der Pfad: Er wurde breiter und führte sie hinab in ein ausladendes Tal, wo zähe Tannen und Birken den widrigen Bedingungen trotzten. Sie folgten dem Lauf eines Gebirgsbaches bis in die Sohle. Wo das Tal sich gabelte und der Bach in die steilere Richtung abzweigte, legten sie eine Rast ein. Es war dort, dass der Mann, den sie von fern gehört hatten, zu ihnen stieß. Duren erkannte ihn sofort. Es war Heffas, Seilmann von Skerta. Freudig begrüßten sie sich und umarmten einander lange. Dass sie sich hier trafen, versprach ein baldiges Ende ihrer langen Reise.
„Es ist schön dich zu sehen, Duren!“, sagte Heffas aus voller Kehle, die Arme auf den Schultern seines Gegenübers. „Ihr seid wohlauf. Wir hatten uns Sorgen gemacht.“, sagte er.
Duren erwiderte sein breites Lächeln.
„Ihr macht euch Sorgen? Glaubst du ich würde meine Schäfchen in die Irre führen?“, scherzte sie und lachte beherzt.
Heffas Miene jedoch wurde ernst, was Duren verstummen ließ. Heffas räusperte sich.
„Ihr seid zu spät.“, sagte er. „Viel zu spät. Das Treffen war vor fünf Tagen.“
Was?“, platzte es aus Duren heraus.
Die Nordmar schlug die Hände über dem Kopf zusammen und blickte zu ihren Männern die gespannt dem Gespräch folgten.
„Wir sind rechtzeitig aufgebrochen!“, sagte sie. „Wir wandern jeden Tag, wir rasten kurz, wir laufen schnell!“
Sie war eine außerordentlich Bergführerin und nicht ohne Grund hatte man sie zur ersten Wächterin gekürt. Für gewöhnlich hätte sie sich ihrer Fähigkeit der Meditation bedienen können, den Windstimmen lauschen und ihre Umgebung im Geiste erkunden können. Doch aus Gründen, die jeder Nordmar kannte, ging dies derzeit nicht. Sie wechselte einen Blick mit Garaz, doch auch ihr Seilmann schüttelte ratlos den Kopf.
„Wie weit ist es noch?“, fragte die hochgewachsene Wächterin.
Heffas sah die Männer an. Sie sahen müde aus, doch Nordmar wussten, dass eine Reise zuweilen ein Kampf gegen Schmerz und Willen sein konnte. Der Seilmann legte die Stirn in Falten und wiegte den Kopf hin und her.
„Morgen, zum Einbruch der Nacht, dann könnten wir auf den Kessel blicken.“, sagte er.
Duren schenkte ihm einen kurzen Blick, warf ihre langen Haare zurück und drehte sich mit harten Augen zu ihren Männern.
„Wir gehen weiter!“, sagte sie. „Nehmt euer Mahl beim Wandern ein.“
Der Unmut stand ihnen ins Gesicht geschrieben, doch sie packten ihre Sachen. Duren nahm Heffas beiseite. Sie sprach mit gedämpfter Stimme, ihr Gesicht war voller Sorge.
„Die Winde haben wieder mit der Zeit gespielt.“, sagte sie leise. „Wisst ihr, wie es mit den Winden im Kessel ist?“
Heffas schüttelte ratlos den Kopf. Sie wechselten einen vielsagenden Blick, sagten aber weiter nichts und Duren wandte sich zu ihren Männern.
Auf!“, rief die erste Wächterin. „Die Zeit drängt!“


II Den Blick gen Osten
Im Jahre des Addo 389, Am Vormittag des 24. September
Skerta & Hermann
Skerta war ein stiller Mann in dieser Zeit. Man fand ihn häufig auf dem halb eingestürzten Turm. Er saß hoch oben auf den steinernen Trümmern und blickte ihn die Ferne gen Osten. Jenseits von Lindeneck, des dichten Waldes unter der Ruine, erhoben sich die grauen Gipfel des Silbergebirges, die Heimat seines Clans. Schon zu lange hatte er gewartet. Die Tage strichen dahin, ohne Ereignis, ohne Aufgabe und Ziel. Er war als Nordmar allein unter den Soldaten und hatte kein Interesse daran sich ans Feuer zu setzen und unter sie zu mischen. Ihre raue, ungezügelte Art, ihre derben Witze und Respektlosigkeiten gegenüber ihren Führern war ihm zuwider. Zum Teil verstand er sie, denn auch für ihn bedeutete dieses nutzlose Warten eine tiefe Rastlosigkeit und Frustration, doch hätten solche Krieger unter den Nordmar ein solches Benehmen an den Tag gelegt, so hätte man sie längst gemaßregelt oder gar auf Pilgerschaft zu fernen Wegesteinen fortgeschickt. Dort würden sie Demut finden. Die Soldaten warfen ihm misstrauische Blicke zu, zuweilen auch enttäuschte. Man hatte sich einen Wandel erhofft durch die Nordmar, die Hoffnung, dass endlich etwas Bewegung in das starre und dröge Lagerleben kam. Doch die Nordmar ließen auf sich warten.
Eines Tages kam Hermann zu dem Turm.
„Du hast meinen Platz gestohlen.“, sagte der Hauptmann.
Skerta erhob sich eilig. „Verzeiht mir, ich wusste nicht-“
Hermann winkte ab. „Diese alten Steine hier gehören niemandem. Das ist nur eine Floskel unter uns Talbewohnern.“
Er stieg die letzten Stufen hinauf, bis er über die bröckelnde Turmmauer blicken konnte und genoss den Wind und die Aussicht.
„Ich komme immer hier her, wenn die Langeweile mich quält.“, sagte der Hauptmann, lehnte sich an die Wand und bedeutete Skerta, dass dieser sich wieder setzen könne. „Was bringt dich hier her?“
„Wisst ihr, was Meditation ist?“, antwortete der Nordmar.
Hermann nickte langsam. „Ich habe davon gehört.“
„Unsere Wächter tun es oft. Die Windleser sogar für Stunden am Stück. Sie sagen es klärt den Geist, macht ihn rein und lässt einen das Wesentliche und die Wahrheit sehen.“
Der hagere Nordmar blickte in die weite Ferne. Hermann wusste ein wenig über die Windleser. Nur, dass es die Seher der Nordmar waren, quasi die Priester ihrer Religion. Sie bildeten immer ein Dreigespann, so wie auch die Führer des Lagers, und boten allen Menschen des Clans ihre Einsicht und ihren Rat. Mindestens eine Frau musste stets und den Windlesern residieren, oft waren es mehr.
„Deshalb seid ihr hier?“, sagte Hermann.
„Nein. Ich beherrsche die Technik nicht.“
Er nahm einen kleinen Stein und warf ihm mit Schwung in den Abgrund. Es dauerte einen Moment und sie hörten den Aufprall.
„Ich bin nur Jäger.“, sagte er mit glasigem Blick. „Viele Menschen meines Clans sind es, doch irgendwie hat man mich zu ihrem Ersten gewählt. Es ist meine Unruhe. Andere bezeichnen es ehrfürchtig als meine niemals wankende Wachsamkeit. Doch es ist Unruhe.“ Er warf einen zweiten Stein in den Abgrund. „Ist gibt Zeiten, in denen es mir schon fast unangenehm ist, die Augen zu schließen. Ich bin immer auf der Suche.“
Ein kurzes Schweigen entstand.
„Und das steht der Meditation im Wege?“, fragte der Hauptmann.
Skerta nickte.
„Ich habe nie den Sinn darin gesehen.“, sagte Hermann dann. „Stunde um Stunde zu sitzen und nichts zu tun.“
Skerta lachte leise. „Ihr wärt aber dazu in der Lage.“ Er schenkte Hermann einen wohlwollenden Blick. „Ich habe gesehen, wie ihr mit den Männern redet. Ihr steht zwischen dem Kommandanten und seinen Soldaten. Ihr habt Geduld und Ruhe im Geist.“
Hermann blieb skeptisch. „Und was sollte ich davon haben, vom nichts tun?“
„Weisheit und ein Auge für das Wesentliche. Etwas Orientierung.“ Skerta zuckte mit den Schultern. „So sagen es unsere Windleser.“
Sie schwiegen eine Weile. Der Wind war kühl, kühler als gewöhnlich und man sah die Zeichen des nahenden Herbstes unterm grauen, diesigen Himmel. Einzelne Bäume trugen schon gelbgrüne Blätter.
„Ihr habt meine Frage nicht beantwortet.“, sagte Hermann schließlich. „Warum seid ihr hier?“
Skerta seufzte. „Ich bin auf der Suche. Dort drüben...“, er hob den Arm und deutete auf die Felsen jenseits des Waldes, „...ist der Pass. Dort werden meine Brüder erscheinen.“
„Wenn sie jemals erscheinen.“
„Sie werden“
Hermann seufzte und begann den Abstieg.
„Wohin geht ihr?“, fragte Skerta.
„Wie ihr sagtet, ich muss mich um meinen Kommandanten und seine Männer kümmern.“
Skerta schüttelte den Kopf. „Ich muss schon sagen, ich habe nie den Sinn der Dienerschaft in einer Armee gesehen. Ihr Flachländer dient einem König, den ihr noch nicht einmal zu Gesicht bekommen habt.“
„Glaubt mir...“, sagte der Hauptmann, „...ich habe auch meine Zweifel.“
Damit stieg er die Stufen hinab. Der Wachtmeister Millen erwartete ihm am Fuß des Turms. Er hatte die Arme verschränkt und sah Hermann mit suchendem Blick an.
„Man erwartet dich.“, sagte er. „Im Haus des Kommandanten.“
„Was gibt es?“
„Ein Kaufmann ist hier. Sein Name ist Quentin und er fragt nach dir.“


III Sichere Mauern
Im Jahre des Addo 389, Am Nachmittag des 24. September
Ferdinand
Ferdinand saß allein auf dem Balkon im Zollhaus von Eichenbruck. Er las ein Buch mit dem Titel ‚Die Kunst der Kaufmannszunft‘. Es war eine Ansammlung von Verhandlungsmethoden, die vielmehr an Erpressung denn an Kunst oder Zunft erinnerten. Der Autor hatte zumindest den Anstand gehabt eine halbherzige Rechtfertigung seiner Praktiken zu formulieren und deutete somit an, dass er im Wissen über die schmierige Art und Weise seines Geschäftes war, doch dies hinderte ihn nicht an seiner üppigen Selbstverherrlichung. Gelangweilt legte Ferdinand das Buch beiseite. Es mangelte ihm an einer sinnvollen Beschäftigung. Seine Ausgangssperre war zu seiner Sicherheit, hatte Quentin ihm gesagt und sein Meister hatte damit leider Recht. Ferdinand wusste das, aber glücklich machte es ihn dennoch nicht. Quentin hatte davon geredet umzuziehen, bevor er aufgebrochen war, fort von Eichenbruck. Als Ferdinand noch in derselben Nacht Bericht erstattet hatte, ihm und Sadiye, waren die beiden ungewöhnlich wortkarg gewesen. Der Kaufmann und die Severim waren stumm gewesen, als Ferdinand die Namen genannt, die Befestigung beschrieben und die Mannstärke geschätzt hatte. Leto und Yorrick, an der Spitze von gut 200 Mann, die meisten Kämpfer, tief in ihrem Wald, hinter den Mauern eines hölzernen Forts, das es vor wenigen Jahren noch nicht gegeben hatte. Es ärgerte ihn in solchen Momenten wie ein Kind behandelt zu werden, also ob er von der Wahrheit beschützt werden müsste, doch er vertraute auf Quentin ihn zur rechten Zeit einzuweihen. Die Lage war zu akut, um sich jetzt kindischem Trotz hinzugeben. Eines war klar: Die Gefahr war realer und größer, als der geheime Zirkel vermutet hatte. Ferdinand raufte sich die blonden Haare. Mit den Gedanken bei Erik und seiner aussichtslosen Situation starrte er ins Leere. Er selbst hingegen genoss die fürsorgliche Aufmerksamkeit von Cassi, die neben dem Wachmann die einzige Angestellte von Quentin war. Sonst blieb die junge Hausfrau für sich, doch nun bestand sie darauf jeden Tag nach Ferdinands Wünschen zu kochen. Er fühlte sich ein wenig schuldig, hatte er selbst doch kaum unter der Gefangenschaft gelitten. Immer wieder dachte er an Erik und seine langweilige Lektüre konnte auch nicht Abhilfe schaffen. Hoffentlich las der junge Kräuterkundige spannendere Bücher.
Quentin kam zu später Stunde wieder. Ferdinand hörte seine Schritte von dem Steg unterhalb des Balkons, eilte ihm entgegen und traf ihn im Tunnel der Zollburg.
„Wir ziehen nach Neigenbau.“, waren Quentins erste Worte. Schon wollte er an Ferdinand vorbeieilen.
„Neigenbau? Werde ich meine Schmiedelehre fortsetzen?“
Quentin stockte, schwieg einen Augenblick und wandte sich dann seinem Schüler zu. Er schüttelte den Kopf.
„Wir ziehen zu Kersim, Sadiyes Onkel.“, sagte er.
Der Kaufmann strich sich nachdenklich durch seinen eleganten Bart, sah durch den Gang zum Innenhof und betrachtete die wunderschön verzierten Häuser zu beiden Seiten des Tores. Sie waren die einzigen Überreste, das alleinige Zeugnis des vergangenen Lebens von Eichenbruck. Bald würden sie gänzlich verlassen sein.
„Jeder Tag hier ist ein Risiko.“, murmelte er und riss sich mit einem Kopfschütteln von dem Anblick los. „Sag Cassi Bescheid, sie soll Vorbereitungen treffen. Und dem Wachmann. Wir gehen. In drei Tagen, nicht mehr und nicht weniger!“
„Quentin!“
Sein Meister war bereits im Gehen.
„Quentin! Warum müssen wir plötzlich hier weg? Keiner weiß, dass ich hier bin!“
Die Sorge stand Quentin ins Gesicht geschrieben. So sah Ferdinand den Kaufmann nur selten.
„Sie haben Boris.“, sagte der Kaufmann. „Und sie verhören ihn sicherlich jeden Tag.“
Jetzt nahm Quentin sich doch die Zeit, kam zu Ferdinand herüber und legte die Hände auf seine Schultern.
„Sie suchen dich, Ferdinand.“, sprach er in eindringlichem Ton. „Die Banditen haben viele Späher und sie alle wissen von dem blonden Jungen, der ihnen durch die Finger gegangen ist. Eichenbruck ist nicht mehr sicher, verstehst du?“
„Vielleicht können uns die Soldaten helfen!“, sagte Ferdinand, doch sein Meister schüttelte den Kopf.
„Ich habe mit dem Kommandanten geredet. Er meint, die Zukunft sei ungewiss. Hast du schon gehört, was er getan hat?“
Ferdinand schüttelte den Kopf. Quentin gab ihm ein erschlagenes Lächeln.
„Es kommen unruhige Zeiten auf uns zu, mein Junge.“
Er legte seine Hand auf Ferdinands Kopf und verwuschelte seine Haare, wie es der Kaufmann schon lange nicht mehr getan hatte, seit Ferdinand kein kleines Kind mehr war.
„Lass dir vom Hauptmann berichten, was passiert ist.“, sagte Quentin. „Vielleicht kannst du die Soldaten überreden uns zu helfen?“
Quentin schenkte ihm ein aufmunterndes Augenzwinkern und eilte fort. Für einen Moment stand Ferdinand allein in dem Tunnel, bis er wieder Schritte auf den Holzplanken des Steges über den Fluss hörte. Diesmal Schritte von mehr als einer Person. Als er zum Tunneleingang eilte, erblickte er mit großen Augen die Neuankömmlinge. Es waren Soldaten, sechs an der Zahl, gut bewaffnet und mit den roten Markierungen der Armee auf ihren Lederrüstungen zur Schau tragend. Der Soldat an ihrer Spitze bemerkte den blonden Jungen und kletterte zu ihm empor.
„Du bist Ferdinand?“, fragte er.
Ferdinand nickte.
„Mein Name ist Hermann, Hauptmann der Hundertschaft im Talkessel. Du wirst mir alles erzählen, was du über die Banditen weißt.“


IV Schwarzer Alltag
Im Jahre des Addo 389, Am Vormittag des 25. September
Erik
Eriks Tage verschleppten sich in dröger Mühsal. Er hatte nie angefangen sie zu zählen, doch er war sich sicher, er hätte sich mittlerweile verzählt, so groß war seine Gleichgültigkeit, mit der er sich vor der Grausamkeit seiner Umstände schützte. Er hatte es einmal probiert einfach liegen zu bleiben, doch die Bestrafung ließ nicht lange auf sich warten. Es war das erste Mal gewesen, doch leider nicht das letzte, dass der Wachmann ihn mit seiner Peitsche geschändet hatte. Nun musste er sich zwingen nicht die juckenden roten Striemen auf seinem Rücken zu kratzen. Seit der Flucht von Ferdinand musste er die Arbeit allein verrichten. Die Krücke, die Leto ihm versprochen hatte, sollte er nicht erhalten und so musste er von Wand zu Wand humpeln. Die Wache im Labor hatte deutlich gemacht, dass sie keinen Finger für Erik rühren würde, im Gegenteil, sie strafte ihn mit Schlägen, wenn er sich eine Pause gönnen wollte. Auch das Lesen des Alchemiebuchs blieb ihm verwehrt. Der Mann suchte gerade nur nach einer Ausrede seine Peitsche zu entrollen, sein Blick war durchdringend, sein Kiefer vorgeschoben und deformiert und seine Worte stets voller Schadenfreude. Sein Name war Greg. Erik blieb nur der kleine Erfolg, es geschafft zu haben, ohne Hilfe und Anleitung Seife herzustellen. Doch dieser Moment hielt nicht lange vor. Letos Bedarf an Seife war groß und Erik arbeitete oft bis spät in die Nacht hinein und nicht einmal das war dem Banditenführer zu Genüge: Aus den Überschüssen legte man einen Vorrat an. Sein Tageswerk war mühsam, dreckig und brachte ihm ein ums andere Mal schmerzhafte Verbrennungen ein. Das Fett musste abgekocht werden, das Bergsalz aufgelöst und beides zusammen lange und gründlich verrührt werden. Eines Tages brachte Frank ihm einen Gehstock. Er schien die Wache zu meiden und war spät abends erschienen. Wenn er einmal kam, was immer seltener wurde, dann nur, wenn Erik für einen Moment allein im Labor war. Vielleicht war es gefährlich einen Bruder im Lager zu haben, vielleicht hatte Frank Feinde, die nicht seine werden sollten oder vielleicht fand Frank auch einfach bessere Beschäftigungen als die Pflege eines Krüppels. Der Stock war leider nur ein kleiner Trost: Die Gehhilfe bedeutete vielmehr, dass er nun einen Vorwand weniger hatte geringe Leistungen zu erbringen. Er wusste, dass es eine gut gemeinte Geste seines Bruders gewesen war, doch er tat sich schwer damit wahre Dankbarkeit zu empfinden. Tief in seinem Innersten wusste er, dass sein Verbleiben hier sicherer war, als im Kessel von Banditen gejagt zu werden. Er wusste, dass Frank sich um ihn sorgte, doch dieses Wissen wurde unter tiefer Verbitterung, stolzen Trotz und brodelnder Wut begraben. Welchen Wert hatte Sicherheit noch, wenn sie für den Preis von Zwang, Schmerz und Peinigung erkauft wurde? Tag um Tag, Stunde um Stunde, nur er allein.
Der Stumpf an seinem Fuß verheilte langsam. Jeden Abend prüfte er den Verband, reinigte die Wunde von Eiter und Wundsaft. Der Fleischer hatte seine Haut über den abgetrennten Knochen gezogen, die Wunde mit groben Fäden zugenäht, jedoch war darunter totes Gewebe, das der Körper nun abstieß. Jeden Abend wiederholte er die schmerzhafte Prozedur und trug danach eine Salbe aus Silberblatt und Steinwurz auf. Theo, der Gehilfe des Lagerkochs, kümmerte sich um die Kräuter. Dafür hatte Frank gesorgt. Er war nun Jägern, hatte er gesagt, sorgte für stets genügend Tierfette, um Letos eigentümliches Bedürfnis nach Reinlichkeit zu befriedigen. Die Hausfrau schuftete im gleichen Takt wie Erik: Je mehr Seife er herstellte, desto mehr musste sie schrubben. Dennoch hatte sie immer ein Lächeln für ihn, wusch seine Kleider und Bettlaken und bereitete ihm sein Essen.
Was sie wohl durchmachen musste, mit Leto zum Mann?, dachte Erik.
Er versuchte ihr mit Freundlichkeit zu begegnen, doch es fiel ihm schwer. Er schlief nicht gut. Jeden Abend, wenn die Wache ihn auf sein Zimmer entließ und die Tür abschloss, begannen die Kämpfe in der Arena. Das Fauchen der Snapper, die Todesschreie und das Grölen der Zuschauer drang jede Nacht durch sein Fenster. Die Banditen hatten unzählige Gefangene gemacht und verschwendeten nun ihre Seelen für ihren Spaß. Er verabscheute diese Menschen, die sich am Blut ihrer Opfer ergötzten. Erik hatte sich einmal mit Schrecken dabei ertappt, wie kurz vorm Einschlafen seine Gedanken wanderten und er mit perverser Neugier versuchte die Schreie der Kämpfenden zu verstehen. War es Wut und Zorn oder Angst und Furcht oder Verzweiflung oder doch nur reine, ohnmächtige Panik? Dann hatte er einen Blick aus dem Fenster gewagt: Ein bärtiger Mann mit Tränen im Gesicht stand über dem Leichnam eines anderen Mannes. Die Bilder dieser Qual malten er sich jede Nacht vor seinem inneren Auge aus. Es war nicht seine Welt und er weigerte sich, sie zu seiner werden zu lassen. Wenn Erik schlief, dann schlief er nicht gut.

Unten, im Dunkel einer modrigen Zelle, saß Boris, dicht gedrängt neben seinen Männern. Seine Arme lagen auf den Knien, seine Hände waren gefaltet und er starrte auf die Tür. Der Schmied wartete auf seinen Zug. Er musste jede Nacht hinaus, jede Nacht, bis er redete. Leto hatte es ihm sehr deutlich gemacht: Er trat ihm bei, verschrieb sich seiner Sache und ließ seine alten Freunde hinter sich. Dies oder er müsste kämpfen. Doch Boris Lippen waren versiegelt. Also ging er jede Nacht hinaus, um zu töten, oder endlich getötet zu werden.


V Sybilles Angebot
Im Jahre des Addo 389, Am Morgen des 26. September
Frank
Franks Stand im Lager hatte sich verändert. Während es zu Beginn noch viele Blicke voller Missgunst und Neid gab, so sahen ihn nun die meisten Männer als Teil vom Lager, als Riemen an. Es schlug sogar manchmal ins Gegenteil um: Manch einer behandelte ihn mit Respekt, ob seines schnellen Aufstiegs und der wichtigen Aufträge, die er von der Führungsspitze regelmäßig erhielt. Ein Gerücht, dass der Bursche im Alchemielabor sein Bruder wäre, hatte sich breit gemacht, doch Frank hielt sich bedeckt. Die, die es genauer wussten taten es ihm gleich: Während Yorrick dadurch eine gewisse Macht über ihn hielt, gab es andere, die es aus scheinbar selbstlosen Gründen taten. Da war Theo, dessen spitzfindige Art ihm schon früh auf die Schliche gekommen war, doch Theo suchte keinen Streit; mit niemandem im Lager. Raul hingegen blieb Frank ein Rätsel. Er hatte eingegriffen, als Ferdinands Befreiung gedroht hatte zu scheitern, er hatte einen seiner eigenen Kameraden kaltblütig erschossen, doch nun verweigerte er das Gespräch mit Frank. Er sah ihn nie bei den Schaukämpfen, die nun jede Nacht stattfanden, wo man aus Bauern Mörder machte. Eines war klar: Raul kannte die Angreifer. Vielleicht Sadiye, vielleicht den Schmied, der im Kerker dahinsiechte, vielleicht Ferdinand oder vielleicht die Freunde im Talkessel, von denen Ferdinand gesprochen hatte. Wenn Frank es wagte, er hatte es bisher zwei Mal getan, Schnitzer darauf anzusprechen, dann gab er ihm einen langen Blick, der so viel hieß wie:
Ich kenne dein Geheimnis, du kennst meines.
Es war und blieb ein Patt, solange Raul sich ihm nicht anvertraute. Doch Frank hatte vorerst andere Prioritäten. Bevor Ferdinand aus dem Lager geflohen war, hatte sein kleiner Bruder die relative Sicherheit von Letos Obhut genossen. Nun, da ein Ausbruch gelungen war, sollte kein zweiter gelingen: Erik hatte einen Wachmann bekommen, doch leider nicht irgendeinen, nein, dieser Wachmann war ausgerechnet Greg. Greg, der schnell seine Peitsche schwang. Es brodelte in Frank jedes einzelne Mal, wenn er den schiefen Kiefer dieser Ungestalt erblicken musste. Doch er beherrschte sich und tanzte diesen Tanz für Drei: Um Erik musste gesorgt werden, Greg durfte nicht wissen, dass er Brüder sein war und Frank hielt also die Distanz.
Eines Morgens, er hatte wieder den Auftrag zum Warenaustausch erhalten, lief er durch den Wald. An seiner Seite war Theo, der auf Suche nach Kräutern für Erik war. Über Franks Schulter hing ein Bogen und auf seinem Eselskarren lagen Jagdtrophäen wie Zähne, Klauen und Felle verschiedenster Wildtiere des Talkessels. Vor den Stadtwachen würde er sich als Jäger ausgeben. Schließlich erreichten sie den Waldrand und Theo blieb stehen.
„Hier trennen sich unsere Wege.“, sagte der Kochgehilfe.
Frank bremste seinen Esel. Er schürzte die Lippen und suchte nach den richtigen Worten.
„Na los, frag schon. Du willst wissen, wie es um Erik steht.“, sagte Theo.
Frank sah ihn unschuldig an. „Ich weiß nicht, wovon-“
„Ich weiß, dass er dein Bruder ist. Jeder, der ein bisschen Zeit mit euch beiden verbracht hat, weiß es. Also, bitte, stell deine Frage!“
Frank hob stolz das Kinn.
„Na gut, wie geht es Erik?“, fragte er.
„Nicht gut.“ Theo verlagerte unruhig das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. „Er redet kaum. Sein Gesicht ist blass, seine Augen müde. Aber er lebt und er heilt langsam.
Frank rieb sich angestrengt die Augen und verkniff sich ein Ächzen.
„Du solltest mit ihm reden.“, sagte Theo mit ernster Stimme.
„Ich kann mich nicht ständig bei ihm blicken lassen! Nicht solange Greg seine Schweinsaugen auf ihn gerichtet hat!“ Frank atmete tief durch. „Er spricht doch eh kaum ein Wort mit mir. Er hasst mich, gibt mir die Schuld für alles. Und ich kann es ihm nicht mal verübeln.“
„Hat er das gesagt? Dass er dich hasst?“, sagte Theo vorsichtig.
Frank schüttelte den Kopf und seufzte. Sie schwiegen, Frank mit verschlossener Haltung und Theo geduldig wartend.
„Er ist zu jung für all dies.“, murmelte Frank. „Sein Fuß, die Sklavenarbeit, das Töten.“
„Es gibt auch eine gute Seite.“, versuchte es Theo. „Er probiert sich in der Alchemie aus. Die Liste der Kräuter, die ich holen soll, wird immer länger.“
„Zeig her.“
Theo reichte ihm einen dreckigen Zettel. „Zunächst waren es immer nur Silberblatt und Steinwurz, doch dann kam immer mehr dazu.“
Frank entfaltete das Papier und erblickte eine lange Liste sauber geschriebener Pflanzennamen, samt Mengenangabe und Hinweisen zu Aussehen und Standorten. Es war unverkennbar die sorgfältige Schrift seines kleinen Bruders. Manchmal war sogar eine kleine Skizze des jeweiligen Gewächses beigefügt.
„Das ist gut, er will etwas lernen.“, brummte Frank leise. „Lass dich nicht auffressen. Sumpfkraut und Rotwurz wachsen nur in gefährlichen Gegenden.“
Theo entnahm Frank wieder die Liste.
„Mach dir um mich keine Sorgen.“, sagte Theo mit einem Grinsen. „Ich bin ein guter Sprinter, bisher hat mich noch keiner erwischt!“
„Abgesehen von den Banditen?“
„Abgesehen von den Banditen natürlich!“, sagte Theo lachend.
Frank nickte zufrieden, etwas erleichtert durch Theos nie wankende Zuversicht. Er bedankte sich und machte sich auf den Weg seinen Auftrag auszuführen. Es war nun das zweite Mal, dass er sich im Kessel frei bewegen konnte, doch dieses Mal goss es nicht in Strömen und es fühlte sich schon viel eher wie wahre Freiheit an. Schließlich hatte er hart gearbeitet, um bis hierher zu kommen. Weit in der Ferne sah er die nördliche Steilwand, unter dessen Überhängen die Soldaten ihr Lager hatten. Näher dran türmte sich der hohle Zahn auf, wie er einsam zwischen den Hügeln aufragte und Richtung Osten lag die kleine Stadt Neigenbau, deren namensgebenden Fluss er nun erreichte. Der Strom war tief und das Wasser floss schnell und kräftig. Frank passierte die Meiler der Köhler und ihr Lagerhaus, Gehöfte säumten die Straße. Damals, im dichten grauen Nebelregen, hatte er so vieles nicht gesehen, nun war der Himmel klar und ein kühler Wind trug die Gebirgsluft ins Tal hinein. Er hatte unterschätzt, wie viele Menschen in und um Neigenbau wohnten. Bald erreichte er die Stadtmauer. Die Erbauer hatten den Fluss in ihre Befestigungen gut eingeplant, denn er diente als natürliche Barriere für das Hinterland der Stadt und auch für das Herzstück der Stadt: Das obere Viertel, der große Platz für den Wochenmarkt, einige der Wassermühlen und das Krämerviertel lagen geschützt zwischen Mauer und Neige. Nur von hinten, von Osten her, war die Stadt angreifbar und wer die Brücken kontrollierte, der hielt die Schlüssel zur Stadt in seinen Händen. Wie Frank bei seinem letzten Besuch gelernt hatte, gab es zwei an der Zahl: Die kleinere Gesindebrücke und die breitere, vielbefahrene Braubrücke. Beide waren sie geschützt durch Tore, wobei nur das Tor der Braubrücke des Nachts geschlossen und am anderen Durchgang strengstens kontrolliert wurde. Frank musste durchs Haupttor, durch die Stadt hindurch, aufs andere Ufer der Neige und bis hin zur Suppe, dem Armenviertel. Dort wartete sein Hehler auf ihn. Am Haupttor hatte er keine Schwierigkeiten mit den Wachen. Das Wetter war gut und der Verkehr war rege, denn der Herbst brach herein und man fuhr die Ernte ein. Das Geschäft lief gut, es gab viele hungrige Mäuler, auch wenn es denen häufig am nötigen Geld fehlte, doch auch Mangelware brauchte Käufer. Frank sah viele Männer mit abgetragenen Kleidern und dreckigen Gesichtern, die unter einer Kruste getrockneter Erde kaum mehr zu erkennen waren. Sie waren die Arbeiter aus der Grube. Sie kamen von dort, wo die Neige ihren Lauf geändert hatte und man nun Ton und Kies schaufelte. Es waren junge, kräftige Gestalten, die seit dem Aufwuchern des Matterforsts und dem zusammenbrechenden Handel händeringend nach Arbeit suchten – so dreckig und mühselig sie auch sein würde. Frank überquerte mit seinem Eselskarren die große Braubrücke und fand sich bald in der Suppe wieder. Zu seiner Erleichterung war der lehmige Boden zu genüge ausgetrocknet. Seinen Esel führte er eng an der Leine: Er hatte kein Bedürfnis ihn ein zweites Mal an die diebischen Bewohner des Armenviertels zu verlieren. Als er Kersims Haus erreichte, sah er Kinder davor spielen. Einige hatten die braune Hautfarbe und die schwarzen Haare der Severim und waren ohne Zweifel ein Teil der großen Familie, der auch Kersim und Sadiye angehörten. Sie klatschten und sprangen, einer schlug mit einem Stock nach den Füßen der anderen, sie schrien vor freudiger Aufregung und sangen Reime und Lieder, die Frank nicht verstehen konnte. Die Kinder stieben auseinander, als Frank mit dem Karren vor die Tür trat, und als sich der erste Knabe traute, kamen sie gleich wieder heran. Sofort begannen sie neugierig den Esel zu betasten. Frank war der Meute hilflos ausgesetzt. Sein Geschick im Umgang mit Kindern war begrenzt und sie zu kontrollieren war für ihn schier unmöglich, ob er nun ihre Sprache konnte oder nicht. Zu seinem Glück eilte eine Frau herbei, schimpfte voller Inbrunst auf Arbu und sandte die Kinder fort.
Sie sprach ihn an, wieder auf Arbu.
Es klang wie eine Frage. Frank kratzte sich verlegen am Kopf und schenkte ihr ein Lächeln.
Sie sprach weiter und Frank schnappte dieses Mal ein ihm bekanntes Wort auf:
„Ja, Kersim. Ich will zu Kersim.“, sagte Frank.
Die Frau rief einen der Jungen zurück, Frank schätzte ihn auf acht oder neun Jahre. Seine Augen waren dunkel und er senkte demütig den Kopf, als er vor sie trat. Die Frau gab ihm Anweisungen, gestikulierte zum Haus und zum Karren. Ihr Ton war barsch und herrisch, doch Frank war sich unsicher, da Arbu in seinen Ohren immer recht kantig klang. Der Junge kam heran und nahm die Zügel des Esels in die Hand. Doch Frank ließ nicht los. Die Frau winkte ihn zum Haus.
„Kersim“, wiederholte sie.
„Du sollst zu Kersim gehen.“, sagte der Junge. Sein Dialekt war stark ausgeprägt und gerade so verständlich. „Ich nehme den Esel.“
Widerwillig ließ Frank die Zügel los. Die Frau lächelte ihn an, berührte ihn sanft an der Schulter und deutete zur Tür.
„Danke, ich kenne den Weg.“, sagte er. „Bloß mein Karren...“
Der Junge machte sich bereits mit dem Maultier auf, als sich die Tür öffnete und Sadiye erschien. Sie trug einfache Kleider, nicht das geschwärzte Leder, dass sie des Nachts unsichtbar machte. Der weite Leinenstoff sah bequem aus und verbarg ihren geschmeidigen Körper. Als Sadiye ein paar Worte mit der Frau wechselte, erkannte Frank das einzige Wort, dass er auf Arbu kannte: Motasakkeram, was wohl Dankeschön bedeutete.
„Motasakkeram“, sagte Frank und erntete dafür das Gelächter der beiden Frauen. Selbst der kleine Junge kicherte frech. Franks Aussprache musste grauenhaft sein.
„Mach dir keine Sorgen.“, sagte Sadiye, als sie zu ihm kam. „Deine Ware ist in guten Händen.“
„Der Karren ist für Kersim.“, protestierte Frank. „Ich bekomme ernste Probleme, wenn-“
„Beruhige dich!“, sagte Sadiye und lachte auf. „Um irgendwelche Ecken kennt hier jeder Severim den anderen. Die Frau, das ist meine Tante. Sie kennt den Jungen.“
Sie gab ihm ein aufmunterndes Lächeln.
„Gehen wir ein Stück.“, sagte sie und ging los.
Frank gab sich geschlagen und folgte ihr. Er hatte letzten Endes keinen Grund ihr zu misstrauen und außerdem gefiel ihm der Gedanke nicht schlecht, mit ihr durch die Straßen zu schlendern. Sollte er Teil einer Bande werden, so wie er es in Middenheim gewesen war, so war Sadiye sicherlich eine kompetente Partnerin. Sie führte ihn durch die engen Gassen des Armenviertels, wo Schuhflicker und glücklose Tischler versuchten ein wenig Geld zu erstehen. Bare Münze gab es selten, häufiger wurden Gefallen oder Waren getauscht. Schließlich kamen sie zu einem länglichen, großen Steinhaus: Ein Mann mit breitem Kiefer und einer abgenutzten Rute stand neben der weit geöffneten Doppeltür. Er gab Frank einen abschätzigen Blick, machte aber keine Anstalten sie aufzuhalten. Sadiye führte sie hinein. Drinnen standen Reihen von langen Tafeln. Leute saßen dort, alte Menschen und armselige Krüppel, Mütter in verschlissenen Kleidern mit ihren Kindern in sogar noch mehr zerfetzten Lumpen, einsame Waisen und zitternde Kranke. Am Ende der langen Halle war eine Theke. Frauen in schmucklosen grauen Kutten mit weißen Hauben gaben dampfende Suppe an bedürftige Hände. Die Stimmung war ruhig, leise Unterhaltungen trugen durch den weiten Raum und es schien ein alltägliches Geschehen zu sein, wenn auch vollkommen fremd für Frank. Er hatte das Glück gehabt in einer Familie aufzuwachsen; die Armenspeisung war nicht Teil seiner Welt. Sadiye führte sie geradewegs durch die Halle. Eine der Kochfrauen bemerkte sie, eilte ihnen entgegen.
„Sadiye, welch eine Freude, dich wieder einmal zu sehen!“
Ihr Lächeln strahlte, der tiefen Müdigkeit in ihren Augen zum Trotz. Sie verneigte sich tief und ihre Halskette baumelte unter ihrem Haupt. Frank erkannte es: Es war ein Talisman von Mesan, dem geschlechtslosen Heiligen der Gnade und dem dritten der sieben Wächter. Dies war eine Armenküche der Kirche der Sieben.
„Ist euer Priester hier?“, fragte Sadiye.
Die Frau schüttelte den Kopf.
„Gut, dann nehmt ihr es.“, sagte Sadiye und holte einen kleinen Lederbeutel hervor. Es klimperte, als sie ihn in die Hand der Frau drückte. „Mit Grüßen von Kersim.“
„Ich werde es unserem geistigen Führer überreichen.“, sagte sie mit einer erneuten tiefen Verbeugung.
Sadiye jedoch zog sie mit der Hand unter ihrer Schulter wieder hoch.
„Besser wäre, wenn ihr gleich zum Markt geht.“, sagte sie. „Die Ernte ist eingefahren, die Preise sind gut, hörst du?“
Die Frau in der Kutte schürzte die Lippen und druckste herum.
„Ich glaube, dass würde unserem Priester missfallen.“
„Schwester“, sagte Sadiye und sah sie ernst an. „Die leeren Mägen der einfachen Leute sind eure Mission, nicht der Ablass an eure Prediger.“
Die Köchin neigte den Kopf und wagte es nicht Sadiye in die Augen zu blicken.
Schwester!“, sagte Sadiye nun etwas strenger. „Die Leute sind hungrig. Es ist Kersims Geld, er teilt nicht euren Glauben und er spendet nicht für die Kirche, sondern für das Essen. Nun geht, ohne Umwege!“
Die Frau nickte gehorsam, eilten zu ihren Glaubensschwestern und sie tuschelten leise mit gesenkten Köpfen. Einige von ihnen schenkten Sadiye und Frank strenge Blicke, doch die junge Ordensschwester verließ bald mit einem Korb unter dem Arm das Haus. Sadiye scherten die Schmähungen der anderen Schwestern nicht und sie erwiderte die geringschützigen Blicke bloß mit einem freundlichen Nicken, machte kehrt und führte Frank wieder hinaus.
„Bist du nur wegen Kersim in Neigenbau?“, fragte sie, als sie wieder in den Gassen der Suppe waren.
„Nein. Ich muss Salz kaufen. Die Banditen kochen Seife.“, sagte Frank. „Frag nicht.“
„In Ordnung, ich frage nicht.“
„Aber ich bin auch wegen dir gekommen. Ich habe ein paar Fragen...“
Sie zog die Brauen hoch. „Wegen mir? Was für Fragen?“
„Hast du einen Ort, an dem wir reden können?“
Sie zog eine Braue hoch, lenkte jedoch ein. „Folg mir“
Wieder führte sie ihn durch die Straßen, dieses Mal aus der Suppe heraus. Sie gingen an der Grenze des Stadtviertels entlang, wo gedrungene Fachwerkhäuser dicht an dicht standen und Krämer versuchten ihre Waren an den Mann zu bringen. Sadiye bog wieder in die Suppe ein, nahm jedoch einen Abzweig, der sie durch eine Enge Gasse führte, kaum breiter als die Schultern eines Mannes. Treppenstufen führten hinauf und als sie in einen lauschigen Innenhof traten spürte Frank eine starke Hand auf seiner Schulter und kalten Stahl an seinem Rücken.
„Wer ist das, wenn ich fragen darf?“, ertönte eine Stimme hinter ihm.
Sadiye stemmte die Hände in die Hüften. „Entspann dich, Valentin! Er gehört zu mir.“
„Du weißt sehr wohl, dass wir unsere Kunden sehr genau aussuchen?“
„Weiß ich, er ist kein Kunde. Lass ihn gehen, Valentin.“
Frank spürte seinen Atem am Ohr.
„Mach keinen Unsinn.“, flüsterte der Rausschmeißer ihm zu.
Die Hand löste sich von seiner Schulter und Frank ging eilig weg. Der Mann fuhr sich mit den Fingern über seinen Schnurrbart und erwiderte Franks Blick mit gefährlich blitzenden Augen.
„Was ist denn sein Problem?“, fragte Frank.
„Das Freudenhaus bewirtet fast nur eine Sorte von Kunden und du...“, Sadiye musterte ihn von oben bis unten, „...gehörst nicht dazu.“
„Freudenhaus?“, sagte Frank überrascht. „Was für Kunden?“
Sadiye seufzte vernehmlich und deutete zu dem Gebäude. „Bleib ruhig. Ich habe auch meine Schwierigkeiten damit.“
Die Veranda war mit grünen Ranken verhangen, hinter denen eine Gruppe Männer saß. Sie lachten ausgelassen, einige hatten ein Mädchen auf dem Schoß und als er näherkam, erkannte Frank von welcher Sorte sie waren. Rote Markierungen auf der Kleidung, genietete Lederrüstungen, Waffengurte:
Blutjacken!
Frank schluckte seine tiefe Abneigung herunter und verbarg mit Mühe, wie erschrocken er war. Sein Blick lag auf Sadiyes Rücken und blieb dort haften, bis sie die Veranda hinter sich ließen. Der Empfangsraum war geräumig. Ein Mädchen saß hinter einem Schreibtisch und feilte ihre Nägel. Sie blickte auf und schenkte Sadiye einen strengen Blick, als sie Frank bemerkte.
„Ist Sybille da?“, fragte Sadiye.
Das Mädchen nickte mit verschränkten Armen. Sadiye ignorierte ihren stillen Protest.
„Gut, dann schick sie hoch. Zimmer sieben.“
Sie führte ihn eine Treppe hinauf und einen Flur entlang, wo sie die letzte Tür nahmen. Ein einfaches Zimmer erwartete sie, ein Fenster, ein Bett, ein Nachttisch und ein Stuhl; das nötigste fürs Geschäft. Frank sah sich argwöhnisch um. Sadiye bemerkte seinen Blick und versuchte ihn zu beruhigen.
„Die Dame des Hauses hat die Wände speziell herrichten lassen. Von manchen Zimmern hört man jeden Laut, von anderen nicht einen Ton. Dieses hier ist eines der letzteren.“
Frank nickte zufrieden. Das klamme Gefühl auf dichtem Raum mit Soldaten zu sein legte sich. Er ging zum Fenster und schloss die Läden.
„Warum hier?“, fragte er. „Warum nicht in irgendeiner Gasse, in irgendeiner Ecke reden? Du bist doch auch nicht gerade ein Freund unserer werten rechtschaffenen Obrigkeit, oder?“
„Nein, als Freund würde ich mich wohl nicht bezeichnen.“ Sie nahm sich auf den Stuhl und bedeutete Frank sich ebenfalls zu setzen. „Du bist doch wegen Erik hier, oder nicht? Du suchst eine Bleibe, einen Ort, wo er untertauchen kann, richtig?“
Frank setzte sich auf die Bettkante. Misstrauisch blickte er zu Sadiye.
„Ferdinand hat es mir erzählt.“, sagte sie. „Sie haben sich wohl in der Gefangenschaft angefreundet.“
Frank neigte den Kopf. Er strich mit einer Hand über das weiße Laken.
„Du hast Recht.“, sagte er langsam. „Es geht um Erik.“
Seine Stirn zeigte tiefe Falten voller Zweifel und Sorge.
„Er soll hier wohnen?“
Sadiye wiegte den Kopf hin und her und sagte dann:
„Ich würde dir gerne einen Platz in unserem Haus anbieten, aber ich fürchte wir haben keinen Raum für ihn. Erik ist nicht der Einzige, der untertauchen muss. Du besprichst das am besten mit der Dame des Hauses selbst.“
In diesem Moment ging die Tür. Eine Frau mittleren Alters kam herein, sie war hübsch, ihre üppigen Haare hochgesteckt und sie trug ein weites Kleid mit weißen Rüschen. Sie begrüßte Sadiye knapp.
„Das ist er? Dein Freund?“, fragte sie mit unverhohlener Skepsis.
Sadiye nickte. „Er gehört ganz dir.“
Ohne Umschweife überließ sie der Frau den Stuhl und verließ den Raum. Nun waren sie allein. Mit überschlagenen Beinen und blanker Miene saß sie da. Ihre Augen ruhten auf ihm.
„Du bist also Frank.“
Sie strich sich mit geübten Bewegungen die Kleider glatt. Frank schwieg. Sie atmete tief durch und faltete die Hände auf dem Schoß.
„Mein Name ist Sybille und du bist in meinem Haus.“, hob sie an. „Dies ist eine Frage des Vertrauens. Ich kann nicht einfach so mein Geschäft und meine Mädchen gefährden. Du wirst dich beweisen müssen.“
Frank hob die Brauen. „Mussten das deine sonstigen Gäste auch tun? Sich beweisen und um dein Vertrauen buhlen? Oder haben ihre schicken Uniformen dich überzeugt?“
Sybille schwieg, ihr schönes Gesicht war regungslos.
„Du bist nicht hier, um mich zu richten.“, stellte sie fest.
Ihr Ton war neutral, ohne Wut oder Bitterkeit, was den Worten ein unwahrscheinliches Gewicht verlieh.
„Willst du mein Angebot hören?“, sagt sie genauso kühl.
Frank biss sich auf die Lippen und nickte.
„Ihr habt einen Gefangenen, sein Name ist Boris. Er ist Schmied, langer schwarzer Bart und große schwielige Hände. Du sollst ihn ausbrechen.“
Frank schnaubte spöttisch. „Als wenn das so einfach wäre! Ich habe euch Ferdinand rausgeholt, wenn du dich erinnerst. Es gibt nun mehr Wachen im Lager, mehr Späher im Wald.“
„Sadiye wird dich unterstützen.“, sagte Sybille gelassen.
„Sadiye ist keine Kämpferin. Du kannst mir ja ein paar von deinen Blutjacken zur Seite stellen, dann erfülle ich dir jeden Wunsch.“
„Es sind nicht meine Soldaten!“, zischte sie. „Und glaub ja nicht ich wäre eine von ihnen!“
Die Worte platzten aus ihr heraus. Ihr Gesicht war vom Zorn verzerrt, ihr Ton schneidend. Selten hatte Frank eine solche Angst vor einer Frau gehabt, schon oft vor brutalen Schlägern mit riesigen Oberarmen, aber selten vor einer Frau und ihren Worten. Irgendetwas schenkte dieser Dame eine Aura der Autorität, also riss Frank sich zusammen. Er zitterte ein wenig, wie er beschwichtigend die Hände hob.
„Was du verlangst ist gefährlich.“, sagte er vorsichtig. „Sehr sogar. Das ist ein hoher Preis, wenn mein Leben auf dem Spiel steht.“
„Wir wollen Boris, du willst Erik. Tu nicht so, als hättest du nichts zu gewinnen!“
Frank schwieg. Er wusste, sie hatte Recht, zumindest bis zu einem gewissen Punkt. Denn Erik war sicher, jetzt gerade, im Lager. Noch gab es keinen Grund große Wellen zu schlagen. Sybille lehnte sich nach vorn und sah ihm tief in die Augen.
„Ich weiß nicht, warum du die Riemen trägst. Ich vermute es geht um deine Sicherheit?“ Sie suchte in seinen Augen nach einer Reaktion. „Habe ich recht?“
Frank rieb sich die Augen. „Unsere Sicherheit.“, sagte er. „Mein Bruder und ich.“
„Gut. Dann habe ich was du suchst. Denn was du suchst sind Freunde. Solltest du glauben, du findest bei Leto auch nur einen Funken wahren Rückhalt, dann hast du dich getäuscht. Der Mann ist vom Hass getrieben, er ist nicht der geborene Banditenführer, für den du ihn vielleicht hältst.“
Sadiye hielt inne.
„Wie das?“, fragte Frank ungeduldig.
„Er war ein Vater. Jetzt ist er es nicht mehr.“
Frank zuckte zusammen. Ein Vater? Er dachte an Erik, der im Haus dieses brutalen Mannes wohnte, arbeitete und lebte. Was steckte hinter der Maske von Grausamkeit und Überlegenheit?
„Also brauche ich Freunde.“, sagte Frank. „Wer sagt mir, dass ich dir vertrauen kann?“
„Du vertraust Sadiye, oder nicht?“
Frank schüttelte den Kopf. „Du verstehst nicht.“, sagte er. „Es geht nicht um mich. Ich kann mich um mich sorgen, ich kann kämpfen oder fliehen. Es geht um Erik, nur um seine Sicherheit. Dafür brauche ich eine Garantie. Also wohin soll er gehen?“ Frank blickte sich um. „Hierher? In dieses Zimmer und sich den Hintern platt sitzen?“
Sybille nahm eine Strähne zwischen die Finger und spielte mit ihr.
„Ferdinand sagte...“, sprach sie langsam, „... ihr sucht nach einer Lehrmeisterin? Eine Alchemistin, eine Frau namens Antionia Haggarta?“
Sie sah auf und Frank blickte verdattert zurück. Es war der Name aus dem Buch, dem Buch, was Erik hatte hoffen lassen, er würde doch noch die Kunst der Alchemie erlernen können.
„Und?“, sagte Frank mit gespielter Gelassenheit.
„Vielleicht solltest du mit Quentin reden. Er kannte sie.“ Sybille zuckte mit den Schultern. „Vielleicht wohnt sie noch im Kessel?“
Frank versuchte äußerlich die Ruhe zu bewahren, doch in seinem Innern rasten die Gedanken.
Sie kennt Quentin. Ist er nicht der Alchemist, der Erik unterrichten sollte? Wer ist dann diese Haggarta? Welches krumme Spiel wird hier gespielt?
„Du sagst sehr oft vielleicht.“, sagte Frank.
Sie strich ihre Strähne glatt und warf sie zurück über die Schulter.
„Und vielleicht ist sie deine Rettung, Frank. Vielleicht ist sie der sichere Hafen, nach dem du suchst.“ Sybille stand auf und ging zur Tür. „Komm morgen Abend zu Kersims Laden. Sadiye wird auch dort sein.“
Frank schnaubte widerspenstig. „Und wenn ich die Einladung ablehne? Ich kenne weder dich noch diesen Quentin.“
„Du kennst Sadiye.“, sagte Sybille mit einem Augenzwinkern. „Alternativ kannst du natürlich auch immer auf Letos Gastfreundschaft bauen. Vielleicht sieht er in Erik so etwas wie einen Sohn, es gibt so viele Vielleichts.“
Frank gab ihr einen durchbohrenden Blick. Anstatt noch ein Wort zu sagen, raffte er sich auf und ging entschlossenen Schrittes fort. Sybille stand noch eine Weile allein im Zimmer. Ihr Blick ging ins Leere, während sie in Gedanken bei ihren Freunden war. Bei Boris, bei Ferdinand, bei Hermann und Sadiye. Sie brauchten ihren Schmied wieder. Sie schuldeten es ihm. Wer wusste schon, was er gerade durchmachen musste.


VI Neue Prüfungen für den Lehrling
Im Jahre des Addo 389, Am Vormittag des 26. September
Ferdinand
Ferdinand hatte bereits zwei Mal seine Sachen neu packen müssen. Zwei Mal war er von der Hausfrau gerügt worden, er solle nicht so viel mitnehmen. Man würde morgen schon aufbrechen, Eile sei geboten und obendrein wäre er ein verwöhnter Bengel, es ginge hier schließlich nicht alles um ihn. Cassis Fürsorglichkeit für den armen, aus der Gefangenschaft entkommenen Jungen hatte sich innerhalb der letzten Tage wieder verflüchtigt und wurde ersetzt durch ihre üblichen, unsanfteren Gewohnheiten. Nun stand Ferdinand wieder in seinem Zimmer, vor all seinen Habseligkeiten. Bücher, die er noch nicht gelesen hatte, oder solche, die er liebgewonnen hatte, eine unvollständige Sammlung selbst geschmiedeter Figürchen für ein Schachspiel und ein kleiner Berg an Aufzeichnungen und Skizzen. Fremde hielten ihn für brillant, wenn er ihnen in schnellem Redefluss die Hintergründe und Zusammenhänge der verschiedensten Ereignisse darlegte, doch in Wirklichkeit hatte er alles einmal durchgekaut, niedergeschrieben und seiner Zettelsammlung beigefügt. Daran war nichts genial, es war schlicht die aktive Beschäftigung mit den vielen offenen Fragen, denen ein junger Mann im Leben begegnete, so dachte er. Er hatte seine eigenen Papiere nie durchgeblättert, doch das machte sie kaum wertlos für ihn: Sie waren immerhin der Beleg seiner Mühen und seines Antriebs die Dinge zu verstehen. Ziellos wählte er eines der vollgekritzelten Blätter. ‚Wirtschaft und Handel in geschlossenen Kreisen‘, so hieß es darauf. Die Seite war vollständig beschrieben, überall waren Wörter durchgestrichen, korrigiert und Sätze umformuliert. Das Thema langweilte ihn, doch sein Meister hatte ihn öfters gedrängt darüber nachzudenken. Es war Quentin, der dafür sorgte, dass immer genügend Papier, Tinte und Federn bereitstanden, also hatte er sich, angetrieben durch ein Gefühl von Verpflichtung, damit auseinandergesetzt. Ferdinand nahm sich ein anderes Blatt. ‚Das Seltsame – Mystifizierung und Verdrängung‘ stand dort. Dies war eines seiner eigenen Gedankenexperimente. Er begann zu lesen:
‚Der Talkessel ist verflucht, heimgesucht von bösen Geistern und dunklen Mächten. Götter, die kein Mann und keine Frau kennt, gönnen sich einen Spaß. Oder: Unsichtbare Hände, ganz sicher mächtiger als die eigenen, ziehen die magischen Fäden, an denen die Welt hängt.
So lautet die landläufige Erklärung, so flüchtet sich der Bauer wie der Lehnsmann in die Geborgenheit ohnmächtigen Unwissens. Doch das ist es letztendlich: Eine Flucht. Es wird nicht einmal gekämpft, gerungen mit der bedrohlichen Übermacht des Ungewissen, es wird nicht eine Frage gestellt, nein, es wird vorschnell kapituliert. Nun stimmt es, dass die Menschen, ob Nordmar, Wüstenvolk, Sumpfleute oder Frehnlander, die Sicherheit ihrer Vorstellungen brauchen und diese Vorstellungen finden sie nur in ihren gut kartographierten Lebensbereichen bestätigt: In ihrem Beruf, ihrer Stellung, ihrer Familie, ihrem Glauben und ihrer Religion. Dort suchen sie Kontrolle, Bedeutung und nicht zuletzt auch Sicherheit. Vermutlich ist dies die rechte Perspektive die Praxis der Verdrängung im Talkessel zu verstehen: All diese Ereignisse, das Land, das sich erhebt, Wälder, die sprießen wie Unkraut im Kornfeld, Berge, die in sich zusammenbrechen, Winde die Feuer bringen und Städte, die in diesem Feuer vergehen, all dies ist Ausdruck einer fremden Religion, mächtig und unbekannt. So groß wie ein Gott selbst, aber eben ohne Priester und Schamanen, sondern bar jeder Interpretation. Dies macht es bedrohlich, unantastbar. Wer möchte schon an Göttern Zweifeln? Stellt man also die erste Frage, die Frage nach dem Grund, ist der Zweifel an diesem unbekannten Gott implizit. Logisch nun, dass Angst die erste und letzte Reaktion…‘
Ferdinand wurde unterbrochen, denn in diesem Moment schwang die Tür auf. Quentin trat ein. Er hatte seine langen Haare zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengebunden und eine gewisse Unruhe lag in seinen Augen.
„Ferdinand. Es gibt Neuigkeiten. Komm mit.“
Sein Lehrmeister führte ihn aus der steinernen Zollburg hinaus und in den Innenhof. Dort wartete Hermann auf einer Bank. Er trug seine Rüstung und die roten Königsfarben zeigten sich am Kragen und an den Ärmeln. Über dem Hauptmann schwang das Schild des beschaulichen, doch in diesen Tagen stillgelegten Gasthauses ‚Zum Brückenkopf‘. Hermanns Männer hatten dort Quartier bezogen.
Quentin grüßte knapp. „Wollen wir?“
Der Hauptmann nickte und begleitete sie in das Gasthaus, gingen in ein edles Hofherrenzimmer und nahmen dort Platz. Dunkles Leder zierte die Ohrensessel, die im Halbkreis um einen kalten Kamin aufgestellt waren, die Möbel waren etwas eingestaubt, doch dies raubte dem Raum nicht seine altehrwürdige Atmosphäre. Über der Feuerstelle prangte der mächtige Kopf eines ausgewachsenen Keilers. Quentin machte eine einladende Geste und bat Hermann zu sprechen.
„Wir brauchen deine Unterstützung, Ferdinand.“, sagte der Soldat. „Und zwar an zwei Fronten.“
Ferdinand beschränkte sich auf ein Stirnrunzeln und ließ vorerst den Mund geschlossen. Er hatte in den Vortagen schon viel mit dem Hauptmann besprochen, hauptsächlich über das Lager, die Beschaffenheit der Befestigungen und die Organisation der Banditen: Ihre Ränge, ihre Struktur und ihre Führer. Hermanns Augen hatten aufgeblitzt, als Ferdinand den Namen von Letos rechter Hand, Yorrick, genannt hatte, doch was dahintersteckte, das hatte Hermann für sich behalten. Als Ferdinand die besorgten Gesichter von Meister und Hauptmann sah, sprach er schließlich doch:
„Na kommt schon, raus mit der Sprache! Warum sitzen wir hier, als hätte ich aus der Ladenkasse gestohlen?“
„Weiß er von den Entwicklungen im Zirkel?“, fragte der Soldat den Kaufmann.
Quentin schüttelte den Kopf. Nun war Ferdinands Neugierde wirklich geweckt.
„Entwicklungen?“, fragte er.
Quentin hob die Hand und bedeutete Hermann ihm die Erklärung zu überlassen.
„Boris ist bei den Banditen, wie du bereits weißt.“ Er räusperte sich und faltete seine Hände im Schoß zusammen. „Ignatius hat den Rat verlassen. Er meinte, wenn wir Boris unterstützt hätten, wäre er nun nicht in Gefangenschaft. Er schämt sich vermutlich auch, weil er entkommen ist und der Schmied im Kerker.“
Ferdinands Kopf arbeitete schnell. „Das ist nicht gut. Ohne Ignatius fehlt uns der Kontakt zu der Arbeiterschaft.“
Wieder hob Quentin die Hand, um ihn sprechen zu lassen.
„Moritz Fehdamm, er hat auch hingeworfen.“
Unruhig rutschte Ferdinand auf seinem Sessel hin und her.
„Sein Vater wurde bestohlen...“, fuhr Quentin fort, „...und verdächtigt die üblichen Missetäter.“
„Sadiye“, flüsterte Ferdinand.
Quentin nickte. „Solange sie im geheimen Zirkel ist, wird er es nicht sein, so seine Worte.“
Sie schwiegen, Ferdinand rieb sich die Stirn und Quentin strich sich mit einer langsamen Bewegung durch seinen Ziegenbart. Mit Sorge blickte er auf Ferdinand, denn er wusste sehr genau, dass sein Lehrling sich bereits den Kopf zermarterte: Was hatten diese Rückschläge für Konsequenzen und wie waren sie wieder wettzumachen?
„Und Sadiye selbst...“, sagte Quentin.
Ferdinand schreckte aus seinen Gedankengängen hoch. Wenn Quentin für ihn so etwas wie sein Vater war, dann kam die Meisterdiebin einer Mutter am nächsten.
„Sie sagt...“, sprach der Kaufmann und seufzte gedehnt und voller Sorge, „...sie wäre enttäuscht. Vom Rat… und von mir.“
„Sadiye arbeitet nicht mehr mit uns?“, platzte es aus Ferdinand heraus.
Quentin zuckte hilflos mit den Schultern und ließ seine Arme schlaff auf die Lehne fallen.
„Schwer zu sagen, wo sie genau steht.“, sagte er, die Augen blickten in weite Ferne. „Wir reden nicht mehr. Sie und Sybille sind noch in Kontakt.“
Ferdinand vergrub das Gesicht in seinen Händen. Sein Körper war ganz still, fast regungslos, abgesehen von seinen Atemzügen. Es waren viele Informationen, keine davon war ein einfaches Problem und jede einzelne ging zu Herzen. Der Zirkel war beträchtlich geschrumpft, von 8 auf 4 Mitgliedern fort! Für den blonden Jungen galt der Kreis des geheimen Zirkels als Familie und als Waisenkind, auch wenn er es sich nicht gerne eingestand, lechzte er nach den menschlichen Beziehungen, die er dort hatte knüpfen können.
„Ferdinand.“, sagte Hermann. „Wir brauchen deine Hilfe.“
„Ja.“, sagte Ferdinand eifrig. „Natürlich! Alles, was ich tun kann!“
Aufmerksam blickte er in die Augen des Hauptmanns.
„Unsere Zahlen schwinden und du kannst uns helfen. Wir brauchen neue Mitglieder. Und wir...“, Hermann machte eine Geste zu Ferdinand, „...dachten an Erik und Frank.“
Der Hauptmann ließ die Worte für einen Moment sacken. Ferdinand fuhr sich durch seine blonden Haare. Er atmete tief ein und gedehnt wieder aus, bevor er antwortete.
„Keine schlechte Idee.“, sagte der Junge. Sein Blick ging zur Decke, während er laut dachte: „Jeder für sich hat einige nützliche Talente. Und Frank hat Kontakte im Lager, er ist ein Riemen dort, vielleicht bald Stiefel. Und wenn die Banditen so mächtig sind, wie wir befürchten, könnte das wichtiger sein denn je.“
„Dachten wir auch.“, sagte Hermann. „Die Frage ist, ob wir ihnen vertrauen können.“
Ferdinands Antwort war schnell und entschlossen: „Ja. Können wir!“
Der Hauptmann nickte. „Die andere Frage ist, wie wir an sie herankommen. Dass man nicht einfach bei ihnen hereinspazieren kann, haben wir inzwischen gelernt.“
„Boris...“, sagte Quentin und biss sich auf die Lippen, „...Boris hat das gelernt.“
Hermann brummte und knetete die Hände.
„Sadiye!“, sagte Ferdinand dann. „Sie treffen sich. Sie und Frank, so haben sie mich aus dem Lager geholt. Durch sie kommen wir an Frank!“
Der Hauptmann nickte und lehnte sich zurück. Er hob erwartungsvoll die Brauen und blickte Ferdinand fragend an.
„Ich soll mit ihr reden?“, sagte der Junge. „Natürlich! Ihr könnt auf mich zählen!“
Quentin schnaubte belustigt und gab seinem Lehrling ein dankbares Lächeln. Eine Mischung von Stolz und Sorge seines so schnell entschlossenen Lehrlings wegen huschte über seine Züge.
„Was ist die andere Sache?“, fragte Ferdinand, seine Augen blitzten voller Eifer. „Du hast von zwei Fronten geredet?“
Hermann kratzte sich am Hinterkopf und blickte hilfesuchend zu Quentin. Der Kaufmann räusperte sich und sprach:
„Du sollst mit den Kommandanten treffen. Überzeug ihn seine Truppen nach Eichenbruck zu verlegen.“
„Nach Eichenbruck? Hierher? Willst du das, Meister?“
Quentin nickte.
„Warum sollte der Kommandant das tun?“, fragte der Junge irritiert.
„Taktische Notwendigkeit“, sagte Hermann.
Der Hauptmann stand auf, verschränkte die Arme hinter seinem Rücken und ging in langen Schritten durch den Raum, während er sprach.
„Die Stärke der Banditen ist gewachsen. Wir brauchen zum einen einen besseren Stützpunkt zu unserer eigenen Verteidigung und zum anderen müssen wir im Kessel Präsenz zeigen. Wenn die Banditen ihren Wald verlassen, wenn sie die Bauern oder die Stadt angreifen, dann muss es einen sicheren Hafen geben, einen Ort der Hoffnung.“
Ferdinand lachte auf, die Soldaten, zuvor die Plünderer, jetzt die Retter des Kessels. Es klang mehr als abwegig, es war geradewegs absurd.
„Und wie soll ich den Kommandanten überzeugen?“, fragte Ferdinand ungläubig.
„Weil du der einzige Augenzeuge bist.“, sagte Quentin mit fester Stimme und lehnte sich nach vorn. „Hör zu, Ferdinand. Du kennst die Banditen, du kennst ihre Entschlossenheit, ihre Kampfkraft und ihr Lager. Du musst ihm diese Idee verkaufen, immerhin habe ich dich dieses Geschäft gelehrt, oder nicht? Die Argumente stimmen, er wird das erkennen, jetzt kommt es nur noch auf die Präsentation an, verstehst du?“
„Sag ihm…“, sprach Hermann und lehnte sich nun auch zu Ferdinand herüber, „…dass Yorrick die Männer führt.“
Kaufmann und Lehrling sahen fragend zum Hauptmann.
„Yorrick war Soldat. Er ist desertiert.“
Nach einem kurzen, verdutzen Schweigen schnaubte Hermann belustigt.
„Ich verdanke ihm meine Beförderung, könnte man sagen! Er war einer der ersten und einer derjenigen, die wir nicht gefunden haben, oder sollte ich sagen, die der Kommandant nicht gefunden hat. Es wird Raiks Stolz wecken, da bin ich mir sicher.“
Ferdinand legte einen Finger auf die Lippen und dachte angestrengt nach.
„Ich überzeuge also den Kommandanten.“, sagte Ferdinand und sah Quentin fragend an. „Und dann? Was ist mit dem Lehnsmann? Verlierst du nicht deine Besitzansprüche, wenn der Lehnsmann nach Eichenbruck wiederkehrt?“
Hermann und räusperte sich, bevor er antwortete: „Der Lehnsmann...“, sagte er, „...ist tot.“
Ferdinand sprang vor Schreck beinah auf, doch Quentin machte eine beruhigende Geste und wollte seinen Fragen zuvorkommen.
„Es ist viel passiert, seitdem du fort warst.“, sagte der Kaufmann.
Das glaube ich mittlerweile auch!“, platzte es aus Ferdinand heraus. „Warum regelt das nicht Hermann selbst? Ich dachte, ihr stündet Raik nahe?“
Quentin warf Hermann einen Blick zu und knetete angestrengt mit den Händen.
„Ihre Beziehung ist... sagen wir, sie ist gestört. Raik… er ist vermutlich der Mörder und noch weiß das keiner unter den Soldaten.“
Ferdinand atmete tief ein und pfiff die Luft durch seine Lippen. Nun stand er auch auf und schüttelte sanft den Kopf, während er sprach:
„Also wollt ihr, dass ein Lehrling, ein Junge von fünfzehn Jahren, einem Kommandanten der königlichen Armee etwas davon erzählt, was die rechte und gute Entscheidung in diesen schwierigen Zeiten ist, habe ich das richtig verstanden?“
Quentin strich sich durch seinen eleganten Schnauzer und wackelte mit den Augenbrauen.
„Ist ja nicht so, als wäre Autorität für dich ein Hemmnis, mein Junge!“
Sein Meister schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln, dann senkte er aber seine Stimme und blickte sehr ernst.
„Ferdinand, du musst nun schaffen, was ich nicht konnte!“, sagte er. „Überzeuge den Kommandanten.“


VII Der einzig sichere Fluchtweg
Im Jahre des Addo 389, In der Nacht des 26. September
Erik
Erik stand an einem Tisch nahe dem Wachmann. Er hatte inzwischen gelernt sicher mit Franks Gehstock gehen zu können, zumal er dazu auch gezwungen war: Wenn der Wachmann, ein Mann mit tiefliegenden Augen und schiefem Kiefer, auch nur ein Zeichen von Schwäche witterte, lockerte er schon seine Peitsche. Also blieb Erik hart und verkniff sich jeden Ausdruck seines Leids, während er im Labor werkelte. Vor ihm, in einer eisernen Schüssel, köchelte grüner Brei: Bocksklee und Kupferfarn. Dicke, zähe Dämpfe stiegen empor, wanderten als träge Schlieren unter der Decke entlang, bis sie sich senkten und verflüchtigten. Beide Kräuter hatten eine beruhigende Wirkung und wurden meist als Tee oder Sud eingenommen. Erik legte noch ein paar Stücke Holzkohle nach und entfernte sich. Die Wache rümpfte angewidert die Nase, doch nahm es hin, so wie sie schon viele andere Gerüche hatte hinnehmen müssen. Es war Eriks heimlicher Machtkampf, ein kleiner Sieg gegen seinen Unterdrücker. Eine üppige Sammlung verschiedenster Kräuter lag auf einem Tisch und Erik schleppte sich herüber. Theo hatte gute Arbeit geleistet, selbst den seltenen Kronstöckel hatte er aufgetrieben. Ein paar der Pflanzen waren nutzlos, ein Fehlgriff des ungeschulten Kochlehrlings, doch es tat nichts zur Sache, denn komme was wolle: Sie würden ihren Zweck erfüllen. Erik stellte seinen Gehstock ab, setzte sich und begann die Pflanzen zu zerkleinern, auch die ihm unbekannten. Die Dämpfe wirkten ermüdend, doch er konzentrierte sich, atmete möglichst flach und ließ sich nicht von seiner Arbeit abbringen. Ein Blick zur Wache, verriet ihm, dass sein Plan seine Wirkung entfaltete: Die Hände des Wachmanns waren in seinen Schoss gesunken, sein Kinn lag auf der Brust und Speichel rann ihm aus dem Mundwinkel. Der Müdigkeit zum Trotz stemmte Erik sich hoch, schob die Pflanzenteile zusammen und füllte sie in eine Holzschale. Gegenüber stand eine Presse. Der junge Alchemist humpelte hinüber, befüllte sie und betätigte mit großer Anstrengung die rostige Kurbel. Dicker, grüner Saft rann in einen blank polierten Silberbecher hinab. Die matschigen Überreste kochte er am Alchemietisch auf und fing über ein verworrenes System von gläsernen Röhrchen und bauchigen Flaschen die Ausdünstungen auf. Schließlich setzte sich ein braunes Destillat ab. Die gepressten Säfte erhitzte er nun und gab etwas Salz und Alkohol bei, was der Zersetzung auch kleinster Pflanzenteile diente. Den grünen Saft und das braune Destillat vermengte er schließlich im Silberbecher.
Eine letzte Zutat.
Erik nahm eine kleine Ampulle aus dem Regal über dem Tisch. Sie war gefüllt mit reinstem Immerlindensaft. Vorsichtig fügte er dem Gemisch die Hälfte des kleinen Glases hinzu, entschied sich dann doch für die volle Menge. Wieder spürte er die Müdigkeit der schweren Dämpfe und musste sich zwingen die Lider offen zu halten. Mit leerem Blick nahm er einen schmalen Löffel und vermengte das Gemisch ein letztes Mal.
Er hob den silbernen Becher zum Mund. Der scharfe Geruch stieg ihm in die Nase. Eine Träne rann seine Wange hinab, doch er hatte sich geschworen nicht einzuknicken, jetzt nicht, nicht schon wieder. Nicht wieder schwach zu sein. Nicht wieder aufgeben. Nichts gesagt bekommen. Seinen eigenen Willen haben! Nicht Frank zur Last fallen, sein eigener Herr sein.
Er stürzte den Becher in einem Zug die Kehle hinab.
Erst war es bitter. Dann süß und gärig und brannte dann beißend scharf in seinem Rachen. Er hustete, röchelte und keuchte, unterdrückte zu würgen, hielt sich mit einer schwitzigen Hand noch am Tisch, aber stürzte doch zu Boden. Er rollte über die Seite und spürte einen Gegenstand in seiner Tasche: Es war die kleine Schnitzerei, die Frank ihm damals geschenkt hatte. Tiefe Reue stieg in ihm auf, doch nun war eh alles zu spät. Sein Magen krampfte schmerzhaft. Er wollte aufschreien, brachte jedoch nicht mehr als ein ersticktes Krächzen zustande. Ob die Wache noch dort war, konnte er nicht mehr sagen, denn nasse Tränen trübten seine Sicht. Ein Zittern durchfuhr seinen gesamten Körper, seine Sicht wurde verschwommen, die Bilder, die seine Augen ihm schenkten, sie zerliefen und trennten sich von der Wirklichkeit. Sein Herz pochte laut und immer lauter. Ein Rauschen setzte ein, wie die Wellen des Meeres, aber beständig und ohne Pause, schwoll an und immer mehr, bis schließlich, auf einen Schlag, Geräusch und Licht und Schmerz verschwand.
Er spürte seinen Puls, wie er in der Finsternis schlug und in ruhigem Takt sein Blut durch seine Venen pumpte. Ein schwaches Glimmen erschien, ein flackernder blauer Punkt. In dünnen Linien breitet sich das Licht aus. Es pulsierte im Rhythmus seines Herzschlags, gabelte sich in tausend Zweige. Er erkannte die Formen eines Körpers, die Formen, eines jungen Mannes. Es fehlte der linke Fuß. Es war sein eigenes Spiegelbild, gemalt durch zarte Linien blauen Lichts, dass er dort betrachten konnte. Das Bild verschwamm. Erik hatte das Gefühl zu fallen, hinab gezogen zu werden in einen Schlund bodenloser Machtlosigkeit. Das Bild wurde wieder klar. Er sah dort wieder seine Gestalt. Doch diesmal war am Ort seines verlorenen Fußes ein dichtes Netz greller Fäden, blau leuchtend und intensiver als das Licht seines übrigen Körpers. Wieder fiel er, diesmal in dichten Nebel. Unter sich, durch graue Schwaden ohne Form, sah er winzige Würmer, die sich auf dem Erdboden räkelten, doch das Bild rückte näher und er erkannte, dass es Wurzeln waren, riesige Wurzeln, die so schnell wuchsen, dass es wie sich windendes Getier aussah, Wurzeln, die sich durch blanken Fels trieben, massiven Stein zum Bersten brachten, Lawinen in den Abgrund sandten und hohe Bergspitzen in tiefe Talsohlen schickten. Doch auch dieser unfassbare Anblick versank in obskurem grauem Nebel und Erik stürzte wieder. Dieses Mal länger und tiefer. Eine Stadt schälte sich aus den Schwaden. Gewaltig und mächtig bot sie sich ihm dar, größer als jede Stadt, die er kannte, geschützt von einer starken Mauer, geziert mit stolzen Statuen auf großen Wehrtürmen. Sie gipfelte in einer Festung, tiefschwarz und übersät mit steinernen Dornen, als hätte man einen Riesen zum Feind. Am Horizont stieg auf breiter Front dicker Rauch auf. Ein ganzer Landstrich brannte in der Ferne. Und dann, geräuschlos, doch mit spürbarer Gewalt, fielen die Türme. Einer nach dem anderen bis schließlich auch die Festung erzitterte und gewaltige Wurzeln aus dem Boden brachen und die Trümmer ins Erdreich drückten. Eine perverse Mischung aus Schrecken und Neugierde packte Erik, doch wieder zog ihn etwas fort.
Kurz war er im Nebel, doch dann: Sein Schmerz kehrte wieder. Sein Magen drückte und zog, ein sengender Kopfschmerz setzte ein. Erik krampfte mit spastischem Zucken, voller Pein und mit tränenden Augen. Er wollte schreien, doch sein Mund war voll schäumendem Speichel. Wild verdrehte er die Augen, als er sich übergab und nach Atem rang. Alles zerrte an ihm, heiße Blitze durchfuhren seinen Leib. Er schrie mit der wenigen Luft, die er hatte, presste den Schmerz heraus und sackte mit flackernden Lidern wieder zu Boden.
Wieder fiel er und fiel er, bis er im Dunkeln schwebte. Doch dieses Mal sah er keine Stadt, keine Berge, keine blauen Fäden, sondern einen Feuerschein. Drei Gestalten saßen dort, breitschultrige, stämmige Männer. Doch ihre Arme waren zu lang, ihre Haut war so behaart, es war beinahe Fell, ihre Nacken waren mächtig wie die eines Stiers. Ihre Köpfe lagen tief und zwei weiße Hauer ragten aus ihren Unterkiefern hervor. Dies waren keine Männer. Sie aßen. Ein Körper lag abseits des Lagerfeuers. Dem Leichnam fehlten die Arme und sein Blut tränkte den sandigen Boden, der sie umgab. Doch wieder verschwamm seine Sicht und Erik fiel. Jetzt ging alles sehr schnell. Bilder blitzten auf. Ein toter Wald, schwarz und vermodernd. Ein anderes: Brennende Steine, die vom Himmel stürzten. Jetzt, eine Flammenfront, die über den Himmel rollte und wie tosende Wellen gegen unendlich finstere Schwaden schwarzer Wolken schwappte; Wolken, die sogar den Schein des Himmelsfeuers restlos verschluckten. Eine strahlende Gestalt stieg gen Himmel, gehüllt in weiße Flammen. Doch der Nebel wurde eroberte wieder die Ränder seines Blickfelds. Die Bilder verschwammen. Endlich wurde es dunkel, gänzlich dunkel. Keine Lichter tanzten mehr vor seinen Augen. Es wurde leise in Eriks Verstand. Er fiel nicht länger, sondern lag still. Still und einsam auf dem Boden des Alchemielabors.


VIII Zurück von Neigenbau
Im Jahre des Addo 389, Am Morgen des 27. September
Frank
Frank hatte unruhig geschlafen. Immer wieder war er hochgeschreckt, geplagt von Gedanken an seine Heimat. Er wusste nicht, warum er ausgerechnet jetzt an seinen Vater und seine Kindheit denken musste, den frühen Tod seiner Mutter, den Erik kaum miterlebt hatte. Er war damals noch zu jung gewesen. Vermutlich waren es die Worte von Sybille gewesen. Frank hatte sich in Sicherheit gewägt. Er hatte keine Gedanken mehr an Flucht und Alternative mehr verschwendet, vielleicht wollte er es auch nicht mehr, waren sie doch schon so lange gereist und ewig nirgends angekommen. Doch Sybille hatte Recht: Letos Haus war keine neue Heimat. Auch wenn Frank einigermaßen frei war, Erik war es ganz sicher nicht.
Frank schritt über die Straßen außerhalb von Neigenbau. Er hatte am Vortag noch alle Besorgungen gemacht, ein Großteil davon diente der Aufstockung der Apparaturen des Alchemielabors und sein Karren war prall gefüllt. Die Aussicht von hier war mäßig, aber bald würde er die Hügel hinter der großen Köhlerei erreichen. Von dort war Tanneck schon sichtbar. Frank würde noch einmal mit Erik reden, und mit Raul. Er musste mehr über Leto erfahren und über Eriks Wohlbefinden.


IX Verhandlungen, Lehrling und Kommandant
Im Jahre des Addo 389, Am Nachmittag des 27. September
Ferdinand & Raik
Ferdinand stand dort, den Rücken gerade und die Hände hinter seinem Rücken gefaltet. Die militärische Art seiner Gastgeber färbte ganz unfreiwillig auf ihn ab, aber so bekam er auch ein Gefühl für die Leute. Dies könnte im kommenden Gespräch seine Trumpfkarte sein. Raik blickte auf verschiedene Karten und Schriftstücke auf seinem Schreibtisch und noch schenkte er dem Kaufmannslehrling keine Aufmerksamkeit, sondern studierte das von Ferdinand aufgesetzte Schreiben. Es war eine detaillierte Aufschlüsselung der Aufstellung der Banditen, harte Zahlen und Fakten, keine Argumente, keine Bitten oder Hilfegesuche waren dort notiert.
„Dies ist gute Arbeit.“, brummte der Kommandant.
Er musste gelesen haben, dass Yorrick dort war, doch er ließ es unkommentiert. Ferdinand hatte ihn als rechte Hand Letos gekennzeichnet.
„Was gedenkt ihr zu tun?“, fragte Ferdinand.
Raik atmete lange aus und zog die Mundwinkel herab. Er sah von dem Schreiben auf und blickte Ferdinand in die Augen.
„Stimmen deine Information, dann besteht die Möglichkeit, dass die Kampfkraft der Banditen unserer überlegen ist.“ Raik rieb sich angestrengt die Schläfe. „Meine Männer dürfen nichts davon erfahren. Noch mehr Desertionen würde uns brechen.“
Ferdinand begegnete dem ernsten Blick des Kommandanten und nickte. Der Zeitpunkt war gekommen, Ferdinand hatte etwas für ihn getan, jetzt konnte er sein Belangen anbringen. Ferdinand machte eine letzte mentale Notiz:
Strategischer Vorteil, repräsentativer Nutzen, moralischer Aufschwung, dachte er. In dieser Reihenfolge.
Ferdinand hob an: „Kommandant, ihr habt mit meinem Meister gesprochen, dem Kaufmann Quentin. Ich weiß, ihr habt seinen Vorschlag ausgeschlagen, aber-“
„Das hätte ich mir denken können, dass er dich geschickt hat.“, unterbrach ihn Raik mit abschätziger Stimme.
„Und er tat recht darin es zu probieren!“, antwortete Ferdinand prompt.
Raik blickte ihn an. Seine hochgezogenen Augenbrauen verrieten seine Skepsis und Verwunderung. Er war einer der vielen Erwachsenen, die es nicht mochten von einem Jungen übervorteilt zu werden. Doch Ferdinand brauchte den Respekt des Kommandanten und den bekäme er als zartes Kindchen niemals.
Jetzt bloß nicht zu schnell reden, mahnte er sich im Stillen.
Ferdinand atmete gedehnt aus, holte die Arme hinter dem Rücken hervor und begann auf und ab zu gehen. Es war wie eine kleine Vorführung. Konzentriert und gemessen sprach er:
„Ich will euch nichts vormachen. Quentin schickt mich. Und auch euer Hauptmann hat sich an uns gewandt, denn er kennt die… Vertracktheit der Lage, seine Worte.“
Der Kommandant blickte zwar noch immer skeptisch, doch Ferdinand hatte nun all seine Aufmerksamkeit. Mit präzisen Gesten und geschicktem Wortfluss fuhr er fort:
„Eichenbruck ist ein guter Standort. Zwei Zugänge, hohe Mauern, frisches Wasser und gute Jagdgründe. Die Gebäude des Innenhofs sind gut in Schuss und… bei allem Respekt, um einiges besser als die zerfetzten Zelte in diesem Lager. Die Zollburg ist groß. Natürlich wird man dort gesehen, natürlich kann der Feind von allen Seiten kommen, aber wie er auch attackieren will, er stößt auf harten Stein. Doch das kann gerade der Zweck dieser Burg sein, dass man gesehen werden will! Sagt mir, die Gesetzeslosen verstecken sich im Wald, sollte die Armee sich etwa auch verstecken? Sollten Krieger, die einzigen, die der ganze Talkessel kennt, sich in der letzten Ecke verkriechen? Ich glaube nicht. Ich glaube, dass Respekt durch Verantwortung kommt und jetzt, wo ihr einen Feind habt, haben eure Krieger auch wieder eine Verantwortung. Sollten sie diese wahrnehmen, folgt der Respekt der Leute. Wer weiß, vielleicht könnt ihr sogar anheuern? Die untätigen Männer in Neigenbau brauchen nicht unbedingt einen Lohn, nein, sie brauchen Essen im Magen und ein Ziel vor Augen! Mehr braucht es gar nicht. Und ein Ziel brauchen auch eure Männer. Eichenbruck ist die Chance! Der Matterforst ist nicht weit, vielleicht ist es an der Zeit wieder den Durchbruch zu wagen! Und wenn nicht, dann ist die Zollburg immer noch der Ort, um die Stellung zu halten, um zu zeigen, dass ein Soldat im Kessel Wache hält und wir die Herren unserer Lage sind.“
Ferdinand blieb stehen und verschränkte wieder die Arme hinter dem Rücken.
„Dies sind meine Argumente.“, sagte er und schwieg.
Für einen langen Moment waren beide stumm. Irgendwann regte sich der Kommandant und seufzte sorgenvoll.
„Ich wünschte, ich könnte so reden wie du, mein Junge.“, sagte Raik leise und sah nieder auf den Boden. „Ich… nun, ich kann dir nichts versprechen. Ich kann dir sagen, dass sich hier einiges ändern wird im Lager. Wer weiß, was die Nordmar wollen, wer weiß, wie meine Männer reagieren?“
Ferdinand nickte langsam. Ging es hier auch um den Lehnsmann? Er wusste von dem Tod des Lehnsmanns, doch Raik wusste nicht, dass der Lehrling auch eingeweiht war.
„Es ist Eile geboten.“, wand Ferdinand behutsam ein. „Wir wissen nicht, ob wir sicher sind in Eichenbruck. Nur sicher ist: Die Banditen suchen nach mir.“
Raik stand auf und straffte sich. „Das verstehe ich. Bringt euch in Sicherheit. Ich kann euch eine Antwort geben, nachdem die Nordmar angekommen sind. Wenn sie endlich kommen… So lange müsst ihr euch gedulden.“
Ferdinand ging zum Kommandanten und bot ihm die Hand.
„Mehr kann ich nicht verlangen.“, sagte der Junge und Raik schlug ein. „Ich danke euch.“
Es war seltsam, diesen Herren hohen militärischen Ranges auf der einen Seite und den halben Mann auf der anderen zu haben, wie sie sich einen festen Händedruck gaben. Sie standen noch nicht einmal auf Augenhöhe.


X Der Blick gen Osten
Im Jahre des Addo 389, Am Abend des 27. September
Skerta
Wieder einmal senkte sich die Sonne gen Horizont und wieder einmal starrte Skerta, erster Jäger im Clan der Silberkrähen, in die weite Ferne. Während seine wachen Augen beständig suchten, suchte er auch im Geiste nach den Bildern seiner Heimat. Seine Frau, seine Kinder, sein Haus und die Siedlung seiner Brüder und Schwestern. Er seufzte, wie Sorgen und Heimweh ihn überkamen, doch im Angesicht all dessen lag auch der Grund, warum er auf diese Reise gegangen war: Um all dies zu schützen. Sollten die Talbewohner ihre Absichten unterstützen, sah er eine Chance auf Erfolg, auch wenn sie noch so gering war. Er war voller Hoffnung und Vertrauen gegenüber Hermann und seinem Kommandanten. Sie waren gute Männer. Sie würden das richtige tun, denn auch sie litten unter der Geißel unerklärlicher Ereignisse, willkürlicher, neuartiger Magie, für das menschliche Auge so sichtbar wie noch nie zuvor. Der Nordmar hatte die Soldaten nach ihren Erfahrungen befragt, Erfahrungen mit diesen seltsamen Mächten. Voller Unbehagen, mit ernsten Mienen und geneigten Köpfen flüsterten sie vom Matterforst, seinen lebenden Schatten, vom Großbrand in Eichenbruck, von Momenten, in denen sie glaubten, die Erde selbst erzitterte. Von seltsamen Lichtern am Horizont, von der Neige, die ihren Flusslauf änderte, wo sich wie von Geisterhand das Erdreich aufgeworfen worden war und nun dort ein Hügel stand, wo vorher keiner gewesen war. Welche dieser Erzählungen erfundene Lagerfeuergeschichten waren und welche nicht, wusste Skerta nicht genau. Doch eins stand fest: Sie waren in Sorge und in Furcht und ebenso ohnmächtig wie sein Clan in den Bergen. Aber Skerta konnte sich nicht des Gedankens erwehren, dass dies alles geringere Leiden waren, wenn er es mit dem Schicksal seiner Heimat verglich. Diese einfachen Leute des Tals kannten die Magie nicht wie die Nordmar. Sie hatten keine Windleser, die mit den Geistern flüsterten, sondern glaubten an hohle Götter ohne Macht. Sollte seinen Stammesbrüdern diese Verbindung nun zum Verhängnis werden? Allein der Gedanke erfüllte ihn mit Unmut. Er änderte seine Haltung, streckte Rücken und Hals. Noch fiel genügend Licht auf den Pass in der Ferne, zurückgeworfen von den glatten Felsflanken darüber. Er blickte über den Wald zu seinen Füßen. In weichen Wogen erstreckten sich die Baumwipfel bis hin zu den östlichen Bergen. Sein kluges Auge entdeckte einen sonderbaren Baum. Jeder andere hätte es übersehen, doch dem geschulten Blick des Jägers entging nichts. Die Blätter dieses Baumes wollten nicht dem Wind gehorchen, die Äste waren ausladend und schienen die umliegenden Bäume zurückzudrängen, ohne, dass sie einander tatsächlich berührten. Der Baum wirkte seltsam, unwirklich und fremd, doch er tat es als nebensächlich ab, denn es war nicht der Zweck seiner Wache und seine scharfen Augen sollten etwas anderes erspähen. Skerta blickte wieder auf den Pass und die Biegung, hinter welcher der Weg verschwand. Vor seinem inneren Auge sah er dort den Weg dahinter, wie er anstieg, heraus aus dem Talkessel. Er sah die Windungen des Pfads und die wolkenverhangenen Gipfel ringsum. Er sah die verborgenen Unterstände am Wegesrand, von seinen Urahnen aus dem Fels geschlagen, für die Äonen geschaffen und doch nur sichtbar für das geschulte Auge eines Nordmar. Er sah die Weiden, die sein Clan mit Bergziegen bewirtschaftete und er sah die Wohnhöhlen und die Hütten, die sich an die Hänge schmiegten. Das lange, prachtvolle Clanhaus, dass sich zur Hälfte dem Tal darbot und zur anderen Hälfte in den Berg hineinführte, zu den Gemächern ihrer Ältesten und zu dem einmaligen Schmelzofen der Silberkrähen, der heißer brannte, als die einfachen Talbewohner es jemals bewerkstelligen könnten. Und er sah eine Gestalt in der Ferne. Skerta blinzelte. Dort auf dem Pass, im Dämmerlicht! Er rappelte sich auf und rieb sich die Augen. Kleine Gestalten, winzig wie Ameisen, bewegten sich den Hang hinab. Skerta lächelte breit, schlug die Hände über dem Kopf zusammen und begann zu lachen.
Sie kommen!“, rief er aus. „Sie kommen!“, rief er voller Freude.
Ohne einen Augenblick zu verschwenden eilte er hinab ins Lager. Endlich eine gute Nachricht!


Es folgt Kapitel 2. Das wird eine Weile dauern, bitte Geduld haben...