Zitat von
Tjordas
Der Doktor irgnorierte die Sticheleien und Kommentare Akinas von nun an größtenteils, entgegenete ihnen stattdessen immer nur ein kurzes Lächeln. Er fand wohl, dass zu diesem Thema schon genug gesagt war, doch er behielt seine Höflichkeit und Geduld. Anschließend überflog Julian die holografische Einblendung seines offenbar automatisch transkribierten Geständnisses nur wenige Sekunden lang - eigentlich unmöglich, um es wirklich aufzunehmen - setzte dann aber dennoch seinen Zeigefinger auf die Projektion an und setzte seine lockere Unterschrift darunter, während er jedoch nicht seine Hand beobachtete, sondern Akina direkt und mit einem leichten Lächeln ansah.
"Nein, ich denke, das ist alles, was in den Bericht muss. Nur zwischen uns beiden, abseits des Protokolls, möchte ich Sie erneut noch einmal wissen lassen: Ich habe genau das getan, was nötig war. Ich bedauere , dass Sie das momentan noch nicht sehen können", legte er mit einem kurzen Nicken fest, ehe er seine Haltung begradigte und eine relativ gut gelungene, leichte Verbeugung vollführte. Ohne weitere Abschiedworte begab er sich danach an seinen Schreibtisch und begann mit seiner Arbeit, öffnete von dort aus Akina die Eingangstür und überließ es ihr selbst, wann es Zeit war zu gehen. Erst als die Tür hinter ihr einige Sekunden zugeglitten war, erwachte er aus seiner starren Arbeitshaltung, entriegelte eilig die Schreibtischschublade und holte dort die beiden Kameras heraus. Natürlich waren die Aufnahmen darauf bereits auf andere Speichermedien übertragen und vom internen Speicher der Geräte gelöscht worden, doch der Besuch Akinas ließ Julians Gedanken nicht los. Erneut verknüpfte er beide mit seinem Omnitool und ließ einen Digitalschredder über die Speicher der Geräte laufen, um auch die letzten Spuren der Daten mit Einsen und Nullen zu überschreiben - nur um sicherzugehen. Dann legte er beide zurück an ihren eigentlichen Aufbewahrungsort: ein Geräte- und Instrumentenschrank an der Seite des Raumes. Mit beiden Händen schloss er die Flügeltüren und hielt sie eine Weile fest zugedrückt, als könnten sie wieder aufspringen und der Inhalt des Schrankes ihn überschütten. Er seufzte kurz, legte seinen Kopf in den Nacken und ließ ihn kreisen. Dann lockerte er die Schultern und fuhr mit seiner geplanten Arbeit fort.
Im Untergeschoss der Station angelangt begrüßten Julian bereits zwei Soldaten. Er hatte sich mit Ihnen schon vor der Umsiedelung Vandernots in die Schießbahn ein wenig angefreundet, Ihnen hin und wieder ein paar Alkoholverzehrmarken für die Bar zugesteckt oder Ihnen mit Phils Hilfe ein paar zusätzliche Freigänge nach Ithaka im System eingetragen. Anfangs waren es Gefälligkeiten, die Sie als freundliche Geste des neuen Leiters annahmen. Doch je öfter die beiden Wachmänner ungefragt bekamen, was sie wollten, desto öfter fragten sie auch direkter nach etwas, ließen vielleicht nur einen Wunsch im Gespräch fallen, den ihnen der medizinische Leiter mit britischer Höflichkeit sofort erfüllte. Schon bevor die beiden also nun den Eingang zum improvisierten Behandlungsraum Vandernots bewachten, waren sie schrittweise über eine Woche hinweg in Julians Abhängigkeit geraten, der sein Zuckerbrot später auch hin und wieder um einen Peitschenhieb ergänzte - andeutete, drohte, erpresste... und dabei doch immer lächelte. Sie bekamen, was sie wollten - nur wussten beide oft nicht mehr, ob sie es überhaupt wirklich wollten, oder nur fragten, weil sie Angst hatten, was herauskommen würde, wenn dieses fragile und illegale Abhängigkeitsverhältnis bröckelte. So redeten sich die beiden Kameraden ein, sie würden all das wollen, was man ihnen in den letzten Tagen bot: Eingeschleuste Frauen aus Ithaka für eine nächtliche Party auf dem Zimmer. Ein zufällig ungewöhnlich hoch ausfallender Sold, der auf Nachfrage natürlich nur ein Rechnungsfehler zu ihren Gunsten sein konnte. Eine Zahnkostenbehandlung für die in Armut aufgewachsene Nichte auf der Erde, geleistet über den Decknamen eines nicht existenten Wöhltätigkeitsvereins. Aber nie hatten die beiden jemals auch nur eine einzige Gegenleistung erbringen müssen. Auf Nachfrage hatte Julian ihnen stets kurz auf die Schulter geklopft oder abgewinkt und gesagt 'Das kriegen wir schon irgendwann geregelt' - Und Irgendwann war heute.
"Gentlemen", lächelte Julian, als er mit hinter dem Rücken verschränkten Händen vor den beiden stehenblieb und jedem zunickte. Beide erwiderten das Nicken fast synchron, sagten jedoch nichts.
"Wie Sie sicher wissen, wurde über eine Aufsichtspflicht für sämtliche Untersuchungen an Ms Vandernot entschieden. Wissen Sie beide zufällig, ab wann diese gültig ist?", fragte er neutral und unbefangen. Die beiden sahen sich an, woraufhin der Größere für beide antwortete:
"Soweit ich weiß, ab sofort, Doktor. Haben Sie die Mail von Ravi nicht bekommen? Stets zwei Soldaten und ein zusätzlicher Mediziner oder Psychologe neben Ihnen."
"Jaja, weiß ich doch, ich kenne die Regeln. ich kann mich nur wirklich überhaupt nicht mehr erinnern, ab wann diese Regelung gültig war. Ich hätte schwören können, dass sie erst ab 0.00 Uhr in Kraft treten würde. Ich wollte auch noch einmal in der Mail nachsehen, aber es scheint einen Glitch gegeben zu haben. Ein kurzer Serverausfall oder sowas. Zumindest ist die Mail nicht mehr in meinem Postfach. Bei Ihnen vielleicht?"
Die Soldaten sahen sich wieder ungläubig an, woraufhin beide ihre Omnitools prüften und kurz danach erstaunt zu Julian aufsahen.
"Komisch oder?", nahm er Ihnen die Reaktion vorweg, "Einfach verschwunden. Sind Sie beide sicher, dass das ab sofort gelten sollte? Wäre doch unpraktisch. Gerade heute, wo Sie beide Ausgang hätten. Ich habe sogar Gerüchte gehört, dass Lily und Amber heute im Dark Temple tanzen. Es soll sogar ein Platz für sie beide in den Private Booths reserviert worden sein, sagte mir der Besitzer. Keine Ahnung, wem Sie beide das zu verdanken haben, so teuer wie Lily und Amber sind, aber jemand scheint es echt gut mit Ihnen zu meinen. Und da sollen Sie ausgerechnet heute hier bleiben, um eine Routineuntersuchung zu beaufsichtigen, bei der Sie nicht mal wissen, worauf sie eigentlich achten sollen? Zu traurig."
"Jetzt wo Sie's sagen, Dok", setzte der andere nun schluckend an, "Ich könnte auch schwören, da hätte 0:00 Uhr drin gestanden. Und ich mein... der Landgang war ja auch schon eingetragen. Muss ja alles seine Richtigkeit haben, oder?"
Der andere nickte nur zustimmend.
"Na was stehen Sie dann noch hier, wie die Ölgötzen. Um 0:00 Uhr ist doch ohnehin längst Wachablösung, also haben Sie doch bis morgen genug Zeit, um im Temple ein bisschen Dampf abzulassen. Ich mach das hier mit Vandernot schon alleine."
Wie durch einen einprogrammierten Reflex sahen sich beide wieder schwer schluckend an. Der Linke kratzte sich verlegen unter seinem Barrett, der andere deutete mit dem Kopf in Richtung des Korridorausgangs.
Nichteinmal zehn Sekunden später schloss sich die Tür zum Patientenraum hinter Julian und das hallende Gelächter der beiden gut gelaunten Soldaten verstummte hinter der schalldichten Tür. Vandernot lag alleine auf ihrer Liege, die noch geschienten Hände auf ihrem Bauch, während ein wackeliges Gestell ein Comicbuch direkt über ihrer Nase hielt. Etwas erschreckt sah sie zu Julian hinüber.
"Dr. Ward - Ist schon wieder Behandlung?", fragte sie verwirrt, tauchte unter ihrem Buchgestell hervor und setzte sich auf den Rand der Liege auf, versuchte sich dann mit den in steife Carbonfaserhandschuhe gesteckten Händen ihre langen, blonden, leicht lockigen Haare aus dem Gesicht zu streichen - mittelmäßig erfolgreich.
"Ja, Yenny, sieht so aus. Die Werte von vorhin sind besorgniserregend und ich muss angesichts dessen ein paar Folgeexperimente und auch ein paar Messungen durchführen. Wenn sich bewahrheitet, was ich befürchte, müssen wir Sie wohl ab morgen unter Aufsicht untersuchen lassen. Zur Sicherheit der Station. Nicht meine Entscheidung."
"Meine Güte...", äußerte sie mit leiser Stimme betroffen und sah mit zusammengepressten Lippen zu Boden. "Bin ich schon so wahnsinnig?"
"Nein, Yenny, Unsinn", beruhigte er sie mit einfühlsamem Ton und setzte sich neben sie auf die Liege.
"Das ist eine reine Vorsichtsmaßnahme. Sie wissen ja, was hier vom Copiloten angerichtet wurde. Aber der war in einem ganz anderen Zustand als Sie - nur macht das Ganze den Nicht-Medizinern hier natürlich Angst. Und dann lassen wir hier auch noch auf Ihren Wunsch die Kameras und die ganze Elektronik ausschalten - das macht die Leute eben nervös. Aber keine Sorge: Wir bringen Sie wieder in Ordnung. Dazu muss ich nur besser verstehen, was diese Naniten mit Ihnen machen. Ich bin zuversichtlich, da eine Lösung zu finden. Sie müssen nur mitarbeiten, hm? Mit mir an einem Strang ziehen."
Yenny nickte, zunächst betreten, dann zunehmend optimistisch.
"Sie sind der Doktor, schätz ich"
Julian lächelte, sprang dann von seiner Liege auf und klatschte in die Hände.
"Hervorragend! Dann lassen Sie uns keine Zeit verlieren. Sie kennen ja das Prozedere: Erst der Gewebescan", er deutete nach rechts zu der mannshohen Maschine, die einem halbierten, hohlen Zylinder glich. Yenny fiel sofort ihr neugewonnenes Lächeln aus dem Gesicht.
"Ist das wirklich nötig?... Ich meine... Sie wissen ja, ich tu mir schon mit den kleinen Scnannern schwer, aber das große Ding da... Ich weiß nicht, es wurde die letzten Male immer schlimmer. Und letztes Mal war es fast, als würde es mein Gehirn grillen... Müssen wir das machen?"
Julian seufzte betroffen, legte eine Hand auf Yennys Schulter und nickte verständnisvoll.
"Natürlich nicht, Yenny. Verzeihen Sie, dass ich Ihnen soviel zumute. Naja, wir können das natürlich auch mit dem Handscanner machen. Der hat eine viel geringere EM-Strahlung und erzielt bei hautnaher Abtastung genausogute Ergebnisse. Sie müssten sich nur kurz freimachen, dann nehme ich den Gewebescan manuell vor. Es sei denn, das macht Ihnen etwas aus?"
Die Maschinistin zögerte kurz, doch beruhigte sie das warme Lächeln des Briten. Ein kurzer Blick zu der verhassten Maschine am Ende des Raumes besiegelte die Entscheidung.
"Natürlich, Dok. Nichts was die Crew beim Poker nicht schon gesehen hätte oder?"
Sie sprang von der Liege auf und drehte Julian den Rücken zu: Mit einem weißen Patientenkittel bekleidet, war ihr Rücken halb entblößt. Der Kittel war nur am Nacken und an der Taille mit zwei dünnen Bändern zusammengeknotet.
"Sie müssten mir da nur kurz helfen", schmunzelte sie etwas unbeholfen und hob beide Hände an, die weiterhin starr in den Schienen fixiert waren.
"Natürlich", brummte Julian und zog mit seinen behandschuhten Fingern beide Knoten auf.
Wenig später ließ Vandernot den Scan relativ routiniert über sich ergehen, da sie in dem bärtigen Briten mit der warmen Stimme keinerlei Bedrohung sah. Auf einem Podest in der Mitte des Raumes stehend und entkleidet, waren ihre vor der Brust verschränkten Arme die längste Zeit ihre einzige Bedeckung. Zum ersten Mal seit Langem war sie froh über die recht fahle Beleuchtung und die starke Beheizung des improvisierten Raumes, als sie hier so schutzlos stand. Umso glücklicher war sie, dass Julian die Sache sehr professionell anging, sie selten direkt ansah, sondern sich auf das sichelförmige Gerät in seiner Hand konzentrierte, mit dem er ihre Körperstellen langsam Zentimeter für Zentimeter in einem schwebenden Abstand von nur einer Haaresbreite abtastete. Hin und wieder forderte er sie auf, die Haltung zu ändern - schulterbreit oder eng zu stehen, die Arme in T-Pose auszustrecken oder seitlich hinunterzustrecken, während er um sie herumlief wie ein Schneider beim Maßnehmen - wäre Sie dabei nicht nackt gewesen. Doch mit einigen Scherzen oder kurzen Anekdoten lockerte er die Situation stets auf, brachte sie zu einem, wenn auch beschämten Lächeln, und beruhigte sie. Schon bald verspürte sie nicht mehr Scham vor ihrem Arzt, als sie es in einem Badeanzug im Urlaub vor ihren Freunden tun würde. Wenige Minuten später schaltete Julian das Gerät ab, das Yenny nur geringe, kaum spürbare Schmerzen bereitet hatte und resümierte zufrieden: "Fertig", woraufhin Yenny erleichtert seufzte und vom Podest herunter trat, doch sofort ermahnte Julian sie, hielt sie zurück, indem er einen Finger unter ihrem Hals zwischen ihre Schlüsselbeinknochen drückte und schob sie so wieder zurück auf das Podest.
"Der Gewebescan ist fertig. Aber heute brauchen wir noch ein paar weitere Daten, Yenny. Keine Sorge, Sie machen das super", lächelte er erneut. Sie schluckte, versuchte aber ebenfalls zu lächeln. Der Doktor öffnete einen beunruhigenden Aluminiumkoffer auf einem Tisch und nahm eines der dutzenden Kabelbündel darin heraus, an dessen Ende eine Elektrode saß, die er demonstrativ hochhielt.
"Keine Sorge, das tut noch nicht weh. Passive Detektoren, kein aktiver Stromfluss. Wir messen ihre Körperströme bei verschiedenen Stimuli."
Noch während er erklärte, trat er an sie heran und begann, überall an ihrem Körper Saugelektroden anzusetzen. Kaum einen Muskel an ihr ließ er dabei aus.
"Wir müssen sehen, was an Ihrem Nervensystem durch die EM-Felder gereizt wird. Und auch, wie es sich durch die Naniten verändert. Je mehr Sie dabei aushalten, desto besser. Wir brauchen so viele Daten wie möglich", machte er ihr unmissverständlich klar, als er die letzten Elektroden an ihrer Wirbelsäule hinab ansetzte. Dann nahm er ein Elektrodennetz für ihren Kopf zur Hand, stellte sich direkt vor sie, nur wenige Zentimeter zwischen den beiden.
"Kopf nach hinten", lächelte er sie freundlich an, als er das Kommando gab, so dicht an ihr, dass sie seine Zahnpasta und sein Aftershave roch. Sie leistete seinem Befehl folge und warf die Haare nach hinten, legte dann den Kopf in den Nacken, als er ihr das Netz überstülpte.
"Arme auseinander", gab er weitere Kommandos, irgendwo zwischen ärztlicher Autorität und gutem Freund. Sie tat, was er sagte, schluckte jedoch schwer, als er, direkt vor ihr stehend, mit den Armen um ihre Taille herumgriff, um die von unten hinauflaufenden Kabel Paar für Paar mit dem Elektrodennetz zu verbinden. Dabei streckte er den Kopf über ihre Schulter und sah an ihrem Rücken hinab, um zu erkennen, wo er die Stecker anzusetzen hatte.
"Stellen Sie sich einfach vor, Sie tanzen", beruhigte er sie, mit seiner sanften Stimme direkt an ihrem Ohr, als er nach einiger zeit peinlicher Stille ihr Unwohlsein spürte.
"Sie meinen, wie damals auf meinem Abschlussball mit Johnny Stevens?", lächelte sie halb gezwungen und versuchte weiterhin, sich so wenig wie möglich zu bewegen.
"Kommt drauf an", schmunzelte Julian, "Wie sah er denn aus?"
Sie lachte - er blieb halbernst in seiner typisch britischen Manier des trockenen Witzes, bei der man nie genau wusste, welcher Satz ernst gemeint war.
"Schrecklich. Er war der sonderlichste Typ der ganzen Schule - aber in unserem Jahrgang gab es mehr Mädchen als Jungs, also war ich froh, überhaupt einen Tanzpartner abzukriegen, der größer war als ich in High Heels"
Der Doktor legte den Kopf leicht zur Seite und brummte nachdenklich, halb über ihre Geschichte, halb über seine momentane Arbeit, denn er hatte Schwierigkeiten, einen der Stecker mit dem Nackenkabel zu verbinden, ohne dass seine Arme, die um Yenny herumführten, sie berühren sollten. Sie beide waren etwa gleich groß, Julian vielleicht nur wenige Zentimeter größer.
"Hm, ich fürchte, ich wäre dann also bei Ihnen damals auch abgeblitzt - Oder hätte ich auch Heels tragen dürfen?", kommentierte er wieder mit der besagten Trockenheit, woraufhin Yenny albern auflachte, halb aus Verlegenheit über die Situation, doch auch, da ihr sein Humor gefiel.
"Hm, Nein, ich glaube, Sie hätte ich auch so akzeptiert", schmunzelte Sie dann und sah an die Decke, im Versuch, sich selbst etwas abzulenken. Seine Finger fanden unterdessen den Steckverbinder in Yennys Nacken und steckten die letzte Elektrode ein. Dann trat er einen Schritt von ihr zurück, legte die Hände auf ihre Handschienen und drückte die Arme wieder zurück an ihren Körper, um ihr zu signalisieren, dass er fertig war.
"So? Wieso das?", hakte er nach.
"Ihr After Shave riecht auch besser", schmunzelte sie ihn an und zwinkerte sogar kurz.
"Na dann, warten Sie nur, bis Sie meinen Badeschaum riechen", entgegnete er mit einem gespielten Heben der Brauen und brachte sie erneut zum Lachen. Doch dann drehte er sich trotz ihrer Hand, die sich kurz nach ihm ausstreckte, um und ging zu seinem Metallkoffer, aus dem er nach und nach insgesamt sechs Stative herausnahm und sie um Yennys Podest herum positionierte. Auf jedem davon waren kleine Antennen mit Parabolschilden angebracht, die er auf sie ausrichtete. Sie wagte nicht zu fragen, worum es ging. Er steckte die Kabel der Stative in ein kleines, handliches Gerät in seiner Hand und stellte sich in zwei Metern Abstand vor seine Patientin. Dann schaltete er das Gerät ein. Yenny zuckte sogleich zusammen und hielt sich die Stirn.
"Okay, meine Liebe: Das wird nicht einfach, aber je länger Sie durchhalten, desto besser kann ich Ihnen helfen. Bereit?"
Sie wollte zögern, wollte Nein sagen, doch da durchfuhr sie bereits die erste Welle brennenden Schmerzes in ihren Schläfen. Sie wollte zusammensinken, doch Julian forderte sie immer wieder auf, so gerade und regungslos wie möglich stehenzubleiben. Die Schmerzen variierten. Mal waren sie brennend, mal klopfend, mal stechend. Manchmal war es nur ihr Kopf, dann wieder ihre Muskeln, später ihre Haut, ihre Fingerspitzen, ihre Augen. Jede empfindliche Körperstelle, aber auch jede, die sie eigentlich für unempfindlich gehalten hätte, hatte Julian mit seinen Geräten irgendwie ansteuern und in Schmerzen versetzen können. Nach einigen Minuten wollte sie aufgeben, doch ihr Arzt trieb sie weiter an: Erst motvierend, später drohend. Wolle sie etwa sterben? Wolle sie etwa enden wie der Copilot? Wolle sie ihre Familie denn nie wieder sehen? Sie kämpfte. Gerade als sie dachte, die Sache sei bald zu Ende, da Julian nun wohl wirklich jeden Nerv an ihrem Körper zum Brennen gebracht hatte, begann er damit, mit den elektromagnetischen Wellen mehrere Regionen gleichzeitig anzusteuern. Sie weinte schon lange, doch hier begann sie zu schreien. Erst tief und seufzend, dann hochfrequent und schrill. Die schalldichte Kammer schluckte ihre leidvollen Klänge wie ein schwarzes Loch. Ab diesem Punkt hätte sie aufgegeben, doch sie konnte es nicht äußern, denn ihr Mund gehorchte ihr nicht. Sie wollte zusammensacken, doch auch ihre Muskeln weigerten sich, blieben steif, ließen sie unwillkürlich zucken wie eine stümperhaft gespielte Marionette. Sie war im Begriff, das Bewusstsein verlieren, doch irgendein Stich oder Schlag holte sie immer dann zurück, wenn sie aus dem Dasein driften wollte. Dann begann eine Stimme zu ihr zu sprechen - doch es war nicht die von Julian. Das Hier und Jetzt war lange nicht mehr existent für sie. Yenny konnte die Stimme nicht verstehen. Sie war mehr wie ein langes Dröhnen und Brummen und Heulen wie ein gewaltiges, rostiges Stahltor, das sich öffnete. Obwohl ihre Augen geschlossen waren, erschienen ihr schemenhaft Gestalten von Menschen. Erst nach Minuten, ihr kam es vor wie eine Stunde, war es vorbei. In der selben Sekunde, in der das Signal der Stative endete, fiel sie zu Boden wie ein Sack und rutschte, Kopf voraus, vom Podest auf den kalten Paneelboden. Warme Hände umfassten sie kurz darauf. Jemand trug sie. Sie erinnerte sich an ihre Kindheit, als man sie ins Bett trug, wenn sie bei einem Vid engeschlafen war. Ihre Wange schmiegte sich an den Stoff des Oberarms, der sie hielt. Alles war weich nach diesem Nagelbett. Alles war schwerelos nach dieser Bürde. Ihr Körper sank auf ein Polster und sie öffnete die Augen. Sie sah Julian. Sein Blick war ohne Lächeln, ohne Wärme, ohne den quirligen Witz, den er sonst immer und überall ausstrahlte. So sah er ganz anders aus. Er sagte etwas. Sie war sicher, es war eine Entschuldigung, aber sie hörte sie nicht, doch war sie auch nicht nötig. Sie war nicht wütend, wie man es war, wenn jemand Leid zufügte. Ihr Adrenalin - und vielleicht auch irgendein eben verabreichtes Schmerzmittel - ließen sie denken, dass sie glücklich war. Und Julian dankte sie. Sie wusste nicht, wie ihr das alles hätte helfen sollen, doch als sie in seine ernsten graublauen Augen sah, vertraute sie ihm, dass es ihre Rettung sei. Sie streckte die Hand nach seinem Nacken aus. Sie fühlte nichts. Ihr kam die Erkenntnis, dass ihre Hand noch immer geschient - dass sie nicht in irgendeine Art des Körperlosen aufgestiegen war. Ihre Kopfhaut kribbelte wohlig, als Julian ihr das Elektrodennetz vom Kopf zog. Die Totenstille um sie wurde allmählich zu einem Rauschen, das viel zu helle Licht um sie wieder zu den fahlen Lampen, die sie waren. Sie sah zu, wie ihr Arzt die Elektroden vorsichtig von ihren Armen, dann von ihren Beinen ablas, dann von ihrer Bauchdecke und ihrem Solarplexus. Als er nach der Elektrode über ihrer Brust griff, hielt sie seine Hand - oder drückte vielmehr nur mit den starren Handschuhen gegen seine und führte seine Finger auf diese Weise ein Stück hinab. Mit der anderen noch in seinem Nacken zog sie ihn zu sich hinunter. Er wehrte sich nicht. Das Gefühl in ihren Lippen kehrte zurück, als sie seine berührten. Gerade rechtzeitig, als sein Gesicht in ihren Hals versank und er zu ihr auf die Liege stieg, kehrte auch das Gefühl in ihrem Körper zurück. Sie ließ es ihn nicht sofort wissen.
Leena Preston - Sporthalle - Wenige Stunden später
Leena stieß die Hallentür auf. Sie hatte die Nacht über kaum geschlafen und das machte sich in ihrem Gleichgewichtssinn bemerkbar - und auch darin, dass sie eine eigentlich selbstöffnende Glastür mit aller Gewalt aufschieben wollte. Ein Heulen des Türmotors machte ihren Fehler offenbar und leena wich zurück, bis die Tür sich selbst geöffnet hatte.
In der Mitte der Sporthalle stand Akina gerade im Ausfallschritt und machte eine kreisende Bewegung ihres Arms, bevor sie an der hölzernen Übungspuppe einen Schlag landete, der das dumpfe Geräusch des Aufpralls hallend durch den Sportsaal trieb.
"Lieutenant Watabe!", rief Leena ungeduldig, "Ich muss so schnell es geht mit Ihnen sprechen - Es geht um Iiyama!", rief sie ihr zu und klammerte sich dabei an ein Holopad zwischen ihrem Brustkorb und ihren verschränkten Armen. Sie wollte zu Akina hinübersprinten, doch der weiche Mattenboden irritierte sie und so blieb sie am Rand der Halle stehen und wartete, bis Akina zu ihr kam.
"Ms. Watabe. Ich meine: Lieutenant. Ich habe mich, wie versprochen, für Iiyamas Behandlung außerhalb der Isolationshaft eingesetzt. Er beginnt seit seiner Verlegung eine ähnliche EM-Sensitivität zu entwickeln wie Vandernot. Aber anders... ist schwer zu erklären... Ich weiß, Sie sind beschäftigt, aber das könnte wichtiger sein, als es klingt... haben Sie eine Minute?", fragte ise, zugegebenermaßen viel zu spät, als sie an Akina hinuntersah und die Karateuniform ihr zum ersten Mal auffiel.