Hanna betrat das Krankenhaus durch die Tür, durch die die Lebenden hereinkamen. Ihr Weg führte Hanna durch eine volle Eingangshalle, in der allerlei Notfälle auf eine mal mehr und mal weniger rasche Behandlung warteten. Hinter der Anmeldung, die sie mit einstudierten Worten hinter sich ließ, bog sie ab und ging eine sanft abfallende Steigung herunter. Unten angekommen folgte sie dem Gang, den sie schon so oft gegangen war. Das Krankenhaus hier hatte helle Wände, schmucklose Wege in diesem Teil der Etage.
Hanna betrat de gleißend weißen Raum. Es roch extrem stark nach Desinfektionsmittel. Hinter einer Glastür konnte sie einen Turianer erkennen, dem sie zuwinke. Der Mann, das Weiß seiner Kleidung war dasselbe, das die Wände bedeckte, kam zu ihr.
„
Guten Tag, Agent Ilias“, grüßte der Rechtsmediziner. Er hatte eine warme, fast väterliche Stimme.
„
Doc“, sagte Hanna in der Art, die bei ihr eine Begrüßung war. „
Sie haben etwas für mich?“ Der Turianer nickte knapp und bat Hanna in den Raum.
Stella Moreno lag auf einer Barre aus Stahl, in deren Oberfläche münzgroße Löcher gebohrt waren. Das weiße Leichentuch lag zusammengerollt an Stellas Fußende. Sie war nackt, nichts, was ihre Blöße bedeckte. Stella störte es nicht mehr und Hanna und Doktor Cailio waren den Anblick von toter jedweder Spezies gewöhnt. Auf Stellas Haut lag ein hauchdünner Film, wie gehärtete Zuckerglasur. Es war ein Mittel auf der Basis biotischer Verjüngungsmittel. Sie machten eine Kontamination der Leiche unmöglich. Hanna wusste, dass die Polizei früher bei der Beschauung von Leichen durch einen Desinfektionsraum laufen und sich mit allerlei Schutzanzügen wappnen musste. Dieser übergegossene Film machte all das unnötig. Sobald Hanna und der Doc das Zimmer verlassen hatten, würde eine Thermalreinigung jede Art Fremdkörpern unschädlich machen.
Die beiden Lebenden traten an die Tote heran. Hanna betrachtete das Gesicht, das entfernt an eine Wachsfigur erinnerte.
„
Sie haben in Ihren Bericht als mögliche Todesursache Strangulation eingetragen“, rekapitulierte der Doc ohne Unterlage. Er war immer gut vorbereitet, ein Charakterzug, den Hanna sehr an ihm schätzte. Die Blondine nickte zustimmend. Die Male an Stellas Hals deuteten darauf hin, auch wenn ihr klar war, dass dies nur eine von vielen Todesursachen sein konnte. Die Strangulation konnte sowohl ante mortem wie post mortem erfolgt sein. Gerade im Gang-Milieu wurden Leichen zur Abschreckung oder als symbolische Erniedrigung geschändet. Hanna bezweifelte zwar, dass Moreno in einer Gang gewesen war, sie versuchte aber einen möglichst offenen Blick auf die Ermittlungen zu bewahren.
„
Das ist auch meine Einschätzung“, sagte der Turianer. Seine Mittelkralle deutete auf den Hals der Toten. „
Das Zungenbein ist gebrochen. Ich nehme an, dass man sie von Hinten überfallen und erdrosselt hat.“
„
Die Tote trug zum Zeitpunkt Ihres Todes eine Kette. War das das Mordwerkzeug?“
„
Ausgeschlossen. Keine Male von Kettengliedern. Außerdem wäre kaum eine Kette massiv genug, um das zu bewerkstelligen. Die meisten würden einfach reißen.“ Der Turianer zuckte die Achseln, rief seinen digitalen Bericht auf und zeigte ihn Hanna.
„
Ich tippe auf ein Seil, aber ein sehr feines. Möglicherweise auch ein Gürtel, obwohl da die Würgemale anders wären.“
„
Wir haben nichts dergleichen gefunden“, gab Hanna zu bedenken. Der Turianer schaute sie vielsagend an. Der Täter hatte Stella Moreno getötet und das Mordwerkzeug mit sich genommen, den Körper aber im Wissen, dass man ihn entdecken würde, liegen gelassen. Das sprach für Vorsatz, wenn auch nicht für eine geplante Tat. Paradox, dachte Hanna und legte den Kopf schief.
„
Ich habe noch mehr“, sagte der Turianer und zog Hannas Aufmerksamkeit wieder auf sich. „
Meine Untersuchungen zeigen, dass das Opfer eine nicht geringe Menge Drogen im Körper hatte.“
„
Drogen? Welcher Art?“
„
Hauptsächlich Partydrogen, Rückstände von nicht aufgelösten Pillen, vielleicht so ein Roter Sand-Kram. Proben davon sind im Labor. Die genaue Menge kann ich nicht quantifizieren.“
„
War sie Biotikerin?“
„
Darauf weist nichts hin. Wieso?“
„
Nur so ein Gedanke“, sagte Hanna und machte sich im Geiste eine Notiz.
„
War sie high, als es passierte?“
„
Unwahrscheinlich. Sie wäre es aber bald gewesen. Ich denke, dass sie sich die Pillen eingeworfen hat, während sie im Hotelzimmer auf jemanden gewartet hat. Ihren Freund oder…“
„
… oder einen Kunden“, beendete Hanna den Satz und sprach damit die Vermutung des Turianers aus. „
Wie kamen Sie auf die Idee?“
„
Stellen im Vaginalbereich weisen auf mehr oder weniger regelmäßige Penetration durch unterschiedliche Spezies hin.“
„
Alles klar“, sagte Hanna zügig. Sie war nicht scharf darauf, die Unterschiede im Detail dargelegt zu bekommen. „
Ihre Vermutung ist übrigens mit hoher Wahrscheinlichkeit zutreffend, Doc.“ Der Turianer sagte nichts.
„
Sonst noch etwas?“, fragte Hanna.
„
Nein, nichts. Keine fremde DNA unter den Fingernägeln oder Haare. Keine Fingerabdrücke an ihr.“
„
Schande“, knurrte Hanna. „
Danke, Doc. Sagen Sie Bescheid, wenn Sie sonst noch etwas finden.“
„
Mach ich. Eine Auflistung aller Gegenstände, die das Opfer bei sich trug sowie die Art der Drogen in ihrem Körper maile ich Ihnen.“
*
Kruto erwartete Hanna im Büro. Ob nun aus ehrlichem Interesse an dem Fall oder um bei Hanna Gutwetter zu machen, fragte der Turianer sie sobald sie an ihrem Schreibtisch saß und die Mail von Doktor Cailio suchte.
„
Drogen auch noch? Scheiße...“, murmelte Kruto und legte in nachdenklicher Pose die Hand ans Kinn.
„
Wenn sie den Dreck selbst geschluckt hat, ist zumindest der Kontakt zur Szene da.“
„
Ich weiß, was du denkst“, nahm Hanna ihm seine Überlegungen voraus. „
Und es ist möglich. Moreno arbeitet als Nutte, feuert sich die Drogen rein weil sie’s geil findet oder nur so verträgt. Ein Kind aus der Unterschicht feiert mit denen aus der Oberschicht. Der Zugang zu denen ist also auch da. Sie könnte die Drogen also auch verkaufen. Würde Sinn ergeben.“
„
Und jemand bringt sie darum um“, sagte Kruto und ließ das „jemand“ dabei bewusst offen. Hanna nickte. Jemand konnte tatsächlich jedermann sein. Ein unzufriedener Kunde, ein unzufriedener Dealer, selbst die Eltern eines dieser Bonzenkinder, mit denen sie laut den Fotos und Videos auf ihrem Social Media Account Partys feierte, konnten den Mord beauftragt haben, auch wenn Hanna diese Möglichkeit für unwahrscheinlich hielt. Reiche Eltern versuchten die Probleme ihrer reichen Kids meist durch Geld oder Einfluss und nicht durch Gewalt zu lösen. Stellas erratischen Lebensstil würde allerdings zur Kleindealerkarriere passen. Bisher waren das aber nur Vermutungen.
„
Wie läuft es bei deinem Fall?“, fragte Hanna, um die Gesprächspause sich nicht ins Unangenehme ausdehnen zu lassen.
„
Frag nicht!“, sagte der Turianer sofort und hob abwehrend die Hände. „
Ursicu dreht völlig frei. Ruft tausend Leute an und fragt alle genau dieselben Fragen. Es ist Wahnsinn, selbst ihre Tonlage ist absolut identisch. Ich glaube, die Frau ist in Wirklichkeit ein Geth, der C-Sec unterwandert.“
Hanna lachte und Kruto grinste turianisch über seinen gelungenen Witz.
„
Was wollte Rose eigentlich gestern? Also, Detective Peresa’an?“, setzte er nach, da Reaktion seiner Partnerin den Schluss zuließ, dass sie mit dem Kurznamen nichts anfangen konnte. Die Blondine winkte ab.
„
Hat mich etwas zu einem totgeglaubten Cop gefragt. Niall O’Grady.“
„
Sagt mir nichts“, sagte Kruto und schaute Hanna über den Schreibtisch hinweg an.
„
War einer von den Typen, die bei der Kryptogramm-Killer-Sache mit dabei waren.“
„
Krasse Scheiße“, kommentierte der Turianer den Fall als Ganzes. Natürlich waren Gavros und ihre Aktionen auch am Präsidiumsrevier nicht spurlos vorbeigegangen.
„
O’Grady war mit dabei. Hat einen Kollegen verloren und dann seinen Tod vorgetäuscht. Ich hab nun aber gehört, dass er noch lebt und die Info zur Einpflege in die zentrale Datenbank weitergereicht. Peresa’an ist irgendwie drüber gefallen; sie ermittelt in den Tips zu so einem maskierten Heckenschützen mit dem Hang zur Lynchjustiz.“
„
Und jetzt vermutet sie, dass es sich dabei um O’Grady handelt“, antizipierte Kruto. Hanna nickte und sagte: „
Fähigkeiten und Aussehen des Schützen würden zu O’Grady passen. Warum er den Scheiß allerdings machen sollte, weiß ich nicht.“
„
Keine Ahnung. Manche Leute sind einfach kaputt“, schlussfolgerte Kruto pragmatisch. Die Blondine schnalzte zustimmend mit der Zunge. Manche Leute waren das einfach.