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    Legende Avatar von Ajanna
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    Im Labor

    In meinem Sack, den ich von Kamorala mitgebracht habe, waren nicht nur die Heilpflanzen, die seit gestern verarbeitet sind, oder wirksame Pilze und Blätter, die nun aufgehängt trocknen, sondern auch ein paar mir unbekannte Pflanzen, die ich mit einem bisschen ihrer Erde ausgegraben und in alte Honiggläser und Senftöpfe gepflanzt habe. Heute will ich mir ein Buch von Tasso ausleihen und sie bestimmen.
    Außerdem habe ich ihm nicht alle seltsamen Steine abgegeben. Schon beim Aufsteigen habe ich im Geröll ein paar Steine in einer anderen Farbe bemerkt, als die grauroten Tuffbrösel rechts und links vom Weg. Hellgrün wie Glas, ein bisschen durchsichtig und mit einer Oberfläche, als wären sie vor kurzem noch flüssig gewesen. Es könnte natürlich ein Vulkanglas sein, aber tatsächlich denke ich, dass es Teile von gefallenen Sternen sind. In letzter Zeit sind viele Sternschnuppen gefallen, gerade in den beiden Nächten, in denen wir durch die braunen Berge gelaufen sind, habe ich über achtzig gezählt.
    Außerdem habe ich ein paar Spinnen gefangen und etwas, das aussieht wie eine Muschel, aber es ist an Land gelaufen, wie eine Schnecke, auf einem glibberigen Fuß.
    Als Frühstück gibt es zurzeit nur Reis, etwas gebratenen Fisch und eingelegte Gurkenstücke, aber ich esse das gerne. Ingmar kommt danach in mein Labor, und zeigt mir, wie er bestimmt hat, was wir gefunden haben. Er weist Schwefel nach, Eisen, Kupfer, Gold und mehrere magische Stoffe, die man braucht, um Stahl besser oder Glas weicher zu machen. Die Westseite von Kamorala müsste ein einziges großes Bergwerk sein. Aber dann könnte man dort natürlich keine Heilpflanzen mehr ernten.
    Warum wolltet ihr es wissen, was man dort abbauen kann? Die Insel gehört uns ja nicht.“ frage ich.
    Man weiß einfach nicht, wozu man Wissen eines Tages brauchen kann. Jerkha zum Beispiel, der Goldsand, den er gefunden hat, er hat den Wert von allen Einkäufen, die wir auf Kamorala getätigt haben.“
    Und was waren das für graue Metallnadeln?“
    Man kann Zündsteine damit herstellen, und Kanonenkugeln, die beim Einschlag kaputtgehen.“
    Wie heißt es?“
    Wir reden normalerweise nicht drüber.“
    Gut. Wenn ich Silbernadelstein sage, weißt du, dass ich davon rede. Nur um dich zu fragen.“
    Ingmar schnaubt.
    Und was hast du gefunden, das uns nicht gezeigt hast? Jerkha hat gesehen, dass du auf dem Hinweg etwas aufgehoben hast.“
    Ich habe schon überlegt, dass ich ihnen einen zeigen würde, und einen der kleinen grünen Steine in meine Rocktasche gesteckt. Den zeige ich ihm jetzt. Er geht näher zu dem winzigen Fenster, das meine Kajüte hat und hält den Stein gegen die Sonne. „Gut gesehen. Was denkst du, was es ist?“
    Ein gefallenes Stück Stern.“
    Er pfeift leise durch die Zähne. „Kann ich einen behalten?“
    Wenn du mir gezeigt hast, wie man Zündsteine macht.“
    Das wollte ich sowieso. Wir brauchen welche.“


    Sie haben noch ein zweites Labor, ein größeres. Hier werden keine Pflanzen verarbeitet, sondern Waffen gebaut. Normalerweise arbeitet hier der Schmied. Der ganze Boden ist mit Sand bestreut, es stehen mehrere Sandeimer in den Ecken und die Tische sind mit Steinplatten belegt. Ein Tisch ist aus Glas und darunter kann man eine Luke aufmachen, durch die Sonnenlicht durch einen Spiegel unter den Glastisch geleitet wird. Ich sehe, dass es in einer drehbaren Halterung auch eine Linse gibt, aber hinter ihr ist ein Lappen festgeklemmt. „Hier musst du gut auf deine Augen aufpassen,“ warnt Ingmar und gibt mir eine Kappe mit einem Gesichtsschutz und zwei dunklen Glasscheiben, wo die Augen sind. Man kann auch Glasscheiben reinsetzen, die nur ein bisschen gelb sind, ich sehe sie auf einem Bord liegen, das einen hohen Rand hat, damit nichts runterfallen kann.
    Zwei Stunden später, es stinkt ziemlich im Labor, und deshalb sind wir an Deck gegangen, sind die Zündsteine fertig. Sie müssen nur noch abkühlen. Ingmar zeigt mir, wie ich Mund und Nase ausspülen soll und danach waschen wir uns Gesicht und Hände.
    Wie lange bist du schon ein Seepaladin?“ frage ich Ingmar.
    Ungefähr so lange, seit ich so alt war wie du.“
    Und woher bist du gekommen? Aus der Hauptstadt?“
    Nein. Ich bin aus Nordmar. Ich habe mit Anderen Orks verfolgt, bis runter vor Ardea, und da habe ich einen Schiffsbauer kennengelernt. Bei dem habe ich gelernt, und später bin ich auf einem Schiff mitgefahren, das ich mit ihm gebaut hatte.“
    Kannst du mir zeigen, wie man ein Schiff baut?“
    Dann müsstest du länger mitfahren, und ich kann dir hier an Bord nur das zeigen, was wir reparieren. Die richtigen Bootsbauer arbeiten an Land.“
    Der Bootsbauer, bei dem du gelernt hat, ist wahrscheinlich schon gestorben...“
    Ja, aber sein Sohn und Enkel bauen wieder. Die Orks haben sie vertrieben, aber sie sind zurückgekehrt.“
    Kannst du mir eine Empfehlung für ihn schreiben?“
    Es täte mir Leid, dich als Alchemistin zu verlieren. Du kennst dich aus, und du arbeitest sehr sorgfältig. Aber ein Schiff ist natürlich eine sehr eigene Welt… Also warum nicht? Aber ich spreche mit Tasso, es ist besser, wenn der Kapitän die Empfehlung schreibt.“


    Gerade, als wir wieder ins Labor runter gehen wollen, kommt ein Matrose auf uns zu.
    Der Käpt‘n erwartet euch in der Krankenstation.“
    Ingmar geht voraus. So schnell, dass ich kaum mithalten kann.
    Die Krankenstation liegt ganz innen im Schiff und hat kein Fenster, nur einen Luftschacht. Später erklärt mir Ingmar, das ist, damit man dort mit Licht die Kranken versorgen kann, auch wenn das Schiff ganz dunkel sein muss, und damit dort möglichst keine Kanonenkugeln treffen.
    Die Betten sind hochgeklappt an den Wänden, nur eins ist unten und darauf liegt einer der Kletterer, der mit uns auf Erkundung waren – Corry. Er heißt irgendwie anders, aber so nennen ihn alle, weil er aus Cor-dal-Pesch ist. Die Leute aus Cor-dal-Pesch sind mal aus Varant eingewandert, deshalb haben viele kupferfarbene Haut und dunkelbraunes lockiges Haar mit rötlichen Glanzlichtern. So auch Corry. Aber im Moment sieht er fast blau aus, und er ist nicht bei Bewusstsein.
    Neben der Pritsche stehen Tasso und Bork, der Chirurg der Adamanta. Ich glaube, er probiert manchmal von den verschiedenen Arzneien, aber nicht heute.
    Was ist mit Corry?“ frage ich Bork.
    Gestern, nachdem ihr zurückgekommen seid, ging‘s ihm schlecht, er hat seine Schicht getauscht, damit er sich aufs Ohr hauen kann. Abends hat ihn der, mit dem er getauscht hat, so gefunden.“
    Gift,‘ denke ich sofort. ‚Vielleicht eine Schlange – oder Spinne – oder ein Skorpion. Irgendetwas, was das Blut so dünn macht, dass es aus den Adern in den Körper und unter die Haut läuft.‘
    Ingmar geht an die Pritsche, und zieht die Decke noch ein Stück weiter von Corry runter. Sein ganzer Oberkörper sieht so blau aus, wie sein Gesicht. Ich weiche ein Stück zur Tür zurück. Ich bin keine Ärztin, ich habe bisher nur ein bisschen bei Geburten geholfen und ein paar Verbände gewickelt. Als sie mich fragen, ob es mir schlecht geht, sage ich ihnen das.
    Bork nickt. „Ingmar hat erzählt, dass du eine gute Alchemistin bist. Hast du so etwas schon mal gesehen?“
    Bei einem Fischer, den die Brandung gegen eine Seewalze gedrückt hat. Aber es war nur an der Wade und ist wieder weggegangen.“
    Wie?“
    Mit kalten Umschlägen auf der Wade und Hühnerbrühe. Innerlich.“
    Bork nickt.
    Waren da Seewalzen, wo ihr euer Zeugs gesammelt habt?“
    Ich zucke mit den Schultern. „Ich war nicht die ganze Zeit bei ihm. Aber sie sind schon in den Klippen geklettert. Frag‘ doch Lofty, sie waren zusammen dort.“
    Den haben wir schon gefragt…“ Er runzelt die Stirn.
    Wenn es keine Seewalze war, wonach würdest du suchen?“
    Nach der Wunde vom Stich oder Biss. Von einer Schlange vielleicht… oder einem Skorpion...“
    Bork nickt wieder.
    Dann holt er eine Lupe aus seiner Westentasche und gibt sie mir. Ich zögere ein bisschen. Aber wenn es ein Fischer vom Dorf neben der Südfeste gewesen wäre, hätte ich auch nachgesehen.
    Zuerst decke ich Corry wieder zu, denn Schlangen- oder Skorpion-Bisse sind eher an den Füßen.
    Ich ziehe mir die Laborhandschuhe an, schiebe die Decke von seinen Füßen weg, hole mir die Lampe und schaue gründlich. Die ganze Zeit spreche ich leise mit ihm und erkläre, was ich mache. Die Füße sind weniger blau und ich finde nichts. Das gleiche an den Armen. Dann wende ich mich seinem Kopf zu. Ich sehe nach der Zunge, das hätte ich gleich machen sollen. Aber sie sieht fast normal aus. Dann sehe ich es schon: ein winziger Punkt am Schlüsselbein, direkt neben der Ader zum Kopf. Das ist nicht gut. Ich brauche mehr Licht. Ich bitte Ingmar, die Lampe zu halten, und hole eine der Linsen von Kamorala aus meiner Tasche. Damit bündele ich das Licht der Lampe und schaue ganz genau mit der Lupe. Die Wunde ist deutlich eine Einstichstelle, mit leicht grauen Rändern. Nicht von einem Zahn, sondern von einem Stachel oder Dorn.
    Und dann sehe ich es: Ein winziges Bröckchen von etwas Grauem, wie Seife oder Schmalz.
    Ich gehe zum Tisch, wo die Instrumente liegen. Dort nehme ich eine Pinzette und einen Keramikspatel. Dann knie ich mich neben das Bett, hebe die Haut neben dem Stich ein bisschen mit der Pinzette an, und kratze vorsichtig das graue Zeug weg von der Wunde und von seiner Haut.
    Was tust du?“ fragt Bork.
    Was ihr gleich hättet tun sollen. Den Rest Gift entfernen.“
    Also doch kein Skorpion?“
    Eine Seewalze. Oder eher mehrere, der Menge des Giftes nach. Die aus dem Wasser gesprungen, auf der Seife ausgerutscht und an einem Kaktus hängen geblieben sind. Der dann vor Schreck umgefallen und auf Corry gestürzt ist.“
    Bork und Ingmar sehen mich an, als hätte ich Pilze genommen.
    Du meinst, es war ein Mordversuch.“ meint Tasso. Es hat schon seine Richtigkeit, dass er der Kapitän ist. „Warum kein Insekt?“
    Dann wäre das Gift innen im Stachel in die Wunde gelaufen. Dann wäre es nicht außen am Dorn dran gewesen und vom Hautwiderstand zur Seite neben den Einstich gedrückt worden.“
    Koch‘ ihm eine Hühnerbrühe,“ befiehlt Tasso. „Und lass niemand zu ihm.“
    Geändert von Ajanna (06.05.2021 um 22:11 Uhr)

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    Die Überfahrt 3

    Drei Tage und drei Nächte lang wachen Bork und ich abwechselnd bei Corry. Er ist manchmal wach genug, dass er von der Hühnerbrühe trinken kann, aber er redet nur wirres Zeug und ist nicht zu verstehen. Bork besitzt ein paar schöne geografische Bücher über die Inseln der Eysensteynsee, und wenn ich bei Corry wache, lese ich Corry und mir daraus vor. Borg hat auch medizinische Bücher, aber die würde ich keinem Kranken vorlesen.
    Als ich am Nachmittag des vierten Tages Bork ablösen will, ist das Bett leer und ein Matrose zieht gerade das Bettzeug ab. „Wo ist Corry?“, frage ich.
    Der Matrose zuckt mit den Schultern. Ich will mit Bork sprechen, aber als ich ihn finde, schläft er tief und fest, schnarcht für drei und riecht nach Schnaps. Daraufhin suche ich Ingmar. „Der hatte Nachtschicht,“ meint einer der jungen Offiziere, der gerade das Auswechseln von Planken an der Reling beaufsichtigt.
    Ich erkundige mich auch bei ihm nach Corry, aber er weiß nichts. Und der Kapitän sei beschäftigt, er führe gerade eine Befragung durch. Ich überlege eine Weile, ob ich quer durch das ganze Schiff gehen und nach Corry fragen soll, entscheide mich dann aber dagegen.


    Also gehe ich in mein kleines Labor und widme mich den fremden Pflanzen und Steinen. Eine Pflanze hat nierenförmige blaugrüne Blätter und Blüten, die wie weiße Stummelflügel auf einer fahlgrünen Erdbeere aussehen. Sie trocknet leicht aus und riecht ein bisschen wie Tinte. Eine andere ist ein holziges Kraut mit roten Beeren, die aussehen wie aus rotem Glas. Und dann habe ich noch ein Gras gefunden, dessen Samen die Finger schwarz färben.
    Die wie eine Schnecke laufende Muschel sieht nicht mehr besonders gut aus. Ich weiß nicht, was sie frisst – alle Versuche mit Seetang, Fisch oder Produkten aus unserer Bordküche haben sie nicht belebt – und sie scheint auszutrocknen, egal ob ich sie in Süß- oder Salzwasser platziere. Ich hatte ihr einen Bottich mit flachen Schalen mit der einen und anderen Variante angeboten, aber keinen Erfolg gehabt. Tasso hat mich gezwungen, die Spinnen zu töten, bevor ich sie mit an Bord nehmen durfte – nach der Erfahrung mit Corry gebe ich ihm nachträglich Recht. Eben zeichne ich sie, nachdem ich sie sehr sorgfältig unter der Lupe betrachtet habe. Als das Licht schlechter wird, gehe ich an Deck und betrachte den Sonnenuntergang. Bleiche Federwolken in großer Höhe strahlen auf eine ungewöhnliche Weise in Regenbogenfarben, gleichzeitig jagen zerfetzte dunkle Wolken über uns. Die Seeleute befestigen die Segel. Es sind nur wenige gehisst.
    Der Wind heult, er ist böig und hart.
    Ingmar taucht plötzlich hinter mir auf. „Hilf mir, die Labore sturmfest zu machen,“ ruft er und rennt in seinem üblichen Sturmschritt unter Deck. Im Waffenlabor geht das schnell, es ist alles darauf ausgelegt. Aber in meinem Labor hatte ich Landratte natürlich weniger auf so etwas geachtet. Ingmar bringt Netze, Seile und Säcke mit und wir verkeilen alle Kisten und befestigen alle lebenden Pflanzen hängend. Die komische Muschel ist gestorben und stinkt ein bisschen. Ich schiebe sie in einem Tontopf unter einen umgedrehten Eimer.
    Wo ist Corry?“ frage ich ihn, als wir fertig sind.
    Er ist verschwunden.“
    Wie ist das möglich? Das ist doch ein Schiff, keine Siedlung im Wald.“
    Es gibt hier jede Menge Kriechgänge und tote Winkel,“ murmelt er leise. „ Wenn jetzt kein Sturm wäre, würde ich sie dir zeigen. Durch einige kommt ein erwachsener Mann nicht mehr durch, und selbst du vielleicht nicht. Dafür haben wir die Schiffsjungen. Aber als wir zur Feuerinsel aufgebrochen sind, haben wir sie an Land zurück gelassen.“
    Meinst du, Corry wollte sich verstecken, oder hat ihn jemand entführt?“ Das wird ja langsam ganz schön unheimlich.
    Bork hat komische Sachen erzählt, ich dachte erst, er hat mal wieder irgendetwas Merkwürdiges intus. Er hatte sich außerdem offensichtlich betrunken. Aber gegen Abend ist er aufgewacht, und hat berichtet, dass Corry zuletzt bei klarem Verstand war und Angst vor einer Art Taucher hatte, mit einer Rüstung, mit der man im Wasser atmen kann.“
    Ich schaue ihn mit großen Augen an. So etwas habe ich noch nie gehört.
    Warum hat er uns nichts davon erzählt, als wir von der Westseite Kamoralas zurückgekehrt sind?“ überlege ich laut.
    Ingmal geht nicht darauf ein. „Du begibst dich am besten in die Offiziermesse und bleibst dort. Im Sturm will ich nicht, dass du alleine durch‘s Schiff läufst.“ Und dann zeigt er mir, wie ich mich an Deck an einem Seil bewegen kann, damit ich nicht über Bord gehe, wenn eine Welle über die Reling schwappt. Der Wind bläst nun sehr stark von Südwesten her.
    Geändert von Ajanna (09.05.2021 um 13:06 Uhr)

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    Ein Schluck Wein

    Welchen Schluss ziehen eigentlich die Orks aus der Zeit der Invasion und Befreiung?“ fragt Tasso, als er Jaru in der Nacht zurück an Land begleitet. Er will ihm das Haus der Talakaidis aufschließen, weil Jaru nicht an Bord übernachten kann.
    Natürlich sind wir froh über die Auflösung der Lager,“ antwortet Jaru. „Aber viele verstehen nicht, warum ihr auf Suiurrá mit den Festland-Leuten Frieden geschlossen habt, einfach so, ohne Not, ohne Gerechtigkeit, ohne Aufklärung der Verbrechen.“
    Es war nicht einfach, und es geschah nicht ohne Not,“ erwidert Tasso steif. „die Insel ist ausgeblutet. Würden wir nicht die Kriegsschiffe als Versorger einsetzen, hätten wir schon eine Hungersnot.“
    Und was ist jetzt mit dem fremden König, und den ganzen Feuermagiern? Nach allem was ich höre, sind sie zum Festland gesegelt, aber war der Großteil der Magier nicht von hier? Und was wollten die Festlandpaladine denn überhaupt?“
    Ich kann es dir nicht sagen, sie werden aber nicht zurückkehren. Ihre Mission ist… manche sagen, gescheitert. Andere sagen, die Zeit hat sich erfüllt, und es beginnt eine neue Aera. So oder so, wir sind wieder die Insel am Rand zum Nirgendwo, und die Geschicke der Welt werden sich woanders entscheiden. Worüber ich froh bin.“
    Heißt das, nach der Ernte gehen wir zusammen Wildschweine jagen und werden alt und fett?“
    Tasso lacht. „Es wird neue Konstellationen geben, die unsere Wachsamkeit erfordern. Die O-Hotoshi-Boshi sind mächtig, und wir müssen immer noch Jörg finden und befreien. Und die Alca...“
    Welcher Art ist denn jetzt der Friede, den wir mit dem Festland haben, sind wir jetzt tributpflichtig – oder sie uns?“
    Nein. Es ist mehr… eine gegenseitige Akzeptanz, ohne weitere Abkommen. Sie haben uns die Adamanta ausgeliefert, mit allen Vorräten, die sie an Bord hatte, das ist alles. Die fremden Seepaladine an Bord sind Freiwillige, ohne Bindungen an Myrtana. Du hast sie ja kennen gelernt:
    Jasim ist aus Varant geflohen, während der Flut, Wikko pflegt einen Groll gegen die myrtanischen Truppen, Boris und Bork stammen aus der Eysensteynsee, und die Mannschaften bestehen teils aus ehemaligen Orksöldnern, teils aus Handwerkern, die von den Nordmarer Orks vertrieben wurden, sogar ein paar tätowierte Sektenkämpfer von Khorinis sind dabei.“
    Ich habe ihr Rauchkraut gerochen,“ meint Jaru, als sie vor dem Haus angekommen sind. „Und wie ist es für dich, eine so zusammengewürfelte Truppe zu kommandieren?“
    Tasso wartet, bis er aufgeschlossen hat und sie beide in der Halle mit dem Kamin angekommen sind. Dort schenkt er ihnen beiden ein Glas roten Wein ein und gibt Jaru eins. „Ich kann noch nicht sagen: gut oder schlecht. An Bord ist manchmal eine Stimmung, als ob alle auf etwas warten. Aber meine alte Mannschaft bildet die größte Gruppe an Bord, und ich weiß, dass ich mich auf diese Männer verlassen kann.“
    Und wie steht es jetzt um unseren Bund, den zwischen euch und den Orks?“
    Ich denke, das ist Sache der Königin. Sie ist hier, ich bin meist auf See. Es wäre gut, wenn ihr auf Dauer jemand in die Hauptstadt schicken könntet, diesen Krump‘tiaktl vielleicht, der dich ausgebildet hat. Ich habe ihn gehasst, weil er mehrmals versucht hat, die Alca zu kapern, aber nach allem, was ich seitdem gesehen habe, ist er kein Menschenfeind wie andere eurer Führer.“
    Wenn er hier lebt, lebt er nicht bei den Orks...“ Jaru führt den Gedanken nicht weiter aus.
    Tasso sieht, wie müde er ist.
    Ich zeige dir, wo du schlafen kannst," sagt er und gibt Jaru den Hausschlüssel. "Dein altes Zimmer gibt es nicht mehr. Als Amara das Haus wieder aufbauen ließ, lebten hier viele Waisen, um die sie sich gekümmert hat. Also gibt es bestimmt ein Dutzend kleine Kammern im Obergeschoss.“
    Jaru nickt, und stellt das Weinglas auf dem Kamin ab. Er hat nicht viel getrunken.
    Geändert von Ajanna (09.05.2021 um 20:21 Uhr)

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    Die Königin

    Jaru erwacht sehr früh, nicht von Geräuschen, sondern weil sie fehlen: das Rauschen des Windes in den Blättern, das Getrappel von Tieren, Vögel, die den Tag begrüßen… es dringt alles nur ganz gedämpft in diesen Raum, in den Tasso ihn geführt hat. Jaru liegt gegenüber der Tür in einem massiven Bett mit einem Baldachin, der aus zwei naturgrauen Leinentüchern gebildet wird – das Zimmer ist nur doppelt so breit wie das Bett. Hinter der Tür steht ein Gestell mit einer Waschschüssel und einem Krug Wasser, ein Hocker, ein paar Haken an der Wand. Und rechts ein Fenster mit einem hölzernen Fensterladen und darunter ein schmaler Tisch und ein Stuhl.
    Jemand hat dort ein paar Blumen in einer kleinen Vase hingestellt, ein Öllämpchen auf einem Steinteller und einen Stein mit ein paar schönen Bergkristallen… Es ist fast wie ein persönliches Willkommen, aber das kann weder von Tasso, noch von Amara sein. Amara hätte wahrscheinlich eher etwas zum Essen hinlegt – oder ein Buch. Und Tasso… vielleicht einen Heiltrank oder eine Karte. Jaru wäscht sich und geht nach unten. Das Haus hatte früher einen Innenhof, und das ist immer noch so. Jarus Rabe sitzt auf einem Pfahl dort und sonnt sich. Als er Jaru sieht, krächzt er, klappert ein bisschen mit dem Schnabel und fliegt ihm auf die Schulter. Jaru gibt ihm ein Stück Trockenfleisch, von dem er immer etwas für den Raben dabeihat. Dabei zaust er ihm ein bisschen die Federn im Nacken, aber sieht ihn nicht an.
    Guten Morgen, Jaru.“ In der Tür zur Küche steht Irletia und lächelt. Er hätte sie fast nicht wiedererkannt. Sie ist nun beinahe so groß wie er, und sie trägt das Haar nicht mehr in Zöpfen, sondern aufgesteckt unter einer Lederkappe, die auch die Wangen bedeckt. Es ist dickes, grobes Ripperleder, genau wie ihre Lederhose und eine kurze Jacke. Auf einer Brusttasche war wohl mal ein Wappen aufgestickt, aber es ist verkohlt und nicht mehr zu erkennen.
    Du musst dieses Mädchen sein, das damals unbedingt Orkisch lernen wollte.“
    Tschakareg, Dogan,“ antwortet sie und lächelt immer noch.
    Tschakamag, Sh‘zutabat.“
    Sie wird ein bisschen rot, sie hat verstanden, dass es ‚Schöne‘ bedeutet.
    Willst du mit uns frühstücken, oder isst du das Gleiche wie dein Rabe?“
    Gerne. Wer ist wir?“
    Wir Alchemisten. Alle, die bei Amara lernen. Sie will, dass wir gut frühstücken, weil wir im Labor nichts essen dürfen. Deshalb treffen wir uns hier vor der Arbeit.“
    Sie führt ihn in den großen Raum mit dem Kamin, wo er am Abend mit Tasso war. Sein Weinglas steht noch auf dem Sims. Am Tisch sitzen Amara, ein Mädchen und zwei junge Männer. Sie tragen alle eine ähnliche Kluft wie Irletia, es ist wohl so eine Uniform der Alchemisten. Die Kleidung der anderen ist eher noch befleckter und verkohlter als Irlas, so ist das Wappen auf keiner Jacke deutlich. Einer der Jungen ist groß, lockig, stark wie ein Bär und er streckt Jaru direkt eine Hand entgegen. „Ich bin Rudrik. Vom Wasserfort.“
    Jaru macht sich einen Spaß und nennt seinen Orknamen „Kroar‘ck“.
    Tschakareg, Kroar‘ck,“ sagt das andere Mädchen. Sie ist so dunkel wie Ajanna, aber an ihr ist alles lang und schmal und ihr Haar ist über den Ohren rasiert, wie das des zweiten Jungen. „Merkhet“. Jaru begrüßt sie, wie er es bei Ajanna beobachtet hat, mit einer auf die Brust gelegten Hand und einem Kopfnicken.
    Der zweite Junge ist kleiner als alle, ein langer blonder Zopf hängt ihm über dem Rücken, seine grünen Augen lächeln die ganze Zeit. „Hanno“. Seine Stimme ist erstaunlich tief. Er wirft Jaru einen Apfel zu, mit einer sehr kurzen, kaum zu sehenden Bewegung und ist ein bisschen enttäuscht, als Jaru ihn fängt ohne zu zucken.
    Es gibt für alle ein Schüsselchen kalten Reis mit Zwiebeln und Erbsen, dazu ein Stück getrocknete Wurst und eine halbe harte Brotscheibe. Das ist in dieser Zeit ein gutes Frühstück. Jaru teilt sich den Apfel mit dem Raben.
    Die anderen necken sich und versuchen es auch bei Jaru, der ist jedoch schweigsam.
    Als sie nach dem Frühstück aufbrechen, sieht er kurz durch einen Türspalt eine junge Frau in der Küche, von der er weiß, dass er sie bei den Feuermagierinnen zuletzt gesehen hat – und eigentlich war sie auch auf der Feuerinsel dabei, sogar auf der Alca. Glandris… Gendra… Gersche… Ganjouk. Er geht auf die Tür zu, aber in dem Moment wird sie geschlossen und Irla hängt sich bei ihm ein und fragt etwas zu seinem Amulett. Der Rabe regt sich auf, Irletia zuckt zurück und Jaru geht zur Haustür, damit der Rabe nicht im engen Flur jemanden hackt und verletzt. Verflixt! Er will Ganjouk nach Gero fragen, aber die jungen Leute ziehen ihn mit sich fort, und Jaru denkt, dass er später noch Zeit hat, dass es eine andere Gelegenheit gäbe, zurückzukehren und Ganjouk zu fragen.
    Wie hat dir die Hundswurst geschmeckt?“ fragt Hanno grinsend.
    War das…?“ Die Jugendlichen lachen schadenfroh. Jaru hat die Geschichte von Gero gehört. Das riesige dreiköpfige Hundemonster, das die Stadt nachts verheert hat – und das sich nach seinem Tod als erstaunlich nahrhaft erwies. ‚Sechshundersechsundsechzig Arten, gesottenen Hund zuzubereiten‘ murmelt Jaru. Es ist ein Sprichwort geworden für: ‚Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß‘.
    Auf dem Weg zum Palast biegen sie schließlich in einen Hinterhof ab. Das vordere Haus ist an vielen Stellen beschädigt, und es steht leer. Der Bau dahinter ist ausgebessert und die Kamine sind verstärkt, und in seinem Inneren stehen mit Fließen belegte schwere Holztische, gemauerte Brennöfen und allerlei Tiegel, Töpfe, Bleche und Metalleimer, die Hälfte davon mit Sand oder Wasser gefüllt. Direkt, als er es betritt, und als er den ersten schwefeligen und irgendwie… bitteren… Atemzug im Haus nimmt, weiß er, dass sie hier keine Heiltränke brauen. Darum die schwere, rüstungsartige Kleidung. Darum die Wappen. Dieses Labor ist ein Teil der Waffenkammer.
    Es gibt im Keller einen Gang, durch den du direkt in ihre Residenz kommst.“ Amara führt ihn zu einer Treppe. ‚Findest du das richtig?‘ will er sie eigentlich fragen. Aber er weiß, dass Irletia bei ihr lebt, weil ihre Eltern während der Invasion getötet wurden… Falls es wieder eine Invasion gäbe…
    Plötzlich ahnt er, dass das Gespräch mit der Königin schwieriger werden wird, als er gedacht hat. Er sieht sich den Kellergang zwar an, aber dann geht er zurück vor die Stadt und befiehlt vier seiner Orks zu sich und eine Standarte.
    Und sie gehen über die Hauptstraße zum Palast, die Sonne in ihrem Rücken, und der frische Seewind bläht ihre Umhänge.


    Die Königin lebt in einem Turm neben dem Palast, der einen Platz mit einem sehr schönen gemusterten Pflaster überragt. Doch als sie dort auftauchen, erscheint ein junger Mann und bittet sie in das alte Palasgebäude. Man sieht Spuren von Zerstörung und Reparaturen, aber noch keinen einheitlichen Anstrich. Die meisten Fenster fehlen, nur eins ist noch halb vorhanden, es besteht aus matten, zartgrünen Rechtecken, an deren Treffpunkt klar weiße oder tiefrote Quadrate eingesetzt sind. An den Wänden stehen ein paar Tische mit Bier- und Weingläsern.
    Erstaunlich für die immer noch frühe Morgenstunde empfindet Jaru die Menschenansammlung im Raum, und die Art, wie sie sich präsentieren. Nichts von Etharias nüchternem und fast asketisch reduziertem Stil hat auf ihren Hofstaat abgefärbt. Er sieht Kleidung mit Stickerei im Wert eines Jahreslohns und Schmuck im Wert einer Festung oder eines Kriegsschiffs – und das nicht nur an den Frauen. Die Königin trägt ein dunkelblaues Samtkleid ohne Spitze und Stickerei und ein flaches goldenes Collier in Form eines Mäanderbands, mit einem einzigen tropfenförmigen Saphir am Verschluss, der vorne ist. Jaru runzelt die Stirn. Der Mäander ist das Wappen der Nordfeste… das wird einigen im Raum nicht gefallen, dass sie das Lehen eingezogen hat. Die reiche Schwefelmine liegt dort, und ein paar kleinere Erzvorkommen, aber vor allem eben die Nordfeste, mit einer geschützten Bucht, in der eine ganze Flotte liegen und versorgt werden kann. Das heißt nun: Kronland auf zwei Seiten der Insel und die beiden großen Häfen in der Hand der Königin. Die Händler werden fluchen… das macht das Besteuern so viel leichter, nicht wahr… Das bedeutet auch, im Guten, wie im Schlechten, dass es keine wilden, vergessenen Gefangenenlager im Norden mehr geben wird, aber eben auch wenig Autonomie für den Minenrat. Und, da sie immer noch über wenig Hausmacht gebietet, dass ihre Männer weit verstreut sind. Und er weiß sofort, dass deshalb heute alle wichtigen Personen der alten Familien hier sind: um sie wiederum zu kontrollieren, um zu sehen, wie sie sich hält, ob sie Fehler macht, ob sie Schwäche zeigt. Besorgt stellt Jaru fest, dass sie keine Leibgarde um sich hat, nur zwei ihrer Wachen stehen an der Tür.
    Bei seinem Eintreten haben sich alle zu ihm und seinen Orks umgewandt. Die Gespräche verstummen, die Gäste geben von sich aus ein Spalier zwischen ihm und der Königin frei. Er lässt seine Wachen am Eingang stehen und geht auf sie zu. Diesmal ist seine Verbeugung sehr zeremoniell, und er ist froh, dass der Rabe auf seiner Schulter sitzen bleibt und schweigt.
    Als er den Blick wieder hebt, erstarrt er: neben der Königin steht Faid.
    Angesichts der aufwendigen Roben im Raum wirkt sein makellos strahlend weißes Seidenhemd fast, als wäre er halb nackt. Seine blaue Samthose ist Ton in Ton mit ihrem Kleid und seine glänzenden, perfekt an seine Beine geschnittenen Lederstiefel sind gleichzeitig brutal sinnlich und distanziert. Jaru blickt in die grauen Augen seines früheren Kerkermeisters, aber seltsamerweise fühlt er nur eine kreatürliche Nähe zu einem anderen Menschen, ansonsten nichts – keine Angst, keinen Zorn, keine Rachegefühle. Aber er weiß, dass Faids Erscheinen hier eine Herausforderung für den Frieden der ganzen Insel ist. Denn in Faids Welt gibt es nur Herren und Paladine – oder Randgestalten ohne eigenes Schicksal und ohne eigene Stimme.
    Faid steht sehr dicht bei der Königin. Jaru überlegt einen Moment, was das bedeutet. Doch was immer Faids Pläne sein mögen – oder die des Hofstaats – als Jaru vor ihr angekommen ist, strahlt die Königin ihn an – und der ganze Hofstaat sieht es.
    Und er ist sich bewusst, dass sich dieses Bild gerade in die Gedächtnisse der Mächtigen einprägt: die schlanke junge, kaum geschmückte Königin, wie sie dem Orkschamanen in der Federkapuze zulächelt. Monate später fragt er sich, was sich anders entwickelt hätte, wäre er am Nachmittag zu ihr persönlich in den Turm gekommen… jedenfalls ist er sich bewusst, dass er nun auf keinen Fall nach ihrem Schiff fragen kann. Faid ist ein bisschen rot angelaufen. Der Rabe beäugt ihn interessiert. „Ich bringe euch freundliche Grüße aus dem Orkwald.“
    Geändert von Ajanna (12.05.2021 um 08:56 Uhr)

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    Im Palas

    Seine Freundlichkeit ist wie eine Seifenblase zitternd einen Moment über der Menge geschwebt und dann wirkungslos verpufft. Es ist wie ein Aufwachen in eisigem Wasser. Die Königin steht noch an Jarus Seite, aber er und sie werden nun von anderen Menschen angesprochen, höflich zwar, aber herausfordernd. Über seine Mine, über den Norden, über die Insel im Süden, über den Falschspieler, über Jörg – woher weiß hier jemand von Jörg! - über die Orks, über den Raben, über die Talakaidis, über die seit einigen Tagen vermehrt fallenden Sterne, über Proviant, über seine Mutter – es scheint, jemand hier erinnert sich an sie – über den Preis von Schwefel, über sein Amulett, über seine Vergangenheit, über das Wetter, über die nächtlichen Beschäftigungen junger Orks am Lagerfeuer und wenn es ausgeht, über schwarz-magische Bestattungsriten – unter besonderer Berücksichtigungen des Hosentascheninhalts im Kampf Gefallener – versucht da nicht jemand, sich an Jaru heranzudrängeln? – und im Bruchteil einer Sekunde muss Jaru beurteilen, wie die Fragen gemeint sind, ob freundlich, höhnisch, neugierig, verächtlich, strategisch, hasserfüllt… und richtig darauf antworten… richtig im Sinne seiner diplomatischen Mission, und wenn es die nicht gäbe, hätte er schon ein paarmal ganz anders reagiert.
    Ab einem gewissen Punkt öffnet er seine Weste, beginnt bewusst zu atmen, freundlich und scheinbar aus Versehen den Rhythmus seiner Bedränger zu brechen, aufrecht zu stehen, so kaum zu lächeln und dabei die Grübchen zeigen und den Raben zu kraulen. Ein paar Frauen und Männer können ihm kaum mehr in die Augen schauen und er kann sich etwas freier bewegen. Das Fremde wirkt, zusammen mit seiner Präsenz und seinen Wahrnehmungsfähigkeiten. Zwei seiner Eskorte haben nach und nach die Tür verlassen und stehen nun schräg hinter ihm.
    Faid ist immer auf der anderen Seite der Königin.
    Es kommt Jaru ewig vor, bis die ersten Gäste anfangen, sich zu empfehlen. Vielleicht ist das, als Bedienstete anfangen, die Gläser abzuräumen, da fällt wohl den meisten auf, dass es kein Festmal geben wird. Alle Gäste machen ein ziemliches Ritual daraus, sich von Etharia zu verabschieden. Jaru bleibt an ihrer Seite und hört den einen oder anderen Magen knurren. Faid bleibt an ihrer anderen Seite und macht wahrscheinlich eine bessere Figur. Jedenfalls wird auf seiner Seite mehr gelacht. An seinem höfischen Auftreten muss Jaru wohl noch etwas feilen. Je mehr Leute gehen, desto weiter ziehen sich die beiden Orks wieder zur Tür zurück. Und dann sind sie tatsächlich nur noch zu dritt in der Mitte des Saales.
    Bevor einer der beiden Männer etwas sagen kann, bittet die Königin Faid, sie in den Hafen zu begleiten und ‚diese lästige Steuersache endlich auszuräumen‘. Von Jaru verabschiedet sie sich nicht. Er schickt seine Orks, vor der Stadt auf ihn zu warten, und kehrt zum Haus der Talakaidis zurück, um mit Ganjouk zu reden. Er findet sie nicht mehr vor. Dann versucht er es im Hafen – die Adamanta ist fort.
    Gegen Nachmittag geht er noch mal zum Turm der Königin. Amara fängt ihn ab. „Du kannst jetzt nicht zu ihr,“ meint sie. „Geh‘ zur Südfeste, Jaru.“
    Ist Faid…?“ „Geh‘ zur Südfeste, beeil dich. Bring Marlan diesen Brief.“
    Und er sieht, dass der Brief von Etharia ist.

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    Ganjouk

    Dass Jaru mich heute morgen gesehen hat – was ein verteufeltes Pech! Es kommt wirklich nichts Gutes vom frühen Aufstehen. Sobald er je mit Tasso über mich redet, weiß er, dass ich nicht mit den Paladinen von Suiurrá zurückgekehrt bin.
    Aber für den Moment ist es egal, ich habe in der Stadt erledigt, was dort zu tun war. Zum Glück hat sich Jaru dafür entschieden, Etharias Goldesel-Empfang mit seiner hübschen Fresse aufzuwerten, das gibt mir Vorsprung. Ich weiß, dass die Königin gerade Steuern einsammelt, um Brücken zu bauen und die Wege und Flussufer zu befestigen, damit die Händler und Paladine schneller und sicher über die ganze Insel reisen können. Nun denkt mal nach, das ist genau das, was wir nicht brauchen können. Für mich geht es in Ordnung, wenn die kleinen Täler und Sumpflöcher weiterhin vergessen und unwegsam sind.
    Ombhau‘ wollte, dass ich ein paar Leute über Jörg informiere. Damit mehr Druck auf Tasso entsteht, die Steine endlich zu besorgen und zu übergeben. Außerdem sät das Streit zwischen ihm und Marlan. Marlan ist eine Hammerfrau, sie ist die Klügste und innerlich stark wie eine Stahlseite. Aber ich kann nicht haben, dass sie und Etharia sich zu stark verbünden. Damit die Freiheit wächst, braucht es Orte, die frei sind. Unabhängig. So wie Cor-dal-Pesch. Die Stadt in den Klippen ist militärisch nicht einzunehmen, und sie haben nichts, was die Händler interessiert. Das ist gut. Die Händler sind die Vorhut der Hölle.
    Ich bin nicht einverstanden, dass Ombhau‘ sich mit den Mützen-Hotoshis eingelassen hat. Die sind selbst Piraten, aber eben auch Händler, hundert mal stärker als wir. Wenn wir nicht aufpassen, verhökern die nicht nur Jörg an die Paladine, sondern die Alca gleich mit – nachdem sie sie ein dutzendmal nachgebaut haben.
    Es war klug von Ombhau‘, die Alca an der Westküste Kamoralas zu versorgen, mit unseren eigenen Leuten aus den Höhlen. Die Ziegenhirten schaffen Reis, Pech, Öl und Wein unauffällig über die Berge, den Rest finden wir selbst dort im Nebel.
    Aber nun muss ich mit Sallah sprechen. Ich habe mitgekriegt, dass Tasso Marik in den Norden schicken will. Das ist Sallahs Chance, so eine wird sich ihm so schnell nicht wieder bieten. Ich muss jetzt nur dafür sorgen, dass er uns dankbar ist. Sallah ist ein Mann von Ehre. Er wird nicht vergessen, wer ihm geholfen hat. Und das beste ist: O-Hotoshi-boshi hält die Schwarzmagier für Schlappschwänze, seit sein Sohn Tigral bei ihnen gestorben ist. Er würde nie direkt mit ihnen verhandeln, es sei denn, sie brächten ihm den Kopf von dem, der Tigral auf dem Gewissen hat.
    Er erforscht ihre Magie, aber er interessiert sich nicht für sie.
    Ich werde ein paar Mittelsmänner in Grauben finden. Mittelsmänner sind gut, das habe ich gerade wieder auf Kamorala gesehen. Sie bekommen ein kleines Geld, und sterben, ohne das das Meer sich kräuselt.
    Geändert von Ajanna (14.05.2021 um 08:33 Uhr)

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    Die Südfeste

    Jaru kennt den inneren Teil der Südfeste noch nicht, und auch nicht den geheimen Zugang. Er ist vor einiger Zeit auf den Klippen in eine Falle gestürzt und durch verschiedene schleimige dunkle Gänge in eine große hohe, zum Meer hin offene Grotte geraten, unheimlich beleuchtet nur durch das indirekte Licht der Wasserspieglungen und ausgefüllt mit einem Sand, der mehr grauem Staub ähnelt und alle Schritte dämpft. Damals musste er umkehren, weil in der Grotte Orks lagerten und… anderes.
    Heute führt ihn eine junge Magierin, die oben auf der Klippe gestanden hat. Dort oben ist auch der Friedhof des Frauenklosters: kleine Hügel, spiralförmig mit weißen Steinen und Muscheln belegt. Es sind erst zwei. Die Magierin hat dort neben einer Feuerschale an einem Grab gewacht wie eine Statue, und leitet ihn nun abwärts durch ein sehr enges gewendeltes Treppenhaus. Er muss die Schultern schräg stellen, damit er nicht an beiden Seiten den feuchten Fels berührt. Es gibt kein Geländer. Die Magierin vor ihm beleuchtet die Treppe mit einem kleinen Leuchtpunkt, der über ihrem Kopf schwebt. Kleine Krebse und anderes Getier verstecken sich schnell in dunklen Spalten. Ein paar Moose und Pilze zeichnen bläuliche und graue Muster in den Fels. Zuletzt müssen sie sich ein paar Meter an einem glitschigen Seil in die Grotte hinunterlassen. So bleibt der Treppengang vom Grottenboden aus unsichtbar. An seinem Ende hängt ein Metallring, damit wirft die Magierin das Seil wieder in den Gang hoch, der von unten nicht auffällt, sondern wie ein Riss im Fels wirkt.
    Sie ist eine junge Frau mit hohen Wangenknochen und langen Haaren, die sie mit Stäbchen aufgesteckt trägt. Sie spricht kein Wort mit ihm, aber er erinnert sich an sie. Sie kam mit den Fischern ins Orkdorf, um den Orks eine gestohlene Galeere zurückzubringen. Damals hatte sie eine Freundin bei sich… Aber Jaru erinnert sich nicht an ihren Namen, noch an den der Freundin.
    Als sie über den grauen Staub gehen, fühlt Jaru einmal mehr diese Beklemmung, die ihn schon gepackt hat, als er das erste Mal hier war. Es gab in diesem östlichen Teil der Grotte eine Art Altar mit einem Pfahl, an den eine riesige Untote gekettet war. Ein Nebel umgab ihre geflügelte Gestalt wie ein Schleier. Damals ist Jaru geflohen, weil er verletzt und erschöpft war.
    Heute fühlt er den Nachhall des damaligen Grauens. Aber auf dem Altar liegen nur ein paar rostige Ketten.
    Daneben erwartet ihn Marlan, eine schmale Gestalt in einer viel zu weiten Robe. Das fahle kalte Licht lässt ihr Haar stumpf erscheinen, und Jaru wundert er sich, ob es das Licht ist, weil sie ihm verändert vorkommt. Sie hatte früher so ein Strahlen in sich, so eine Sicherheit. Jetzt erscheint sie ihm zaghaft und blass.
    Die alte Vertrautheit mit ihr ist nicht mehr greifbar, und so begrüßt er sie förmlich: „Ehrwürdige...“
    Jaru! Ich freue mich, dich zu sehen!“ Ihre Stimme ist wie immer, fröhlich und jung. Und jetzt lächelt sie auch. Er zögert einen Moment. Den ganzen Weg über hat er überlegt, wie er es ihr sagen soll. Aber da gibt es keine Erleichterung durch Worte.
    Marlan… ich habe keine gute Nachricht für dich. Gero...“
    Tasso hat mir geschrieben, dass ihr in eine Spalte gefallen seid.“ Sie ist schnell wieder ernst geworden. Nun steht sie ganz aufrecht, gefasst. „Er dachte allerdings, du seist auch verschüttet worden.“
    Das Ganze ist so merkwürdig. Eigentlich sind wir alle im Treibsand eingebrochen, Gero, Ganjouk, Nergali, Kerr‘ontagh, T‘Bekhon und ich. Aber ich bin wohl nur ein Stück abgerutscht und Ombhau‘ hat mich später gerettet.“
    Marlan lässt ihren Blick auf ihm ruhen, mit schmalen Augen, forschend. Sie weiß ja, wie wichtig Gero auch ihm ist. Jaru sieht mager aus… und wirkt unruhig, gehetzt.
    Wie geht es dir, Jaru?“
    Jaru antwortet nicht sofort.
    Ich habe einen Brief der Königin für dich,“ wechselt er das Thema und hält ihn Marlan entgegen.
    Er hofft, dass er mit Marlan später weniger förmlicher reden kann, vielleicht falls sie ihm etwas zu Essen anbietet und er mit ihr isst. Jedenfalls kann er ihr jetzt so nicht einfach übergangslos von seinen Träumen erzählen und dass darin Gero noch lebt und jede Nacht gegen Untote kämpft, die aussehen wie T‘Bekhon und Kerr‘ontagh.


    Marlan nimmt den Brief und holt eine Kerze aus dem Robenärmel, die sie auf den Altar stellt und anzündet. Sie betrachtet den Brief in ihrem Licht und erbricht dann das Siegel. „Du warst also im Norden,“ meint sie schließlich nach dem Lesen. „Ich wollte Irla erst zu Nertus schicken, damit sie von ihr den mineralischen Teil der Alchemie lernt. Nertus hat mir geraten, sie in die Hauptstadt zu schicken, das sei im Moment sicherer.“
    Jaru erzählt Marlan von seiner Jagd auf den katzenäugigen Fremden. Und dann von Jörg, Oschan O-Hotoshi-boshi, dem Preis für Jörgs Freiheit und dem Empfang im Palas.
    Du hast eine Blitzrune… zeigst du sie mir?“ bittet Marlan. Sie untersucht den abgegriffenen Stein sorgfältig. „Das könnte die Rune sein, die Nela gefunden hat, wo Venuto gefallen ist. Ich hatte sie eine Zeitlang, und ich erinnere mich an diesen grünen Einschluss. Ich habe sie Nela später zurückgegeben,“ meint sie schließlich. „Sie hatte auch noch eine eigene… aber die hat mir Ganjouk zurückgebracht. Zusammen mit Nelas Schwert.“
    Nelas Name weht durch die Grotte wie ein Geist, aber sie können beide noch nicht über sie sprechen.
    Jaru bricht irgendwann das Schweigen: Ist Ganjouk mit Ombhau‘ zurückgekehrt? Du weißt, dass er die Alca gekapert hat? Ich habe sie vor ein paar Tagen in der Stadt gesehen – sie schien völlig unverletzt.“
    Ganjouk hat mich vor einer Woche aufgesucht. Sie hat das Kloster verlassen.“ Marlan scheint das ziemlich mitzunehmen und Jaru ahnt, dass sie mehr von Ganjouk erfahren hat, als sie ihm erzählt.
    Ich kann nicht mit dir darüber sprechen. Jedoch war auch Ganjouk der Meinung, dass Gero tot ist. Aber sie sagte mir, dass du lebst – und ich habe sie zu Amara geschickt, damit sie es ihr berichtet.“
    Das ist möglicherweiseeine einfache Erklärung dafür, warum er Ganjouk im Haus seiner Familie getroffen hat. Sie ist dort als Botin gewesen, und wahrscheinlich hat Amara ihr danach – genauso wie Tasso ihm – einfach nur ein Bett für eine Nacht angeboten. Es muss also nicht heißen, dass sie als Spionin der Piraten in der Stadt war. Obwohl das trotzdem sehr gut möglich ist. Er weiß eigentlich nichts über sie. Vielleicht sollte er das ändern.
    Jaru erscheint es ziemlich merkwürdig, dass die Piraten einerseits Jörg gefangen halten, um Blitzrunen in die Finger zu bekommen, und dass andererseits eine, die möglicherweise Piratin ist, sicher jedoch mit Ombhau‘ zu tun hat, mindestens eine Blitzrune so einfach aus der Hand gibt. Er sagt das Marlan auch so.
    Ganjouk ist ihre eigene Herrin.“ Marlan lächelt, fast ein bisschen schadenfroh. „Und sie hat kein Interesse daran, die O-Hotoshi-boshi aufzurüsten. Hätte sie sich wirklich Ombhau‘ angeschlossen, wäre sie wahrscheinlich gefährlicher als er. Sicher unabhängiger und unberechenbarer.“
    Kann sie die Rune denn nicht selbst nutzen? Ich dachte, sie war eine von euch?“
    Ja, aber Magie hat sie nicht besonders interessiert.“
    Allerdings denkst du nicht, dass sie eine Piratin ist?“
    Ich weiß es wirklich nicht. Und wie gesagt, was sie mir sonst noch erzählt hat, kann ich nicht mit dir bereden.“
    Jaru überlegt. Marlan macht keine Anstalten, ihn in die Klosteranlage einzuladen. Wahrscheinlich ist es schon ein besonderer Vertrauensbeweis, dass sie ihm diese Auskünfte über die Blitzrune und Ganjouk anvertraut.
    Woher habt ihr die Runen überhaupt – von den Schwarzmagiern?“
    Ein paar, ja. Es gab hier eine Quelle für Blitzrunen, aber jetzt nicht mehr. Wir haben trotzdem mehr als drei, falls du das als Nächstes fragen willst. Jedoch werden wir sie nicht herausgeben, und sie liegen hier nicht herum, sodass es nicht möglich ist, sie zu finden.“
    Tasso möchte den Preis auch nicht bezahlen. Aber wir versuchen, Jörg zu finden. Wir können ihn nicht aufgeben, und die Suche nach den Runen verschafft uns Zeit, eine Spur zu ihm zu finden. Denn die O-Hotoshi-boshi müssen ihn ja solange für einen Austausch bereit halten. Hat Ganjouk zufällig etwas über ihn erzählt?“
    Nein.“
    Der Schamane in Jaru ist plötzlich erwacht, und er ist sich sicher, dass Marlan nicht die volle Wahrheit sagt.
    Er sieht, wie Marlan die Schultern strafft. Jetzt wird sie ihn wohl verabschieden.
    Marlan...“ Es fällt ihm schwer, davon anzufangen. Hier an diesem unheimlichen Ort, kalt, lichtlos und hallend. „Ich träume von Gero.“
    Ihr Blick gibt ihm den Mut, weiterzusprechen. Sie ist sofort konzentriert, ernst, Anteil nehmend.
    Fast jede Nacht, oft vor dem Einschlafen, träume ich denselben Traum. Manchmal schrecke ich nachts auf, und dann erinnere ich mich, dass ich ihn wieder geträumt habe. Gero wandert darin durch endlose unterirdische Gänge, fahl erleuchtet nur durch glimmende Moose und blass leuchtende Pilze, eine kalte Welt ohne Hoffnung. Er bewegt sich vorsichtig, er hat Angst, keine gute Waffe. Er versteckt sich vor zwei toten Orks, die aber gehen können und die ihn jagen. Schlimm ist, sie sehen aus wie zwei meiner Orkfreunde, die mit ihm verschüttet wurden. Aber sie verhalten sich nicht so. Sie lauern ihm auf, hetzen ihn, wollen ihn töten. Und er entkommt ihnen immer nur knapp. Er wird immer schwächer. Es gibt dort unten wenig zu essen, kein Feuer, keine Wärme. Und er findet den Ausgang nicht.“
    Marlan wartet. Als er nicht weiter spricht, fragt sie: „Und du denkst, es ist eine Vision, ein Traumgesicht.“
    Jaru nickt.
    Das heißt, du willst zurück auf die Feuerinsel und ihn suchen?“
    Ja.“ Das Erzählen des Traums hat ihn erschüttert. Er ist froh, dass Marlan ihn nicht beruhigt oder ihm einredet, der Traum sei bedeutungslos.
    Wie willst du da hinkommen? Mit den Orkgaleeren?“
    Ich fürchte, das geht nicht.“ Die Orks erwarten von ihm, dass er erst mal im Norden für stabile Verhältnisse sorgt und ihre Minenarbeiter in der Schwefelmine schützt. Und da ist noch der Mörder ihrer Schiffswachen, der immer noch nicht zur Rechenschaft gezogen wurde. Aber die Spur von Thorus ist kalt. Wahrscheinlich ist er mit den Vengardern nach Myrtana zurück gesegelt. Jarumöchte die Orks nicht dauernd nur um etwas bitten. Er gilt ihnen als einer von ihnen, ihre Interessen müssten ihm wichtiger sein. Aber Gero… ihn kann er einfach nicht im Stich lassen. „Ich wollte die Königin um ihr Schiff bitten. Damit kann ich auch auf Suiurrá nach Jörg suchen. Da habe ich ihn zuletzt gesehen. Ombhau‘ kennt die Insel. Es ist gut möglich, dass Jörg da versteckt gehalten wird. Aber Etharia hatte keine Zeit für mich alleine.“
    Es war gut, dass du beim Empfang nichts gesagt hat. Noch nicht viele wissen von dem zweiten Schiff. Aber du bist kein Kapitän...“
    Ist es denn fertig?“
    Fast. Wir haben zuletzt die Segel genäht. Hast du eine Mannschaft?
    Einige Orks kann ich fragen. Obwohl ich nicht sicher bin, ob sie mir nach Suiurrá folgen. Sie hassen die Insel. Ich finde den Weg dorthin zurück, aber ich habe keine Erfahrung mit einem Schiff wie der Alca. Was ist mit dir? Tasso meinte, ihr wart vor den Paladinen dort.
    Nein, ich kann dich nicht begleiten. Irgendwann werde ich dir sagen, warum. Aber ich werde dich unterstützen mit allem, was ich tun kann und habe, Jaru. Bring ihn zurück, selbst wenn...Sie bricht ab.
    Ich werde ihn finden, Marlan.“
    Geh ins Fischerdorf, nimm dir ein Zimmer dort. Red noch mit niemandem. Morgen zeige ich dir das Schiff. Etharia kam von sich auf den Gedanken. Sie hat mir geschrieben, ich soll es dir anvertrauen.“
    Wirklich?“ Jaru wundert sich. Ich danke dir. Etwas muss ich dir noch sagen…“
    Was?“
    Ombhau‘ hat alle meine Runen einbehalten. Auch die Teleport-Rune von der Klippe oben.“
    Das ist nicht wichtig.“
    Ich meine, er könnte dort auftauchen...“
    Man kann die alten Runen für dort oben nicht mehr benutzen.“
    Wie habt ihr das hinbekommen?“
    Das waren wir nicht.“
    Und damit dreht sie sich um und geht auf dem Brunnen zu. Als sie dort hinabsteigt – es ist der Eingang zum Frauenkloster – sieht Jaru etwas, was ihn für einen Moment ahnen lässt, warum sie ihn nicht begleiten kann.
    Geändert von Ajanna (15.05.2021 um 14:53 Uhr)

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    Die Rubin

    Jaru hat nicht im Fischerdorf übernachtet. Er hat sich einen Platz in den Klippen gesucht, abgeschirmt – falls es regnet – durch einen leichten Überhang, windgeschützt, der Boden bedeckt mit schwarzem Sand, der warm ist, obwohl die Sonne nicht scheint. Dort rollt er eine Schlafmatte aus, wickelt sich in ein Schattenläuferfell, setzt sich und meditiert.
    Er ist so gut wie unsichtbar.
    Über seinen Traum von Gero zu sprechen hat ihn fast umgeworfen. Er sieht die Bilder jetzt manchmal schon am Tag. Ein Gewölbe, aus braungrauem Tuffstein geschlagen. Säulen, die zu gewachsenen Felsen auslaufen, klaffende Spalten, rötliche und weißliche Adern im Fels… überall diese bleichen Blüten.
    Längst hat Jaru begriffen, dass diese Phiole, die Gero damals in der Nordfeste eingesteckt hat, möglicherweise tatsächlich zu einem Unfall geführt haben kann, dass seine Orkkameraden vielleicht wirklich mit diesem Schicksal geschlagen sind, das man dem schlimmsten Feind nicht wünscht. Als Schamane der Orks ist seine Verpflichtung ihnen gegenüber genauso groß wie sein Wunsch, Gero zu finden, bevor ihn dasselbe Schicksal ereilt. Aber er muss sein Herz wappnen. Und Wege öffnen. Er atmet, immer tiefer, immer langsamer. Sein Herz folgt dem Atem. Und er befreit seinen Geist von diesem Körper.
    Als er zurückkehrt, ist es Nacht, und er friert. Er zündet ein kleines Feuer an, mit Holz, das er vorher gesammelt hat. Sein Rabe hat ihn gefunden und sich neben ihn auf den Sand gesetzt. Er hat einen Fisch unter der Kralle. Der Fisch sieht sehr alt aus und stinkt. Jaru gibt dem Raben ein Stück trockenes Fleisch, nimmt ihm den Fisch weg und schmeißt ihn ins Feuer. Er brennt mit grünlicher Flamme. Der Rabe lässt es zu. Er lässt alles zu, wenn Jaru gerade meditiert hat. Er legt seinen Schnabel an Jarus Oberarm. Jaru krault ihn im Genick.
    Im Morgengrauen sammelt er Muscheln und brät sie in der Glut. Der Rabe fängt einen großen Krebs und frisst ihn bei lebendigem Leib aus der Panzerung. Jaru sieht ihm zu… der Rabe ist ziemlich faul dabei, er bewegt sich wenig, aber sein Schnabel trifft jedes Mal. Er scheint zu ahnen, wohin sich der Krebs demnächst bewegen wird. Und steht dann immer schon dort. Wie ein Schatten. Wie ein Magnet. Ein Jäger, der immer trifft, weil er selbst im Ziel ist. Der Rabe hat noch keinen Namen, weil Jaru noch keinen gefunden hat. Aber diese Fähigkeit sollte der Name abbilden.
    Jaru packt sein Zeug zusammen und bricht ins Dorf auf. Am Dorfbrunnen stehen Arohep, und zwei junge Weiße in zusammengewürfelten Rüstungen. „Elwo,“ „Kerem,“ stellen sie sich vor. Sie gehen mit ihm an den kleinen Hafen. Und dort liegt ein Schiff, in das sich Jaru verliebt als wäre es ein Mensch.
    Sie ist aus rötlichem Holz und ein ganzes Stück kleiner als die Alca. Alles an ihr atmet Eleganz und Geschwindigkeit. Sie hat nur einen einzigen Mast, aber ihre dunkelroten Segel sind so dreieckig wie bei der großen Schwester. Und neben ihr steht Marlan. Sie sieht besser aus als am Tag vorher, ihre Wangen sind gerötet und ihr Strahlen ist wieder da.
    Sie ist unglaublich,“ Jaru zeigt auf das Schiff. „Hat sie schon einen Namen?“
    Nein. Welchen würdest du ihr geben?“
    Rubin von Inngolf,“ sagt Jaru und denkt an Geros Schwert.
    Marlan nickt. „Du wirst sie taufen.“
    Du hast mir eine Mannschaft zusammengetrommelt.“
    Warte, bis du alle kennengelernt hast. Sie besorgen gerade Vorräte. Ich habe alles gekauft, was sie im Dorf zu verkaufen bereit waren.“
    Und Jaru sieht sie bereits an der Mole auftauchen. Die Magierin von der Klippe mit drei Männern. Einer der Männer muss Marlans Bruder sein, der Schiffszimmermann, er sieht ihr ähnlich: „Gowan.“ Und einer ist Kolut von den Orkwaldleuten. Ein Schmied, wo er hinhaut, fliegen Funken. Der dritte ist ein Seepaladin, den Jaru nicht kennt. „Ich bin Wingstan,“ stellt er sich vor. „Karitha“. „Deine Mannschaft. Es fehlen noch Wokkar und zwei junge Orks aus Sandmeile.“
    Wie konntet ihr so schnell hier sein?“
    Wir wollten ein Gebet für Gero abhalten. Manche sind hier für ihn, manche für Nela, manche für mich. Reite den Wind, Jaru. Bring Gero heim.“

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    Aller Anfang ...

    Reite den Wind,‘ hat Marlan gesagt, aber das erweist als wirklich nicht einfach. Die mit einer Flasche Eisbeeren-Auslese getaufte Rubin von Inngolf ist keine Jolle, und an Bord sind nur drei Seeleute. Und zwei Personen, die sich mit gleicher Berechtigung in dieser Situation als Kapitäne sehen. Da ist zum einen Wingstan, der mit Gowan die Rubin gebaut hat, ein hoher Seeoffizier der Alca, der mit Tasso und Ingmar schon viele Jahre auf Kriegsschiffen zur See gefahren ist. Nun ist allerdings die Rubin von Inngolf kein Kriegsschiff. Sie verfügt über nicht eine Kanone, ihr Kiel ist gerade wie ein Schwert, ihr Rumpf ist nicht in der Mitte verbreitet, um die Lasten und die Männer zu tragen, die ein Kriegsschiff benötigt.
    Das würde eher für Arohep als Kapitän sprechen. Er ist nicht einer von vielen Offizieren unter einem Kapitän gewesen, sondern hat selbst viele Jahre Erfahrung als Kapitän, unter anderem in der Koordination mehrerer Schiffe, wie das nötig ist für die Wahljagd. Darüber hinaus kennt er die Gewässer um die Feuerinsel. Er verdankt seine Freiheit Gero, sein Motiv, an der Fahrt teilzunehmen, ist selbstlos und er zeigt klare persönliche Loyalität.
    Wingstan hingegen ist abkommandiert für diese Fahrt, und es ist ihm anzumerken, dass ihm weder die Mission, noch die meisten der Besatzung gefallen.
    Würde die Besatzung einen Kapitän wählen – nicht unüblich an der Südküste und bei den Orks – würden wahrscheinlich Gowan, Karitha, Elwo und Kerem für Wingstan stimmen. Das sind die Innosgläubigen, bzw. die Personen mit Erfahrung im Dienen mit den Seepaladinen oder der Küstenwache. Und die beiden Orks – sie heißen Tubuc und S‘zork, Wokkar und Kolut: die Männer aus den Dörfern mit den Mitbestimmungstraditionen, wären eher für Arohep. Und Jaru wäre das Zünglein an der Waage. Weil er das erkennt, im Moment, als das erste Mal alle zusammenstehen, begreift Jaru, dass er selbst der Kapitän sein muss, und dass es seine Aufgabe ist, das vielfältige Wissen in seinen unterschiedlichen Besatzungsmitgliedern anzuzapfen und für alle wirksam werden zu lassen. Er muss die Mannschaft schmieden. Er erinnert sich an die Worte seines Lehrers, an das erste, was er von ihm gelernt hat. Darüber, was es bedeutet, ein Orkschamane zu sein:
    Ich kann Dir etwas über alte Magie beibringen,
    Geschichten aus der Zeit der Feuer im Eis,
    und über die Stimme des Erzes in den Bergen in Nordmar.
    Es gibt Tage, die so kalt sind,
    dass sich das Erz verändert.
    Es fängt an zu klingen.
    Es gibt Orks, die diese Töne hören können,
    und so das Erz finden.
    Und so machen unsere Schmiede Töne
    beim Schmelzen und beim Schlagen des Eisens,
    und verändern die Form des Erzes,
    ohne dass es beim Schmelzen seine Kraft verliert.
    Aber das eigentliche Alte Wissen ist nicht die Kunst der Schmiede.
    Es ist die Kunst,
    das Erz und das Eisen in sich selbst zu finden
    und richtig zu formen.
    Die Schmiede wissen,
    wie das Harte und das Weiche verteilt sein muss,
    damit die Waffe nicht bricht und doch schneidet.
    Schmiede das Harte und das Weiche in Dir
    und Du wirst es auch in anderen formen.
    Wir Schamanen sind die Schmiede
    der Herzen unserer Orkbrüder.
    Aber wir schlagen nicht auf sie, wir hören ihre Töne.“

    Es ist Zeit, die Gedanken an Gero, die Verzweiflung und die Gefühlsverwirrung abzuschütteln und sich daran zu erinnern, warum er ein Orkschamane ist: weil er die Dinge mit größerer Klarheit und Dringlichkeit sieht als viele anderen. Weil er den Willen besitzt, sich selbst neu zu erfinden und diesen Weg unbeirrbar zu Ende zu gehen. Weil er den Preis dafür bereit ist zu zahlen: den Preis, einsam zu sein, den Preis, unterzugehen, den Preis, alles zu geben und kaum zu schlafen.
    Und so ruft er Wingstan und Arohep zu sich und beginnt sein Werk.

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    Der Sturm

    Zu erzählen, was während des Sturms geschehen ist, wird nicht einfach. Ich bin nicht mehr dasselbe Mädchen, das ich vorher gewesen bin.
    Nach dem Sichern der Labore bleibe ich noch eine Weile – angeleint wie eine Welpe – an Deck, in der Nähe des Abgangs zur Offiziersmesse. Der Wind heult und orgelt. Der Himmel entwickelt sich zu ockerfarben, fast grün. Es riecht frisch und ein bisschen metallisch. Die See schäumt. Ich finde das alles faszinierend und fühle mich eigentlich immer noch ziemlich sicher. Die Seepaladine und ihre Mannschaften verstehen ihr Handwerk. Jeder Handgriff sitzt, und das große Schiff reitet die Wellen souverän ab.
    Hier oben habe ich meinen Magen im Griff, ich weiß nicht, ob das unter Deck auch so wäre.


    Plötzlich kommen drei von der Mannschaft die Treppe hoch und bauen an Deck irgendwas auf. Es sind Tätowierte. Sie malen Kreidezeichen auf die Planken und versuchen, Kerzen aufzustellen. Eigentlich ist es dafür zu nass und zu windig, die Kerzen gehen aus und rollen weg, und die Kreidezeichen sind kaum sichtbar unter den Tropfen und Wasserschwällen, die von den Seiten hereingeschleudert werden. Alle drei rauchen ihr Kraut. Einer der Männer singt etwas, das ich nicht verstehen kann, nur ein Wort: Krushak, Krushak. Das ist eigentlich ein Ork-Wort und bedeutet „Stern-Tier“. Als ich Jaru mal gefragt habe, ob es so heißt, weil es wie ein Stern aussieht (ich dachte erst, es sei ein Seestern damit gemeint), sagte er: nein, dass es von den Sternen kommt. Aber das konnte ich nicht verstehen: welche Tiere kommen denn von Sternen? Glühwürmchen? Aber Jaru wollte nicht darüber reden.
    Und dann findet plötzlich auf der Adamanta eine laute Schreierei statt, weil die Deckwache die drei Matrosen entdeckt hat und wegschicken will. Sie sollen in die Mannschaftsräume gehen und auf ihren Einsatz warten. Und überhaupt, sollen sie nicht mit Feuer rummachen. Und überhaupt, sollen sie nicht so einen Unfug glauben. Weil dieses Schiff von Innos ist oder so. Da brüllen die drei zurück, der Blechkasper habe keine Ahnung. Und Innos habe gar nichts zu melden im Sturm. Und überhaupt könne keiner die Zeichen sehen. Und die Wache solle besser zum Abtritt gehen und dort kräftig durchatmen, denn das gäbe ihm das richtige Gefühl dafür, wie wichtig er gerade sei.


    Da sind Bork und Jasim irgendwoher aufgetaucht, schicken die Wache weg und reden mit den Matrosen. Die gestikulieren und sind immer noch sehr aufgebracht. Bork nimmt einen zur Seite, es sieht aus, als ob er ihm einen Auftrag gibt. Jasim findet etwas daran nicht gut, er ist beherrscht, aber seine ganze Haltung verrät, dass er sich ärgert. Es ist spannend, das von Weitem zu beobachten. Bork spricht weiter mit den beiden anderen und dann rauchen sie gemeinsam. Schließlich kommt der dritte Matrose zurück. Er hat ein paar Messer aus der Kantine geholt, ein Seil und eine Laterne. Die Messer stecken sie zwischen die Planken und ziehen Schnur, wo vorher die Striche waren. Man kann nun sehen, dass es ein Siebeneck ist. Und dann geht Borg mit der Laterne von einem Zacken zum anderen und die drei rufen dabei etwas. Dann werfen sie die Kerze aus der Laterne und die Schnur über Bord. Schließlich bauen sie die Messer wieder ab, schütteln sich die Hände und gehen unter Deck.
    Was war das, was ich gesehen habe? Ein Schutzzauber? Eine Beschwörung? Irgendwas Bedeutungsloses, damit die drei Matrosen beruhigt sind? Am liebsten würde ich Bork direkt fragen, aber das geht nicht, weil in diesem Moment das Chaos über uns hereinbricht. Der Wind ist nun so rasend, aber gleichzeitig so unstetig, dass die Segel knattern und knallen wie eine Lawine. Ein eiskalter Regen setzt ein, so stark, als würden Eimer ausgeleert, und die Sichtweite sinkt auf etwa zehn Mannslängen. Und etwas befindet sich plötzlich neben der Adamanta, eine große lange dunkle Form, aber eine, die nicht aus Substanz zu bestehen scheint, sondern eher aus einer Art Lücke, einer Art Loch. Ich gehe zur Reling, angezogen wie ein Hai von einem Eimer Schlachtabfälle. Die Luft um die Erscheinung flimmert, Regentropfen verdunsten und Nebelfetzen bilden sich, beleuchtet von einem eigentümlichen grünen Strahlen. Und das Loch spuckt Krieger aus in eckigen Rüstungen, der Kopf in einer runden Kugel, viele, das ganze Deck ist mit einem Mal so voll, dass man die Planken nicht mehr sieht.
    In diesem Moment halte ich es es nicht mehr aus und renne unter Deck in die Offiziersmesse. Ich glaube, ich habe gewirkt, wie eine Verückte. Mein Schreien führt dazu, dass alle Seepaladine ihre Waffen ergreifen und an Deck stürmen. Nur Ingmar nicht. Er packt mich mit Händen, die wie Schraubstöcke sind und zerrt mich in eine Ecke der Messe. Und dort öffnet er mit ein paar Handgriffen, die ich nicht genau sehen kann, einen schmalen dunklen Gang in das dunkle Innere des großen Schiffs. „Bleib da drin und rühr‘ dich nicht!“ Und plötzlich bin ich im völligen Dunkeln und ganz allein.

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    Die Überfahrt 4

    Der enge Raum, in den mich Ingmar eingesperrt hat, ist tatsächlich ein Eingang zu einem der Kriechgänge, von denen er mir früher erzählt hat, als Corry verschwunden ist. Ich finde ihn, indem ich mein Feuereisen anschlage. Der Einstieg ist auf Höhe meiner Knie, und er ist wirklich sehr schmal.
    Auf meiner linken Seite ist die Innenwand: Latten, regelmäßig an ein Gerüst aus normalen Balken genagelt. Aber die Wand auf der anderen Seite ist eine ganz andere Nummer: wie für ein Fass gebogene, unregelmäßig nach Maßen konfektionierte, unterschiedlich große und lange Holzteile zwischen den riesigen Rippen des Schiffs. Es ist wie das Innere eines Fisches und feucht. Es stinkt nach Rattenpisse und Teer.
    In diesem Gang umher zu kriechen ist wirklich ziemlich unheimlich. Ich kann mich zum Beispiel nicht umdrehen, ich muss darauf vertrauen, dass irgendwann eine Stelle kommt, an der ich das kann. Hier im Liegen in dem dunklen Gang sind die Schaukelbewegungen der Adamanta extrem zu spüren, es gibt keine Ablenkungen. Und manche Brecher krachen an die Bordwand, dass ich denke, dies ist das Ende, jetzt wird das Schiff zerschmettert und ich werde in die See gerissen. Meine Angst ist wie ein Schmerz, der mich antreibt. Ich taste und schiebe mich voran, und verliere jedes Gefühl für Zeit und Entfernung.
    Es macht mich verrückt, dass ich denke, die Paladine kämpfen vielleicht gerade um ihr Leben, und ich kann nicht helfen. Was soll ich denn alleine auf dem Schiff, wenn sie alle tot sind? Und diese Krieger von dem dunklen Schiff, die waren wirklich unheimlich. Eigentlich sahen sie nicht wie Menschen aus. Das Glas in ihren Helmen war undurchsichtig, man sah nur Spieglungen. Und da waren Schläuche zwischen dem Gesichtsschutz und einer Art Rucksack. Wenn ich gegen sie kämpfen müsste, würde ich versuchen, sie dort zu treffen. Die Rüstungen waren wie hohle Schachtelhalme, mit Graten für die Verstärkung, aber nicht aus Holz oder Metall. Das Material war aus einem Guss, stumpf, gräulich. Sie hatten Abzeichen in stumpfem Rot, hellgrau und einem fahlen Gelb in einer Schrift, die ich noch nie gesehen habe. Und ich kenne ein paar fremde Schriften, schließlich bin ich in einem Kloster aufgewachsen. Dass ihre Rüstungen alle so einheitlich sind, bedeutet für uns nichts Gutes. Es weist auf einen hohen Organisationsgrad hin. Und auf gute Kommunikation, Logistik, Verstärkung. Auch wenn ich keine Kriegerin bin, habe ich darüber gelesen, wie man die eigenen Kräfte und die der Gegner einschätzt.
    Das seltsamste waren ihre Waffen. Es waren keine Hieb- oder Stichwaffen, das sah man sofort. Eher Harpunen. Und ich musste an das Gift in Corrys Körper denken.
    Die See tobt so laut an meiner rechten Seite, dass ich keine Geräusche von der linken Seite hören kann, egal, wie sehr ich mich anstrenge. Also krabbel ich immer weiter. Hin und wieder schlage ich mein Feuereisen an. So entdecke ich eine Stelle, an der ein Loch im Schiff repariert wurde. Rund, wahrscheinlich von einer Kanonenkugel. Sie müssen von außen einen Pfropf in das Loch gesteckt haben, den der Wasserdruck nun immer fester hineindrückt. Und von innen haben sie ihn mit Pech verklebt und durch vier verschraubte Riegel gesichert. Das ganze ist aus Hartholz und gut gearbeitet. Der Pfropf arbeitet sich mit der Zeit tiefer in die ursprünglichen Planken und so bleibt die geflickte Stelle immer dicht. Man muss nur eventuell die Riegel anziehen. Sie müssen solche Pfropfe vorrätig haben. Ich finde das sehr spannend, und es lenkt mich von meiner Angst ab. Ich robbe weiter. Irgendwann komme ich an einen dreieckigen Raum, in dem ich mich umdrehen und aufsetzen kann. Hier ist der Krach am lautesten. Ich bin hinter dem Bug. Und – es ist ein bisschen peinlich für mich – aber ich bin erschöpft und so erleichtert, meine Füße mal wieder anfassen zu können, dass ich trotz des Lärms einschlafe.
    Ich wache davon auf, dass mich jemand an der Schulter schüttelt. Es ist Corry, und er hat ein kleines Öllämpchen dabei. Die See hat aufgehört, zu toben. Für uns beide ist der Raum ziemlich eng. Er lacht ein bisschen böse und fragt mich, ob ich oben nicht genug echte Männer finden konnte, dass ich jetzt in sein dunkles Reich abgestiegen bin. Ich frage ihn, warum er abgehauen ist, ob da oben vielleicht zu viele gewaschene Männer waren, sodass er sich lieber in die Rattenpisse legen wollte. Denn die Wahrheit ist, er stinkt schrecklich, und ich jetzt auch. „Warum bist du in die Kriechgänge abgehauen?“ frage ich. „Die fremden Krieger waren da doch noch nicht an Bord?“
    Sind sie es jetzt? Verdammter Mist. Ich wollte euch warnen. Aber Bork hat mir daraufhin was in die Suppe getan, zum Glück hat einer der Matrosen sich in der Kombüse verbrüht und sie wollten, dass Bork sofort nach ihm sieht. So konnte ich abhauen, bevor die Wirkung voll eingetreten ist. Ich hab, ich weiß nicht, wie lange, im Kriechgang gepennt, das war übles Zeug, ich wusste hinterher kaum, ob ich ein Hund oder ein Rollmops bin oder wie ich heiße. Was ist passiert?“
    Ich erzähle ihm von dem Sturm und dem seltsamen Schiff. „Haben sie dich angeschossen? Was hast du auf Kamorala gesehen?“
    Eigentlich nichts. Eine Höhle mit Gerätschaften, die ich nicht verstanden habe. Ein metallener Kasten, groß wie ein Schrank, mit Lichtern, die hatten keine Dochte. Es roch komisch, wie wenn ein Blitz eingeschlagen ist. Da spürte ich den Stich. Ich dachte erst, ein Insekt hätte mich gestochen. Dann kam diese Figur mit dem spiegelnden Visier und hat Bilder direkt in meinen Kopf gesetzt, ohne mit mir zu sprechen. Dass ich jetzt schlafen werde und alles vergesse. Dass sie sonst alle töten werden, wenn nicht. Ich konnte mich auch tatsächlich nicht erinnern, als ich aufgewacht bin. Ich lag auf einem Stück Wiese, neben mir eine Menge von dem Zeug, das wir sammeln wollten, ich dachte, ich wäre vielleicht ausgerutscht und hätte mir den Kopf gestoßen. Also bin ich einfach mit euch zurückgelaufen. Aber etwas hat meine Erinnerung in den Arsch getreten und zurückgebracht. Es war in dem Buch, das du vorgelesen hast.“
    Das hast du mitgekriegt? Ich dachte, du wärst Segeln im Traumland.“
    War ich wohl auch. Aber an einer Stelle bin ich aufgetaucht.“
    Was war das, was die Erinnerung zurückgebracht hat?“
    Die Stelle darüber, was an manchen Stellen der Eysensteyn-See mit dem Kompass passiert. Ich hatte auf meinen Kompass geschaut, kurz bevor ich die Höhle gefunden habe, und ich konnte die Richtung nicht glauben, in die er gezeigt hat, da war was faul.“
    Aber das Gift in diesem Stich kann nicht dasselbe gewesen sein, wie das, was du später in dir hattest. Daran wärst du fast krepiert.“
    Wenn du das sagst. Du bist die Heilerin. Der erste Stich war am Arm, nicht am Schlüsselbein.“
    Also hat jemand auf der Adamanta versucht, dich umzubringen? Das ist hammerkrass.“
    Deshalb bin ich immer noch in den Kriechgängen. Ich weiß nicht, wer. Bork eher nicht, der hatte genug Gelegenheit, als ich bewusstlos war. Ich denke, der wollte eher, dass ich alles vergesse.“
    Wie hast du eigentlich hier unten überlebt? Führt einer der Gänge in die Kombüse?“
    Ja, meine Liebe. Und ich schlage vor, dass wir uns dorthin bewegen und etwas zu essen organisieren. Falls du nicht Lust hast, diesen diskreten Ort für ein bisschen Spaß zu nutzen.“
    Nein.“
    Corry sieht verdammt gut aus, aber es ist Hanno, an dessen tiefe Stimme und freches Lachen ich mich vor dem Einschlafen erinnere.
    Und außerdem stinken Corry und ich wie ein komplettes Rattenklosett.
    Geändert von Ajanna (30.06.2021 um 20:01 Uhr)

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    Die Mannschaft

    Jaru hat seine Arbeit als Kapitän damit begonnen, mit Wingstan und Arohep die Ausbildung der Mannschaft zu planen. Das funktioniert, weil sich die Schichten mittags und nachts zwei Stunden überschneiden, und in diesen Stunden findet der Unterricht statt. Für alle auf dem Schiff bedeutet das: mit weniger Schlaf auskommen. Und natürlich müssen auch alle während der Schichten noch viel dazulernen.
    Wingstan übernimmt alles, das sich unmittelbar um das Schiff dreht, die nautischen Begriffe, die Abspannung der Masten, die Takelage, die Art und Weise, wie die Segel gesetzt werden. Aber auch die Signale und die Konventionen beim Treffen mit anderen Schiffen und im Hafen.
    Arohep deckt den Unterricht über das Wetter, die See, Gefahren mit Strömungen, das Loten, und alles, was große Meeresbewohner betrifft, ab.
    Jaru unterrichtet Navigation und so etwas wie… was es ausmacht, eine Mannschaft zu sein. Denn anfangs ist es zum Beispiel für jemanden wie Gowan, der an der Rubin mitgebaut hat, nicht einfach zu ertragen, dass die Orks ständig aufs Deck rotzen. Und einige finden es ein schlechtes Omen, dass Karitha mitfährt. Wingstan kann nicht damit aufhören, Arohep zu testen. Und eigentlich sind sie nicht genug Leute für ein Schiff dieser Größe. Jeden Tag eine sechzehn-Stunden-Schicht, zum Teil nachts, das ist anstrengend.
    Aber es geht natürlich vor allem darum, die Manöver zu trainieren. Schnell zu wenden, und dabei den Wind bis zum letzten Moment kontrolliert in den Segeln zu behalten, den Durchgang des Großbaums beherrschen – und dann direkt nach der Halse weiter ohne Rollen oder Gieren… Und all die Namen der unterschiedlichen Seile und Holzstücke in der Abspannung zu lernen…
    Da sie der Strömung entgegenfahren und keinen Rückenwind haben, müssen sie kreuzen. Sie legen in den ersten zwei Tagen nur wenig Strecke zur Feuerinsel zurück. Sie können nicht alle Segel setzen, weil die Kommandos zu zäh umgesetzt werden. Sie verlieren zu viel Zeit beim Wenden, und einmal fährt die Rubin dabei mit dem Bug unter eine Welle, dass Jaru denkt, das war‘s jetzt. Arohep und Wingstan brüllen sich heiser. Jaru erwägt, zur Heimatinsel zurückzusegeln und mehr Matrosen anzuheuern. Die euphorische Aufbruchstimmung ist vorbei, Enttäuschung, Muskelkater und Erschöpfung fordern ihren Tribut. Zum Glück unterstützen Arohep und Wingstan Jaru. Da er einen Teil seiner Kindheit auf See verbracht hat, kennt er die ganzen nautischen Begriffe und die Manöver. Vielleicht wissen sie auch nicht, dass er als Passagier auf den Kriegsschiffen mitgefahren ist. Er selbst schläft noch weniger Stunden als die anderen, ist in beiden Schichten präsent.
    Zum Kochen haben sie keine Zeit, zum Glück besteht der Proviant weitgehend aus eingelegten Delikatessen, die eher für den königlichen Hof als für den Alltag bestimmt gewesen sind. Kleine Fischröllchen mit unterschiedlichen Gewürzen, Meeresfrüchte in Knoblauchöl, Muscheln in Wein-Essig-Marinade, gefüllte kleine Gemüse mit Kapern und Nüssen, getrocknetes Obst, geröstete Hülsenfrüchte, alter Käse, knuspriges Kleingebäck und in Sirup getränkte Kuchen. Dazu – anfangs noch frisches – Fladenbrot. Die normalen Mannschaftsvorräte knapp oder beschlagnahmt, hat Marlan ohne Rücksicht auf spätere Beschwerden alles freigegeben, was im Kloster oder Fischerdorf zum Verkauf vorbereitet war. Den reichen Herrschaften auf den Gütern oder in Vengard wird vielleicht doch noch auffallen, dass es einen Krieg gab. Vielleicht ist es das gute Essen, das die Stimmung an Bord rettet.
    Es dauert schließlich fast eine Woche, bis die Feuerinsel in Sicht kommt. Die Augenringe der Mannschaft sind fast so grau wie die Wolken über dem Feuerberg. Die See ist schmutzig, viele Fisch- und Seevogelkadaver schwimmen im Wasser. Arohep lotst sie sicher durch die Brandung. Natürlich gibt es keine Reede, sie müssen etwa zwanzig Mannslängen vor dem Sandstrand ankern. Da fällt Jaru auf, dass die Rubin kein Beiboot mitführt. Und beim An-Land-Gehen stellt sich heraus, dass Wokkar und S‘zork nicht schwimmen können.
    Jaru nimmt zunächst nur Karitha, Elwo und Kerem mit an Land. Er möchte kundschaften, und die drei sind darin erfahren. Er gibt Gowan und Arohep den Auftrag, Wokkar und S‘zork das Schwimmen beizubringen. Und dann sollen sie die Waffen vorbereiten.


    Die Feuerinsel ist noch wüster und mit weniger Pflanzen bewachsen, als er sie in Erinnerung hat. Die letzten Ausbrüche haben breite schwarze glänzende Lava-Finger hinterlassen, die bis an die Strände vorgedrungen sind, zum Teil noch warm sind und rauchen. Schon bald stoßen sie auf Tote: vor allem Vengarder, aber auch ein paar Feuermagier und zwei Paladine. Jaru beschließt, sie später zu begraben – es ist auch eine gute Tarnung, für das, was sie eigentlich vorhaben. Aber als erstes will er den Ort finden, an dem er verschüttet wurde und nach Gero Ausschau halten. Alle vier tragen jeweils ein Seil und ein paar Rollen, Haken und Hämmer.
    Bei allen Toten, die sie finden, ist auffällig, dass die Waffen, jeglicher Schmuck und zum Teil auch Rüstungsteile fehlen. Das waren nicht die Seevögel. Die Toten sind auch schon größtenteils unkenntlich, ausgetrocknet, die offen liegenden Körperteile abgenagt. Gräulich weiße Knochen sind sichtbar, Ameisen und Käfer krabbeln unter den fleckigen Gewändern. So ist eine Identifizierung kaum noch möglich. Jaru versteht nun, warum sich manche Paladine kleine Tiere oder Figuren aus Muscheln, Horn oder Ton umhängen. Die haben keinen Wert, und so kann man sie im Tod erkennen. Wenn es stimmt, dass die Paladine kurz nach der Schlacht mit der Adamanta abgelegt haben, und dass Ombhau‘ so lange mit Jarus Bergung beschäftigt war – dann muss die Alca entweder später zur Feuerinsel zurückgekehrt sein, oder vielleicht sogar Leute zurückgelassen haben, auf die das Plündern zurückzuführen ist.
    Das heißt, dass sie sich vielleicht noch hier befinden. Und Jörg vielleicht auch. Wie viele das wohl sind? Tasso sagte doch, die Mannschaften seien zurückgekehrt. Damit meint er wohl die von der Alca und von der Adamanta. Mit was für Leuten hat Ombhau‘ dann die Alca gekapert? Die Orcs sind auch alle daheim angekommen, bis auf Shaboz und Xhutuboc. Es können natürlich Vengarder desertiert sein. Oder sind weitere Schiffe zur Feuerinsel gesegelt? Kaum möglich in der Zeit. Die Alca musste von den Galeeren geschleppt werden, weil der Wind so ungünstig und schwach war.
    Mit denen vom Festland, die kamen ja früher an, waren natürlich Sklavenlagerwachen gefahren, vielleicht ein paar Zwangsrekrutierte… schwierig, dies einzuschätzen. Während er nachdenkt, laufen sie leise den Pfad entlang, über den Jaru vor ein paar Wochen ins Inland vorgedrungen ist. Sie gehen leicht gerüstet, verlassen sich eher darauf, dass sie niemand erwartet und niemand hört. Jaru hat den weißen Umhang abgelegt. Der Rabe hat keine Lust, sich mit den Seevögeln zu streiten und sitzt still auf seiner Schulter. Nur einmal holt er sich eine Eidechse, fast, ohne die Flügel aufzuspannen.
    Der Feuerberg strömt einen leicht schwefeligen Geruch aus, der aber nur manchmal, mit einer kleinen Brise, an ihre Nasen dringt. Die Möwen kreischen. Sie sind eher im Inland als im Ufer. Die vielen Leichen sind für sie ein Fest. Sie sind immer noch aufgeregt, obwohl nun seit der Schlacht und dem Ausbruch mehr als drei Wochen vergangen sind. Der Boden ist rötlich grau und besteht größtenteils aus scharfkantigem Geröll. Jaru weist die anderen an, den Weg nicht zu verlassen. Sie gehen in einer Linie, mit mehreren Mannslängen Abstand.
    Sie treffen nun häufiger auf Tote. Jaru erkennt eine Rüstung der Küstenwache, mehr Vengarder, einen Ork vom Festland. Und dann passieren sie ein Platz mit eine Quelle, eingefasst in dunkle Lavablöcke. Alle wissen, dass hier Nelas Kleidung und Schwert gefunden wurde. Und dass sie auf keinen Fall aus dieser Quelle trinken dürfen, egal wie stark ihr Durst brennt. Karitha bleibt dort kurz stehen, schließt die Augen, legt erst die Hände gegeneinander, öffnet sie dann zum Himmel.


    Jaru wartet einen Moment. „Vorsichtig, jetzt“ murmelt er, als sie weiter gehen. Und dann stehen sie vor einer tiefen Spalte, und Jaru muss Ombhau‘ Recht geben. Sie scheint bodenlos zu sein. Und der Rand ist bröckelig, es sind kaum Felsen in der Nähe. Ihre Seile sind alle zu kurz, als dass man sie darüber spannen könnte. Oder um bis zum Grund zu reichen. Den kann man nicht erkennen, weil es verrückt wäre, zu wagen, an die Kante zu treten. Jaru kann noch nicht mal ausmachen, von wo aus Ombhau‘ ihn gerettet haben könnte. Er sieht gar keinen Absatz, keine Stufe oder Kante in mehreren Mannslängen Tiefe. Es ist ihm umso mehr ein Rätsel, als er glaubt, sich an den Einbruchsort zu erinnern. Er sieht dort einen Felsen mit Blut und einen Klingenstab. Damals war noch eine andere Magierin in seinem Trupp als Ganjouk, wie war noch ihr Name? Nergali. Rothaarig, rundlich, entschlossen. Sie hatte so einen Stab. Ob das ihr Blut ist? Karitha geht vorsichtig zu der Stelle, versucht hinabzusehen, dann nimmt sie den Stab an sich. Sie weint. Jaru will den Raben dazu bringen, von seiner Schulter runter zu steigen und in die Spalte zu fliegen. Aber der Rabe will nicht. Er kreischt noch nicht mal oder protestiert. Er wirkt eingeschüchtert und steckt den Schnabel unter einen Flügel. Jaru hat sein Training in der letzten Zeit vernachlässigt.
    Ein Gefühl des Scheiterns breitet sich unter ihnen aus.
    Jaru beschließt, der Spalte zu folgen. Vielleicht gibt es weiter oben eine Stelle, von wo aus man hinab steigen kann. Oder wo Felsen an den Seiten es erlauben, Seile zu befestigen und hineinzuklettern. Immer wieder sehen sie zurück. Aber man kann nichts erkennen. Die Nachmittagssonne streift nun flacher über das Land. Und der Riss im Land liegt immer tiefer im Schatten. Plötzlich hebt Karitha, die seit dem Fund des Klingenstabs vor ihnen geht, ruckartig die Hand, sie hockt sich zu Boden und horcht. Und nun hören es auch die anderen. Irgendwo unter ihnen wird gekämpft, eine Klinge trifft auf ein anderes Material. Und etwas brüllt. Ihnen allen läuft ein Schauer über den Rücken. Kerem spannt die Sehne auf seinen Bogen, Elwo die Armbrust. Aber sie können immer noch nichts erkennen. Das Kämpfen geht noch eine Weile weiter, dann bricht es abrupt ab. Jaru pfeift leise, einen Signalpfiff der Küstenwache. Und sie horchen in die Dämmerung. Nichts.
    Geändert von Ajanna (30.06.2021 um 20:49 Uhr)

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    Der Pfiff

    Jarus leiser Pfiff hat eine Welt bewegt in Gero. Ein Wirbelsturm aus Gefühlen, ein Brausen in seinen Ohren… fast wäre er ohnmächtig geworden. Die Versuchung, zu antworten, ist so immens, beinahe hätte er es riskiert und wäre gestorben. Denn eine unheimliche Gestalt ragt über ihm auf, gräuliches und bräunliches verwestes Fleisch über bläulich leuchtenden Knochen, eine geschliffene Orkklinge pendelt direkt vor seinen Augen in dem kleinen Felsspalt, in den er sich verkrochen hat.
    Gero ist es, den die anderen kämpfen gehört haben. Er hat den untoten Orkkrieger nach einem langen, anstrengenden Kampf besiegt, hat ihm seinen knöchernen Schädel vom fleischlosen Hals gehauen, aber es hat ihn alle Kraft gekostet, die er noch hatte. Er hat sich keuchend und zitternd versteckt, als er den zweiten kommen hört… Das Brüllen des Toten… Jeden Tag – seit Wochen – seit der Schlacht – hat er sich gegen diese grausam veränderten Gestalten, die mal Freunde waren, geschlagen. Jede Nacht sind sie wieder auferstanden. Anfangs schafft er es, sie innerhalb von Minuten außer Gefecht zu setzen. Dann bleibt ihm ein ganzer Tag Zeit, etwas zu Essen zu finden und den Ausgang zu suchen. Er hat sogar an manchen Stellen begonnen, zu graben. So ist er wieder an die frische Luft gekommen. Denn ursprünglich war es ein Labyrinth aus Gängen, in dem er sich nach dem Absturz wieder fand, dunkel, schleimig, mit leuchtenden Flechten an den Wänden und zarten weißen Blüten, die sich auf ihn zubewegen, vor allem, wenn er blutet.
    Anfangs wirft er mit Steinen, kämpft mit morschen Stützbalken, einmal findet er einen Metalleimer. Den Plan, die Untoten zu entwaffnen und ihre eigenen Klingen gegen sie zu wenden, verwirft er, weil er befürchtet, dass der böse Zauber auf ihn übergehen könnte. Alle schmutzigen Tricks, die ihm Ombhau‘ beigebracht hat, all die Stöße, Tritte, Würfe, traut er sich nicht, anzuwenden, aus Angst, mit dem toten Fleisch in Berührung zu kommen. Als er das erste Mal seine Verfolger ausschalten kann, denkt er, er hat es schon fast geschafft. Und ist so unvorsichtig, auf einer Bank im Gang zu schlafen. Warum er dann aufgewacht ist, einen winzigen Augenblick, bevor ihm der kalte Orkstahl den Bauch aufgeschlitzt hätte – ein Wunder. Im letzten Moment hat er sich weggerollt, aufgerappelt, eingeschissen und davongemacht. Und seit dem, jeden Tag dasselbe. Er hat versucht, die Orkknochen zu verstreuen, die Köpfe zu zerschlagen, die Fingerknochen zu zerreiben, sie unter Steine zu legen oder von einem unterirdischen Strom wegspülen zu lassen, aber nichts hat funktioniert.
    Zum Glück haben die kalten Feinde kein Gedächtnis. Er hat mehrmals die Finte angewandt, hinter einer Kurve auf einen Sims zu springen und ihnen dann von oben die Stirn zu zerschmettern. Die Möglichkeiten, ihnen aufzulauern, sind begrenzt. Und er schafft es nicht immer, sich ihnen im offenen Kampf zu stellen. Nicht solange sie zu zweit sind.
    Die ersten Tage hat er nichts gegessen und kein Wasser gefunden. Erst am dritten Tag entdeckt er einen Durchbruch zu einem unterirdischen Strom. Er ist eiskalt, aber das Wasser ist sauber. Und in ihm findet er die glitschigen, fast durchsichtigen Fische, die außer Moos und paar Algen seine einzige Nahrung sind. Er muss sie roh essen, nichts Brennbares ist in den dunklen Gängen zu finden. Sie schmecken fies ölig und ihre Knochen sind scharf. Knochen, ja. Diese Fische haben merkwürdige Skelette, und ein paar zackige Knochenplatten unter den Rückenflossen. Aber sonst sind sie weich, mehr wie… Schnecken. Doch Schnecken mit Zähnen. Einmal beißt ihn einer der Fische, und die Wunde entzündet sich. Immer noch ist sie offen, am Unterarm. Es hat sich Eiter gebildet, und der Arm fühlt sich dick und heiß an. Die Blüten werden davon angezogen wie Motten vom Licht. Er traut sich kaum noch, zu schlafen – selbst in den wenigen Stunden, in denen es möglich ist, bevor die Orks wieder zum Untotsein erstehen.
    Aber zuletzt hat Gero weniger und weniger Fische fangen können. Das ist vielleicht normal, wahrscheinlich wachsen sie nicht schnell. Aber sie scheinen auch zu lernen, und nun den Ort, wo er in den Strom steigen kann, zu meiden. Oder sie riechen seine Wunde. Und er hält es nicht lange in dem kalten Wasser aus.
    So gibt es Tage, an denen er es nicht mehr schafft, beide untoten Orks zu töten. Das bedeutet, er kann nicht schlafen, nichts zu essen suchen, muss in irgendeinem Versteck oder auf irgendeinem schmalen Wandsims ausharren, und hoffen, dass sie ihn nicht finden und dass er nicht doch einschläft und runter fällt.
    Als er dann eines Tages einen Lichtschein sieht, und sich schließlich ins Helle gräbt, denkt er zum zweiten Mal, er hätte sich gerettet. Und dass ihm die Untoten ins Licht vielleicht nicht folgen können. Aber in der schmalen Rinne voller Felsbrocken, Treibsand und Geröll hat er bisher noch keinen Weg nach oben gefunden. Er hat kaum noch die Kraft, zu klettern. Die Wände sind porös, die Steine scharfkantig. Einmal stürzt er hart ab, seitdem hat er einen großen Bluterguss auf den Rippen. Und es gibt nichts zu essen hier und nichts zu trinken. So muss er doch immer wieder ins Dunkel hinabsteigen. Und als er einmal vor einem der Orks flieht, abgekämpft, japsend, folgt ihm der Ork, und Gero muss lernen, dass die Untoten doch das Licht der Sonne ertragen.
    Das Schlimmste ist, dass er in jedem freien Moment, in dem er nicht gerade kämpft, rennt, jagt oder klettert, bereut, dass durch seine Unachtsamkeit die freundlichen Orks zu den Monstern geworden sind, die sie jetzt sind. Einerseits hofft Gero, dass nach ihn gesucht wird, aber andererseits schämt er sich jetzt schon, für den Fall, dass sie ihn irgendwann finden werden. Am schlimmsten geht es ihm, wenn er sich an Jaru erinnert. Der ihn gewarnt hatte, der nicht wollte, dass Gero die Phiole aus der Nekropole unter der Nordfeste mitnahm.
    Wie kann man so einen schrecklichen Fehler wieder gut machen? Manchmal denkt Gero, dass es in Ordnung ist, wenn er hier stirbt. Aber er kann es dann doch nicht geschehen lassen. Inzwischen hat er jegliches Zeitgefühl verloren. Er weiß, dass er seit mindestens zehn Tagen hier ist, denn so oft hat ihm die Sonne für einen kurzen Moment ins Gesicht geschienen. Aber wie viele Tage das vorher waren…
    Und einmal trifft beim Klettern in der Wand von unten ein rotes Blitzen sein Auge. Er bricht das Klettern ab, ist eh‘ unter einem Überhang festgesteckt. Und es ist tatsächlich sein Schwert. Wie es hierherkommt, wo er doch selbst so weit davon entfernt gelandet ist – er kann es sich nicht erklären. Es ist das einzige Mal in dieser Zeit, dass er weinen kann. Von nun an ist das untote-Orks-töten wieder leichter. Doch seine Kraft schwindet.
    Und dann hört er eines Tages den vertrauten Pfiff – und kann nicht antworten.
    Geändert von Ajanna (01.07.2021 um 20:28 Uhr)

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    Die Ratten

    Die Kriechgänge der Adamanta erstrecken sich nicht nur auf einer Ebene. Als ich hinter Corry zur Küche krieche, müssen wir zuerst weiter nach unten klettern – kopfunter, denn umdrehen ist unmöglich. So viel habe ich bereits verstanden: wer zu den Seepaladinen will, muss klettern können. Der Abstieg findet über einen schrägen, gezackten Balken statt, an dem auch Latten für die Zwischendecks befestigt sind. Je tiefer wir hinunter gelangen, desto feuchter und stickiger wird die Luft. Zuletzt befinden wir uns oberhalb der Bilge… und hier wohnen die Ratten des Schiffs, die ich bisher nur gerochen habe. „Hast du Hunger?“ fragt mich Corry und spielt mit einem kleinen Wurfmesser. Dabei zeigt er mit dem Kopf in die Richtung mehrerer Ratten, die an einem alten Schweineknochen nagen. Hier unten kann ich neben ihm entlang robben – was immer der Vorteil davon sein könnte.
    Ratte esse ich nur scharf gegrillt,“ sage ich. So leicht erschreckt er mich nicht.
    Corry grinst. Die Antwort gefällt ihm.
    Von hier aus zwanzig Querrippen, dann kommt der Aufgang zur Küche.“
    Wird dieses Wasser nicht irgendwann mal rausgeschöpft? Das Holz verfault doch.“
    Sicher. Wenn wir Schiffsjungen dabei hätten. Kannst dich ja freiwillig dafür melden, wenn du dich beim Käpt‘n einschleimen willst. Er wird diesen Liebesdienst für sein kostbares Juwel sicher nicht ablehnen. Falls er noch lebt. - Pass auf jetzt: der Aufgang zur Küche ist so eng, die meisten Matrosen oder Paladine würden stecken bleiben wie ein Korken in der Buddel. Das ist Absicht: so kommt weniger Proviant weg. Du kannst dich nur mit den Armen an dem Seil hier hoch ziehen.“
    Dieses Mal habe ich richtige Schwierigkeiten. Zum Glück für mich funktioniert es auch, mich mit den Ellbogen am Rand abzustützen, weil die schmale Öffnung immer wieder von Brettern eingefasst ist wie eine Luftröhre von Knorpel. Als hätte ein Koch das Schiff geplant. Ich bin sehr froh, als Corry irgendwann eine Falltür hoch drückt und ich mich mit dem Bein an der Kante hochziehen kann. Schnaufend liege ich auf dem Kombüsenboden. Die Feuer sind aus. Als ich später in die Töpfe sehe, schwimmen dort müffelnde Kartoffeln in einer trüben Brühe. In der Pfanne klebt eine schwarze Kruste, die wahrscheinlich mal Speck war.
    Hier hat schon eine Weile niemand mehr gekocht,“ flüstere ich.
    Corry macht ein leises Klickgeräsuch mit der Zunge vorne an den Zähnen.
    Wir suchen in den Regalen und finden Zwieback und Schinken, den wir uns – nicht ganz gerecht – teilen. Corry war sicher nie in einem Kloster.
    Willst du vielleicht hier warten?“ fragt er mich.
    Nein,“ sage ich und nehme mir ein Küchenbeil, das auf einem Brett neben einem halben Knoblauch liegt. Er nickt, dann löscht er das Lämpchen.
    Ich höre, wie er sich in den Gang raus schleicht. Es ist ganz dunkel und wir müssen uns voran tasten. Mehrmals erwische ich dabei seine Füße. Es ist mir peinlich. Aber Corry sagt nichts.
    Schließlich erreichen wir eine enge Treppe, und nach zwei Geschossen schimmert ein bisschen graues Licht zu uns runter. Ich sehe über uns ein Viereck mit dunklen Wolken. Das Wetter hat sich noch nicht aufgeklart.
    So kommen wir schließlich an der Luke zum Deck an. Ich höre mein Herz laut klopfen, so laut, dass ich denke, Corry nimmt es auch wahr. Er hat nun ein Entermesser in der Hand. Ganz langsam schiebt er seinen Kopf nach oben. Dann ist er plötzlich draußen und ich sehe ihn nicht mehr. In diesem Moment, überlege ich kurz, feige zu sein und hier unten zu bleiben. Aber ich kriege das dann doch nicht hin. Ich bin zu neugierig.
    Als ich Kopf aus der Luke strecke und über das Deck blicke, sehe ich niemand stehen oder arbeiten. Auch in der Takelage nicht. Ein paar wenige Segel sind gesetzt und die Adamanta macht genug Fahrt, um eine Richtung zu halten. Ich sehe mich zum Steuerrad um. Es ist mit einem Seil am Geländer festgebunden, das neben der Treppe zum Steuer angebracht ist.
    Wir sehen uns überall an Deck um, bleiben zunächst geduckt im Schatten. Niemand zu sehen. Schließlich suchen wir auch in der Offiziersmesse, in den Mannschaftsunterkünften – dort finden wir drei Tote. Es sind die Sektenleute, die mit dem Ritual mit dem Drudenfuß.
    Wir durchsuchen alle Aufbauten, das Waffenlager, die Labore… in meinem finde ich schließlich Ingmar. Sie haben ihn auf einem Stuhl festgebunden und wahrscheinlich vermöbelt. Er ist bewusstlos. Aber er lebt! Ich bin so froh! Wir binden ihn los und kippen einen Eimer kaltes Seewasser über ihm aus. Schließlich öffnet er die Augen. Als er mich sieht, werden sie schmal. „Hättst du diese verdammte Muschel nicht ins Meer schmeißen können?“ murmelt er. Dann tanzt er wieder mit den Elfen. Oder was immer ohnmächtige Seeoffiziere so machen.


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    Die Adamanta

    Corry und ich tragen Ingmar in seine Kajüte und legen ihn auf die Seite. „Können wir die Adamanta zu dritt segeln?“ frage ich Corry.
    Kannst du überhaupt segeln,“ fragt er zurück. „Wenn ich dir sage, raff das Klüversegel, was machst du dann?“
    Das Klüversegel ist vorne, das an dem Pin“, antworte ich.
    Das reicht nicht. An welcher Leine ziehst du, wo hältst du dich fest, mit welchem Knoten sicherst du es?“
    Das kann ich lernen.“
    Dafür ist keine Zeit.“
    Ja, willst du dich ins Meer stürzen, oder was? Krabbel doch wieder runter zu deinen Ratten! Ich werde die Adamanta segeln lernen, und wenn ich es alleine mache! Dann muss ich mir nicht mehr anhören, was ich nicht kann!“
    Corry lacht. Ich hasse ihn. „Außerdem ist das Klüversegel schon gerafft.“
    Er lacht noch mehr.
    Ich drehe mich um und renne aus der Kajüte weg. Corry ist so ein hässlicher, stacheliger Matrosenclown, ich kann es nicht mehr aushalten. Ich gehe nach vorne, zum Bugspriet, und sehe mir die allgemeine Segelsituation an. Verdammt, es gibt nicht nur ein Segel dort. Und verflixt viele Leinen. Und der fiese Mast ragt echt richtig auf die See raus. Wenn man da runter fällt, wird man nicht nur nass, sondern auch von der Adamanta überfahren. Kann man überfahren werden im Wasser? Ich habe jedenfalls ein bisschen Schiss, das auszuprobieren. Mist!
    Vielleicht kann ich mit den Beibooten was anfangen. Jetzt fällt mir auf, dass die Admanta keine Beiboote mehr hat. Sie sind alle weg. Bis auf das ganz kleine, das sie für Arbeiten am Rumpf benutzen – dann ist es halb runter gelassen, nicht bis ans Wasser. Und so ist es auch jetzt gerade. Ich schnappe mir eine Leine, binde sie an einem Mast fest und klettere hinunter. Das Boot ist von einem gewachsten Segeltuch abgedeckt. Welchen Sinn macht das denn, wenn jemand damit gearbeitet hat? Als ich auf dem Boot angekommen bin, hebe ich vorsichtig das Segeltuch an. Und erschrecke total, als mir jemand ein Messer an den Hals hält und mich unter die Hülle zieht! Aber es sind nur Palissa und Elko, die sich hier versteckt halten. Ich bin so erleichtert, dass ich Palissa richtig abknutsche. Und sie weint ein bisschen.
    Habt ihr gesehen, was passiert ist?“ frage ich sie. „Wo sind denn alle? An Bord sind nur noch Corry und Ingmar.“
    Corry und Ingmar, das ist gut,“ Elko steckt sein Messer wieder weg. Und dann sehe ich, dass im Boot noch jemand liegt. Einer von den Fremden. Aber er sieht nicht gut aus. Jemand hat die Schläuche durchgeschnitten, so wie ich es auch gemacht hätte. Und nun ist die Rüstung wie aufgebläht und das Visier ist von innen beschlagen.
    Ist er tot?“
    Elko zieht die Brauen hoch und zuckt mit den Schultern. „Hat sich nicht mehr bewegt, seit ich die Röhren da durchgeschnitten habe. Das Ding hat Palissa gepackt und wollte sie zu den anderen zerren.“
    Und wo sind die anderen?“
    Ein Teil ist mit Beibooten am Schiff dieser Kerle gelandet – in diesem schwarzen Loch, hinter dem ihr Schiff war. Ein paar Paladine wurden vorher mit den Harpunenstöcken beschossen, die die Fremden hatten. Das waren Tasso und Jasim. Sie haben an vorderster Front gekämpft, haben ein paar von diesen Kugelköpfen alt aussehen lassen. Tasso hat geblutet. Die haben die Boote angesaugt, so wahr ich hier vor dir hocke und rumflenne. Man konnte einen Nebelstrahl sehen. Wenn es Nebel war. Aber ein Teil der Mannschaft ist mit den restlichen Booten zur anderen Seite abgehauen. Bork war dabei. Und die Sektenspinner.“
    Ich bin erleichtert, dass nicht alle tot sind.
    Drei der Sektenjungs haben wir gefunden. Aber sie sind tot.“ erzähle ich Palissa und Elko. „Wollt ihr nicht hochkommen, das Schiff ist jetzt fast leer.“
    Sollen wir dieses Ding hier ins Wasser werfen?“ schlägt Elko vor.
    Ich würde es mir wirklich gerne vorher genauer ansehen,“ bitte ich. Meine Neugier. Sie wird mich noch in Schwierigkeiten bringen. Da fällt mir etwas ein. „Ingmar hat was von einer Muschel erzählt. Wisst ihr, was da los war?“ frage ich die beiden Köche. Sie schütteln die Köpfe.

    Geändert von Ajanna (07.07.2021 um 16:02 Uhr)

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    Das Feuer

    Karitha läuft weiter in die Dämmerung. Sie hält manchmal inne, um den Grund vor ihr zu prüfen. Dann springt sie über Unebenheiten im Boden. Es sieht aus, als ob sie tanzt. Jaru folgt ihr langsamer, abgelenkt von seinen Gedanken. Er erinnert sich an die Kampfgeräusche, fragt sich, wer dort war, warum es keine Antwort gab. Jetzt erscheint ihm sicher, dass auf der Feuerinsel jemand zurückgeblieben ist. Dass es Gero sein könnte – immerhin ist es möglich. Wenn er den Sturz überlebt hat. Oder Nergali.
    An Kerr‘ontagh und T‘Bekhon zu denken, fällt Jaru schwer. Er glaubt nicht mehr, dass sie leben. Er hat schon darüber nachgedacht, was er als Orkschamane noch für sie tun kann. Für ihren Frieden. Oder den der Überlebenden.
    Elwo und Kerem folgen ihm, ohne dass er sie hört.
    Jaru erwägt, die Suche bald abzubrechen. Je dunkler es wird, desto gefährlicher ist die Nähe zur Erdspalte. Doch kurz bevor es völlig dunkel ist, erreichen sie eine Felswand. Rau und gezackt ragt sie vor ihnen auf. Sie sieht erkletterbar aus, denn sie besteht aus Lava-Brocken, nicht aus Geröll.
    Karitha wartet an ihrem Fuß. „Hier können wir morgen im Hellen versuchen, in diesen Schlund abzusteigen,“ raunt sie, als die anderen zu ihr stoßen. „Was haltet ihr von einem Feuer?“
    Später,“ befiehlt Jaru. „Ich sehe erst nach, ob wir ein anderes Feuer sehen können. Ruht euch hier aus.“ Jaru steigt leise ins Dämmerlicht hoch. Der Mond steht über ihnen, rötlich, groß.
    Elwo folgt ihm. „Ich habe mich gefragt,“ er macht eine kurze Pause, als er sich anstrengen muss, um sich hochzuziehen. „Wer da gekämpft hat.“
    Jaru schweigt.
    Weißt du, dass Gero so eine Art zu parieren hatte… hat,“ korrigiert er sich. „… bei der er das Schwert des Gegner ins Leere hat abgleiten lassen, bis es keinen Schwung mehr hat. Aber ohne es freizugeben. Tizgar hat ihm das gezeigt. Genauso hat das geklungen vorhin.“
    Jaru hält inne, atmet tief ein. „Wann hast du das denn gesehen?“
    Im Wasserfort, bevor ihr aufgebrochen seid, habe ich Gero üben gesehen. Es war ein neuer Stil, anders, als das, was wir bei der Küstenwache gelernt haben.“
    Jaru nickt zur schattigen Wand hin. Elwo hat recht. Die Rückkehr der Hoffnung ist kaum auszuhalten. Er ist froh, dass es jetzt dunkel ist.
    Als sie schließlich oben auf dem Felsen ankommen, ist einige Zeit vergangen, denn das Klettern in der schwarzen samtigen Nacht war nicht leicht. Jaru wundert sich eigentlich, dass Elwo darin fast genauso gut ist, wie er selbst. „Warum bist du mit hoch gekommen?“ fragt er Elwo.
    Ich wollte dich fragen…“ Elwo zögert. „Kann ich auch Schamane werden? Oder bleibst du eine Ausnahme?“
    Jaru antwortet ihm nicht. Er weiß keine Antwort.


    Sie sitzen eine Weile auf den oberen Felsspitzen. Jaru wendet eine Atemtechnik an und schließt die Augen. Er vergisst alle Absicht, alles Sehen, alles Hören. Gerade dann nimmt er viel mehr wahr als vorher. Ein Klanggeflecht aus Wind, aus rieselndem Sand, aus leisen klagenden Vogellauten… friedlich. Elwo stört nicht, er ist ebenfalls völlig still geworden.
    Und dann plötzlich – entfernt, aber klar – jemand zerbricht Holz und schlägt ein Feuereisen an. Dann sehen sie beide einen Feuerschein, weit hinter den Felsen.
    Jaru setzt sich leise in Bewegung. Elwo folgt ihm ebenso. Es ist ungewohnt für Jaru, dass ein Mensch in dieser Nachtschwärze mit ihm Schritt halten kann. Sie müssen jetzt sehr leise sein. Schließlich erreichen sie eine Kante. Jaru legt sich hin, zieht seine Kapuze weit ins Gesicht und sieht in die Tiefe. Die Federn am Rand werden von unten wie Pflanzen wirken. Elwo bleibt ein Stück zurück.
    Jaru sieht ein Feuer – und Shaboz und Xhutuboc, wie sie ein Tier an einem Spieß rösten. Er flucht leise. Die beiden wird er jedenfalls nicht von hier oben mit der Blitzrune töten, wie er es bei anderen, zum Beispiel Ombhau‘, erwogen hätte. Aber so oder so – zuerst muss er in Erfahrung bringen, ob Jörg in der Nähe ist. Er schleicht von der Felskante und noch ein Stück weg, Elwo folgt ihm lautlos.
    Hm?“ fragt Elwo nur.
    Zwei Orks. Ombhau‘-Leute. Kenn‘ sie.“
    Jörg?“
    Jaru zuckt mit den Schultern.
    Und plötzlich läuft es ihm eiskalt den Rücken hinunter. An der Kante, wo sie gerade noch gelegen haben, sieht der die Silhouette von Xhutuboc. Die Geschwindigkeit mit der er geklettert ist, die völlige Geräuschlosigkeit – das übertrifft alles, was Jaru je gesehen hat. Und er hat nicht mitgekriegt, dass Xhutuboc sie bemerkt hatte. Elwo merkt nichts, er hockt mit dem Rücken zu Xhutuboc. Jaru hält Elwo die Hand auf den Mund und erstarrt. Gleichzeit greift er nach der Blitzrune. Eigentlich wünscht er sich nichts mehr, als Xhutuboc in seiner Crew zu haben. Aber mit so einem Morra im Schlepptau, das wird Xhutuboc nicht gefallen.
    Jaru wäre es lieber, Elwo wäre fort, irgendwo, mit den anderen drei in der Nacht.
    Kroar‘ck.“
    Verdammt! An Xhutubocs Körpersprache erkennt Jaru, dass Xhutuboc sie noch nicht gesehen hat, aber warum weiß er, dass Jaru hier ist? Jaru drückt Elwo in einen Schatten, dann geht er ein paar Meter von ihm weg.
    Xhutuboc. Du solltest Nachtwind heißen.“ sagt er langsam auf Orkisch. Und lässt seine Hand an der Blitzrune aufglühen.
    Dummer Morra! Was machst du hier? Das ist unsere Insel. Warum bleibst du nicht bei den Waldorks? Haben wir dich nicht heim gebracht wie einen Sohn zu Papa?“
    Du weißt nicht alles, Xhutuboc, nicht, wo ich zuhause bin, nicht, was ich tue für Freunde. Ein Bruder ist hier, ich muss ihn finden.“
    Shaboz? Er sagt, hau den Morra, dass er vom Felsen fällt.“
    Nicht Shaboz.“
    Es entsteht eine Pause. Jaru und Xhutuboc fällt beiden auf, dass Xhutuboc nicht weiter nachfragt. Also ist Jörg vielleicht doch irgendwo hier.
    Morr‘Hok-Keshak,“ nennt Jaru Geros Orknamen.
    Der Mann-Fünf-Spinnen ist dein Bruder?“ Xhutuboc schnauft. „Er hat Hosh-Urkosh getötet. Ich hätte dich ins Meer schmeißen sollen, als du geschlafen hast.“
    Warum hast du mich nicht ins Meer geschmissen? Du magst keine Morras.“
    Ombhau‘ sagt, deine Leute suchen dich und machen Krieg mit uns.“
    Ombhau‘ ist auch ein Morra.“
    Quatsch nicht blöd, Rabe.“
    Also, wo bist du jetzt, Xhutuboc? Segelst du das fremde Meer und findest dicke Beute? Machst du dir einen ruhmreichen Namen?“ Jaru merkt, dass er ins Schwarze getroffen hat.
    Xhutuboc spuckt aus. „Wenn du willst, kannst du ans Feuer kommen. Wir haben eine dicke Zahnechse gejagt. Wir kämpfen morgen. Wenn du gewinnst, helfen wir dir, deinen Spinnenfreund zu finden. Wenn du verlierst, und du wirst verlieren, bist du unser Sklave.“
    Wenn du so kämpfst wie Hosh-Urkosh, schneidest du mir im Schlaf die Kehle durch, bevor es hell wird,“ meint Jaru und lacht. Er merkt, wie Xhutuboc böse wird. „Aber ich geh‘ mit dir runter, ich will mit Shaboz reden.“ Eigentlich will er Xhutuboc nur von Elwo weglocken – und es funktioniert.


    Er hofft, dass Elwo nicht den Helden spielt und stattdessen zu den anderen zurückklettert und sie warnt. Nur blöd, dass Elwo kein Orkisch spricht und nichts von dem Gespräch verstanden hat.


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    Das Tor

    Jaru versteht nun, wie Xhutuboc so schnell auf die Felshöhe aufsteigen konnte: die Seite, die dem Lagerfeuer der beiden Orks zugewandt ist, ist behauen, und es existiert eine in den Fels gehauene Treppe, die zu einer Art Balkon hoch führt. Elwo und er hätten ihn sehen können, wären sie weiter rechts auf die Kante getroffen. Er lässt Xhutuboc vor sich gehen.
    Wie hast du gewusst, dass ich es bin?“ fragt er ihn.
    Du bist Schamane – dein Geist in meinem Geist,“ antwortet Xhutuboc bündig.
    Du kannst auch zaubern.“
    Ich sehe für mein Volk.“
    Wo ist dein Volk?“
    Xhutuboc lässt den Kopf hängen. „Frag nicht so viel, Morra,“ sagt er, aber es klingt eher traurig.
    Was hast du noch gesehen?“
    Noch jemand. Ich bin nicht blöd, Rabe.“
    Jaru schweigt. Er beschließt, Xhutuboc nicht aus den Augen zu lassen und auf keinen Fall heute Nacht zu schlafen.
    Beim Absteigen auf der Treppe sieht er, dass der Felsen einen Überhang bildet. Und dort ist ein Tor eingeschlagen, mit mehreren Wachposten davor. Dies ist ein richtiger Piratenstützpunkt.
    Er ist nun beim Feuer angekommen. Shaboz wirft ihm einen schwer zu deutenden Blick zu.„Warum seid ihr nicht bei den anderen?“ will Jaru wissen.
    Da drin sind Geister,“ brummt Shaboz.
    Ich denke, ich kenne sie,“ Jaru sieht Shaboz an. „Und du kennst sie auch.“
    Kropek.“
    Hhm.“
    Ich muss Bescheid sagen.“ Shaboz steht auf und geht auf das Tor zu.
    Xhutuboc wartet eine Weile, bis er nicht mehr zu sehen ist, dann schneidet er ein großes Stück Fleisch von dem Braten über dem Feuer ab und gibt es Jaru.
    Danke. Etwas, das ich dich fragen wollte, solange nur wir hier sind… Ist die Blitzrune von dir?“
    Morra-Frau will, dass du sie hast.“
    Ganjouk?“
    Mhm.“
    Warum?“
    Die Elster soll sie nicht haben.“
    Und was willst du?“
    Ich will zu meinem Volk.“
    Nach Khorinis?“
    Ja.“
    Warum habt ihr damals Khorinis überfallen? Weißt du, dass Morr‘Hok-Keshak auch von Khorinis ist?“
    Gute Männer auf Khorinis.“ Xhutuboc zeigt blitzend seine Eckzähne.
    Warum?“
    Ist vorbei, Morra.“
    Ich kann dich nach Khorinis bringen.“
    Wann, Rabe?“
    Jaru überlegt. Er muss Gero und Jörg finden. Und eigentlich muss er auch noch diesen Katzenäugigen finden, der auf seiner Heimat rumspukt. Und Thorus bestrafen. Und natürlich das Schiff zurückbringen – wahrscheinlich so bald es möglich ist.
    Nicht bald,“ antwortet er ehrlich.
    Siehst du. Du sagst dasselbe wie Ombhau‘.“
    Sie sitzen eine Weile am Feuer und Jaru knabbert an dem Fleisch. Es ist lecker – und eine ganze Weile her, seit er das letzte Mal Krokodil hatte.
    Ich will dich nicht töten,“ sagt er zu Xhutuboc.
    Der lacht: „Das müsstest du erst mal können, Morra!“
    Ich kann dich töten. Aber ich kann dich nicht im Arenakampf besiegen. Du bist sehend, stark, blitzschnell, hast Ruhe, Disziplin, Instinkte. Ich erkenne einen Meister in dir. Aber wenn ich mit dir kämpfen muss, werde ich dich töten.“
    Xhutuboc sieht ihn über das Feuer hinweg an. Jaru fühlt einen Sog. Versucht Xhutuboc, ihn zu hypnotisieren? Er streift das Band zwischen ihnen ab. Er sieht, wie Xhutuboc leise nickt.
    Ich weiß, warum Ombhau‘ dich nicht hier haben wollte, Rabe. Morgen werden wir kämpfen.“
    Es vergeht einige Zeit, in der Jaru und Xhutuboc sich am Feuer anschweigen und den Bauch vollschlagen. Schließlich kommt Shaboz zurück. Er nimmt sich von dem Krokodil und setzt sich dazu. Jaru lässt ihn essen. Erst als Shaboz fertig ist und sich die Hände an der Lederhose abwischt, sein Messer weggesteckt und ein Bier in der Hand hat, spricht Jaru ihn an.
    Erzähl mir von den Geistern.“
    Shaboz spuckt ins Feuer. „Hier, siehst du Tor? Das ist unsere Festung. Ist aber alt. Haben wir nicht gebaut. Drachen-Leute. Drachen-Morras. Vor langer Zeit. Viele Gänge, bis tief in die Erde, viel kaputt. Unten ist Wasser, ein Fluss in der Erde… frisches Wasser, kein Salz. Wenn man unten ist, hört man Kämpfen. Jede Nacht, manchmal tags. Ist aber noch nicht lange so. Erst seit ihr alle auf die Insel gekommen seid, um Krieg zu machen.“
    Warum denkst du, dass es Geister sind?“
    Einer hat gesehen durch ein Loch im Fels. Sieht Orks kämpfen, aber nur Knochen. Leuchten im Dunkeln.“ Shaboz schüttelt sich.
    Mit wem haben sie gekämpft?“
    Hat Morra nicht gesehen. War dunkel. Sieht nur Knochen, die leuchten. Orkknochen.“
    Jetzt ist es Xhutuboc, der ins Feuer spuckt.
    Kann ich mit dem reden, der die Geister gesehen hat?“
    Wenn du nach Kampf mit Xhutuboc noch lebst morgen...“
    Was ist mit: jetzt? Wollt ihr nicht, dass das Kämpfen aufhört?“
    Nein. Chef sagt, du kommst nicht in die Festung.“
    Wer ist euer Chef?“
    Aber da schnalzt Xhutuboc zweimal mit der Zunge an den Zähnen, und Shaboz sagt nichts mehr.
    Was ist, hat er Angst vor mir, euer Chef?“ Jaru lacht.
    Du bestimmst nicht, was hier passiert, Morra.“ sagt Xhutuboc.
    Nein. Und du bestimmst nicht, was ich mache.“ Jaru erhebt sich. „Ich habe keinen Streit mit dir, Xhutuboc, und Shaboz, mit dir auch nicht. Ich werde nicht mit euch kämpfen. Und ich gehe jetzt.“
    Jaru steht auf, geht ein paar Schritte vom Lagerfeuer weg – und ist verschwunden.
    Die beiden Orks schreien und springen auf. Aber sie sind geblendet und sehen Jaru nicht.
    Er hat mehrere Dinge gleichzeitig getan. Er hat sich das Schattenläuferfell übergezogen, und einen Feuerwerkskörper geworfen, der blitzt und knattert. Und er hat einen Tarnzauber verwendet. Außerdem ist er nicht zu den Felsen zurück gelaufen, wie die beiden es vielleicht erwarten, sondern zwischen ein paar große Steine, und dann rechtwinklig dazu. Dort kauert er sich hin und wartet. Er will wissen, ob Xhutuboc ihn auch orten kann, wenn er es aktiv verhindert. Jaru leert seinen Geist. Er sieht die zwei nicht an. Stattdessen schärft er sein Gehör.
    Xhutuboc verstreut das Feuerholz, nimmt sein Bier und löscht das Feuer. Und dann ist es eine ganze Weile sehr leise, man hört noch nicht mal Grillen oder Vögel, nur das leise Zischen vom Bier auf der Glut.
    Irgendwann nimmt Jaru links von sich ein sehr leises Scharren wahr. Er verstärkt die Leere, atmet sehr langsam. Er kann Xhutuboc spüren, der keine drei Meter von Jaru entfernt über ihm aufragt und den Kopf hin- und her bewegt. Und dann geht er weiter.
    Jaru ist erleichtert, aber er beherrscht auch dieses Gefühl. Er wartet noch eine ganze Weile und dann schleicht er sehr leise in die Richtung vom Feuer weg. Er umgeht den großen Felsen weitläufig, bis er wieder an die Spalte kommt und dann wieder zum Felsen zurück. Er findet die Freunde, sie wachen und warten. „Wo ist Elwo?“ will er wissen. „Er hat uns Bescheid gesagt und geht zur Rubin zurück. Er will die Orks holen.“
    Jaru nickt. Eine gute Entscheidung.


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    Am Strand

    Jaru ist innerlich sehr unruhig. Die Wahrheit ist, dass ihn Xhutuboc so beunruhigt. Den hat er überrumpelt, aber der wird nicht aufgeben. Der wird die Nacht nutzen, um den Ausgleich zu erzielen. Und er ist fähig, zäh, hellsichtig, ein Elitekrieger. Er wird überall suchen, vielleicht auch nach dem Schiff, mit dem sie gekommen sind, vielleicht mit einem Trupp… und er kennt das Gelände besser als Jaru. Xhutuboc weiß nun, dass Jaru irgendwann zur Festung zurückkommen muss, weil er da Gero vermutet. War es richtig, ihm das zu sagen? Jaru überprüft sein Handeln. Doch, es war richtig. Hätten die Piraten vermutet, dass er Jörg sucht, hätten sie ihn nicht einfach mit den Orks am Feuer sitzen lassen. Shaboz muss also so etwas gesagt haben wie: da ist nur ein Krieger, der einen vermissten Bruder sucht… vielleicht noch nicht mal seinen Namen. Und deshalb wollte er auch nicht, dass Jaru die Festung betritt. Damit er nicht erkannt wird. Also muss jemand in der Festung sein, der ihn kennt. Ombhau‘ ist auf der Alca, Ganjouk in der Hauptstadt, also wer könnte das sein?
    Wenn die Festung so weit verzweigt ist, wie Shaboz erzählt hat, ist es nicht wahrscheinlich, dass es noch einen Eingang gibt? Aber die Piraten wären verrückt, wenn sie nicht auch danach gesucht hätten.
    Jaru denkt plötzlich, dass Ombhau‘ dumm ist. Weil er jemand wie Xhutuboc nicht zu einem seiner Hauptleute gemacht hat. Einen Hauptmann lässt man nicht mit einem Kumpel vor der Tür kampieren. Es wird ihm klar, dass Ombhau‘ Xhutuboc falsche Versprechungen gemacht hat und ihn hinhält. Deshalb auch das mangelnde Interesse der beiden, Jaru so verpfeifen, dass die ganze Piratenbande kommt und ihn gefangen nimmt. Deshalb der Zweikampf. Xhutuboc will seine eigene Truppe hochziehen und wollte mit ihm, Jaru beginnen. Deshalb hat er auch die Rune weitergegeben. Er wird also alleine kommen. Aber das macht ihn umso gefährlicher. Denn einen Trupp hätten sie kommen hören.
    Dann durchfährt es Jaru siedend heiß, dass er einen Fehler gemacht hat. Als Xhutuboc von der Elster gesprochen hat, hätte er nachfragen müssen, sich dumm stellen. Aber er hat gezeigt, dass er über die Elster informiert ist. Und das heißt auch, dass Xhutuboc doch weiß, dass er nach Jörg suchen könnte. Aber Shaboz weiß das wahrscheinlich nicht.
    Und dann erschrickt Jaru nochmal, als ihm bewusst wird, dass die ganze Gruppe Piraten vielleicht nicht freiwillig zurückgeblieben ist. Dass sie vielleicht Ausgesetzte sind – mit Jörg oder ohne – und dann wollen sie vor allem eins: ein Schiff. Jaru weckt Karitha und Kerem. Er weiß jetzt, was Xhutuboc machen wird. Und alle Piraten. Sie müssen so schnell es geht zurück zur Küste, um die Rubin zu verteidigen. Ihm ist jetzt auch egal, wie viel Geräusch ihr Aufbruch erzeugt.
    Passt auf die Spalte auf – aber rennt so schnell ihr könnt!“


    Und Jaru sieht schon von Weitem, dass er Recht hatte. Am Strand, vor dem die Rubin liegt, brennen Feuer, und die Piraten versuchen, das Schiff zu beschießen. Ein paar haben begonnen, im ersten Morgenlicht ein Floß zu bauen. Jaru erinnert sich erleichtert, dass Xhutuboc nicht schwimmen kann. Wo ist er überhaupt. Aber Shaboz…
    In dem Moment schnappt die Falle zu. Es waren nicht alle Piraten, die Jaru am Strand gesehen hat. Die tauchen nun rechts und links hinter Felsen auf, eine ganze Reihe, fünfzehn bis zwanzig Leute. Mit Bögen, Armbrüsten, Donnerbüchsen… und zwischen ihnen steht Thorus, neben ihm Xhutuboc.


    Ich habe dir gesagt, dass du heute gegen mich kämpfen wirst, Morra. Du gegen mich – ein Zweikampf – oder du und deine Freunde, ihr sterbt alle drei.“
    Machst du dich jetzt mit Mördern und Dieben gemein?“ schreit Jaru zurück. „Da steht er, der Schiffswachen im Schlaf ermordet hat, um eine Galeere zu stehlen.“
    Wenn es Wachen waren, warum haben sie dann geschlafen?“ fragt Xhutuboc. „Hör auf zu reden, und zieh‘ deine Waffe.“


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    Nachtwind

    Jaru ist gelegentlich seines Sieges sicher in Kämpfe gezogen. Heute ist das nicht so. Die Wahrheit ist, dass er Xhutuboc fürchtet. Seine Schnelligkeit, seine Instinkte, seine Härte... Und eine weitere Tatsache kommt hinzu: dass Jaru schlecht ausgerüstet ist. Seine Rüstung, das Schwert, seine Orkaxt – das alles hat Jaru entweder beim Absturz verloren – oder es ist von Ombhau einbehalten worden, selbst die meisten seiner Runen. Er trägt also immer noch nur die Feuersteinklinge, die ihm Ombhau‘ gelassen hat – und die Blitzrune. Das sind beides keine Duellwaffen. Es ist aber auch so, dass Jaru nicht viel gekämpft hat in letzter Zeit, zuerst wegen der ständigen Kopfschmerzen und dann, weil es sich einfach nicht ergeben hat, weil er anders gewirkt hat und von seinen Orks umgeben war.
    Ein Fehler, wie sich nun herausstellt.
    Was kann er jetzt noch verändern? Heute ist ein Schicksalstag.
    Und er ist verantwortlich für die Leute, die er mit hierher gebracht hat. Sollen sie auch Xhutubocs Sklaven werden?
    Nicht, solange er lebt.

    Er zieht die Blitzrune. „Ich spiele nicht, Xhutuboc.“ Und pfeift nach dem Raben.


    Vielleicht hat Xhutuboc etwas anderes erwartet. Jaru sieht, wie sein Gesicht zuckt. Doch dann hat er schon sein Schwert gezogen und rast auf ihn zu. Er weiß, dass er nur überleben kann, wenn er Jaru beim Zaubern unterbricht. Aber noch trennen sie viele Schritte. Der Strand ist uneben, steinig. Jaru zögert es noch einen Moment hinaus. Als er dem Zauber schließlich Raum gibt, leuchtet er grell auf, blendet alle Umstehenden, und schlägt bei Xhutuboc ein wie eine Ramme. Der große graue Ork kracht in die Knie, Blitze zucken über seine Rüstung. Jaru hat ihn mitten auf die Brust getroffen. Es riecht verbrannt. Doch dann, niemand hält das für möglich, doch Xhutuboc springt einfach auf und rast weiter. Er lässt Jaru keine Zeit für eine zweite Entladung. Sein scharfes Schwert kommt in großem Schwung auf Jaru herunter, geführt mit der ganzen Kraft, und dem ganzen Gewicht dieses riesigen Widersachers. Jaru schafft es aber, auszuweichen, in dem er von sich aus die Distanz um einen halben Schritt verkürzt. Er taucht unter den erhobenen Arm, und schneidet mit der Feuersteinklinge unter ihm entlang. Xhutuboc brüllt auf.
    Der schwarze Sand kostet das erste Blut. Jaru läuft noch ein paar Meter von Xhutuboc weg, und versucht, den Zauber ein zweites Mal aufzuladen. Aber diesmal bleibt ihm nicht genug Zeit, und der Blitz ist kleiner und bleibt ohne viel Wirkung. Dafür führt Xutuboc das Schwert nun in einem horizontalen Streich. Jaru muss zurückspringen und kann keinen Gegentreffer landen. Sie umkreisen einander lauernd. Einmal versucht Xhutuboc einen kurzen Stich, aber Jaru ist wachsam und weicht aus. Das ist, was Jaru befürchtet hat. Auf diese mittlere Distanz ist die Feuersteinklinge zu kurz. Er muss jetzt entweder in die Todeszone seines Gegners eintreten, oder schnell von ihm wegkommen, um wieder zu zaubern. Er sucht nach einer Finte, einer Ablenkung. Wo ist dieser verdammte Rabe! Jaru liebt seine Extravaganzen zu sehr, als dass er ihm genug beibrächte. Was bin ich bloß für ein Käpt‘n, denkt Jaru, jeder macht bei mir, was er will!
    Aus dem Augenwinkel sieht er plötzlich Thorus. Wie gierig hat dieser sich an den Kampfplatz angenähert. Er will mein Blut riechen, denkt Jaru. Kaum eine Armlänge trennt ihn von der großen Lagerwache. Thorus verfolgt den Kampf mit allen Sinnen, aber sein fehlendes Auge begrenzt seine Wahrnehmung. Zu spät merkt er, dass es Jaru ist, der halb hinter ihn gleitet, ihn ein Stück mitreißt, und ihm beim Gegenschwung die Feuersteinklinge durch die Kehle zieht. Dann stößt Jaru Thorus in Xhutubocs Bahn, entfernt sich noch ein paar Schritte weiter, lädt den Zauber voll auf und lässt ihn ein zweites Mal auf Xhutubocs Brust krachen. Jaru sieht ihn zucken, auf Thorus fallen, während dieser verblutet, doch dann schießen, schneiden, säbeln und stechen alle um ihn her und er kann sich nur von einem Moment auf den anderen verteidigen, es bleibt kein Raum für Pläne oder Hilfe oder Bedauern.
    Plötzlich ist der Rabe wieder da und hackt und krächzt und flattert um Jaru herum. Es ist vielleicht eher der Aberglaube der Piraten, der den Raben schützt, oder Jarus Geschick, jedenfalls ist der Rabe an seiner Seite ein bisschen wie ein Schild und ein bisschen wie eine Fessel. Zwischen all den Kämpfen sieht Jaru, dass nun seine ganze Mannschaft an Land ist und sich mit den Piraten anlegt… aber wen er nicht nicht sieht, das ist Shaboz. „Schwimm zum Schiff zurück und achte auf einen Ork, der schwimmen kann,“ befiehlt er Karitha, als sie seine Bahn kreuzt.


    An die letzten Minuten des Kampfes hat Jaru später keine klare Erinnerung mehr. Sicher erscheint ihm, dass er irgendwann Thorus‘ Axt aufgehoben und einen Mann in der Rüstung der Vengarder geköpft hat. Außerdem findet er später seine Feuersteinklinge neben einer weiteren Sklavenlagerwache mit durchtrennter Kehle. Er hält irgendwann inne, als ein weinender Junge in Lumpen einen Speer wegwirft und vor ihm niederkniet. Er drückt ihm die Axt gegen den Hals, doch dann hebt er den Blick und sieht, dass sie gewonnen haben. Es sind nur noch sechs Piraten übrig, alle entwaffnet, mit erhobenen Händen oder auf dem Boden kauernd. Er bindet dem Jungen die Hände zusammen. Dann sucht er Xhutuboc. Und dieser lebt. Später lässt er ihn aufs Schiff bringen, verbindet seine Brandwunden und versucht, ihn zu heilen. Er schwitzt und murmelt, aber sein großes Herz findet keinen Rhythmus mehr. Als er die Augen öffnet, weiß Jaru, dass es zu letzten Mal sein wird.
    Ich wollte dich so gern in meiner Mannschaft, Nachtwind,“ sagt er ihm zum Abschied und gibt ihm sein Schwert.
    Ich bin nicht Mannschaft, Rabe,“ sagt Xhutuboc und stirbt.


    Von seinen eigenen Leuten haben alle den Kampf überlebt, und dafür ist Jaru sehr dankbar. Er verbringt jedoch noch einige Zeit damit, auch sie zu verbinden und zu heilen. Karitha hat Shaboz daran gehindert, ein Loch in den Rumpf der Rubin zu schlagen. Er hat nun eine dicke Beule auf dem Kopf und Kartha einen Schnitt über die ganze Länge des Oberarms.
    Wingstan und Gowan haben noch am wenigsten abbekommen, dank ihrer Rüstungen.
    Jaru bringt Xhutuboc wieder an Land und lässt die gefangenen Piraten ein Grabmal für ihn aufrichten, oben am Strand, wo selbst bei Sturm die Wellen nicht hingelangen. Er begräbt ihn mit allen seinen Waffen und sorgt dafür, dass die dicksten Steine, die sie bewegen können, im Kreis um sein Grab und darüber aufgestellt werden.
    Die anderen Piraten begraben sie in einer Reihe daneben. Jaru fertigt Zeichnungen an von ihren Gesichtern, ihrem Rüstungen, ihren Waffen und ihrem Schmuck, notiert ihre Namen, soweit die Überlebenden sie kennen. Manche waren wohl unter Namen wie „der Stahlkacker“ oder „Hummerjonges“ bekannt. Dann verteilt er die Beute an seine Mannschaft. Er behält Thorus‘ Axt. Die wird er den Angehörigen der toten Schiffswachen bringen.
    Als es dunkel wird, sind alle ziemlich fertig. Jaru sorgt dafür, dass sie, auch die Gefangenen, ein anständiges Mahl aus den Vorräten der Rubin bekommen. Dann bringt er die Gefangenen vor seine Mannschaft. Sie sollen sagen, ob sie mit ihm fahren oder auf der Insel bleiben wollen. Alle wollen bleiben, bis auf Shaboz und den Jungen mit dem Speer, der sich Jaru ergeben hat. Er heißt Akasha und schwört Jaru Treue „bis das Ewige Eis schmilzt“.
    Shaboz schwört nichts. Jaru wird ihn anders für sich gewinnen müssen als mit Blut und Tod.
    Also bricht er mit Shaboz, Wokkar, S‘zork, Tubuc, Elwo und den vier übrig geblieben Piraten wieder auf. Sowohl Shaboz, als auch Akasha sagen ihm, dass in der alten Festung nur zwei Wachen zurückgeblieben sind. Er hofft, dass sie sich ergeben werden. Über Jörg weiß niemand etwas.

    Geändert von Ajanna (10.07.2021 um 12:57 Uhr)

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    Keine Zeit...

    Jaru und seine Truppe laufen erschöpft neben der Felsspalte entlang, als Jaru plötzlich ein starkes Gefühl der Dringlichkeit überkommt. Es ist so stark, dass es ihm heiß über die Kopfhaut läuft und die Härchen an den Armen aufstellt. Er fühlt sich, als stehe alles, sein ganzes Leben, alle Freude, auf des Messers Schneide.
    Wegen der Verteidigung der Rubin und letztlich, damit seine Mannschaft sicher nach Hause zurückkehren kann, hat er die Suche nach Gero unterbrochen, hat seine Verantwortung als Kapitän über seine tiefsten Herzensangelegenheiten gestellt. Aber was waren das für Kampfgeräusche vor nun bereits vielen Stunden? Es war in der Dämmerung vor fast einem Tag und jetzt hat die die Sonne den Zenit überschritten. Er weiß ja nun, dass zwei untote Orks den Grund des Risses im Gestein heimsuchen. Was heißt das für Gero, wenn er dort ebenfalls gefangen ist? Es wäre unerträglich, wenn Gero stürbe, wo die Rettung doch schon in greifbare Nähe gerückt ist. Aber noch ist Jarus Trupp nicht bei der Piratenfestung, und was ist, wenn die Wachen sie nicht einlassen und er weitere Zeit verliert? Es erscheint Jaru unerträglich, noch eine einzige Stunde länger zu warten.
    Er bleibt abrupt stehen und wirft einen gehetzten Blick um sich herum. Die Umgebung ist eben, grau, wüst, staubig. Nur einzelne Steine und Felsbrocken liegen dazwischen. Links von ihm die Felsspalte, der Rand bröselig, leicht überhängend, völlig instabil. Ihre Tiefe schattig, dunkel, der Grund nicht zu sehen. Man hört das Kreischen der Möwen, und das Sirren von Insekten, die man nicht sieht. Hin und wieder löst sich ein Stein, und man hört ihn mehrfach aufschlagen, bis er in der Tiefe zur Ruhe kommt.
    Sein Trupp hat sich um ihn versammelt, alle tragen sie Seile, sie schwitzen in der Hitze und die Anstrengung des Kampfes sind ihnen noch anzumerken. Einer der gefangenen Piraten humpelt stark. Bei Shaboz‘ Kopfverband beginnt sein Blut, hindurch zu sickern.
    Drei Orks, sechs Menschen außer ihm, davon vier Piraten…
    Ich möchte, dass ihr mir vertraut,“ sagt Jaru. Wokkars Brauen wandern nach oben. Offensichtlich erwartet er nichts Gutes nach dieser Einladung. „Bindet sie,“ sagt Jaru zu seinen Leuten und zeigt mit dem Kinn auf die vier Gefangenen. „Ich stehe zu meinem Wort, dass ich euch freilasse. Aber noch nicht jetzt. Bindet sie alle zusammen, zu einem Paket, aber im Sitzen.“
    Wokkar und Elwo reagieren schnell. Tubuc und S‘zork ergreifen die beiden anderen Gefangenen. Innerhalb kurzer Zeit haben sie Jarus Befehl ausgeführt.
    Shaboz, dich auch, ich vertraue dir noch nicht,“ Jaru nimmt ihm das Seil ab. Shaboz will aufbegehren, aber Jaru lähmt seinen rechten Arm mit einem kurzen Stoß. Auch er wird in das Knäuel gebunden. „S‘zork, Tubuc, ihr seid am Stärksten. Ihr haltet die Gefangenen in dieser Distanz zur Spalte. Wokkar, Elwo, sucht ein paar große Steine. Türmt sie vor den Gefangenen auf. Bewacht die Gefangenen, aber tut ihnen nichts. Passt auf, dass die Seile ihnen nichts abschnüren.“
    Jaru bindet alle anderen Seile zusammen.
    Was machst du da?“ fragt Elwo.
    Sie sind mein Gegengewicht. Ich steige da jetzt runter. Wir haben keine Zeit mehr.“


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