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    Legende Avatar von Ajanna
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    Am Boden der Spalte

    Jaru ist also in die Spalte hinuntergeklettert, die zusammengeknoteten Seile reichen gerade so bis zu einem Absatz, von dem aus er dann halb rutschend, halb springend, den untersten Grund erreichen kann. Es ist dunkel hier unten, und erstaunlich kalt. Der Streifen Himmelslicht wirkt von hier eher wie eine blasse Lampe, nicht wie eine echte Öffnung in den Raum. Erstaunlicherweise hat sich hier Feuchtigkeit gehalten oder gebildet, nicht diese staubige Trockenheit, die oben alles bestimmt. Jaru sieht zarte helle Blüten, fast zerknittert, die in einem Luftzug zittern. Ihre Stängel und dünnen Blätter sind dunkel, fast lila. Der Grund der Spalte ist auch nicht so locker wie die Wände, es gibt einen ausgetretenen Pfad, selbst die Steine sind dort wie in den Boden getreten.
    Weil Jaru sich an die Geräusche des Kampfes erinnert, zieht er die Feuersteinklinge und nimmt die Blitzrune in die andere Hand.
    Leise und vorsichtig bewegt er sich vorwärts. Der Weg ist nicht übersichtlich, größere Felsbrocken und Abbrüche von Gestein liegen im Weg und an den Rändern. Es gibt eine Geräuschkulisse von ständigem Scharren und rollenden Steinen, dazu das Rauschen des Windes und einzelne Wassertropfen. Es klingt die ganze Zeit, als würde ihm jemand folgen. Er fühlt, wie sich auf seinen nackten Armen eine Gänsehaut bildet.
    Er geht eine Weile in die Richtung der Piratenfestung, sieht sich aber öfter um. Immer wieder fällt er auf die instabilen Wände herein, die loses Material nach unten rieseln lassen und dann das Echo des Falls verstärken. Er fühlt, wie er friert, und seine Muskeln dadurch steif werden. Seine Kleidung fühlt sich klamm an durch seinen eigenen Schweiß, der hier unten nicht trocknet.
    Er lädt die Blitzrune ein paar Mal auf, so ist wenigstens eine seiner Hände warm. Das Licht der Rune zeichnet blasse zackige Schatten auf unebene Wände und zuckende Blüten.
    Jaru läuft durch eine Art Tunnel, wo die beiden Seiten der Spalte so schräg sind, dass sie das Himmelslicht gänzlich nehmen. An seinem Ende erreicht er so etwas wie einen düsteren Platz, in dessen Mitte eine löchrige Säule aus porösem Felsen steht, mit Höhlen und Löchern wie von schwarzen Maden gebohrt. Und dort sieht er Kerr‘ontagh in lauernder, horchender Haltung stehen.


    Wie kommt es, dass er seinen früheren Orkbruder so genau erkennt? Denn eigentlich erinnert nichts an den lebendigen Jäger, den strubbeligen Trinker mit dem frechen Blick, den Trommler mit dem lauten Lachen und den flinken Fingern. Vor Jaru steht ein bläulich leuchtendes Skelett, wie in Staub gehüllt in einen zerfetzten Umhang, schwankend im Wind, die leeren Augenhöhlen stumpf und bodenlos, eine große Orkaxt im beinernen Griff. Doch auf der knöchernen Stirn hat sich die Tätowierung erhalten, Kerr‘on-tagh-Bacht, das Schiff des Mondes, sein Totem.
    Der reglose Untote scheint zu lauschen und schwankt dabei leicht im Wind. Und jetzt, Jaru entreißt sich fast ein Ausruf vor Schrecken, sieht er Gero, zu Füßen des Ungetüms in eine winzige Nische im porösen Fels gekauert, abgehärmt, mager und grau vor Erschöpfung.
    Jaru kann den Blitzzauber so gar nicht einsetzen. Die Gefahr, dass er Gero mit treffen würde, ist viel zu groß. So geht er leise wieder ein paar Schritte zurück, sodass er den toten Ork gerade noch sehen kann, dann lädt er den Zauber auf. „Kerr‘ontagh“, ruft er leise. Er sieht, wie Gero zusammenzuckt. Leider nimmt das auch der Ork wahr, deutlicher als den Ruf. Er hebt die große Axt weit über seinen Kopf. Gero schnellt aus seinem Versteck hervor, Jaru sieht einen rötlichen Funken, als Gero mit seinem Schwert zuschlägt: der Rubin von Inngolf, der Edelstein am Ende des Griffes. Dann weicht Gero zurück, und Jaru kann den Zauber loslassen. Er trifft Kerr‘ontagh an der Schulter, reißt ihn halb herum und wirft ihn nach hinten. Gero stürmt wieder vor. Jaru stellt sich in eine bessere Position und wartet, dass Gero wieder von Kerr‘ontagh ablässt. Aber er gleitet aus und strauchelt. Jaru lässt den Zauber trotzdem los, die grau glänzende Axt kommt Gero einfach zu nahe. Sowohl Gero, also auch Kerr‘ontagh brüllen auf vor Schmerz. Jetzt endlich hat Kerr‘ontagh gemerkt, dass ein zweiter Gegner auf dem Platz ist und wendet sich von Gero ab.
    Jaru kann ihn noch zwei Mal mit dem voll aufgeladenen Zauber treffen, bevor ihn der Ork erreicht. Als es so weit ist, fallen aber nur Knochen vor seine Füße. Gero hat ein letztes Mal zugeschlagen.


    Und dann stehen sie voreinander im kalten grauen Dämmerlicht, Gero und Jaru. Jaru hat sich diesen Moment immer anders vorgestellt, hat nicht daran gedacht, dass sein Freund so fertig, so fragil und hungrig aussehen könnte, hat nicht damit gerechnet, dass er Risse um den Mund haben könnte, und dass sein Gesicht so schmutzig, seine Augenringe so tief und sein ganzes Elend so offensichtlich sein könnte.
    Ich glaube, du hast jemand anderen erwartet,“ sagt Gero und grinst. Er sieht fast aus wie ein Totenkopf. Jaru fallen keine Worte ein. Er steckt Rune und Feuersteinklinge weg und öffnet seine Hände, aber es ist Gero, der ihn schließlich umarmt.
    Der Moment der Wahrheit. Für Jaru stürzt die Welt ein.
    Er verliert den Überblick über die Zeit, über unten und oben. Er reagiert zu spät auf das erneute Brüllen, auf die Axtattacke des zweiten Untoten, T‘Bekhon, und Geros Parade. Diesen zweiten Feind stellen sie zwischen sich, teilen abwechselnd Hiebe aus, sodass der Ork nicht ausholen und keinen richtigen Treffer landen kann. Jaru kommt ins Straucheln, verliert die Initiative, endet mit dem Rücken an der Felssäule. Doch Gero hat aus der Hoffnung neue Kraft geschöpft. Er kann den Ork nun alleine besiegen, wie schon einige Dutzend Mal in der Kälte, in der Einsamkeit, in der Dunkelheit, wenn auch zum Schluss immer mühsamer.
    Als schließlich auch T‘Bekhons Knochen um sie herum auf dem Boden verstreut sind, holen beide erst tief Atem, verschnaufen auf die Knie gestützt, ohne sich anzusehen.
    Bis du mich wirklich suchen gekommen? Woher wusstest du, dass ich noch lebe?“ Gero wischt sich mit seinem zerfetzen Hemdsärmel die Stirn.
    Wir haben den Kampflärm gehört, vor zwei Tagen.“
    Dann war das doch ein Pfiff der Küstenwache! Ich dachte, ich fange an, verrückt zu werden.“
    Nein.“ Jetzt sieht ihn Jaru wieder an. „Ich war viele Tage nicht mehr auf der Feuerinsel. Ombhau' hat die Alca gekapert und mich gefangen genommen. Aber dann… das ist eine längere Geschichte. Die Königin hat mir ihr neues Schiff geliehen...“
    Ich war nie froher, dich zu sehen. Du weißt nicht, wie es war, hier...“
    Lass uns von hier abhauen, Gero.“
    Gero wird plötzlich ganz still und starr. „Ich weiß nicht, ob ich hier wegkomme, Jaru. Die beiden Orks hier… ich habe sie schon öfter besiegt. Aber sie… verdammt, die hängen mir im Genick wie Blutfliegen. Ich denke, sie werden mir folgen. Ich... ich habe wirklich Mist gebaut, Jaru. Mit der Phiole, erinnerst du dich?“
    Wir reden später darüber. Ich bringe dich auf‘s Schiff, übers Wasser kommen sie nicht. Und wir kümmern uns um T‘Bekhon und Kerr‘ontagh, später.“
    Wie bist du hier runter gekommen?“
    Mit einem Seil, weiter vorne. Ich bringe dich hin.“

    Geändert von Ajanna (23.09.2021 um 17:35 Uhr)

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    Die Umkehr

    Als Ingmar wieder zu sich kommt, tritt er uns alle in den Arsch. Ehrlich – ich habe eine Menge neue Wörter gelernt, die Marlan nicht gut gefunden hätte. Feigschisser zum Beispiel, und Schluffschleicher. Aber erst mal von vorne: Ingmar wacht irgendwann auf, schickt Palissa in die Kombüse und durchstöbert dann mit Corry, Elko und mir zusammen das Schiff. Er hat Schlüssel zu Lagern und Kajüten, wo wir vorher nicht hingekommen sind, und so finden wir noch fünf weitere Besatzungsmitglieder. Zwei im Rumlager – Ben und Rotdorn, volltrunken und laut schnarchend. Wir müssen sie an Deck tragen und mit Seewasser übergießen. Und drei haben sich in der Pulverkammer eingeschlossen, Jona-Ole, genannt Schuppe, Petja und Marduk. Als Ingmar aufschließt, halten sie schon eine Fackel an eine Lunte. Zum Glück kann er sie gerade noch stoppen.
    Ingmar versammelt uns an Deck und hält eine Rede. Über den Mut, über Kameradschaft, über gemeinsame Anstrengungen und Treue bis zum Tod. „Wir sind doch die, die dageblieben sind,“ mault Corry irgendwann leise – aber nicht leise genug. Ingmar schickt ihn ans Steuerruder und schließt ihn vom Abendessen aus. Das ist aber nicht besonders schlimm, es gibt eh‘ nur Zwieback. Palissa ist noch dabei, aufzuräumen und sauberzumachen.
    Mit uns anderen macht er Unterricht. Er geht über das Deck, von Mast zu Mast, fragt Wissen ab und lässt die anderen Handgriffe und Knoten zeigen, die Elko und ich dann nachmachen müssen. Er lässt uns auch in die Netze hochklettern. Zwischendrin schreit er einfach ein bisschen rum, ich habe den Verdacht, er macht das nicht nur, damit wir wach bleiben, sondern genauso auch er selbst. Er erklärt, wie das Schiff auch mit einer so kleinen Mannschaft gesegelt werden kann, worauf es ankommt, was beim Wenden nicht passieren darf. Und dann üben wir, Tampen beizuholen und die Segel an der Rah aufgeien, bis meine Hände rot und wund sind und ich jegliches Richtungsgefühl verloren habe. Wir fahren nur mit etwa einem Drittel der Takelage, trotzdem kommt mir die Adamanta schnell vor, da der Wind nun kräftig und gleichmäßig bläst.
    Einmal sehe ich, wie Ingmar schwankt, sich an der Reling festhalten muss. Etwas später teilt er uns in zwei Gruppen ein und schickt die Hälfte schlafen. Wir kennen nun unsere Aufgaben. Ich bin in der Gruppe, welche die erste Schicht hat, und Ingmar ernennt Corry zum Wachhabenden und legt sich selbst auch nochmal hin. Als er weg ist, schiebe ich Corry ein paar Zwiebackstücke rüber.
    Du hast das Herz auf dem rechten Fleck, unerschrockene Pflanzensammlerin. Vielleicht gewinne ich doch noch irgendwann nicht nur dein Mitgefühl mit meinem knurrenden Magen, sondern mehr von deiner Huld.“
    Erwarte das besser nicht, Corry. Dann bist du nicht enttäuscht, wenn es nicht passiert… was denkst du, hat Ingmar vor?“
    Wir fahren zurück, er hat es wohl aufgegeben, nach Myrtana zu gelangen. Aber mit dem jetzigen Kurs werden wir Kamorala verpassen… ich denke, er hat vor, den Feiglingen in den Beibooten den Weg abzuschneiden und die Mannschaft wieder an Bord zu nehmen. Deshalb hat er sich auch hingehauen: wenn wir auf sie treffen, wird es spannend. Streng genommen sind sie Meuterer… aber Ingmar hat nicht den Ruf, ein grausam harter Hund zu sein. Deshalb war ja auch Tasso der Kapitän, dem möchte ich nicht in die Quere kommen, wenn er einen dicken Hals hat. Außerdem brauchen wir jetzt jeden Mann.“
    Woher weiß er denn, wo die Beiboote sind?“
    Nun, sie sind ja nicht so schnell wie die Adamanta, und da sie sicher wenig Wasser und Proviant an Bord haben, müssen sie den schnellsten Weg zu unserer Insel zurück nehmen… Kamorala kommt nicht infrage, da gibt es eine Strömung, gegen die kommen sie in Ruderbooten nicht an. Ingmar kennt diesen Teil der See wie seine Hosentasche, und Bork kann navigieren, also besteht eine gute Chance, dass wir die Flitzpiepen einsacken können, bevor sie anfangen, an den Rudern zu nagen oder Lose ziehen, wer einen Arm opfern muss.“
    Meinst du das im Ernst?“ frage ich Corry erschrocken.
    Der schneidet nur eine Grimasse.

    Geändert von Ajanna (27.12.2021 um 14:44 Uhr)

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    Das Ding

    Schon nach drei Stunden – meine Schicht ist noch lange nicht zu zu Ende – taucht Ingmar wieder auf. Er spricht mit Petja, dass er meine Aufgaben mit übernimmt, und fragt mich dann nach dem toten Feind, den Elko erledigt hat. Der liegt immer noch in dem kleinen Beiboot. Zusammen ziehen wir es hoch, schleppen das tote Ding in mein Labor und wuchten es auf den Tisch. Aus den abgeschnittenen Schläuchen kriecht ein Hauch Geruch nach vergammeltem Aal.
    Zuerst betrachten wir seine Rüstung. Das Auffälligste daran sind Schriftzeichen in einem kalten, fahlen Gelb. Während unsere Schrift auf der Grundlinie steht, scheint diese Schrift auf einer Mittellinie zu laufen, und die Zeichen sind unterschiedlicher groß als unsere Zeichen. Der auffälligste Buchstabe ist einer, der wie ein stilisierter Besen aussieht. Die Schrift hat mehrere Zeilen, oben ist sie größer, darunter ist eine Zeile in kleinerer Schrift, aber genauso lang wie die obere Zeile. Jemand war sehr gut in Kalligrafie, das so hinzubekommen. Ich zeichne es ab in mein Forschungsbuch. Die Rüstung ist ganz aus einem Stück gemacht, einem gräulichen Material, elastisch, aber sehr fest. Mit einer normalen Laborklinge kann ich sie nicht anritzen. Sie hat etwas wie Grate, Verstärkungen, die in das Material eingearbeitet sind. Die Arme und Beine sind über eine Art schwarze Krause mit dem Mittelteil verbunden. Das Helmglasist undurchsichtig, wir spiegeln uns darin.
    Wir suchen nach Verschlüssen, um die Rüstung zu öffnen. Während wir uns damit abmühen, wird der stechende Geruch nach Verwesung immer schlimmer. Ingmar verliert schließlich die Geduld, zieht seine große, bläuliche, scharfe Erzklinge und haut das Ding längs komplett in der Mitte durch. Direkt danach stürzen wir zur Reling, um die Fische mit Zwieback zu füttern.
    Als wir uns wieder nach unten wagen, hat sich der Inhalt der Rüstung bereits zersetzt und verflüssigt. Man erkennt vage eine menschenähnliche Form, nun geöffnet, sodass blass leuchtende Knochen aus dem Brustkorb ragen. Darin sieht man dunkle Organe, und bei ihnen hört jegliche Menschenähnlichkeit auf. So gibt es je einen herzähnlichen Knubbel auf beiden Seiten der Wirbelsäule, und diese ist nicht in Wirbel unterteilt, sondern eher wie ein Band von Ringen. Auch ist das Körperinnere nicht rot, sondern blass grünlich. Ingmar nimmt eine Metallsonde und puhlt in einem der „Herzen“, aber das Material ist ganz weich und wackelig und er kann es auseinander ziehen wie Brei. Bei den Adern, die schwarz erscheinen, kann man nicht zwischen Adergewebe und Inhalt unterscheiden, und sie zerfallen genauso leicht.
    Schließlich versucht er, aus den Armen und Beinen der Rüstung die Gliedmaßen hinaus zu schütteln, aber es erscheint nur ein blasiger Glibber und wir müssen das Labor wieder verlassen, bis sich der giftige Hauch verzogen hat. Als wir zurückkehren, sehen wir, dass sieben Zehen- und Fingernägel in den Überresten des Gewebes schwimmen. Auch die blass leuchtenden Rippen sind nun weitgehend zerfallen, scheinen wie Eis in der Sonne zu zerschmelzen, und mit einem scharfen Plopp entzündet sich das Ganze selbst und verbrennt vor unseren Augen zu einer zähen schwarzen Wurst. Auch die Rüstung verbrennt. Ein drittes Mal müssen wir das Labor räumen. Zum Glück ist der Tisch feuerfest. Als wir zurückkehren, liegt nur noch der Helm und der Rucksack in den glimmenden Überresten. Wir kratzen alles zusammen in eine stählerne Wanne und Ingmar nimmt es mit an Deck.
    Die Wanne kippt er über die Reling. Wir haben beide nicht viel Lust, noch weitere Analysen damit zu betreiben. Dann leert er den Helm in die Wanne. Der Kopf muss geborsten sein, wahrscheinlich schon beim Durchschneiden der Schläuche. Aber man kann noch erkennen, dass auch die Zähne völlig un-menschlich sind. Die sind alle fast gleich, kegelförmig, und laufen in dreieckigen scharfen Spitzen aus. Der Unterkiefer ist in der Mitte durch einen Knorpel getrennt, folglich nicht nur im Kiefergelenk beweglich, der Kopf war vielleicht auch beweglicher als bei uns. Ich erkenne eine halbrunde, zackige Platte an der Schläfe, die nicht fest mit der aufgelösten Form des restlichen Schädels verbunden ist. Sie schillert in einem kräftigen Grasgrün, mit bläulichen Glanzlichtern.
    Auch das Gesichtsfeld besteht aus kleineren Platten – oder sind es Schuppen? Das Ganze sieht eher wie eine Echse aus. Das Ding hatte auf jeder Seite des Schädels drei Augen, zwei davon seitlicher am Kopf als bei uns, zwei sehr kleine Knopfaugen saßen auf der Stirn. Und dann fängt auch dieses gruselige Stilleben Feuer. Der Rucksack bekommt ein Loch, etwas entweicht brennend daraus mit einem pfeifenden Geräusch. Da werfen wir auch die restlichen Bestandteile unseres Feindes über Bord.
    Verdammt, was WAR das?“ Ingmar ist erschüttert. „Hol dein Forschungsbuch, wir müssen alles aufschreiben, solange wir uns gut erinnern. Und das Labor muss besonders gereinigt werden, am besten ich mache das selbst, während du schreibst.“ Wir gehen wieder nach unten. Es wird eine lange Nacht.

    Geändert von Ajanna (28.12.2021 um 10:34 Uhr)

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    Kerr‘ontagh-Bacht

    Als sie oben zu den anderen zurückgeklettert sind, lässt Jaru, wie versprochen, die gefangenen Piraten frei. Verlegen stehen sie herum und betrachten Gero wie ein Wunder, das er vielleicht ja auch ist. „Was ist jetzt mit den untoten Orks, habt ihr die erledigt?“ fragt schließlich einer der Piraten, ein mittelalter Mann, der eher wie ein Handwerker als wie ein Pirat aussieht. Jaru zögert. „Sie werden wieder kommen,“ sagt Gero. „Sie suchen mich.“
    Und was haben wir mit deinen Untoten zu tun? Was sollen wir machen? Uns abmurksen lassen, bis die dann feststellen, dass wir die Falschen sind? Heißt das, du verpisst dich jetzt, und wir müssen das auslöffeln, was du Krankes gekocht hast?“
    Ich habe versucht, Shaboz hier zu erklären, was ich vorhabe, als ich in eure Festung wollte,“ interveniert Jaru. „Und ihr habt mich draußen stehen lassen. Euch war der Zweikampf wichtiger als alles andere. Ihr könnt morgen zu unserem Schiff kommen, wenn ihr wirklich Hilfe wollt. Ihr kennt ja den Weg.“ Dann lässt er sie stehen.
    Gero, Shaboz, Wokkar, S‘zork, Tubic und Elwo folgen ihm schweigend.
    Gero schaut sich auf dem Rückweg zur See die karge Vulkanlandschaft an. „Es sind noch nicht viele Tage vergangen, seit wir diese Insel das erste Mal betreten haben. Und doch kommt es mir vor wie mein halbes Leben.“
    Jaru dreht sich um. „Es ist noch nicht vorbei – aber heute Nacht verspreche ich dir eine Pause.“ Gero nickt grimmig.
    Du bist also der große Morr‘Hok-Keshak,“ Shaboz spricht Gero von der Seite auf Orkisch an. „Befreier der Orkgefangenen, Mörder von Hosh-Urkosh. Vielleicht sollte ich dich töten, dann tun die Untoten, was ich ihnen befehle.“
    Hosh-Urkosh hat nicht selbst gedacht in seinem Kopf. Rache hat ihn gedacht. Deshalb ist er jetzt tot,“ antwortet Gero, in etwas holprigem Orkisch. „Und Kerr‘ontagh und T‘Bekhon haben nichts damit zu tun.“
    Shaboz erschrickt und greift nach einem Amulett an seinem Hals. Die Namen von Untoten nennen, das würde er nie wagen. Jaru nickt leise. Geros Mut, der wird ihn befreien. Aber nur mit seiner, Jarus, Hilfe. Und es wird ein Opfer kosten, auch wenn sie alle noch nicht wissen, was es sein wird.
    Als sie am Meer ankommen, reißt Gero sich die Lumpen vom Leib und stürzt sich lachend in die Fluten. Das ist so ansteckend, dass die anderen es ihm nachmachen. Nur Jaru schwimmt angezogen zum Schiff.
    Die See ist immer noch wärmer als sonst, aber es schwimmen keine toten Tiere mehr darin.


    Jaru ist es eine Freude, Gero beim Essen zuzusehen. Obwohl die mitgebrachten Delikatessen zur Neige gehen, haben sie für Gero noch mal von allem ein bisschen auf einem großen Teller angerichtet, und Gero isst langsam, probiert alles und genießt. Dabei sitzen sie alle um ihn herum und feiern mit ihm.
    Warum hast du einen Ork-Namen?“ fragt schließlich Akasha.
    Ich war Gefangener mit den Orks in einer Mine. Aber das ist nicht der Grund. Es gab dort einen Aufseher, der wollte die Orks zerstören, nicht nur durch die harte Arbeit. Sie durften ihre Sprache nicht mehr sprechen, es gab grausame Strafen dafür. Er hat mich Orkisch sprechen hören und wollte, dass ich die Orks verrate.“
    Und das hast du nicht getan?“
    Nein. Und ich habe seine Strafe überlebt, da war ich der erste. Aber ich hatte auch Glück.“
    Was war die Strafe?“
    Es gab eine Höhle mit Nirwan-Kachlas. Ich sollte sie abernten, aber ohne Rüstung, nur mit einem alten Schwert. Sie haben mich hochgezogen, als es geklappt hat. Zu meinem Glück haben sie den Wortlaut der Strafe verfolgt und nicht Faids Absicht. Morr‘Hok-Keshak heißt Mann-fünf-Spinnen.“
    Auf den Gehorsam der Wachen!“ lacht Wokkar und hebt seinen Krug.
    Ich hätte nie gedacht, dass ich darauf je trinken würde. Innos‘ Gerechtigkeit in den Herzen der Menschen!“ Gero hebt seinen Krug und leert ihn bis zur Neige. Jaru kommt es vor wie ein Omen.


    Wenig später wird es ruhig auf dem Schiff. Gero und alle, die nicht als Wachen eingeteilt sind, haben sich hingelegt und schlafen. Jaru steht an Deck. Er ist aufgewühlt vom Wiedersehen mit Gero und versucht, seine Gefühle zu verstehen. Nichts ist wie in der Nacht vorher, nichts wird wieder so werden. Vom warmen Meer steigt Nebel auf. Und dann geht der Mond auf, ein strahlender Vollmond, der auf dem Nebel schwimmt wie eine Erbse in einer Schote.
    Man sieht kaum das Ufer… doch etwas bewegt sich dort. Und dann – ein zarter Windhauch weht für einen Moment den Nebel dort fort – sieht Jaru Kerr‘ontagh am Ufer stehen. Er bewegt sich nicht, sieht regungslos zum Schiff hinüber. Sein Totem, Kerr‘ontagh-Bacht, das Schiff des Mondes, leuchtet hell auf seiner knöchernen Stirn. Jaru war dabei, als ihm die Tätowierung gestochen wurde, damals als er noch sein Orkbruder war, und Blut in seinen Adern floss. Auch dies ist noch nicht lange her, und doch trennen sie nun Welten. Er gleitet lautlos ins Wasser und schwimmt auf ihn zu.

    Als er sich im kniehohen Wasser langsam aufrichtet, dreht der untote Ork den Totenschädel in seine Richtung. Beim Anblick läuft Jaru eine Gänsehaut den Rücken hinunter. Aber er ist nicht unvorbereitet gekommen. Seit dem Treffen mit Gero hat er in seinem Gedächtnis gekramt, hat Beschwörungen erinnert und verworfen, aber nun denkt er, dass er die richtige gefunden hat. Er singt leise Krush‘untar‘Serk, das Lied des großen Friedens. Bei den Orks sind „Friede“ und „Gerechtigkeit“ dasselbe Wort.
    Kerr‘ontagh senkt den Kopf und hört ihn zu Ende an. „Gibst du dein Wort, dass Morr‘Hok-Keshak sich dem Gericht stellen wird?“ Jaru hört das heisere Flüstern eher in seinem Kopf, als in seinen Ohren. Er sieht dem Totenschädel in die dunklen Augenhöhlen und nickt. „Dann wird niemand sterben, bis das geschehen ist. Wartet nicht zu lange.“
    Und der Nebel weht wieder über das Wasser, Jaru findet kaum zum Schiff zurück.

    Geändert von Ajanna (28.12.2021 um 10:39 Uhr)

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    Bitterer Tee

    Am nächsten Morgen brechen Wingstan, Gowan und Wokkar früh auf. Sie wollen auf das Hochplateau unter dem Vulkangipfel vorstoßen, und unterwegs nach Überlebenden Ausschau halten und weitere Tote begraben. Karitha und Shaboz haben ein Frühstück bereitet: Es gibt Krabben auf einem Bett von Algensalat und Seevogeleier. Jaru lässt Gero ausschlafen. Er sucht am Ufer das Treibgut und die kleinen Tümpel ab, bis er ein paar Dinge gefunden hat, von denen er denkt, dass sie bei dem Vorhaben, Frieden mit den untoten Orks zu schließen, nützlich sein könnten. Zum einen denkt er an Kerantaris Orakel zurück. Er hat keine von den Perlen mehr, aber er findet einen nahezu ovalen Stein aus schwarzem Jett, einen ebensolchen weißen Kieselstein und zuletzt ein honigfarbenes ovales Stück Bernstein. Eigentlich würde auch die Blitzrune in die Sammlung passen. Schmerzhaft erinnert er sich an Xhutuboc. Seine Freude darüber, die Rune bekommen zu haben, ist gänzlich vergangen.
    Als Schale nimmt er eine Hälfte von einem sehr großen Ei, das er findet – es ist schon lange ausgetrocknet und vom Sand glatt geschliffen. Als er Karitha später von Kerantaris Orakel erzählt, gibt sie ihm ein Stück dunkelgrüne Seide, um die Schale zu bedecken. Dunkelgrün wie das Kleid, das dieses Mädchen trug, das er bei Kerantari traf… das letzte Mal, dass ihm ein Mädchen gefallen hat. Er ist in seltsamer Stimmung an diesem trüben Morgen. Das Wetter ist umgeschlagen und es nieselt, seit Helligkeit hinter dem Nebel aufgezogen ist. Hin und wieder sieht man die Sonne, eine fahle Scheibe ohne Farbe und Kraft.
    Zum anderen versucht Jaru, die Gedanken an Gero zu ordnen. Aber es ist völlig sinnlos. Und es geht nicht wirklich um Gedanken. Jaru zwingt sich, an das Gericht zu denken und was es für Gero bedeuten könnte. Bei den Orks gibt es keine geschriebenen Gesetze. Was mit Thorus, verantwortlich für den Mord an den Schiffswachen, zu geschehen hatte, zum Beispiel, es war nicht selbstverständlich gewesen, dass Jaru ihn hatte töten müssen. Er hätte ihn auch gefangen nehmen und vor Tushik‘att bringen können – oder zu den Eltern der Schiffswachen. Und die hätten auch einiges andere von Thorus verlangen können als seinen Tod: dass er lebenslang für die Eltern gesorgt hätte, zum Beispiel, oder eine andere große Aufgabe. Oder ein neues Boot, viel Gold, Erz oder Waffen. Dass er ihnen ein Kind brächte, Ersatz für den toten Sohn, oder dass er die Frau des Toten heiratete. Wobei das nicht unbedingt Sachen waren, welche die Orks von Menschen annehmen würden. Was konnte Gero den Untoten als Entschädigung anbieten, außer seinem Leben? Sein Schwert vielleicht, mit dem Rubin von Inngolf. Das war ein Schwert, wie es kein zweites gab. Es würde Gero schmerzen, es zu verlieren. Aber würde es Kerr‘ontagh oder T‘Bekhon nützen? Vielleicht als Pfand. Damit Gero irgendwann wiederkäme. Nachdem er was getan hätte? Jaru zergrübelt sich den Kopf, was die Untoten von Gero verlangen könnten. Und er und Gero müssten sehr auf jedes Wort achten, das gesprochen wird. Es muss eindeutig sein, denn so ein Vertrag wäre magisch bindend. Auf Leben und Tod. Jaru weiß, dass er durch sein Nicken in der Nacht längst Teil dieses Vertrages geworden ist. Es geht nicht mehr nur um Gero. Sein Leben, und alles, was er ist, ist von jenem Augenblick an Gero und Kerr‘ontagh und T‘Bekhon gebunden.
    Es erschreckte ihn mehr, würde er Gero nicht mit jeder Faser seines Herzens lieben.


    Als Gero aufwacht, ist es bereits fast Mittag. Karitha und Shaboz tragen das Frühstück auf. Gero stürzt sich gierig darauf. „Gut, dass es keinen rohen Fisch gibt. Ich denke, ich hatte in den letzten Wochen genug rohen Fisch für den Rest meines Lebens.“
    Rohen Fisch, ja?“ fragt Karitha. „Wahrscheinlich hast du auch Würmer. Komm nachher in die Küche, ich mache dir einen Tee dagegen.“
    Sicherlich haben sie dich deswegen aus Cor-dal-Pesch rausgeschmissen, Magierin mit der scharfen Zunge,“ vermutet Elwo, der sich auch ein zweites Frühstück gönnt. „Gib zu, die Leute hatten immer solche Ohrenschmerzen, wenn du vorbei gekommen bist.“
    Nein, sie haben Morade und mich aus Cor-dal-Pesch rausgeschmissen, und das hatte andere Gründe. Unter anderem haben wir für den dortigen Wassermagier eine Falle aufgebaut, die ihn beim Auslösen total durchnässt hat. Wir hatten gewettet, ob er als Wassermagier das Wasser über seinem Kopf würde spüren können. Und siehe da, das konnte er nicht. Morade hat ihn den Magier des sanften Nieselregens genannt, sie hat ein Lied darüber gedichtet. Das hat ihm überhaupt nicht gefallen.“ Karitha lacht, doch ihre Augen bleiben ernst.
    Gero spürt ihre Trauer. Er erinnert sich, wie sie neben einem Grab Wache gehalten hat, in der Nacht, als er sich von Nela verabschiedete.
    Er geht später zu ihr in die Kombüse, trinkt einen großen Topf eklig bitteren Tee und findet ein paar passende Worte für Karithas Verlust. Sie ist nun nachdenklich, gar nicht mehr spöttisch. „Weißt du Gero, wenn man plötzlich erfährt, dass man die Zeit mit einem Menschen nicht genutzt hat, um die wirklich wichtigen Sachen zu sagen, dann neigt man vielleicht dazu, sich für das Taktgefühl zu wenig Zeit zu nehmen. Es tut mir Leid, wenn ich zu direkt war. Und doch auch wieder nicht. Deshalb will ich dich jetzt etwas fragen, was vielleicht nicht meine Aufgabe ist. Trotzdem finde ich wichtig, dass du es erfährst, bevor du mit Jaru zu den untoten Orks gehst. Es könnte das verändern, was du versprechen oder tun willst.“
    Was meinst du, Karitha?“
    Weißt du, dass Marlan ein Kind erwartet?“
    Karitha ist froh, dass Gero nur sprachlos ist. Dass er keine dummen Witze reißt, nicht laut überlegt, ob das Kind von ihm sein kann. Im Stillen rechnet er. „Verdammt, man sieht es schon, richtig?“ Karitha nickt. „Ist das, ich meine, ist das ein Problem für Marlan im Kloster?“
    Im Kloster nicht. Du weißt, dass es ohne Marlan das Kloster nicht gäbe. Aber wir leben auf einer Insel, die nicht besonders groß ist. Und auf der sehr unterschiedliche Menschen – und Orks – leben. Und das Kind macht das Kloster angreifbar. Sie plant, in die Stadt zu gehen, zu Amara, aber heimlich. Vielleicht ist sie schon dort. Sie weiß noch nicht, dass du lebst. Vielleicht solltest du sie bald suchen.“
    Danke, Karitha. Für alles. Die Wahrheit und den Tee. Wann immer du mich brauchst, mein Schwert brauchst, oder eine Schulter, mein Zuhören oder etwas anderes, zögere nicht, mich zu bitten.“
    Ja, verstanden. Aber du hast gerade schon ziemlich viel auf dem Teller, junger Paladin. Wenn mich nicht alles täuscht, gibt es da auch noch so eine Königin, von der man gerade sagt, dass sie in schlechte Gesellschaft geraten ist… Wie auch immer, ich werde mich erinnern. Und da kommt Jaru.“ Karitha zeigt aus dem Bullauge. „Er sieht ziemlich ernst aus.“

    Geändert von Ajanna (28.12.2021 um 19:44 Uhr)

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    Pläne für das Gericht

    Jaru klettert an Bord, seine Fundstücke zieht er in einem Sack hinter sich her. Auf seiner Stirn hält sich eine waagerechte Falte. Als er Gero sieht, strahlt sein Gesicht kurz auf, aber er murmelt nur leise: „Komm in meine Kajüte, wir müssen reden.“
    Das wollte ich auch mit dir. Ich will dieses Gericht – oder was immer es ist – so schnell wie möglich hinter mich bringen. Wie sieht eigentlich euer Plan für die weitere Seereise aus? Bringen wir die Rubin in die Hauptstadt? Wie lange habt ihr für die Hinfahrt gebraucht?“
    Gero...“
    Was bedeutet das Gericht überhaupt? Habe ich eine Chance? Ich weiß, dass ich schuldig bin. Ich habe es jeden verdammten Tag in dieser Höllenspalte gefühlt und bereut.“ Geros Gesicht ist immer noch sehr bleich, und nun ist es fast grau vor Anspannung.
    Darüber wollte ich mit dir reden. Es ist nicht einfach. Das Gericht kann dir schaden. Und mir auch, ich hänge seit gestern auch mit drin. Aber ich denke, mit einem guten Plan...“
    Was meinst du damit? Es ist doch keine richtige Verhandlung, oder?“
    Hör mir doch zu, Gero! Warte mit den Fragen, bis ich dir gesagt habe, an was ich heute Morgen herum überlegt habe!“
    Was heißt das: seit gestern hängst du auch mit drin?“ fragt Gero stattdessen. Jaru verdreht die Augen. Dann erzählt er ihm von seinem nächtlichen Ausflug im Nebel.
    Gero hört ihm zu. „Krush‘untar‘Serk,“ murmelt er, als Jaru zu Ende erzählt hat. „Was ist das genau? Etwas Magisches?“
    Es ist ein sehr altes Lied. Es ist… sehr Ork. In ihm geht es darum, wie der Frieden erreicht werden kann. Es geht um Gleichgewicht, um Gerechtigkeit. Du wirst keinen Ork finden, der nicht durch die Worte bewegt wird. Als ich es gesungen habe, habe ich ein Versprechen gegeben. Deshalb habe ich gesagt, ich hänge mit drin.“
    Was hast du versprochen?“
    Dass du dich dem Gericht stellst.“
    Darüber haben wir schon gesprochen. Ich bin dazu bereit.“
    Ich bin mir nicht sicher. Ich würde dich gerne vorbereiten… uns vorbereiten. Denn auch wenn Kerr‘ontagh mein Bruder war… dieses Ding, dieser Untote ist es nicht. Das Gericht ist ein Ritual. Es wird auf jedes Wort ankommen. Es kann dich das Leben kosten. Jede Stunde des Rests deines Lebens. Deshalb habe ich gesagt, wir müssen klug sein.“
    Was hast du dir überlegt?“
    Erinnerst du dich, dass ich von dem Orakel von Kerantari erzählt habe? Das mit der roten, weißen und schwarzen Perle?“
    Klar. Aber ich sehe nicht...“
    Ihre drei Wahlmöglichkeiten schienen die Möglichkeiten komplett auszuschöpfen. Du erinnerst dich: vors Kriegsgericht, Marlans Wahl oder das Gesetz der Orkwaldleute. Das Entscheidende ist: tatsächlich hat Kerantari durch die Wahl der drei Möglichkeiten die Wirklichkeit gestaltet. Es kam nicht mehr vor: den Gefangenen zu foltern, bis er etwas verrät. Oder: ihn freizulassen und ihm zu folgen, wohin er gehen würde. Ihn unter Drogen zu setzen, ihn zu hypnotisieren, was weiß ich. Kerantari schien alles dem Schicksal zu überlassen, aber in Wirklichkeit war sie die Gestalterin unseres Willens.“
    Ich verstehe, Jaru. Du willst Kerr‘ontagh und T‘Bekhon Möglichkeiten anbieten, die ihnen wie eine freie Wahl vorkommen, aber in Wirklichkeit willst du das Gericht lenken, sodass ich es überstehen kann.“
    Genau. Ich überlege die ganze Zeit, was wir ihnen anbieten können, ohne dass es dich dein Leben oder den Rest deiner Zeit kosten wird.“
    Heißt das nicht: zu mogeln? Ist das Gericht dann noch gültig?“
    Wenn sie das Orakel akzeptieren: ja. Deshalb müssen wir etwas Gutes zum Anbieten finden.“
    Was wäre denn der normale Preis für zwei Menschenleben?“
    Jaru sagt es ihm.
    Es gibt also kein festgeschriebenes Gesetz… Wozu würdest du mich denn verurteilen?“
    Ich würde dich wahrscheinlich zu den Eltern der beiden bringen, und darauf bauen, dass sie von einem Menschen nicht dasselbe verlangen wie von einem Ork. Dass ein Mensch um Verzeihung bittet, ist so ungewöhnlich, es würde sie bewegen. Und du bist Morr‘Hok-Keshak, Befreier der Orks.
    Wenn du das sagst… gewagtes Spiel. Und die Befreiung ist auch schon so verdammt lange her...“
    Was würdest du selbst denn anbieten wollen?“
    Ich weiß nicht… ich habe eigentlich nur mein Schwert. Vielleicht finden wir meine Rüstung, wenn wir in der Spalte graben.
    Das habe ich auch schon überlegt. Du könntest das Schwert hier lassen als Pfand. Das du wieder bekämst, wen du getan hättest, was sie von dir verlangen… oder das für dich verloren wäre, wenn du es nicht tust.“
    Willst du damit sagen...“ fährt Gero auf.
    Ja.“ Jaru weicht seinem Blick nicht aus. „Du willst leben, ist das nicht so? Oder ist dir wirklich egal, was bei dem Gericht rauskommt, Hauptsache, du musst nicht mehr jeden Tag rohen Fisch essen und leuchtende Orkknochen zerschlagen? Fassen wir mal zusammen: Ich gehe davon aus, du willst nicht für alte Orks sorgen, bis sie sterben, du willst keine Orkwitwe oder -braut heiraten, du hast kein Kind, das du als Sohnersatz anbieten könntest, kein Boot, kein Land, kein Gold...“
    Gero hat sich sehr bemüht, bei dem Satz „kein Kind, das du anbieten könntest“ nicht zu zucken. Jaru fällt es anscheinend nicht auf.
    Was bleibt denn dann noch? Mir eine Hand abhacken? Thorus finden und umbringen?“
    Das habe ich schon getan.“
    Ach? Das möchte ich gerne genauer hören.“
    Jaru erzählt ihm von dem Kampf mit Xhutuboc.
    Hhm… vielleicht ein Zweikampf, ein Gottesurteil? Nur dass ich den beiden schon so oft auf den Schädel gehauen habe, das wird ihnen nicht wie ein Gottesurteil vorkommen.“
    Vielleicht ohne dein Schwert?“
    Auch das schon. Vielleicht: den finden, der die Phiole hergestellt hat. Genau betrachtet, war ich eher der Amboss als der Hammer.“
    Das könnte eine Lebensaufgabe abgeben. Oder lag vielleicht derjenige in dem Sarg, aus dem du die Phiole gestohlen hast und du musst nur seine Knochen herbeischleppen? Aber das könnte tatsächlich ein Vorschlag sein. Für ovalen Stein Nummer eins.“
    Jaru zeigt Gero seine Eierschalenschüssel und seine vier ovalen Steine.
    Ich hoffe, du verstehst etwas von der Totenbeschwörung. Wie kann ich sonst feststellen, welche Knochen die richtigen sind?“
    Indem du das selbst lernst?“
    Ich glaube nicht, dass dieses Wissen auf der Innosseite bewahrt wurde, Bruder der Nacht,“ murmelt Gero.
    Jaru zuckt zusammen.

    Geändert von Ajanna (28.12.2021 um 22:54 Uhr)

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    Der Meiler

    Gero bemerkt es: „Was ist?“
    Kerr‘ontagh hat mich so genannt: Bruder der Nacht. Wir waren zusammen in einer Krieger-Gruppe.“
    Erzähl mir von ihm. Ich habe ihn kaum gekannt.“
    Kerr‘ontagh war... witzig, aufmüpfig, er hat Lieder gedichtet; ein genialer Trommler. Die alten Orks hat er aufgeregt. Bei der Kriegerprüfung wurde es ihm besonders schwer gemacht. Er sieht nachts nicht gut, aber er musste fast alles im Dunkeln machen.“
    Hast du ihm geholfen?“
    Nein, das ist undenkbar. Er hätte es auch nie zugelassen. Wir haben zusammen gejagt und trainiert. Er hat riesige Kraft in den Armen und Händen. Wenn er es geschafft hat, mich festzuhalten, hatte ich keine Chance. Er hat einem Wolfsmann mit bloßen Händen den Kopf abgerissen.“
    Kerr‘ontagh ist der Mond, oder?“
    Kerr‘ontagh-Bacht, das Schiff des Mondes, das ist sein richtiger Name. Es stammt aus einem seiner Lieder. Ich kann… Gero, es... du verdienst wirklich den Tod dafür, dass du ihn umgebracht hast – und wie!“ Jaru steht auf, die Kajüte ist ihm plötzlich zu eng. Er öffnet das Bullauge. Ein dicker, brandiger Geruch zieht herein.
    Jaru stürzt an Deck. Die Ursache des dicken Qualms befindet sich hinter Felsen am Strand.
    Er schwimmt hinüber, um nachzusehen. Gero folgt ihm langsamer, betroffen.
    Sie finden Elwo und Kerem vor einem großen rauchenden Kegel, auf dem sie Lagen des breiten, blättrigen Seetangs ausbreiten. „He, ihr könnt uns helfen! Der Seetang reicht nicht. Schnell, wir müssen mehr sammeln, sonst brennt alles ab!“
    Was macht ihr da?“ fragt Gero, als er die drei erreicht.
    Elwo antwortet: „Du magst keinen rohen Fisch – ich auch nicht. Aber wir können auf der Rubin kein Feuer anzünden. Deswegen machen wir Holzkohle. Und jetzt, renn, sammel Tang! Hier ist ein Korb.“
    Mit der hektischen Arbeit von vier Personen schaffen sie es, den Meiler unter Kontrolle zu halten.
    Den Qualm hat man wahrscheinlich bis zur Südfeste gesehen. Sie denken vielleicht, der Vulkan ist wieder ausgebrochen.“
    War das Treibholz?“
    Alles, was wir finden konnten. Noch zwei Tage Seetang schichten, ein paar Tage abkühlen, dann ist die Kohle fertig. Dafür müssen wir aber nicht mehr dauernd daneben stehen. Wann hauen wir eigentlich von hier ab? Denkst du immer noch, Jörg könnte hier irgendwo sein?“
    Was ist denn mit Jörg? Der Schmied der Alca?“ fragt Gero. Jaru erzählt ihm knapp von den O-Hotoshi-Boshi, der Suche nach dem Gefangenen und von dem Preis, den sie für Jörgs Freilassung verlangen.
    Es wird wirklich Zeit, dass ich meine Rechnungen bezahle,“ sagt Gero und sieht Jaru dabei an.
    Was meinst du damit?“
    Jaru erklärt es den beiden, was er und Gero vorhaben. Seine Stimme ist kühl, distanziert. Das Sprechen hilft ihm, seine Trauer und Wut zu beherrschen.
    Ihr müsst also nicht mit den Orks als Gemeinschaft verhandeln, sondern nur mit Kerr‘ontagh und T‘Beckhon?“ fragt Elwo nach.
    So kann man das auch nicht sehen. Kerr‘ontagh und T‘Beckhon waren ja Teil der Orkgemeinschaft. Dort werden sie fehlen, auch wenn es keine Angehörigen gibt. Und es kann auch sein, dass Angehörige nur verlangen, dass der Platz eines Kriegers in der Gemeinschaft wieder vollständig ausgefüllt wird. Dass also ein anderer Krieger für die Orks kämpft.“
    Elwo ist interessiert. „Könnte ich das nicht für dich tun, Gero? Ich möchte ein Ork-Schamane werden.“
    Jaru und Gero sehen sich kurz an. Sie wissen beide, dass sie anders als Elwo sind, anders als die meisten Inselbewohner, härter, zäher, böser: Überlebende, denen das Leben nichts geschenkt hat. Denen ein Bett ein Luxus ist, keine Gewohnheit. Die es gewohnt sind, alleine für sich einzustehen, ohne den Schutz einer Gemeinschaft oder eines Status. Das hat ihnen unter den Orks geholfen. Elwo ist stark und mutig, ein guter Schwertkämpfer und Schütze, er ist klug und loyal. Aber er ist auch ein Dorfjunge, noch nicht lange von zuhause weg.
    Du kannst mitkommen, wenn wir Kerr‘ontagh und T‘Beckhon treffen, dann werden wir sehen. Aber bei den Orks zu leben, macht dich noch nicht zum Schamanen. Sie werden dir viel abverlangen, mehr als du dir jetzt vorstellen kannst. Und du kannst nicht wissen, wann du wieder nach Hause kommst. Ob du wieder nach Hause kommst.“ Jaru weiß, wenn Elwo nicht das Interesse eines Schamanen wecken kann, wird ihn sowieso niemand ausbilden. Und bis dahin, ‚ich bin nicht die Amme der Inseljugend‘ denkt Jaru. Elwo konnte ihm ja im Dunkeln auf den Felsen folgen, und Xhutuboc hat zwar gespürt, dass da jemand war, aber Elwo nicht ausmachen können, obwohl er ihm nahe kam. ‚Vielleicht steckt mehr in ihm, als ich sehen kann.‘
    Elwo nickt. Kerem gefällt der Verlauf des Gesprächs gar nicht, er schmeißt ärgerlich die restlichen Tangstreifen aus einem Korb in den Sand und geht wieder weg, um neuen zu sammeln.


    Willst du mich wirklich begleiten?“ fragt Gero Jaru später. „Ich habe tausendfach gewünscht, ich hätte diese Phiole nicht angefasst, hätte auf dich gehört, hätte sie dort gelassen. Ich weiß, dass...“
    Ohne mich schaffst du es nicht.“ Jarus Stimme ist gepresst. „Du brauchst einen Schamanen, um die Dinge zu ordnen, das sind Untote, keine Orks mehr. Du bist mein Freund, Gero, dass du Fehler machst, ändert daran nichts.“ Jaru sieht Gero an. „Ohne dich wäre ich in diesem Loch in den Bergen verrottet. Aber das ist es nicht allein. Lass es gut sein, du musst dich nicht mehr entschuldigen. Wir sind Menschen, keine Götter.“
    Gero schaut Jaru an, bis der die Augen senkt. Da ist noch etwas… aber er kann es nicht fassen.
    Also haben wir jetzt zwei Angebote für die Untoten: den Phiolenhersteller zu finden und Elwo als Ersatz für einen Orkkrieger? Mir würde das nicht reichen, es hat zu wenig mit mir zu tun, meiner Schuld, die ist doch nicht weg zu reden.“
    Die Sache deiner Schuld ist eine Sache in deinem Herzen und mit den Göttern. Die kannst du nicht verhandeln, nicht mit deiner Lebenszeit, nicht mit allem, was du besitzt. Es kann sein, dass Kerr‘ontagh und T‘Beckhon – oder jemand, den sie anrufen – dein Herz prüfen. Dabei kann ich dir nicht helfen Gero, das ist wie bei der Kriegerprüfung.“
    Und wenn es alles nicht reicht… bin ich dann wieder dort gefangen, bis sie mich irgendwann erwischen, bis ich so… untot bin wie sie?“
    Jaru sieht plötzlich viel älter aus, hart und verhärmt. „Das wird nicht geschehen, wenn ich es verhindern kann. Aber das… ist nicht deine Sache. Ich brauche ein paar Stunden für mich, wartet nicht auf mich mit dem Essen.“ Er dreht sich um und verschwindet hinter dem dunkelgrauen Geröll oberhalb Xhutubocs Grab.


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    Das Gericht

    Drei Tage und Nächte bleibt Jaru verschwunden. Die Besatzung der Rubin beschäftigt sich damit, die Insel weiter zu erkunden und die Vorräte wieder aufzustocken. Arohep und Shaboz haben eine Landspitze gefunden, von der sie große Raubfische mit tief rotem Fleisch angeln, Fleisch, das man räuchern oder trocknen kann wie einen Schinken.
    Wingstan, Gowan, und Wokkar finden auf ihrer Erkundungstour auf das Hochplateau verschiedene Beeren: kleine Saure, die Jaru auch schon auf der kleinen Insel gefunden hat, wo Ombhau‘ ihn ausgesetzt hatte, eiförmige Kaktusfeigen, die sehr schnell verderben und eine Art Maulbeere, süß und trocken und sehr gut als Proviant geeignet. Der beste Fund ist aber ein der Armee von Myrtana verloren gegangener Planwagen mit Proviant, den die Piraten noch nicht gefunden haben: voll mit Wein, Schnaps, Zwiebeln, Getreidekörnern, Zwieback, Schinken, Heiltränken, Lampenöl, Teer, Pfeilspitzen, Schreibutensilien, Verbandsmaterial, Werkzeug, selbst ein Beutel Gold, ein Rezeptbuch mit Salben und Tränken und eine Tasche mit kleinen Scheren, Klingen, Sonden und Pinzetten für einen Heiler sind dabei.
    Als sie damit an den Strand fahren, wird das erst mal ordentlich gefeiert. Danach fangen die drei sofort an, den Planwagen zu zerlegen und ein Beiboot daraus zu bauen. Tatsächlich verfügt er über einen Tonnen-förmigen Aufbau, mit dem das sehr gut funktioniert. So werden sie die Beute und die Holzkohle trocken zur Rubin übersetzen können.
    Akascha hat eine Sorte Seegras entdeckt, aus dessen Fasern er Schnüre dreht und ein Netz knüpft. Tubuc, S‘zork und Kolut haben bei einem Feuerstrom eine Stelle gefunden, wo man Schwefel abbauen kann und schleppen nun Säcke mit den gelben Brocken ans Ufer. Karitha taucht nach Perlmuscheln.
    Gero läuft viel. Er findet in seinen schnellen Jäger-Trott und erkundet allein den Großteil der Insel.
    Aber er sieht keine Spur von einem zweiten Piratenlager oder Hinweise darauf, dass Jörg sich auf der Insel befinden könnte. Der Boden der Insel ist meistens dunkelgrau, doch an vielen Stellen durchbrechen kleine Blümchen und fleischige Rosetten die eintönigen Farbtöne. Gero genießt seine neue Freiheit, den offenen Himmel über seinem Kopf, die Sonne im Gesicht, den Wind. Und auch wenn in seinem Denken das Wissen um seine Schuld nicht geringer wird, verändert sich nach und nach sein Gefühl: es erscheint ihm nun richtig, trotzdem leben zu wollen und sich während des Gerichts klug zu verhalten. Er beobachtet diese Gewichtsverschiebung an sich, aber er bekämpft sie nicht.
    Auch er findet weitere Tote in einem Geröllfeld, das aber ins Rutschen kommt, als er versucht, sie zu begraben. Mit Mühe rettet er sich selbst. Von diesem Vorfall an sucht er vor allem die Küste ab, entdeckt eine Bucht voller verlassener Feuerstellen und weggeworfenem Müll, wahrscheinlich die Stelle, wo die vengarder Truppen an Land gegangen sind. Er hebt eine Hellebarde mit zersplittertem Stiel auf und nimmt die Sehne von einem zerbrochenen Bogen mit. Später schießt er eine Zahnechse und sammelt Lilienwurzeln.
    Am dritten Tag findet er eine große Süßwasserquelle, nicht weit von der Piratenfestung entfernt. An frischen Spuren sieht er, dass die Piraten hier oft zum Schöpfen sind. Das ist gut, dann hat ihr äußerer Teil der unterirdischen Gänge vermutlich keinen Brunnen. In der Nacht ist die Reihe an Gero, zu wachen, und er überlegt zum ersten Mal, ob Jaru etwas passiert sein könnte.
    Der Rest des Planwagens sieht aus wie ein kleines Floß auf Rädern. Im Morgengrauen packen die drei Orks und Kerem die Wasserfässer der Rubin darauf und brechen zur Quelle der Piraten auf. Wingstan und Arohep ist klar, dass nun, wo Wagenspuren aus zwei Richtungen zur Rubin führen, die Anlegestelle nicht nur für die Piraten aus der Festung leicht zu finden ist. Sie untersagen weitere Ausflüge und beginnen mit der Beladung. Das Beiboot ist überhaupt nicht seefest, da es keinen Kiel hat. Es torkelt auf den Wellen wie ein Korken. Das Beladen ist mühsam und gefährlich.
    Gero hat sich nach seiner Wache etwas hingelegt, er wird geweckt, als am frühen Nachmittag mit viel Geschrei die Wasserfässer an Bord genommen werden. Alle müssen mithelfen. Die Rubin hat keinen Kran, der dafür geeignet ist. Im Hafen an der Mole war es einfacher. „Dieses Schiff ist eine verdammte Prinzessin,“ knurrt Arohep gereizt.
    Schwimm doch zurück!“ Wingstan lässt auf sein Meisterwerk nichts kommen.
    Ich tanze auch mit Prinzessinnen,“ Arohep grinst unverschämt.
    Mitten in dieses Chaos kommt Jaru zurück. Er sieht angestrengt aus und hat einen Sonnenbrand auf den nackten Schultern, wo man keine weiße Farbe sieht. Ohne ein Wort verschwindet er in seiner Kajüte und knallt die Tür zu.
    Gero weiß, dass sie nun bald aufbrechen werden, um seine Scherben aufzukehren. Er isst sich nochmal richtig satt am weißen Fleisch der Zahnechse, dann klettert er in den Ausguck, um allein zu sein. Er betet, wie Nela es ihn gelehrt hat.
    Wenn die Orks wirklich fordern werden, dass es für den Frieden nötig ist, dass er in Zukunft unter Orks lebt, wird er das tun. Vielleicht ist es sogar gut für den Frieden der ganzen Insel. Schließlich ist das alles passiert, als er als Paladin die Insel verteidigt hat. Vielleicht kann er im Orkdorf Etharias Botschafter sein. Vielleicht kann er da mit Marlan und ihrem Kind leben. Als wolle die Sonne diese Gedanken unterstützen, strahlt im Westen ein helles goldenes Band auf, und ein kräftiger Strahl taucht den oberen Strand in warmes Licht.
    Jaru kommt aus der Kajüte. Er trägt wieder seine graue Kapuze mit den Federn, den weißen Umhang und das Amulett mit einem Stern aus Krallen und Zähnen in einer Sonne aus blauschwarzen Federn. In seiner linken Hand hält er eine Ork-Standarte und er pfeift nach seinem Raben auf eine Art und Weise, dass selbst Gero im Ausguck fast das Ohr taub wird. Den Raben hat Jaru in den Tagen nach dem Kampf auf dem Strand frei fliegen lassen, und er war fast die ganze Zeit nicht zu sehen. Es dauert nun eine Weile, in der Gero vom Ausguck herunter klettert, aber mit einem Mal ist auch der Rabe da und setzt sich krächzend auf das Querholz der Standarte. Er ist ein ganzes Stück gewachsen, und er sieht richtig fett aus. Seit großer flacher Schnabel und sein Gefieder glänzen bläulich. Die Krallen sind dicker als Geros Finger. Und er hat Gesellschaft gefunden. Ein weiterer Rabe sitzt auf Xhutubocs Grab. Aber dieser – oder diese – hat nur die Größe eines normalen Rabentiers.
    Tubuc nimmt Jaru die Standarte ab und geht einen Schritt hinter ihm. S‘zork und Gero nehmen die Ruder im Beiboot auf. Etwas verspätet taucht auch Elwo aus dem Bauch der „Prinzessin“ auf und schließt sich ihnen an. Shaboz steht an der Reling und sieht nachdenklich zu ihnen herunter, aber dann rührt er sich nicht weiter und bleibt dort stehen.
    Den Weg zur Piratenfestung legen sie schweigend zurück. Die Freundin des Rabens begleitet sie nicht. Sie hat die Überreste der großen Fische am Stand entdeckt und ist dort geblieben, sich ihnen ausgiebig zu widmen.
    Im letzten Licht des Tages stehen sie vor dem großen Tor.
    Bäh, ihr schon wieder. Ihr klebt ja an uns wie Scheiße am Schuh!“ Den großen Kerl mit dem kugelförmigen Glatzkopf, der ihnen das entgegen schreit, kennen sie noch nicht. Er hat wohl nach Thorus‘ Tod das Kommando über die Festung übernommen. Er trägt ein dunkles dickes Fell über den Schultern, dicke Rüstungsplatten vor den Schienbeinen, und kleine rautenförmige Tätowierungen auf den Wangenknochen. Ihm fehlt ein Schneidezahn und ein halbes Ohr. Ein Breitschwert hält er zwischen sich und Jarus Trupp.
    Und du bist… wer?“ fragt ihn Jaru.
    Das braucht dich nicht zu interessieren, Federvieh. Du Orkschlange, wichtig ist, dass ich dich kenne. Ihr setzt keinen Fuß hinter dieses Tor, solange uns hier noch nicht die Knochen klappern.“
    Das lässt sich vielleicht einrichten.“ Jarus Stimme ist immer noch leise. „Von der Stimmung unter deinen Leuten, die ich zuletzt gesehen habe, hatte ich gedacht, freundlicher empfangen zu werden.“
    Alles Angstschisser. Lassen sich gefangen nehmen. Die Orkgerippe haben aufgehört, mit den Knochen um sich zu schmeißen, da brauchen wir deinen Hokuspokus nicht mehr.“
    Sie kommen wieder, wenn wir gehen.“ Jaru flüstert nun fast.
    Gero sieht, dass andere Piraten hinter die Torwache getreten sind. Einer flüstert ihm etwas ins Ohr.
    Ihr seid an unserer Quelle gewesen. Das kostet extra. Lasst einen schönen Beutel Gold hier, oder ihr kommt hier nicht lebend weg.“
    Findet ihr es eigentlich lustig, jeden Morgen euren schleimig fauligen Tunnel zu verlassen, um zur Quelle zu krabbeln? Vielleicht sollten wir das unterbinden, bis ihr Manieren annehmt. Ihr könnt ja solange an den feuchten Wänden lecken,“ schaltet Gero sich ein.
    So wie du wochenlang, was? Ich weiß, wer du bist. Du bist die arme Wurst, die die Untoten da unten jede Nacht verkloppt haben. Kannst wohl nicht einschlafen ohne Schläge.“
    Weißt du, als ich deine hässliche Fratze zuerst sah, hatte ich schon nicht den Eindruck, dass du besonders helle bist. Aber jetzt höre ich auch noch, dass du Fürze rülpst und um eine dicke Lippe bettelst.“
    Der große rundköpfige Mann lässt sich nicht provozieren. „Geht weg, ihr komischen Gestalten. Hier kommt ihr nicht rein.“ Und er knallt das Tor zu.


    Gero zieht sein Schwert, und weicht einen Schritt zurück, um die Tür einzutreten. Aber Jaru schnalzt zweimal an den Zähnen und wendet sich zum Gehen. Als Gero wieder neben ihm steht, raunt er leise: „Ich will nicht der Königin oder Tasso erklären müssen, dass wir dieser Bande eine Süßwasserquelle in ihrer Festung beschert haben. Wir steigen wieder über die Seite ein.“
    Dieses Mal klettern sie über die Felsen an der Rückseite der Festung. Im Hellen geht das sogar, ohne dass sie sich von ganz oben abseilen. Nur für das letzte Stück, den Überhang an der Stelle, wo die beiden Seitenwände schräg übereinander ragen, benutzen sie Seile, fünf nebeneinander.
    Gero hat erwartet, dass ihn die Wiederkehr mit dem Ort seines einsamen Kampfes gegen die Untoten mehr beklemmen würde. Aber tatsächlich findet er an dem in kleinen Kurven fest getretenen Weg und den feuchten Wänden mit den zarten weißen Blüten sogar eine gewisses raues Idyll. „Wo hast du eigentlich dein Schwert gefunden?“ unterbricht Jaru seine Betrachtung. Gero führt sie etwas von der Festung fort und zeigt es ihm. Jaru zückt einen orkischen Pflanzstock und winkt den anderen, zurückzubleiben. Dann murmelt er leise etwas und beginnt sehr behutsam, die Erde dort abzutragen. Das letzte rote Licht der Sonne ist hier unten nur ein rosiger Schein über blaugrauen Schatten. S‘zork und Elwo zünden mitgebrachte Fackeln an. Der Rabe sitzt auf der Standarte, als ob er schläft.
    Sie hören, wie Jarus Stock auf etwas Hartes trifft. Es ist verlockend, mit der Hand nachzugraben. Aber Jaru versucht nun, weiter an den Rand des Objektes zu gelangen und darunter zu hebeln. Als es ihm gelingt, kommt die graue Brustplatte von Geros Rüstung zum Vorschein. Jaru hält nochmal die anderen davon ab, sie zu berühren. Er blickt nun durch einen großen Kristall und sieht sie sich sehr genau an, immer noch murmelnd. Gero ist er ein bisschen unheimlich. Überhaupt hat er sich sehr distanziert verhalten, seit er die vier auf der Rubin abgeholt hat.
    Doch dann bückt sich Jaru, greift die Platte und gibt sie Gero. Sie finden auch noch das Rückenteil, das ebenso von Jaru für unbedenklich erklärt wird.
    Doch als er dann noch weiter gräbt, fängt das Geröll zu seinen Füßen plötzlich bläulich zu schimmern an. Die anderen sehen einen großen Knochen, einen Teil eines Brustkorbs. Hier ist die eigentliche Stelle, wo Kerr‘ontagh und T‘Bekhon gestorben hingefallen sind. Jaru gräbt noch eine Weile weiter, bis mehr und mehr blau schimmernde Knochen auftauchen. Er nimmt sich sehr in Acht, wo er hin tritt. Nach und nach sieht man die beiden ganzen Körper, die zwei Totenschädel, immer noch bedeckt mit Teilen ihrer Kleidung und Rüstungen. Auf diesen Knochen leuchtet keine Tätowierung. Abgesehen vom leichten bläulichen Glimmen, sehen diese Knochen wie echte Tote aus. Schließlich zieht Jaru einen Beutel aus der Tasche, und lässt – leise orkisch murmelnd – einen rötlichen Staubkreis um die beiden Toten rieseln. Er achtet sehr darauf, dass der Kreis keine Lücke hat. Dann verteilt er den Rest des Staubs über ihren Knochen und nimmt Elwo eine der Fackeln aus der Hand.
    Und nun fängt er erst zu summen und dann zu singen an. Gero versteht nicht alles, aber das meiste. Es ist ein Kriegerlied, es geht um Kraft, den Wind über den Felsen, um Raubtiere, die respektvoll zur Seite treten, um den Kriegern Platz zu machen, um Beute und um den Feuerkreis in der Nacht. Als dann der Refrain beginnt, erkennt Gero, dass es Kerr‘ontaghs eigenes Lied ist. Das Mondschiff erscheint, und trägt die Gefallenen sanft hinüber in das Schattenreich. Das Mondschiff fragt nicht, das Mondschiff klagt nicht, das Mondschiff schimmert sanft und auf ihm gibt es keine Schmerzen. Gero fühlt, wie die Haare auf seinem Rücken und den Armen sich aufstellen.
    Die orkischen Worte sind so perfekt gefügt, dass aus ihnen selbst die Melodie zu erstehen scheint, und die Bilder entstehen auf dieselbe Weise direkt vor Geros Augen, ohne dass er verstehen muss, es ist wie im Traum. Und plötzlich sieht er, wie sich blass aus den Knochen im Geröll die leuchtenden Gebilde erheben, die ihn Nacht für Nacht gejagt haben. Hier tragen sie beide Äxte, aber keine Helme und ihre Augen finden Gero.
    Du bist zurückgekommen.“ Kerr‘ontagh macht eine Handbewegung, als wolle er Gero an der Kehle packen. Dann bemerkt er den Kreis. Es ist offensichtlich, dass er ihn nicht übertreten kann. Er wirft den Kopf in den Nacken und brüllt.
    Ich bin zurückgekommen, weil ich schuld an eurem Tod bin und es mir Leid tut.“ Geros Stimme klingt heiser und angespannt, keine Kunst in ihr, keine Poesie.
    Leid tut es dir, aber warum hast du es getan?“ es ist immer nur Kerr‘ontagh, der spricht.
    Gero beginnt von der Nordfeste zu erzählen, vom Kampf gegen die Kachlakönigin, von Nerol und den vielen Sarkophagen und zuletzt von der Phiole. Er spricht davon, wie Jaru ihn dazu bringen wollte, die Phiole dort zu lassen, aber er nicht auf ihn gehört hat. „Wir waren im Krieg, ich wollte eine starke Waffe. Ich wollte sie nicht gegen euch richten. Wir haben zusammen gekämpft, erinnert ihr euch? – Orks und Menschen.“
    Wir erinnern uns an den Schmerz, der nicht aufhört, an Kälte und Tod.“ Kerr‘ontaghs Stimme ist klagend. „Das Mondschiff ist für uns nicht gekommen, Kroar‘ck.“ Er sieht nun Jaru an. Dann dreht er den Schädel wieder zu Gero, und Gero erinnert sich, wie die brauen Augen das letzte Lebendige war, das er an den beiden gesehen hat.
    Du,“ brüllt Kerr‘ontagh nun, „du hast alles beendet, was ich tun wollte, alle Lieder, die ich schreiben wollte. Du sitzt in der Sonne, die ich nicht mehr sehen kann.“
    Deshalb bin ich hier. Es hilft nicht, wenn ich auch tot bin. Aber was kann ich für euch tun? Was kann ich für den Frieden tun?“
    Kerr‘ontagh senkt den Kopf und sinnt nach. „Ich will, dass du alle meine Lieder lernst. Kroar‘ck wird sie dir beibringen. Ich will, dass du nach Nordmar ziehst und sie dort singst, an jedem Lagerfeuer. Dann will ich dass du 13 Tiger tötest und Erz für drei Krush Varragh zu meinem Stamm bringst. Aber nicht das schmierige Zeug, das ihr hier Erz nennt. Erz aus Nordmar. Erz, das im Eis singt. Und die Zähne der 13 Tiger bringst du meiner Braut. Wenn sie einverstanden ist, dann wird sie dir etwas geben. Und das bringst du mir. Und so lange wirst du dein Paladinschwert nicht führen. Du wirst es Kroar‘ck geben.“
    Gero beugt den Kopf. „Das werde ich tun, Kerr‘ontagh-Bacht.“
    Kerr‘ontagh nickt. „Ich werde hier auf dich warten.“ Dann verblasst seine Form.
    Ich kann das Mondschiff für euch rufen.“ hat Jaru in diesem Moment gesagt. Es ist nicht klar, ob Kerr‘ontagh es noch gehört hat.
    Doch T‘Beckhon brüllt plötzlich auf. „Nein, du wirst nicht nach Nordmar gehen. Du bleibst hier! Du sollst sterben! Du sollst kalt werden, du sollst keine Braut haben. Ich werde dich…“ Er hat die schwere Axt erhoben und rennt gegen den Staubkreis. In diesem Moment flackern blaue und grüne Blitze zwischen ihm und dem Kreis auf. Es sieht aus wie eine elastische Blase aus flackerndem Gewitterleuchten. Er brüllt noch lauter, schwingt die Axt. Sie kommt Gero nahe. Es erscheint, als ob der Kreis nachgäbe, als ob er springen könne wie eine Fruchtblase. Aus T‘Beckhons Kiefern entstehen nun Worte, böse Worte, Gero versteht, dass er verflucht wird. Da greift Jaru ein. Er stößt die Fackel in den Staubkreis. Er ruft nun lauter ebenfalls magische Worte. Der Kreis und die Körper darunter flammen auf in einem roten Feuer. Die Blitze darüber werden ebenfalls rot. T‘Bekhons Gestalt bekommt graue Flecken, die wachsen und sich verbinden. Ein Teil seines Kiefers bricht ab. Er kann nun keine Worte mehr bilden. Aber er brüllt, dass die fünf Orks und Menschen vor dem Kreis denken, dass sie taub werden. Der Rabe kreischt und schlägt mit den Flügeln. Jaru zittert am ganzen Körper. Er wiederholt immer wieder eine bestimmte Beschwörung. Nun verlassen auch rote Blitze seine wie Krallen ausgestreckten Hände. Es ist ein furchtbares Kräftemessen, und viele bange Momente ist nicht erkennbar, wer es gewinnt.
    Dann stößt eine drei Mann hohe Stichflamme aus dem Kreis mit lautem Röhren zur Decke empor, und als sie zusammenfällt, nimmt sie alles mit: T'Beckhon, alle Knochenreste auf dem Boden, alles blaue Leuchten, den Kreis im Geröll und jedes Geräusch. Jaru fällt auf die Knie. Die anderen stehen erstarrt.
    Es ist der Rabe, der irgendwann durch ein heiseres Krächzen die Erstarrung durchbricht. Er springt auf Jarus Schulter und gibt Geräusche von sich wie eine Katze. Gero versteht plötzlich, welche Funktion der Rabe für Jaru hat. Er ist keine Waffe, wie Tushik‘atts Rabe, den er hinter Thorus her geschickt hat. Jarus Rabe ist seine Verbindung zum Leben. Und Gero begreift mit einem Mal, wie einsam Jaru unter den Orks und Menschen ist. Er reicht ihm einen Arm, Unterarm an Unterarm, und zieht ihn hoch. Dann gibt er ihm das Schwert mit dem Rubin von Inngolf.
    Einen Freund wie dich zu haben, Jaru, das ist ein großes Glück. Danke.“ sagt er leise.

    Geändert von Ajanna (31.12.2021 um 20:23 Uhr)

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    Der verschlossene Weg

    Die Fackel, die Jaru benutzt hat, ist ausgegangen. Elwo hebt sie auf, und zündet sie an der anderen Fackel wieder an. Da er kein Orkisch spricht, hat er von dem, was geschehen ist, sehr wenig verstanden. Er hat nur gesehen: die Verhandlungen haben mit einem der beiden Untoten vermutlich geklappt, mit dem anderen eher nicht. Aber was bedeutet das, was Jaru am Ende getan hat? Er hat sie, die fünf Personen am Grund der Spalte, geschützt. Aber was ist tatsächlich mit den Untoten geschehen? Und: hatte Jarus Verbannung von T‘Beckhon nicht auch Auswirkungen auf Kerr‘ontagh? Immerhin sind auch seine Knochen in der roten Stichflamme verpufft. Und warum hat Jaru jetzt Geros Schwert? Elwo beschließt, Jaru später zu fragen. Aber jetzt ist ganz offensichtlich nicht der Moment. Jaru läuft wie ein alter alter Mann, er sieht hager und erschöpft aus.
    Sie gehen zusammen zu den Seilen zurück. Es ist nun dunkel, die Seile verschwinden im Nichts. „Ihr könnt schon mal hochsteigen,“ Jaru nickt den Orks zu. „Zeig mir den Rest der Gänge,“ bittet er Gero und nimmt Elwo die Fackel wieder ab.
    Zusammen erkunden sie das Labyrinth. Gero erzählt Jaru von Erlebnissen hier unten. Er sieht die Gänge zum ersten mal bei mehr Licht, als von luminiszenten Pflanzen kommt. Die Gänge sind teilweise gemauert, teilweise aus gewachsenem Fels. Es erschreckt Gero, dass, zum Teil sehr nahe an Punkten, wo er seine Füße hingesetzt hat, Spalten im Boden in einen bodenlosen Abgrund abfallen. Er sieht, dass die Wände zum Teil bemalt sind, zum Teil beschrieben. Aber er kann nichts davon entziffern oder verstehen.
    Gero ist ja nicht dort gefallen, wo sein Schwert und die beiden Orks gelandet sind. Er ist weiter gerutscht und direkt in einem der alten Gänge durch die Decke gebrochen. Sie finden schließlich den Ort, man sieht noch einen Staub- und Geröllhaufen auf dem Boden, mit dunkelbraunen Blutflecken. Aber man kann nicht mehr erkunden, was darüber liegt. An dieser Stelle öffnet sich nach oben ein Felskamin, an dessen oberem Ende das Licht der Fackel nicht hinreicht. Jaru zückt die Blitzrune und schickt einen Blitz nach oben… aber auch mit ihm sieht man nichts. Er bewirkt nur, dass ein eine kleine Staub- und Gerölllawine über sie herunterbricht. Sie husten, und klopfen ihre Kleidung ab.

    Wo ist die Quelle?“ fragt Jaru.
    Gero läuft durch die Gänge im Dunkeln voran und zeigt sie ihm. Er braucht das Licht der Fackel nicht. Als Jaru sich schließlich mit der Fackel nach unten in das im Boden ausgebrochene Loch beugt, und das Wasser beleuchtet, erschrickt Gero. Die bleichen Fische, die sichtbar werden, sind unglaublich hässlich. Kaum zu glauben, dass er sie roh und unausgenommen gegessen hat.
    Jaru beugt sich hinunter, testet die Strömung, probiert von dem Wasser.
    Eine von diesen widerlichen bleichen Kreaturen hat mich gebissen. Die Wunde ist immer noch offen.“
    Zeig her.“
    Gero rollt den Ärmel hoch. Die Wunde sieht wie ein fingerbreiter tiefer Kratzer aus, aber sie nässt und die Ränder sind grün vereitert. Jaru holt den Beutel mit dem roten Staub heraus. Er ist eigentlich leer, aber als er ihn über der Wunde ausschüttelt, fällt immer noch genug heraus, um die Wunde zu bedecken. Dann nimmt er die Fackel und hält sie daran. Das Pulver flammt auf. Gero brüllt, er denkt, im brennenden Schmerz schmilzt sein ganzer Arm. Er hustet, keucht, ist schockiert, dass Jaru ihn nicht gewarnt hat. Im Gang hängt ein fieser Geruch nach verbranntem Fleisch. Die Wunde wird nun normal heilen, aber das weiß Gero noch nicht.
    Was, zum Geier...“
    Jaru dreht ihm den Rücken zu. „Zeig mir die Stelle, wo die Piraten die Untoten sehen konnten.“
    Jaru, was ist los? Seit du auf die Rubin zurück gekommen bist, verhältst du dich, als hätte ich die Krätze. Du hilfst mir, rettest mich, pausenlos. Aber du tust es, als ob du mich verachtest.“
    Jaru bleibt stehen, aber er dreht sich nicht um. „Ich verachte dich nicht,“ sagt er ruhig. „Zeig mir jetzt die Stelle.“
    Da Gero nicht bewusst war, dass sein Kampf mit den beiden Untoten beobachtet wurde, dauert es eine ganze Weile, bis sie den Ort finden. Es gibt einen Einbruch dort, Felsbrocken, Steine und Staub, die den Gang verengen, aber an der Decke eine Art Kuppel erzeugt haben. Und dort kann man erkennen, dass der obere Teil des Gangs auf Lücke gemauert war. Die Steine treffen sich nicht, sondern es gibt Spalten. Ein Luftzug ist spürbar. Vielleicht macht dieser sowohl die Piratenfestung, als auch die anderen Gänge, überhaupt erst bewohnbar.
    Jaru wollte die Verbindung zwischen den beiden Labyrinth-Teilen zerstören, aber als er den Ort nun sieht, gibt er den Plan auf. Arbeitet er mit der Blitzrune, ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Verbindung größer wird, höher, als dass er den Gang schließen kann. Umgekehrt sieht die noch stehende Mauer massiv genug aus, dass auch die Piraten sie ohne schweres Werkzeug nicht einfach einreißen können.
    Wir gehen,“ verfügt er.
    Als sie den Endpunkt der Seile erreichen, schimmert ein bisschen Mondlicht auf die Felsen. Die anderen haben in der Wand gewartet, dort, wo sie die Seile befestigt haben, ist eine kleine Nische in den Felsen. Als Gero und Jaru aufsteigen, hören sie, wie Tubuc Elwo versucht, zu erklären, was während des Rituals geschehen ist.
    Für T‘Beckhon wird es kein Mondschiff geben,“ sagt Jaru leise, als er die anderen als erster erreicht. „Sein Geist wird für immer verloren sein.“
    Was ist mit Kerr‘ontagh?“ fragt Gero, als er auch oben ist.
    Jaru zuckt die Schultern. „Du wirst es sehen, wenn du dein Versprechen einlöst – oder nicht.“
    Ich habe es nicht gegeben, um es zu brechen!“ ruft Gero gereizt.
    Jaru nickt. „Ich weiß es trotzdem nicht.“
    Wie kannst du so etwas deinen früheren Waffenbrüdern antun!“ regt sich Elwo auf.
    Ich bin Schamane, Elwo. Ich schütze die Lebenden.“
    Jaru klettert die Wand hoch, als sei heller Tag. Die anderen folgen ihm viel langsamer.

    Geändert von Ajanna (01.01.2022 um 13:22 Uhr)

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    Die Abfahrt

    Jarus Trupp bewegt sich schweigend durch die Nacht. Alle haben genug zum Nachdenken. Gero überlegt, wie er die Fahrt nach Nordmar in sein Leben als Paladin und die Suche nach Marlan einpassen kann – und woher er neues Schwert bekommen könnte – mittellos wie er ist. Alle seine anderen Besitztümer waren auf der Alca.
    Jaru fühlt sich ausgebrannt, trauert um seine Freunde und ist ratlos, was seine Gefühle betrifft. Er muss bald eine Entscheidung treffen, wohin die Rubin weiter fährt.
    Tubuc und S‘zork sprechen sehr leise Orkisch miteinander, weder Gero noch Jaru bekommen es mit. Auf Elwos Stirn hat sich eine steile Falte gebildet. Der Rabe sitzt auf Jarus Schulter, aber er scheint wieder zu schlafen.
    Am Strand werden sie abgefangen. „Jaru – Gero – nehmt mich mit – bitte!“ Es ist der ältere Pirat, der aussieht wie ein Handwerker.
    Wer bist du?“
    Ich bin Ardjan.“
    Warum willst du jetzt doch mit,“ fragt Jaru, „Was hat sich verändert?“
    Ich habe euch beobachtet, ihr seid keine verkehrten Leute. Ihr habt die Toten begraben, ihr stehlt nicht, arbeitet hart für euren Proviant...“
    Aber warum bist du dann zuerst mit Ombhau‘ losgezogen?“
    Ich habe mich Ombhau‘ angeschlossen, weil er und seine Jungs die Stadt damals befreit haben von diesem Biest. Mein Haus ist bei der Belagerung abgebrannt. Meine Frau ist dabei gestorben. Ich habe gerne mit ihr dort gelebt, aber ohne sie… Unsere Kinder sind groß, ich bin kein Mann, dem die feinen Herrschaften oder Könige was bedeuten… Ich habe euch belauscht, vor ein paar Tagen, am Meiler. Ich hätte nie gedacht, dass Ombhau‘ so weit gehen würde, einen Handwerker zu entführen. Ich hab Jörg auf der Alca gesehen, aber ich dachte, er hätte ihn gerettet, so wie dich, Jaru.“
    Möglicherweise war das so. Aber dann hat er einen anderen Plan entwickelt. Hast du deinen Piratenkumpels erzählt, worüber wir gesprochen haben?“
    Nur, dass ihr noch da seid… dass ihr Proviant macht… dass ihr wachsam seid.“
    Was ist dein Beruf?“
    Ich war Küfer in der Hauptstadt. Ich bin nicht als Matrose oder Krieger auf der Alca gewesen. Ingmar hat mich angeheuert, weil sie neue Vorratsfässer brauchten.“
    Komm mit, ich will dich jemandem vorstellen.“
    Als sie auf der Rubin sind, bringt Jaru Ardjan zu Wingstan. „Kennst du ihn?“
    Wingstan sieht sich Ardjan genau an. „Nein.“
    Ardjan wiederholt seine Vorstellung. „Ich war da schon nicht mehr auf der Alca,“ meint Wingstan.
    In dem Moment erscheint Kerem an Deck. „Ich kenne ihn. Er heißt Rondrak. Er ist aus dem Fort. Er hat Fässer für die Küstenwache gemacht, auch die Wasserfässer, die wir hier haben.“
    Nun, Rondrak,“ Wingstan zieht sein Schwert. „Dann wirst du nun ein bisschen die Füße still halten. Bindet ihn an den Mast.“


    Am Morgen nehmen wir die restliche Holzkohle an Bord, macht euch Gedanken, wie wir sie bis dahin abkühlen. Zur Not müssen wir sie feucht machen und später trocknen. Verdoppelt die Wachen. Und dann verschwinden wir von hier.“ Jaru knallt seine Kajütentür hinter sich zu.


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    Das Verladen der Holzkohle ist dann doch kein Problem, weil es am Strand etwas gibt, was im Wald, wo Meiler sonst stehen, fehlt: Sand. Sicherheitshalber hat Jarus Mannschaft sogar das Beiboot und das Materiallager der Rubin eine Hand hoch mit Sand ausgelegt. Das Beiboot hält so besser die Richtung.
    Die meisten sind bereits an Bord, die letzte Fuhre Sand und Kohle wartet bereits im Beiboot, die Leine zur Rubin ist straff. Arohep besetzt den Ausguck, teilt die Schichten neu ein, die Ausrüstung ist festgezurrt, der Anker gelichtet, die Wäsche von den Rahen abgehängt.
    Nur Jaru nimmt noch Abschied an Xhutubocs Grab. Da ertönt plötzlich ein schriller Pfiff von oben. Wokkar im Ausguck schreit sich die Kehle aus dem Hals. Jaru sieht sich verdutzt um: der Strand füllt sich mit Bewaffneten. Geduckt und im Zickzack sprintet er zum Beiboot. Dabei sieht er Rondrak in die entgegengesetzte Richtung rennen. Wie zum Geier hat er es geschafft, sich zu befreien…? Der Rabe auf Jarus Schulter krächzt und flattert wild mit den Flügeln.
    Die ganze Mannschaft der Rubin hilft, das Beiboot zum Schiff zu ziehen. Jaru legt sich flach auf die Kohle. Pfeile und Bolzen zischen über seinen Kopf hinweg.
    Ombhau‘ befielt, alle Segel zu setzen. Die Rubin überwindet die Brandung mit dem Beiboot im Schlepp. Die ersten Angreifer stürzen sich in die Fluten. Jaru erkennt Shaboz im schäumenden Wasser, der ihnen entgegen schwimmt. Er hat, wie es aussieht, ein weiteres Mal die Fronten gewechselt. So war er es wohl, der Rondrak befreit hat.
    In diesem Moment pfeift Wokkar ein zweites Mal. In voller Fahrt hat die Alca eine Felsspitze umrundet und schneidet dem kleineren Schiff den Weg ab. Ihre Stückpforten klaffen offen, die Rohre der Kanonen sind zu sehen. Das Beiboot jedoch bremst die Rubin aus. Die Leine dazwischen ist zum Reißen gespannt. Jaru ergreift die Leine und hangelt sich zur Rubin zurück, so schnell er kann. Kerem und Elwo spannen ihre Bögen und legen Brandpfeile zurecht. Wingstan schickt Akascha nach einer Flasche Lampenöl.
    Der Abstand verringert sich sehr schnell. Die Rubin gewinnt viel zu langsam an Fahrt, denn sie muss noch fast senkrecht am Wind segeln, weil sich in den anderen Richtungen Felsen befinden.
    Die Alca fährt schneller vor dem Wind, mit dem Wind im Rücken. Aber auch sie muss nun Felsen ausweichen und verliert durch die Manöver an Geschwindigkeit. Es rächt sich jetzt, dass Ombhau‘ zu viele seiner Leute für den Überfall an Land geschickt hat. Böse lächelnd beobachtet Arohep, wie auf der Alca Segel sinnlos schlackern, weil sie nicht richtig getrimmt sind.
    Kerem schickt einen Pfeil zurück an Land, Jaru kann erkennen, dass Rondrak getroffen zusammenbricht. ‚Ein Meisterschuss,‘ denkt er, und: ‚Ombhau‘ hat ihm das beigebracht‘. Keuchend zieht er sich über die Reling und fällt erschöpft an Deck. Arohep dreht die Rubin nach Osten, härter an den Wind, und alle ihre Segel sind nun gebläht, die Mannschaft auf der Luvseite. Die Alca jagt sie nun direkt von hinten. Jaru sieht Ombhau‘ hinter der Bugkanone. In diesem Moment befiehlt Arohep, das Beiboot in Brand zu schießen und kappt das Seil. Das Lampenöl aus den Brandpfeilen erzeugt auf der Holzkohle im Beiboot sofort eine hohe Flamme. Die Alca muss ausweichen und dies gelingt schlecht, weil zu wenig Matrosen an den Segeln sind. Befreit von ihrer Fessel, gewinnt die Rubin schnell an Fahrt. Und nun zeigt sich ihre volle Stärke: die Prinzessin rennt der alten Majestät davon. Einmal in freiem Gewässer, zahlt sich ihre schlankere Bauweise und ihr geringeres Gewicht aus. Jaru nimmt ein Zischen wahr. Ein einzelner Kanonenschuss ertönt. Die Kugel fällt neben dem kleineren Schiff wirkungslos ins Wasser.
    Damit ist die Rubin endgültig in Sicherheit. Einige Zeit lang werden sie so weiter rasen. Noch bevor die Insel hinter dem Horizont verschwindet, dreht die Alca ab.
    Das war knapp,“ lacht Arohep. „Willkommen an Bord, Käpt‘n“
    Du hast meinen Arsch gerettet, danke. Nimm Kurs auf Kamorala, wir suchen Jörg auf der unbewohnten Westseite.“
    Wir müssen Jörg nicht mehr suchen. Er war auf der Alca. Am hinteren Mast gefesselt.“
    Wirklich? Das konnte ich nicht erkennen. Dann wollte Ombhau‘ wahrscheinlich sein Leben als Druckmittel einsetzen.“
    Kurs trotzdem Kamorala?“
    Nein. Wir fahren zurück. Wenn Jörg immer noch Ombhau‘s Gefangener ist, dann haben die O-Hotoshi-boshi möglicherweise geblufft. Ihnen war vielleicht nur das Wissen über Jörgs Gefangenschaft bekannt, ohne dass sie Jörg selbst in ihrer Gewalt gehabt hätten. Mit der Alca können wir alleine uns nicht messen, für die Konfrontation brauchen wir ein größeres Schiff und mehr Männer. Ich denke, der Preis für Jörgs Leben wird auch gegenüber Ombhau‘ ein anderer sein. Wie auch immer, ich möchte darüber mit der Königin oder Tasso sprechen. Am besten mit beiden.“

    Du hast mit dieser Fahrt viel erreicht, Jaru. Thorus ist besiegt, Gero ist frei, Ombhau‘ hat viele Männer verloren und eine ernste Schlappe erlitten. Das wird bei seinen Leuten Wirkung zeigen. Die Königin wird zufrieden sein.“


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    Ingmars Gnade

    Wir haben die Deserteure wirklich gefunden - eine erstaunliche Tatsache auf einem Meer, in dem wir in alle Himmelsrichtungen genau nichts sehen können als Wasser und Himmel. Aber für jemanden, der navigieren kann, sind die Strömungen, Geschwindigkeiten und Uhrzeiten wie die Fäden in einem Spinnennetz, das man von jedem beliebigen Strang bis in das Zentrum verfolgen kann. Und so stoßen wir auf drei der fehlenden Beiboote, am nächsten Morgen schon, und ohne viel Kreuzen. Ingmar schickt alle an die Stückpforten. Er hat uns gezeigt, wie man Kanonen lädt, aber im entscheidenden Moment befielt er nur: "Holt die Segel ein, macht die Stückpforten auf, schiebt die Kanonen ein Stück nach vorne und stellt sicher, dass man eure Fackeln gut erkennen kann."


    Nur er und Corry bleiben an Deck.
    Die Deserteure sind ziemlich fertig. Selbst von hier oben kann man das erkennen. Kaum einer der Männer hat ein Ruder in der Hand, die meisten liegen in den Booten herum wie Heu auf einem Haufen... Klar, sie sind der Sonne und dem Spritzwasser die ganze Zeit ausgeliefert, und offenbar hat keiner von ihnen daran gedacht, Proviant einzustecken.
    Dazu kommt wohl auch, dass die meisten vorher im Kampf verwundet wurden.
    Bork und Ingmar schreien sich eine Weile gegenseitig an.
    Ich verstehe Satzfetzen wie: "... Verantwortung vor Innos für die Gesundheit der Mannschaft..." und
    "... Kriegsrecht, ihr Wichte...", dann aber auch:
    "... wollt ihr jetzt eure armseligen Gerippe an Bord hieven, oder habt ihr vorher noch Hochzeits-Pläne?",
    "... und wer garantiert uns...",
    "... Niemand, du feiger Bock, schaff' deine miese Gestalt hier hoch oder fütter' die Haie, aber bitte bevor die Sonne untergeht, ich hab' noch ein Gefecht gegen diese Kugelköppe zu schlagen, und ich werde kein zweites Mal..."
    Schließlich legen die Boote an der Adamanta an und die Männer klettern an Deck. Da hat Ingmar uns schon befohlen, ebenfalls nach oben zu kommen und wir stehen alle hinter ihm, um die Flüchtigen zu empfangen.
    Er lässt sie antreten, und sie gehorchen, stellen sich zitternd in Reih' und Glied, obwohl sie sich kaum auf den Beinen halten können. Sie können ihm nicht in Augen sehen.
    Angesichts ihrer Lage brummt Ingmar nur: "Ihr werdet schon noch sehen...", dann befiehlt er uns, ihnen Wasser und etwas zu Essen zu bringen und ihre Verwundungen zu versorgen. Einer der Sektenspinner-Matrosen klammert sich an Ingmar und küsst seine Hand.
    Borg habe ich selten so nüchtern gesehen, und in dieser extremen Situation merke ich, was für ein guter Heiler er ist. Er lässt mich Verbände herbeischleppen und Heiltränke austeilen, und er gönnt sich selbst nur Wasser, bis alle verarztet sind. Bei einem oder zwei der Verwundeten denke ich, dass wir eventuell später amputieren müssen, aber dann fängt Ingmar an, bei der Versorgung mitzuhelfen, und seine Zauber sind sogar noch wirksamer als meine Tränke und Borgs Erfahrung.
    Hoffnung verbreitet sich, die Seeleute finden ihren bösen Witz wieder und die ersten dummen Sprüche machen die Runde wie die allgegenwärtigen Fliegen.
    Wir schaffen es nicht, die Boote wieder hochzuziehen.
    Ingmar gibt den Befehl, zu wenden, aber dann schippern wir extrem langsam durch die Abenddämmerung und alle, die keinen Dienst haben, hauen sich aufs Ohr. Ein ereignisarmer Tag, und doch sind wir alle völlig erledigt und aufgewühlt.


    Als ich erwache, ist ein Großteil der Ordnung bereits wieder hergestellt. Matrosen verrichten ihren normalen Dienst, klettern in der Takelage herum, schrubben das Deck und traktieren sich mit schmutzigen Sprüchen. Ingmar steht neben den Steuerrad, voll gerüstet und mit seiner alten Kraft.
    Die Beiboote sind hochgezogen, verzurrt, und an einer Leine zwischen zwei Masten trocknet Wäsche. Drei Matrosen fischen von der Reling aus, Palissa schält Zwiebeln in einen Eimer.
    Würde nicht Tasso fehlen und etwa ein Drittel der Mannschaft, gerade die jungen, starken Kämpfer, könnte man denken, dies sei eine normale routinemäßige Dienstfahrt.


    Ingmar befiehlt mir, zu den Verwundeten ins Lazarett zu gehen und ihre Berichte aufzuschreiben. Ich gehe vorher in meinem Labor vorbei, weil ich auch noch Heiltränke mit runter nehmen will, aber ich finde keine mehr. So schnappe ich mir nur eine leere Holzkiste, um die leeren Flaschen wieder einzusammeln und ein paar Bögen Pergament und ein Tintenfass mit einer Feder.
    Wenn ich gewusst hätte, was mich erwartet, hätte ich wahrscheinlich auch noch Schnaps mit eingepackt.


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    Die Königin


    Mit der menschlichen Wahrnehmung ist das so eine Sache. Jaru weiß, dass sie wichtig ist, um ein guter Jäger zu sein. Nur, wenn der Jäger das Wild zu finden weiß, kann er es jagen. Nur wenn das Wild über ihn, seinen Aufenthaltsort und seine Fähigkeiten weniger Kenntnisse hat, als er selbst über das Wild, kann er es treffen. Das gilt selbst für die großen Tiere, die Monster, die weite Teile des Waldes beherrschen. Wenn sie wüssten, wozu Menschen oder Orks in der Lage sind, würden sie ihre ganze Energie darauf verwenden, unsichtbar zu sein. Stattdessen brüllen sie, setzen riesige Kackhaufen ins Land, stinken aus allen Körperöffnungen und verteilen die Spuren ihrer toten Beutetiere, als wären das Grenzpfähle, die niemand passieren kann.
    Worüber die Menschen sich wenige Gedanken machen, ist dass dasselbe auch für sie selbst gilt.
    Man denkt, man kennt die eigene Insel, denkt, dass sie sicher ist, dass nur, weil man sie kannte, als man sie verließ, man wieder zu diesem Zustand zurückkehren kann, als sei die Wirklichkeit ein Insekt in Bernstein, ein Kristall im Fels, ein Fels in der Brandung.
    Doch alle diese Dinge sind nicht ewig. Der Bernstein war einmal flüssiger Baumsaft, die Fliege lebendig und beweglich, der Kristall war einmal heißes Gas oder eine Flüssigkeit in einem sich abkühlenden Hohlraum, der Fels in der Brandung wird eines Tages zermahlen sein zu Sand.
    Nur, weil für uns Menschen die Bewegung der Zeit in einem anderen Maßstab oder zu einem anderen Zeitpunkt stattfindet, nehmen wir Dinge als Kontinuität war, die veränderlich sind.

    Und so ist die Insel, zu der Jaru zurückkehren wird, nicht die Insel, die er er verließ.

    Am Morgen nach dem Empfang, bei dem es kein Festmahl gab und den Ganjouk bei sich den "Goldesel-Empfang" nannte, erhebt sich die Königin zeitig. Alles ist bereit. Amara hat ihr die Paladin-Rüstung vorbereitet, und sie hilft ihr, sie anzulegen, wie davor Hunderte von Malen für ihre Enkel Irek und Tasso. Die schlanke junge Königin sieht darin aus wie ein Krieger. Sie rüstet sich mit ihrem Schwert, einem schmalen Anderthalbhänder aus Meteoreisen, ähnlich wie Nelas Schwert.
    Das Pferd ist gesattelt und erwartet sie ruhig. Ein Rappe, eines der wenigen Pferde, welche die Belagerung der Stadt überlebt haben. Es begleiten sie nur eine kleine Leibgarde aus handverlesenen Jägern und Tobar und Tonio, der alte Ausbilder und der junge Schmied der Stadtwache, alles gute Läufer, zu Fuß.
    Die Invasion ist abgewendet, der Krieg ist vorbei, das Volk liebt sie, das Wetter ist gut und ihre eigene Stimmung friedvoll und optimistisch. Sie wird die Insel entwickeln, die Wege sicherer machen, Wege und Brücken bauen, die Ernte gut verwalten und gerecht verteilen, die Jugend ausbilden und ihr Arbeit und einen Sinn geben.
    Da ist nur noch die Sache mit ihrer Freundin, die verschwunden ist. Marlan, Äbtissin im Kloster der Feuermagierinnen in der Südfeste, ist auf ihrem Weg in die Stadt verschwunden. Sie war alleine unterwegs, schwanger, jedoch keine hilflose Dame, wie man denken könnte. Eine, die die Küste wie ihre Westentasche kennt, starke Magie wirken kann und auch die Verwandlungsmagie beherrscht... ein real existierender Machtfaktor auf dieser Insel und eine Person, die ihrer aller Schicksal verändert hat. Eine Lenkerin, kein Opfer.

    Die Königin ist arglos.

    In der Nacht hat es gewittert. Das macht die Menschen glücklich und schläfrig - auf ihrem Weg aus der Stadt treffen sie kaum einen Menschen. Der Morgen ist prächtig, alles sieht aus, wie frisch erschaffen. Auf ihrem Ritt durch die Apfelgärten der Stadt freut sich die Königin an den blitzenden Tautropfen auf den noch grünen Früchten, der Weg durch den anschließenden Hochwald ist inzwischen befestigt und eben, so nahe bei der Stadt gibt es keine Wölfe und Snapper mehr, dafür hat die angespannte Ernährungssituation der letzten Wochen gesorgt. Und alles ist so viel besser, als es hätte sein können, nach Abzug der Truppen sind keine vorzeitigen Toten mehr zu beklagen, es gibt keine ungeordneten Verhältnisse mehr, die Bauern sind auf ihren Feldern beschäftigt, die Handwerker in ihren Werkstätten, es wird wieder ein Markttag abgehalten, die Tränen über die vielen Toten sind versiegt, und viele Frauen sind schwanger. Ein Wind der Hoffnung und Zuversicht weht über das Land - alles wird gut.
    Später biegen sie auf kleinere Pfade ab, die wieder Richtung Meer führen, passieren Dornenhecken über bereits felsigem Grund, müssen Umwege in Kauf nehmen, weil Serpentinen die Höhenunterschiede bewältigbar machen.
    Sie passieren die verkohlte Ruine eines alten Gasthauses... dies ist ein erster Hinweis darauf, dass die Idylle trügen könnte, denn das Gasthaus ist erst nach der Invasion abgebrannt, es ist ist noch nicht lange her. Jedoch sind die Toten inzwischen begraben, und auch die Leute, die den Wirtsleuten diese letzte Ehre erwiesen haben, sind wieder nach Hause gegangen und haben keine Nachricht hinterlassen.
    Nirgendwo ein Zeichen von Marlan, niemand hat sie gesehen. Das gilt vor allem auch für Tonios Dorf, sie erreichen es um die Mittagszeit.
    Marlan wäre sicher hier eingekehrt, es ist ein guter Ort, um eine Fischsuppe zu essen und mit Blick über das Meer ein bisschen auszuruhen. Doch Nachfragen ergeben keine neuen Informationen über eine alleine reisende Frau - oder auch nicht über einen zarten Mann mit braunem glattem Haar und honigfarbenen Glanzlichtern. Die Königin rastet hier für eine Stunde, isst die berühmte Fischsuppe, berät sich mit Tobar. Dann bringen die Nachbarn einen Jungen zu ihr, Niklas, einen Ziegenhirten. Er hat ein fremdes Kriegsschiff vor der Küste gesehen, und zuerst hat ihm niemand geglaubt.
    Etharia denkt, dass es sich bei dem Schiff um die Adamanta handeln muss. Tasso hat den Auftrag, die Küste zu sichern, wie er das vorher mit der Alca getan hat. Nur wissen viele noch nicht, dass das ehemalige Flaggschiff der fremden Eindringlinge nun im Dienste der Königin unterwegs ist.
    Sie beschließen, weiter zu Marlans Heimatdorf zu reisen und warten dafür die Ebbe ab, damit das Pferd besser über den Strand vorwärts kommt, denn der Rappe hat viel geschwitzt und ist nervös und zappelig. Die Königin möchte ihn nicht weiter über die schmalen Pfade der felsigen Küste reiten...

    Vielleicht ist das ein erster Fehler, denn der Rappe macht sie auf weite Entfernung unverwechselbar, und südlich von Tonios Dorf beginnt ein rauer Abschnitt der Küste und die unheimliche Wüstung des zerstörten Feuermagier-Klosters und Marlans Dorfes, beides Ruinen aus dem Krieg, wo sich die Aasfresser immer noch tummeln und die Menschen sich abwenden.
    Hat Marlan auf ihrer Reise in die Hauptstadt ihre alte Heimat passiert? Hat sie überhaupt den Weg an der Küste entlang gewählt? Sie kann genauso gut mitten durch den Orkwald gereist sein, die Orks sind Verbündete und die Orkwald-Leute sogar gute Freunde.
    Die Königin beginnt, am Sinn dieser Expedition zu zweifeln. Vielleicht wäre es besser gewesen, die Männer ihrer Leibgarde einzeln über verschiedene Wege loszuschicken, ein diskret reisender Mann erfährt möglicherweise mehr als ihre auffällige Truppe. Oder vielleicht hätte sie Amara senden sollen, als ehemalige Hebamme kennt sie in jedem Dorf Familien, die sich freuen würden, den neuesten Klatsch mit ihr zu teilen. So ist die gute Stimmung der Königin verflogen, als sie dann doch wieder den Strand verlassen müssen und in ein steiniges Tal aufsteigen.
    Tobar führt nun das Pferd, er trägt seinen Schild auf dem Rücken und hat die rechte Hand am Zaumzeug. Die Jäger hat die Königin vorausgeschickt, Tonio folgt als letzter. Alle sind müde, verschwitzt, unaufmerksam. In der letzten Zeit haben sie nicht viel trainiert. Es erschien nicht notwendig, und es gab so viel anderes zu tun, so viel aufzubauen, so viele Lücken zu schließen.


    Und so trifft der Angriff sie völlig unerwartet. Ein einziger Pfeil bohrt sich die Kruppe des Rappen, der sofort durchgeht, strauchelt, abstürzt. Etharia versucht noch, ihn zu beherrschen, dann nur noch, die Füße aus den Steigbügeln zu ziehen, abzusteigen, aber es bleibt ihr keine Zeit dafür, das Tier reißt sie in die Tiefe. Tonio und Tobar ziehen ihre Schwerter, doch es ist gar kein Feind erkennbar. Auf den ersten Schuss folgt kein weiterer. Dann hören sie Kampfeslärm von weiter oben, wo die Jäger sein müssen.
    Tonio versucht zu erkennen, wohin das Pferd gestürzt ist. Tobar deckt ihn mit dem Schild, aber das ist albern, er weiß überhaupt nicht, woher der Pfeil abgefeuert worden ist. Dann rennen beide wieder talabwärts, es sieht aus wie eine Flucht, aber ihr Ziel ist der Schutz der Königin, nicht die Verteidigung der Jäger. Die beiden gerüsteten Paladine sind eigentlich schon mit ihrer Kondition am Ende, dazu kommt der Schock, die Scham, versagt zu haben, die Angst. Sie finden schließlich den Rappen - tot - mit gebrochenen Knochen, das prächtig glänzende Fell blutig und die stolze Mähne voller Staub und Disteln. Die Königin finden sie nicht.
    Wenig später haben sich auch die meisten der Jäger wieder zu ihnen durchgeschlagen, alle sind sie verwundet, einige sind gefallen. Die Angreifer sahen aus wie Bauern, aber ihre Ambrüste und Schwerter waren die von Soldaten. Die Männer Etharias sind verzweifelt über ihre eigene Dummheit und Unvorsichtigkeit.
    Eins ist sicher, ohne die Königin können sie nicht zurückkehren, können auch nicht die Angreifer verfolgen und damit die Königin preisgeben - und in ihrem Zustand können sie eigentlich überhaupt nicht mehr viel machen.
    Tobar und Tonio verbinden die anderen, so gut sie es vermögen, lassen eine Wasserflasche herumgehen und sammeln sich im Gebet. Dann treffen sie die Entscheidung, die Felsen systematisch abzusuchen, zuerst den unteren Bereich, wohin bald das Wasser zurück kehren wird, später alle anderen Steine, Felsen und Klippen.
    Als die Dunkelheit hereinbricht, haben sie die Königin noch nicht gefunden.


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    Die Heimkehr

    Obwohl manche schon die ganze Nacht gewacht haben, versammelt Jaru die Mannschaft an Bord.
    "Freiwillig seid ihr an Bord gegangen, ohne Sold, ohne Befehl." Aus den Augenwinkeln sieht Jaru, wie Wingstan unbehaglich mit den Füßen scharrt. "Deshalb will ich eure Pläne kennen, bevor ich eine Entscheidung treffe. Manche von euch sind das erste Mal zur See gefahren. Wollt ihr jetzt einfach zurückkehren und wieder Schmiede, Fischer, Bauern werden? Oder hat die Zeit auf der Rubin euch verändert?"
    "Verändert bestimmt," sagt Arohep als Erster. "Aber ich will trotzdem zurück. Die Ernte ist wichtiger als je, da wird jeder Mann gebraucht. Und diesen Herbst werden wir Wale jagen. Der Speck, das Öl und das Walbein werden unsere Kassen füllen. Wenn wir den Mützen-Hotoshis die kalte Schulter zeigen wollen, dann ist es besser, wenn wir nicht auf den Handel mit ihnen angewiesen sind."
    Ein zustimmendes Raunen läuft durch die Gruppe.
    Wokkar, Tubuc und S‘zork erklären sich ebenfalls für ein Ende der Reise.
    "Die Rubin ist zu klein für einen Schmied," schließt sich Kolut ihnen an.
    "Ohne Befehl sind Gowan und ich nicht gefahren, und wir werden das Schiff der Königin zurückgeben. Ohne dich, wenn es sein muss."
    Da ist sie greifbar, die Spannung, die unterschwellig seit Beginn der Reise mit an Bord gewesen ist. Jaru ist froh, dass Wingstan bis eben die Disziplin gehalten hat. Aber nun ist der Punkt gekommen, da muss er entscheiden: will er das Schiff auf Dauer an sich bringen - auch gegen Wingstans Willen? Wingstans Stimme hat geknarrt, als er gesprochen hat. Er wappnet sich zur Meuterei und fühlt sich im Recht.
    Jaru lässt die Drohung im Wind verwehen und antwortet sehr leise.
    "Die Königin hätte die Rubin kaum heimlich bauen lassen, wenn sie wollte, dass wir sie nun in den Hafen der Hauptstadt segeln. Noch ist sie ein Geheimnis, ein verdeckter Trumpf. Den schmeißt man nicht ohne Grund auf den Tisch." Er macht eine Pause. "Ich will auch zur Königin. Aber ohne dass die ganze Hauptstadt zuhört und zusieht." Nun ist das zustimmende Raunen auf Jarus Seite.


    "Ich will an Bord bleiben," Karitha jongliert mit einem langen Dolch und steckt ihn gut sichtbar in ihren Gürtel. Ihr Gesicht hat unter der Seeluft eine dunkle Farbe angenommen und ihre Augen und Zähne blitzen. Auf Wingstans Stirn beginnt eine Ader zu pochen. Gowan grinst. "So oder so brauchen wir mehr Seeleute. Umso mehr, wenn Arohep und andere an Land gehen. Die Frage ist: wo finden wir die? Bestimmt in der Hauptstadt oder im Wasserfort, aber können wir uns auf ihre Loyalität verlassen, wenn die plötzlich die Hälfte der Mannschaft stellen?"
    "In Cor-dal-Pesch gibt es sicher auch gute Leute."
    "Oder bei Tonio im Dorf."
    "Am besten aus jedem Dorf nur zwei oder drei..."
    "Dann sind wir aber unterwegs, bis wir da überall aufgekreuzt sind."
    "Gero und ich müssen ins Orkdorf." Jarus Satz unterbricht das Durcheinandergerede.
    "Ich komme mit." Elwo hat den Plan, ein Schamane zu werden, noch nicht aufgegeben.
    "Dahin bringst du die Rubin nur über meine Leiche."
    "Bring mich nicht auf Gedanken, Wingstan..." sagt Jaru ohne besonderen Nachdruck. Akasha zuckt trotzdem zusammen. "Ich gehe dahin, wohin du gehst, Jaru."
    "... aber du hast Recht," fährt Jaru fort. "Tushik'att zu trauen wäre leichtsinnig. Trotzdem müssen wir das als erstes erledigen. Ich habe die Angelegenheiten der Orks für diese Fahrt zurück gestellt. Aber der Frieden hängt davon ab, dass wir unsere Verpflichtungen jetzt wahrnehmen."
    "Warum bringt ihr die Rubin nicht dahin, wo sie gebaut wurde?" Karitha sieht Wingstan herausfordernd ins Gesicht.
    Kerem murmelt eine Zustimmung. Jaru wundert sich, dass Kerem weiß, wo das war.
    Aber er fragt nicht - noch nicht. Die das Schiff verlassen wollen, müssen das nicht wissen, findet Jaru. "Bring uns in dein Dorf, Arohep," befiehlt er.


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    Amaras Erben

    Es ist ein diesiger fahler Frühmorgen, an dem die Felsen über Aroheps Dorf vor ihnen auftauchen. In diesem Licht sieht das ganze Dorf trostlos und verblichen aus. Links von ihnen ragt eine noch unheimlichere Klippe, der düstere Felsendom, der die Südfeste trägt, gerade noch ahnbar.
    Sie legen leise an, zwischen zwei Fischerbooten. Eins davon ist Aroheps Boot, und er stellt den Netzausleger quer vor die Rubin, sodass von ihr seeseitig wenig zu sehen ist. An der Kaimauer stapeln sie Fässer und Körbe - auch von seinem Boot ausgeliehen.
    Nachdem auch die Segel eingeholt sind, und alle, die an Bord bleiben wollen, schlafen, hätte niemand, der nicht misstrauisch wäre, etwas Ungewöhnliches entdecken können.
    Wokkar, Kolut und die beiden Orks haben sich nicht lange aufgehalten und sind noch vor Sonnenaufgang auf einem Pfad in der Steilküste verschwunden.
    Jaru hat Arohep begleitet, der in ein Haus zu Verwandten gegangen ist, um Proviant zu organisieren.
    Gero und Karitha wachen, aber diskret, im toten Winkel der Kajüte. Beide wissen, dass gerade bei diesem Wetter der Schall oft weit trägt und verhalten sich still. Gero lernt ein Orklied, das Jaru ihm auf einen Bogen Pergament geschrieben hat - seine geschliffene Handschrift ein Relikt aus seinem früheren Leben. Karitha bohrt vorsichtig ein Loch in eine Perle. Selbst die Möwen und Tauben sehen wenig Sinn in Geschrei und Bewegung.


    Nach einer Weile denkt Gero, dass er den Text jetzt kann. Er hebt den Blick und sieht Karitha zu.
    Er erinnert sich an den Abschied von den vier Gefährten, ein paar wenige Dankesworte, schmucklos, eine Umarmung, ein paar Knuffe. Er lächelt. Dann fallen ihm andere Abschiede ein, und seine Miene wird wieder ernst. Karitha bemerkt den Umschwung.
    "Na, geh schon. Geh und frag Ajanna. Sie hat bestimmt Nachricht von Marlan. Bis zum Mittag kannst du wieder hier sein. Frag sie auch, ob sie noch ein paar abenteuerlustige Frauen kennt, die auf der Rubin anheuern wollen. Und nach Proviant. Ich kann alleine wachen. Hier gibt's keine Piraten und die Freunde von Faid werden sich hier nicht blicken lassen."
    Gero überlegt kurz. Aber anders als auf der Feuerinsel hat Jaru hier keine Wachen eingeteilt. Und er sieht auch keinen Grund, zu zweit wach zu bleiben. Er weiß, dass Jaru das Buch mit den Zeichnungen von den Toten mitgenommen hat und dass er die Ältesten treffen will. Das wird sicher dauern. Ins Orkdorf wollten sie erst bei Dunkelheit aufbrechen.
    "Soll ich im Kloster was von dir ausrichten?"
    Karitha grinst. "Dass ich lieber Muscheln vom Rumpf als Algen von schleimigen Felsen kratze. Und ob sie mir frische Wäsche geben können. Hier, gib Ajanna diese Perlen."
    Gero zieht die Brauen zusammen. Aber dann schultert er Bogen und Köcher und macht sich auf den Weg.


    Weit kommt er nicht. Noch bevor er ganz außer Sichtweite der Häuser ist, kommt ihm ein Zug von schwer bepackten Personen entgegen. Er erkennt eine rote Robe von weitem, aber die anderen sind merkwürdig dunkelgrau gekleidet und schwer beladen, und sie ziehen zusätzlich einen Wagen, dessen Räder Gummireifen haben und gut geschmiert sind. Kisten, gesicherte Kraten, und metallene Flaschen, mit Kork und Sand abgepolstert. Er erwartet sie an einer Stelle, wo der Pfad sich verbreitert.
    "Amara. Ehrwürdige," begrüßt er die alte Magierin, die Beraterin der Königin. Was macht sie hier? Sie lebt doch in der Stadt. Marlan wollte zu ihr.
    "Gero. Ich freue mich, dich wohlbehalten zu sehen. Jarus Mission war also erfolgreich. Wir haben euch zurückkehren sehen. Habt ihr auch Jörg gefunden?"
    "Ombhau' hat ihn - auf der Alca. Mit der konnten wir uns nicht messen... das heißt nein, noch nicht. Aber er ist jedenfalls nicht bei der Elster. Oder nicht mehr."
    "Das sind gute Neuigkeiten. Ombhau' hat der Königin geschrieben. Ignoriert ihn für den Moment. Wir haben nun andere Sorgen. Die Königin selbst ist von einem Ritt an der Küste nicht zurückgekehrt. Faid hat das Kommando in der Hauptstadt übernommen. Deshalb bin ich ins Kloster heim gekehrt. Und ich bringe euch diese drei fertig ausgebildeten Alchemisten für das Schiff der Königin. Wie heißt sie eigentlich? Sie hat keine Kanonen. Aber das heißt nicht, dass ihr weiterhin wehrlos sein müsst."
    Gero mustert Hanno, Merkhet und Rudrik. Drei entschlossene Jugendliche in dickem und teilweise angekokeltem Ripperleder, effizient aussehenden Armbrüsten und Erzschwertern in mattgrauen Hailederscheiden. Er hat selten eine Gruppe Krieger gesehen, die ihm so viel Respekt eingeflößt haben. Er versucht, zu verstehen, woran das liegt, und es ist am ehesten ihr ernster Blick - und ihr Schweigen.
    "Wir haben sie Rubin getauft, Rubin von Inngolf." Warum weiß Amara das nicht? Hat sie Marlan nicht getroffen? "Seit wann ist die Königin verschwunden?"
    "Es sind erst ein paar Tage. Wir dachten zuerst, wir könnten dies noch eine Weile geheim halten. Aber die Nachricht kam vor ihren Jägern in der Hauptstadt an. Faid hat Tobar und Tonio festnehmen lassen und will sie wegen Hochverrat anklagen."
    Gero versteht: das sind die beiden Paladine, die der Königin am ergebensten waren.
    "Aber was ist mit Marlan. War sie nicht bei dir?"
    Amara senkt den Blick. "Marlan ist nie in der Hauptstadt angekommen. Es war ihr Verschwinden, das Etharia dazu veranlasst hat, auf der Küstenstraße nach ihr zu suchen."
    Und nun fühlt Gero, als ob es ihm wie ein Felsen auf die Brust fällt.


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    Amara kehrt noch auf dem Felspfad um ins Kloster. Gero hat ihr Karithas Perlen und ihre Botschaft an Ajanna mitgegeben. Als der kleine Trupp dann durch das Fischerdorf fährt, erregt er mehr Aufmerksamkeit als das Einlaufen der Rubin.
    Aber jetzt ist auch richtig Tag und eine matte Sonne hat einen Teil des Dunstes vertrieben. Jaru und Arohep treten aus einem Haus, weil das Gemurmel der Leute im Dorf die Stimmung deutlich verändert hat.
    "Rudrik, Merkhet und Hanno aus der Waffenkammer der Hauptstadt. Wir sind Alchemisten und haben Befehl, deine Mannschaft zu verstärken," meldet sich Hanno bei Jaru.
    "Und ihr wollt diesen ganzen Alchemistenkram auf die Rubin bringen? Das ist ein Holzschiff ohne Panzerung. Eine Kanonenkugel, und dieses Zeug ist für uns gefährlicher als für unsere Feinde."
    Hannos Blick streift kurz über die zuhörende Menge.
    "Das ist für die Rubin, aber nicht so, wie du denkst. Die Hotoshi-boshis haben Skorpione an Bord ihrer Schiffe und kämpfen mit Glutbomben und Brandpfeilen. Wir haben eine Substanz, um Segel und Deck der Rubin feuerfest zu machen. Der Rest sind eher Ingredienzien für Heiltränke, Wein und Schnaps und so was."
    Jaru sieht eine Kiste mit dem Brandzeichen der Schwefelmine, aber er schweigt dazu.
    "Wie lange braucht ihr?"
    "Zwei bis drei Tage. Die Segel müssen nach der Behandlung vollständig trocknen, an Feuern, wenn das Wetter so dunstig bleibt. Wir zahlen Gold für Feuerholz," wendet sich Hanno an die Umstehenden.
    Jaru nickt. "Willkommen an Bord. Ich stelle euch Wingstan, meinem Ersten Offizier, und dem Rest der Mannschaft vor."
    Geros Blick ist auf Aroheps Gesicht gerichtet. Jaru hat ihn einfach stehen gelassen.


    Und so haben Gero, Elwo und Jaru genug Zeit für einen Besuch im Orkdorf.
    Sie brechen auf, als es dunkel wird. Die Alchemisten haben eine Waschküche in einem Keller gefunden, wo sie mit den Segeln hantieren - vorerst nur mit dem Gaffel- und dem Vorlieksegel, den beiden größten. Ein merkwürdiger, bitterer Geruch dringt aus dem Haus, und sie haben die Kinder, die zuschauen wollten, weggeschickt.
    Jaru hat immer noch nicht geschlafen. Gero merkt es an seiner Schweigsamkeit, und dadurch, dass er sich immer wieder mit der Hand durch die Haare und übers Gesicht fährt.
    Elwo ist aufgekratzt.
    "Hast du auch diese dunkle Magie gelernt, Gero?"
    "Dunkel... ich weiß nicht. Die Paladine nennen sie so. Ein wenig. Hosh-Urkosh musste die Gabe verbergen."
    "Warum hast du ihn eigentlich umgebracht?" will Elwo wissen.
    Die Geschichte hat sich also bereits herumgesprochen.
    "Es war im Zweikampf um die Freiheit eines Gefangenen. Ich wollte nicht zulassen, dass die Sklaverei weitergeht, nachdem das Lager befreit war."
    "Es heißt, du hättest unfair gekämpft..."
    "Ich? Wohl eher Hosh-Urkosh! Er hat mich mit einem Blitzzauber angegriffen."
    "Jaru hat auch mit Zaubern gekämpft, auf der Feuerinsel."
    "Nach allem, was ich gehört habe, war das kein wirkliches Duell. Jaru hat dem Zweikampf nie zugestimmt. Ich hatte in Sandmeile meine Rüstung ausgezogen, damit die Chancen gleich waren..."
    "Du warst ohne Rüstung und hast einen Orkelite besiegt?"
    "Ja. Aber wir waren beide schon angeschlagen durch den Kampf vorher."
    "Und es war ein Kampf bis zum Tod?"
    "Ich habe ihn dazu gemacht."
    "Verstehe. Das ist es, was sie dir vorwerfen."
    "Es gibt nicht viele Orks, die mir das vorwerfen."
    "Außer Xhutuboc."
    "Ich habe ihn nicht mal kennengelernt..."
    "Je mehr Zeit seit der Befreiung vergeht, desto mehr Orks werden dich hassen," mischt sich Jaru ein. "Am meisten solche, die weder dich, noch ihn, gekannt haben. Deswegen will ich so schnell wie möglich mit dir ins Orkdorf."


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    Im Lazarett

    Im Lazarett


    Die Tür zum Lazarett ist offen, damit die Luft zirkuliert. Das ist auch definitiv notwendig. Es sind nicht nur alle achtzehn Pritschen belegt - manche sogar doppelt - auch auf den Planken dazwischen liegen noch Matrosen. Manche schlafen, einige schnarchen, aber die meisten dösen oder tauschen dieses flache Gelaber aus, das manchmal tiefer ist als die See und manchmal nur eine lästige Schlammpfütze.
    Als ich durch die Tür trete, halten die meisten inne und starren mich an. "Befehl von Ingmar: ich soll aufschreiben, was ihr gesehen habt," sage ich knapp.


    "Was hast'n da für'n hässliches schwattes Zeuch an, Mädchen," sagt Lofty, der auf Kamorala mit an Land war und mich mit offen Haaren und Mieder - und zwar mit Palissas strategischer Auspolsterung - gesehen hat. Er meint die Alchemistenrüstung, die ich für die Aufgabe im Lazarett angezogen habe... dickes dunkelgraues Ripperleder mit den offensichtlichen Spuren missglückter Experimente.
    "Tja, Lofty, bist halt auf meine Tarnung reingefallen," sage ich und blicke ihm direkt auf die Nasenwurzel. Und in das Gejohle und Gebrabbel: "Also, lasst uns direkt anfangen. Wer von euch ist der Älteste?"
    Ein magerer kleiner Mann mit wirrem Haarschopf, einer der wenigen, der eine Pritsche für sich hat, setzt sich auf. Er hat einen Verband um die Stirn, und seine Kleidung ist stellenweise verbrannt.
    "Na, Mädchen, was willst'n wissen?"
    "Ich bin Irletia, die Alchemistin. Wie heißt du?"
    "Hast du diese ganzen Heiltränke gebraut, Kindchen? Das Zeug geht runter wie Grog. Kann ich noch was haben davon?"
    "Ihr habt alles weggeschlürft, Jungs. Also, wie heißt du und was hast gesehen?"
    "S' war dunkel. Gesehen hab ich fast nix. Ich hatt' kein' Dienst, hab' gepoovt unter Deck. Plötzlich fall' ich aus meiner Hängematte, weil Kniffo, der Drecksack, die umgedreht hat. Ich renn' ihm hinterher und will ihm eine auf die Glogge haun', da treff ich im Gang auf so' n paar von diesen Kugelköppen. Der eine hat mit seinem Harpunendings auf mich angelegt, und dann hab ich nur noch Feuer gesehen. Hab mich zur Seite weggewälzt und nicht mehr gerührt, er hat bestimmt gedacht, er hat mich erledigt. Sie sind dann wieder an Deck. Ich hab mein' Säbel geholt und bin hinterhergerannt. Tasso und Jasim hams ihnen böse besorgt. Da lagen schon einige von den Glasfratzen und ham nix mehr getan, außer vor sich hin stinken. Aber dann... sachma' haste nicht doch ma' was zu trinken, meine Kehle is' ganz trocken, wenn ich dran denke."
    Ich sehe, dass ihm Tränen in den Augen stehen.
    "Wo hast du eigentlich rumgehangen, als die unser Schiff gekapert haben, ich hab dich nicht gesehen, als die uns hier aufgemischt haben..." schreit irgendein Rothaariger von einer der hinteren Pritschen dazwischen.
    "Ingmar hat mich eingesperrt, in einen der Kriechgänge. Ich hab erst wieder rausgefunden, als alles vorbei war."
    "Ha, dann kennst du ja jetzt die Ratten," lacht einer von den südlichen Inseln.
    Ich wünsche mir, ich hätte das mit den Berichten anders angefangen und müsste mich nicht pausenlos mit der ganzen Meute beschäftigen.
    "Wisst ihr was, ich besorge Schnaps. Ihr kommt dann einzeln ins Alchemielabor, und ich schreibe auf, was ihr erzählt. Jeder eine Seite Bericht, jeder ein' Schnaps. Klingt das gut? Und stellt bitte eure leeren Heiltrankflaschen hier in die Kiste."
    Ich fühle mich schrecklich, als ich aus dem Lazarett abhaue, aber Ingmar gibt mir tatsächlich drei Flaschen Wacholder für meinen Plan.


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    Tushik'att

    Als sie sich dem Orkdorf nähern, noch in tiefster Dunkelheit, hält Jaru an und teilt Gero und Elwo etwas Öl aus. Gero kennt den Geruch bereits.
    "Reibt euch damit ein, wo keine Kleidung ist."
    "Es hilft gegen diese blutsaugenden Insekten, die hier im Wald ihr hassenswertes Dasein fristen," erklärt Gero Elwo.
    Jaru äußert sich dazu nicht. Es hilft auch gegen die Orkhunde, wenn man sich richtig bewegt. Aber er sieht keinen Grund, das Elwo zu erklären. Der Junge will Orkschamane werden? Dann muss er lernen, auf das zu achten, was Orks tun, nicht auf das, was sie sagen.
    Er führt die beiden abseits vom Hauptweg über kleine Pfade zu seinem Baumhaus, das am Rand des Dorfes steht. Es ist immer noch dunkel, und sie bleiben unbemerkt. Als sie ankommen, haut sich Jaru ohne ein Wort der Erklärung ins Bett. Gero richtet sich auf der Matte auf dem Boden davor ein. Elwo sieht aus, als wolle er etwas fragen, aber er schweigt dann doch und tut es Gero gleich.


    Als sie erwachen, ist es kurz vor Mittag. Elwo sieht durch ein Astloch aus dem Haus ins Dorf hinüber. Auf dem Dorfplatz brennen ein paar Feuer mit Kesseln darüber. Ein paar Orkfrauen sitzen vor Matten, auf denen Dinge liegen. Vielleicht ist das der Markt? In einer Ecke trommeln ein paar junge Orks und tanzen. Jaru streckt sich und macht ein paar Übungen.
    Elwo sieht zu, macht aber nicht mit.
    Als Jaru losgeht, schnalzt er nur einmal leise mit der Zunge.
    Gero lächelt. Jaru hat direkt mit Elwos Ausbildung begonnen. Die Frage ist, ob der Junge das kapiert.
    Sie laufen über schmale Hängebrücken zwischen Jarus und anderen Baumhäusern und später zwischen den einfachen Rindenhütten über den Platz. Elwo geht zu einer der Orkfrauen, vor denen er Fläschchen mit einer gelben Flüssigkeit sieht. Er bietet irgendetwas Kleines an und bekommt eins der Fläschchen. Als er zu den beiden zurückkehrt, öffnet er den Verschluss und Gero riecht den Geruch von der Nacht vorher. Jaru schnalzt zustimmend.
    Merkwürdig ist, dass es kein großes Aufhebens um ihre Anwesenheit gibt, kein Auf-sie-Zeigen mit Fingern, keine lauten Rufe, auch kein Willkommen.


    Jaru führt sie zu Tushik'atts Halle.


    Dort brennen Leuchten aus durchbrochenen Steinen, die Geräusche aus dem Dorf dringen nur gedämpft hierher. Draußen haben sie einen erhöhten Thron gesehen, ein ähnlicher steht hier vor einer Feuerstelle aus grauem Stein. An der Wand dahinter ahnen sie einen ledernen Bildteppich, ein Teil der Farben dort wird durch aufgenähte Muscheln und Perlen in verschiedenen Weiß-, Rosa- und Grautönen erzielt, andere Stellen sind mit geometrischen Mustern bemalt. Der Teppich sieht alt und kostbar aus.
    Daneben ragen Stangen auf, die mit allerlei Fellen, Häuten, Krallen und Zähnen geschmückt sind. Elwo erkennt den Flügel eines Drachen, und den Kiefer eines riesigen Zahnfisches.
    Jaru registriert, dass sie den menschlichen Schädel, der mit einem Paladinhelm bedeckt gewesen ist und der früher auch Teil der Sammlung war, abgehängt haben. Ein kleines, aber hoffnungsvolles Zeichen des derzeitigen Bündnisses. In der Hütte haben sich - ungeachtet des Markttages draußen - eine große Menge schweigender Orks versammelt, die meisten von ihnen Krieger in voller Rüstung.
    Auf dem Sessel thront ein riesiger, grauhaariger alter Ork, der nur noch ein einziges hellgelbes Auge hat, Tushik'att, der alte Schamane der Inselorks. Auf einer seiner Schultern sitzt ein alter Rabe mit wenigen grauen Federn auf dem fast kahlen Kopf. Dadurch wirkt er fast wie ein Geier. Die Augen des Raben sind gischtgrau, so wie Nelas. Früher wäre er möglicherweise zu Jaru geflogen und hätte ihn begrüßt. Jaru hat sich - zu Tushik'atts Ärger - gut mit dem alten Raben verstanden, doch nun sehen sich die beiden Raben, klappern und krächzen sich an.
    Nur ein Ork ist völlig in einen weißen Mantel gehüllt, das muss Krumpiaktl aus Nordmar sein, Jarus Lehrer. Er steht neben dem Thron, wendet Tushik'att halb den Rücken zu.
    Elwo nimmt einen tiefen Atemzug gegen die Beklemmung. Tushik'atts Macht und Autorität ist an diesem Ort greifbar wie ein schwerer Umhang, der sie alle einhüllt und ihre Bewegungen lähmt. Er fühlt sich, als ob er sich durch einen zähen Sirup oder Schlamm bewegt. Zu seinem Erstaunen verbeugen sich Jaru und Gero tief vor dem alten Ork. Er tut es ihnen nach, findet es aber irgendwie... falsch.


    Der Alte lässt sie warten. Jaru und Gero erheben sich trotzdem wieder. Jaru umarmt Krumpiakl, und einige Orks rufen ihm Willkommensrufe zu. Elwo fürchtet fast, dass Tushik'att Jaru mit irgendeinem Zauber in einen Haufen rauchende Asche verwandelt.
    Tushik'att wartet, bis sich die positive Stimmung leergelaufen hat.
    "Spät erinnerst du dich an deine Pflichten, Kroar‘ck."
    Tushik'att spricht orkisch, Gero übersetzt leise für Elwo.
    "Ich habe mit der Rückkehr gewartet, bis ich erfolgreich heimkehren kann," antwortet Jaru leise. Er zieht die große Doppelaxt von Thorus aus dem Gürtel und zeigt sie den Versammelten.
    "Der Mörder unserer Bootswachen, der feige Dieb in der Nacht, ich habe sein Leben beendet." Jaru präsentiert die Axt und die Orks murmeln und rufen durcheinander. Ein zweites Mal verliert Tushik'att die Kontrolle über die Menge.

    Jarus Blick gleitet über die Versammelten, dann geht er auf einen anderen älteren Ork zu, kniet sich vor ihn hin und legt die Axt zu seinen Füßen nieder.
    "Dein Sohn wird nun Ruhe finden, Shajark."
    Da weint eine Orkin, die in den hinteren Reihen stand, laut auf, geht auf Jaru zu, umarmt ihn und berührt die Axt mit einer Hand.
    "Auch dein Sohn kann nun auf die lange Reise gehen, Mutter, sei getröstet" murmelt Jaru leise.

    Er löst sich wieder von ihr und wendet sich Tushik'att zu:
    "Es war die Aufgabe, die du mir gestellt hast, Tushik'att. Ich bin dem Willen der Orks gefolgt, ich habe das Recht der Orks erfüllt."

    Die versammelten Orks jubeln, jemand beginnt eine Trommel zu schlagen, der Bann scheint gebrochen, es sieht so aus, als ob sich ein großes Fest ankündigt.
    Tushik'att schweigt, zuletzt nickt er gnädig, breitet seine Arme aus reißt sie nach oben und brüllt. Doch alle drei Menschen sehen, dass sein Herz dabei kalt bleibt.
    Der Trubel breitet sich aus, der Ork mit der Axt von Thorus läuft auf den Marktplatz hinaus und viele folgen ihm. Tushik'att, Krumpiaktl, Jaru, Gero, Elwo und eine kleinere Menge bleiben in der Halle zurück.
    "Und wer sind nun deine Begleiter, Kroar‘ck? Ich denke, ich weiß, wer du bist, Grauäugiger. Der Khorinis-Akzent deiner orkischen Sprache verrät dich. Ich hätte nicht gedacht, dass der Mörder von Hosh-Urkosh sich eines Tages zu den Orks wagen würde."
    "Ich habe gekämpft, um die Orks zu befreien, auf dem Strand von Sandmeile, und bereits vorher schon. Es war Hosh-Urkosh, der den Bund gebrochen hat. Ich habe ihn im Zweikampf besiegt, den er wollte, nicht ich. Wenn du das vergisst, Tushik'att, dann bist du vielleicht nicht der, für den ich dich gehalten habe," sagt Gero und verbeugt sich nochmal.
    Tushik'att schweigt und mustert ihn.
    "Über die Angelegenheit wird Ur-Shak entscheiden," knurrt Tushik'att schließlich, "und Ur-Shak ist heute nicht hier. Und wer bist du?" fragt er Elwo.
    "Ich bin Elwo. Ich möchte Orkschamane werden," sagt Elwo holprig, aber auf Orkisch. Die Orks in der Hütte lachen röhrend auf. Das beendet einerseits die angespannte Stimmung, ist aber natürlich nicht die Antwort, auf die Elwo gehofft hat.
    "Wir werden sehen." Tushik'att erhebt sich und verlässt die Hütte. Damit sind sie zunächst aus seiner Aufmerksamkeit entlassen. Jaru geht zu ein paar anderen Orks und begrüßt sie.
    Noch hat ihn niemand nach Ker'ontagh Bacht oder T‘Bekhon gefragt. Das ist nicht erstaunlich, denn die beiden standen zwar unter Jarus Kommando, als er zur Feuerinsel aufgebrochen ist, allerdings war er ja bereits zwischenzeitlich im Orkdorf, und die Orks haben davon erfahren, dass er und andere verschüttet wurden. Für den Moment beschließt Jaru, nichts zu sagen. Außerdem waren die Eltern der beiden nicht anwesend, und wer Ker'ontagh Bachts Braut war, muss er sowieso erst herausfinden.

    Geändert von Ajanna (23.04.2023 um 21:40 Uhr)

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    Elwos Wahl 1

    Gero wird danach von einigen Orks angesprochen, die nach einzelnen Orks und den Verhältnissen im Lager Sandmeile fragen. Dort waren ursprünglich Kriegs- und andere Gefangene inhaftiert gewesen, aber die Sklavenjäger hatten es dann zu einem Lager gemacht, in das man ohne Grund und vor allem ohne Entlassungsaussichten geraten konnte, und von dieser rechtlosen Situation waren hauptsächlich Orks betroffen gewesen. Unter unerträglich harten Bedingungen waren sie dort gezwungen, in einer Schwefelmine zu schuften... dem alte König war die Situation aus dem Sinn und aus der Kontrolle geraten. Erst durch eine Invasion ist der Norden erneut in den Fokus der Hauptstadt gerückt und Gero war es, der damals - nicht ganz freiwillig, denn er wurde selbst dort Gefangener - die Aufmerksamkeit des Widerstands auch auf die Ungerechtigkeiten in Sandmeile gelenkt hat. Für einen kurzen Moment in der Geschichte der Insel sind alle fünf Völker zusammengekommen, um die Sklaverei zu beenden.
    Aber es gibt immer noch Schicksale, die ungeklärt sind. Die Orks haben im Lager ihre Namen nicht benutzt, und viele, die im Kampf für die Freiheit gefallen sind, sind ohne Namen im Wald an der Nordküste begraben worden. So fragen jetzt einige, die vermuten, dass vermisste Orks in Sandmeile gelandet sein könnten, Gero nach einzelnen Charakteren oder Orks mit bestimmten Aussehen.
    Elwo versteht leider noch nicht genug Orkisch, um zu begreifen, um was es geht, und so verpasst er die Gelegenheit, Mitgefühl zu zeigen und Vertrauen aufzubauen. Und in einem kurzen Moment der Schwäche verliert er die Geduld und verlässt die Halle.
    Auch Jaru ist inzwischen nicht mehr auf dem Dorfplatz. Er sucht die Eltern und die Braut Ker'ontaghs. Er erinnert sich, wo sie ihren Waldgarten hatten. Lautlos, wie es Jarus Art ist, verschwindet er im Unterholz. Und auch das hat Elwo nicht mitbekommen.
    So steht er alleine auf dem Dorfplatz herum, hilft ein paar jungen Orks dabei, Feuerholz aufzuschichten und jongliert ein bisschen für ein paar Orkjunge. Die Orkfrauen finden ihn süß, und lassen ihn von den Speisen probieren, die sie vorbereiten. Er findet die Orks freundlicher als erwartet, fühlt sich aber trotzdem ein bisschen überflüssig.


    Bis plötzlich eine Orkfrau direkt auf ihn zugeht: "He, Krieger, du. Kennst du Brakko-Kraut?"
    Elwo schüttelt den Kopf. "Wie sieht das aus?"
    "Fragst du falsch. Nicht wie aussieht, wie riecht."
    Die Orkfrau hält ihm ein paar getrocknete Blätter hin.
    Elwo schnuppert. Er nickt. "Kenne ich, ja. Wächst im Sumpf. Westküste."
    "Zu weit weg. Findest du im Wald. Folge Fluss hier, Berg oben. Wenn Sonne auf kleiner Bergwiese, suchst du da."
    "Wie viel brauchst du?"
    "Handvoll reicht. Orkhand."
    Elwo wirft einen kurzen Blick auf ihre Hände, aber sie sind auch nicht viel größer als seine.
    "Gut," sagt er und läuft los, durch das Tor, um die Palisade, zum Flussufer.
    Es gibt Männer, vielleicht größere Krieger als Elwo, die hätten nicht so ohne Weiteres das dunkle Hinterland des Orkwalds betreten. Aber Elwo, Scout der Küstenwache, fürchtet sich nicht. Er spannt seinen Bogen und bricht auf. Was er lange nicht bemerkt, ist, dass sie ihm folgen.


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    Wenige hundert Schritte vom Orkdorf entfernt haben sich die Bäume zu einem finsteren Hochwald geschlossen, durch dessen dichtes Blätterdach kaum ein Sonnenstrahl auf den dunklen feuchten Boden fällt. Dort liegen glatte Steine, die von den Tropfen aus dem dunkelgrünen Himmel nass und glitschig sind. Der Fluss fließt murmelnd zwischen Moos-bewachsenen eckigen Steinklötzen, die teilweise behauen aussehen, aber in wilden Haufen aufeinander liegen, so als hätte ein Riese Baumaterial aufgeschüttet, aber dann vergessen.
    Die Luft ist erfüllt von leisen pfeifenden Vogellauten. Elwo sieht nach oben: dort sind vereinzelt Baumhäuser oder Hochsitze zu sehen. An manchen sieht er Seile oder Taue befestigt, aber bei anderen ist nicht ersichtlich, wie sie erreichbar sein könnten. Die Feuchtigkeit macht die Luft kalt.
    Er fängt an, bergauf zu traben, um sich aufzuwärmen. Der Boden wird nach und nach felsiger und steiler, der Fluss fließt nun schäumend zwischen kleinen Stromschnellen, deren Brausen das Vogelzwitschern übertönt. Bald schon muss er anfangen, zwischen den Felsen zu klettern, und dort sieht er auch die Sonne wieder.
    Schließlich erreicht er eine Kante, wo der Fluss, nun nicht mehr als ein breiter Bach, ihm in einem Wasserfall entgegen stürzt. Er hält inne, tastet die Bäume dort mit den Augen ab und fragt sich, wie er nach oben gelangen kann.
    Da sieht er zweierlei: zum einen eine geflochtene Brücke, geflochtenen aus Lianen und zierlichen Holzgeländern, die sich ihm graziös entgegenstreckt wie eine Tänzerin. Und zweitens einen drahtigen Mann, der wie ein Bauer gekleidet ist und sich mit einer Säge daran zu schaffen macht. Sofort muss Elwo an den Geistermann denken, den Jaru im Norden verfolgte, bevor er mit der Rubin aufbrach. Die Orks haben ihm in verschiedenen gemeinsamen Nachtwachen auf der Rubin von Jarus Jagd erzählt.
    Elwo geht leise noch etwas näher heran, nimmt den Bogen und legt einen Pfeil an. Dann ruft er ihn an:
    "He, Kerl mit der Säge, hör auf damit!"
    Der Mann hält inne, ohne sich umzudrehen.
    "Was mischt du dich ein, das hier ist Orkland!" grollt er.
    "Halt bloß den Rand, ich erkenne dich. Du bist die Wanze, die hier allen auf den Sack geht. Und falls du es nicht weißt, es gibt ein Bündnis zwischen Orks und Menschen."
    "Was du nicht sagst. Und du bist nun eine Orkwache, oder was."
    "Dreh dich um. Ich will dein schäbiges Gesicht sehen, Elster."
    Das letztere war geraten, der Fremde trägt kein Wappen. Aber er scheint zusammenzuzucken.
    Der mittelgroße Mann trägt Kleidung aus rauhen Fasern, einfaches Bauernzeug. Bis auf seine weichen Lederschuhe und ein ledernes Wams mit eingenähten Hornplatten, so etwas tragen nur die Jäger: leicht und geräuscharm. Seine Haare sind dunkel und sehr kurz, so, als habe er sie vor kurzem rasiert gehabt. Sein Schädel ist rund, ziemlich breit über den Ohren. Dann wirbelt er herum und wirft ein Messer. Es gleitet an Elwos Handschutz ab, aber der Aufprall ist hart genug, dass ihm der gespannte Bogen aus der Hand rutscht. Die Sehne schnalzt schmerzhaft über seine Wange. Einen kurzen Augenblick lang tränen seine Augen so stark, dass er nicht genau sieht, was der andere macht. Da trifft ihn ein zweites Messer in den rechten Oberarm.
    Elwo schafft es, trotz der Verletzung sein Schwert zu ziehen - er ist mit links genauso gut wie rechts. Mit lautem Gebrüll stürzt er sich auf den Fremden.
    Er sieht, wie sich dessen Augen weiten, den Angriff hat er wohl nicht erwartet. Er positioniert sich geschmeidig wie eine Katze, und zieht eine Art Messerschwert, das er hinter dem Rücken trägt. Doch bevor er es einsetzen kann, trifft ihn ein sirrender und glitzernder Metallwirbel am Kopf und er kippt um. Elwo sieht hinter sich. Ein junger Ork steht dort und grinst. Er geht auf den Fremden zu und hebt seine Waffe auf - ein Beil, kleiner, als was die Orks normalerweise tragen, und mit einer runden und fast blauweißen Schneide. Dann bindet er dem Fremden die Hände zusammen.
    "Warst ein guter Köder, Morra." knurrt der junge Ork. Er ist noch schlank, er hat keinen Bauch, und seine Beine sind länger als die vieler anderer Orks. Elwo fällt seine Tätowierung auf - wie eine hellblaue Reihe von Zinnen auf der Stirn.
    "Danke", sagt Elwo, "wie heißt du?"
    "Ich bin Rôksherk, Morra."
    "Ich glaube, das ist der Mann, den Jaru im Norden gesucht hat. Er hat Unruhe gestiftet, Gärten zerstört, und ich denke, er wollte eure Brücke hier kaputtmachen."
    "Ja. Rôksherk erfolgreich. Tushik'att wird zufrieden sein."
    "Soll ich dir helfen, ihn ins Dorf zu bringen?"
    "Nicht nötig, Morra. Geh du Treppe hoch. Da wächst Brakko-Kraut." Der junge Ork zwinkert ihm zu, dann wirft er sich den - bewusstlosen? - toten? - Mann über die Schulter und trabt in Richtung des Ork-Dorfes.


    Elwo nimmt einen tiefen Atemzug. Nun, wo die Bedrohung vorbei ist, merkt er, wie seine Hände zittern. Er zieht das Messer aus der Armwunde und verbindet sich. Komischerweise schmerzt die Wunde kaum. Er sieht sich die Klinge an, aber sie scheint sauber zu sein - und sehr scharf. Er sucht auch noch das zweite Messer. Beides hervorragende Arbeiten aus Erz, dunkel gebeizt, nahezu identisch, mit Griffen aus grauem Haileder und perfekt geschliffen. Was er nicht findet, ist das Messerschwert. Das muss wohl Rôksherk mitgenommen haben. Allerdings ist auch die Säge nicht mehr aufzufinden, und das wundert Elwo wirklich, denn Rôksherk war nicht am Fuß der Brücke. Er sieht sich den Schaden an. Ein Stamm, der die Brücke trägt, ist angesägt. Das ist gemeiner, als die Lianen durchzuschneiden, welche die Brücke halten, denn die können schneller ersetzt werden. Aber der Stamm wird wohl trotzdem noch halten. Elwo sucht in seiner Gürteltasche und findet etwas Harz, das er immer bei sich trägt, um damit die Federn an den Pfeilen zu befestigen. Er zündet ein kleines Feuer an, erhitzt das Harz und trägt es auf die Baumwunde auf. Dann löscht er das Feuer und betritt die Treppe.


    Als er auf ihr am Rand der oberen Kante angekommen ist, verfärbt sich das Licht bereits warm und es ist diesig geworden. So kann er nicht sehr weit über das Blätterdach sehen. Jedoch erkennt er ein paar Rauchfahnen, wo das Orkdorf sein muss.
    Die Kante bildet mit den umliegenden Felsen eine Art Trog, in dem sich ein kleiner Sumpf gebildet hat. Der Fluss scheint nicht von weiter oben einzumünden - möglicherweise ist der Trog eine Quelle. Aber dafür wäre er eigentlich zu stark... Vielleicht fließt er unterirdisch durch eine der Felswände, Elwo beschließt, dort später noch mal mit mehr Zeit nach einer Höhle zu suchen.


    Er schaut sich um. Am Rande des Sumpfes hat jemand Gemüse und Kräuter in ordentlichen Reihen angepflanzt. Er erkennt ein paar Kohlköpfe, Lauch, Zwiebeln, Knoblauch und saure Beeren an kleinen Bäumchen, außerdem grüne, noch unreife Kürbisse und Tontöpfe mit Kresse und Rettichsamen. Ihm läuft das Wasser im Munde zusammen. Aber das Ganze ist so offensichtlich jemandes Garten, dass er sich nicht traut, etwas abzupflücken.
    Doch das ist nur die rechte - die Sonnenseite mit festem Boden an einem sanften Hang, der zu den Felsen ansteigt.
    Die linke Seite ist flacher und schattiger. Und hier sieht er schon bald ein paar der gesuchten Pflanzen. Das Problem ist aber, dass hier der Boden nicht fest ist. "Trügerisch" denkt er, als er ein paar Luftblasen aufsteigen sieht. Suchend blickt er sich um. Gibt es eine Möglichkeit, sich von oben abzuseilen? Doch dafür sind die Felsen zu weit entfernt. Schließlich entdeckt er eine flache Barke aus Rinde, und er benutzt sie, um sowohl von der Wasserseite, als auch von Land die Pflanzen sicher zu erreichen und abzuernten. Er achtet darauf, die Wurzeln und die Sprossachse nicht zu beschädigen. Als er schließlich mit seiner guten Hand voller Blätter am Rand der Brücke steht, ist es Abend geworden und er fühlt sich seltsam schlapp. Das Rindenboot hat er wieder verstaut, wie er es gefunden hat, hochkant zwischen ein paar Büschen.
    Als er durch den Wald am Fluss entlang zum Dorf läuft, muss er irgendwann langsamer gehen, weil ihm schwindelig wird.
    Er findet die Orkfrau noch an der Stelle, wo sie ihm den Auftrag gegeben hat.
    "Hast du Schläfchen gehalten unterwegs?" fragt sie und zwinkert ihm zu.
    Elwo ist nicht zum Scherzen zumute. Der Arm pocht, und ihm ist zu warm.
    Prüfend blickt ihn die Orkfrau an. Dann gibt sie ihm einen Heiltrank.
    "Rôksherk erzählt, böser Morra-Mann schmerzt dich."
    "Es ist nicht schlimm, ich habe nur zu wenig geschlafen."
    "Heute wirst du auch nicht viel schlafen, heute Fest. Danke für Brakko-Kraut."
    Sie grinst ihn an und geht zu ihrer Hütte.


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