Ergebnis 1 bis 6 von 6

Ist Kultur ein menschliches Grundbedürfnis?

  1. #1 Zitieren
    Ritter Avatar von Apfelblau
    Registriert seit
    Sep 2006
    Beiträge
    1.330
    Ich lese seit einigen Monaten wieder eine überregionale Tageszeitung und jede überregionale Zeitung, die etwas auf sich hält, unterhält einen zumindest kleinen Kulturteil.
    Nun wäre eine Diskussion darüber, was der Focus von sich hält, sicher interessant bis amüsant, aber darum soll es hier nicht gehen (Hintergrund: Der Focus muss sparen und man hat sich dort überlegt, dass man auf Kultur ganz gut verzichten kann).

    Im Prinzip hat eigentlich jeder Wirtschaftszweig, egal ob Gastgewerbe oder Veranstaltungsbranche, seit Beginn der temporären Schließungen unablässig darauf hingewiesen, dass der jeweils eigene Zweig nachweislich kein Infektionsherd sei (zu Zeiten, wo die Gesundheitsämter nicht mehr nachvollziehen konnten, wo sich die Leute infizieren). Also müsse man die Einschränkungen sofort aufheben.

    Ich will und kann das sachlich nicht bewerten. Mich befremdet manchmal lediglich der Brustton der Überzeugung und die Arroganz einiger Branchenvertreter.

    Nun, in den letzten Wochen, wo die Öffnungsdiskussionen neue Fahrt aufgenommen haben, sind mir insbesondere im Feuilleton einige irritierende Beiträge aufgefallen.

    Im Feuilleton ist man sich fast geschlossen einig darüber, dass Kultur ein menschliches Grundbedürfnis ist, das zwar dem Essen/Schlafen/usw. nachrangig, aber ganz sicher wichtiger als etwa ein frischer Haarschnitt oder eine Urlaubsreise ist.

    So war sich dann kürzlich auch eine Journalistin nicht zu blöd dafür zu fordern, dass man zugunsten von Museumsöffnungen doch durchaus mal Öffnungszeiten/-tage von z.B. Drogerien opfern könne. Oder man doch bitte die Industrie endlich mal einschränken soll, statt Kultur zu zerstören.
    Bedauerlicherweise sind manche Textautoren auch nicht zimperlich dabei, schrille Wörter wie "Skandal" zu gebrauchen, wenn sie über die Schließungen von Theatern, Museen und Buchhandlungen schreiben.

    Ich denke, dass das Literaturforum hier am ehesten der Ort sein könnte, wo sich Menschen aufhalten, die Kultur, zumindest schon einmal in Form von Büchern, einen gewissen Wert zurechnen.
    Wie seht ihr das?
    Ist Kultur ein Grundbedürfnis?
    Wo steht eurer Meinung nach die Wichtigkeit dieser Branche?
    Was würdest ihr höher/ niedriger in der Wichtigkeit einstufen?
    Dürfen ökonomische Fragen hierbei eine Rolle spielen? (ein Argument der Politik war, dass Kulturbetriebe nur ca 5% der Wirtschaftsleistung ausmachen)
    Apfelblau ist offline

  2. #2 Zitieren
    Legende Avatar von Ajanna
    Registriert seit
    Mar 2020
    Ort
    Hessen
    Beiträge
    7.525
    Ich finde Kultur wichtig. Definitiv wichtiger als Friseure, Nagelstudios, Wettbüros, Spielotheken, Reisen, Elektroautos.
    Aber Breitensport finde ich noch wichtiger, und er hat meiner Meinung auch was mit Kultur zu tun.
    Ajanna ist offline

  3. #3 Zitieren
    Lehrling
    Registriert seit
    Mar 2019
    Beiträge
    15
    Ja, ich denke Kultur ist ziemlich wichtig für die emotionalen Bedürfnisse.
    Wenn man denkt was doch alles unter den Begriff Kunst oder Kultur fällt, dann wird schnell klar, dass die Welt ohne diese Sachen sehr grau, kahl und depressiv wäre.
    Und damit wäre der Gesundheit auch nicht unbedingt genüge getan. Es handelt sich dabei eben eher um mentale Gesundheit. Das ist dann ja auch ein ökonomisches Thema, weil eine kranke Gesellschaft nicht gerade gut für die Wirtschaftsleistung ist.
    Endriago ist offline

  4. #4 Zitieren
    Truhe  Avatar von Salieri
    Registriert seit
    Aug 2007
    Ort
    Braunschweig, NDS
    Beiträge
    2.396
    Das ist eine interessante Fragestellung. Legt man die maslowsche Bedürfnispyramide zu Grunde (von der ich an sich nicht überzeugt bin, die aber hier ganz gut zur Kategorisierung dient), so könnte "Kultur" in gleich drei Kategorien fallen: Soziale, Individual- und Selbstverwirklichungsbedürfnisse. "Kultur" an sich ist allerdings kein Bedürfnis im eigentlichen Sinne, sicherlich aber gibt es kulturelle Bedürfnisse.
    Zur Beantwortung der Frage muss der Begriff "Grundbedürfnis" zunächst definiert werden. Die BpB definiert mithilfe des Dudens wie folgt:
    Bedürfnisse, die befriedigt werden müssen, damit der Mensch sein Überleben sichern kann. [...]
    Duden Wirtschaft von A bis Z: Grundlagenwissen für Schule und Studium, Beruf und Alltag. 6. Aufl. Mannheim: Bibliographisches Institut 2016. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2016.

    Das entspricht im Wesentlichen der einschlägigen Literatur. Moderner ist jedoch die Bezeichnung "Existenzbedürfnis". Die Definition ist im Wesentlichen identisch. Daneben stehen die Luxusbedürfnisse. Gemäß der Definition handelt es sich bei kulturellen Bedürfnissen zwar nicht um Existenzbedürfnisse, aber hier kann durchaus argumentiert werden, ob nicht mindestens die sozialen Aspekte kultureller Bedürfnisse existenziell sind. Es gibt denkbar wenige Studien dazu, da es moralisch nicht vertretbar ist Menschen zu isolieren und zu untersuchen wie sie reagieren. An dieser Stelle fehlt mir leider momentan die Zeit für eine genauere Recherche der Studienlage und der einschlägigen Literatur, allerdings handelt es sich beim Menschen unumstritten um soziale Wesen. Dementsprechend wäre es durchaus denkbar, dass man sozial-kulturelle Bedürfnisse zu den Existenzbedürfnissen zählen könnte, obgleich sie streng genommen nicht der Definition entsprechen. Allerdings müsste zur abschließenden Klärung der Frage auch untersucht werden was physiologisch passiert, wenn ein Mensch keinerlei Sozialkontakte hat. Körperliche Reaktionen darauf würde ich spontan nicht ausschließen wollen.

    Sicherlich eine interessante Idee, der in wissenschaftlichen Untersuchungen nachgegangen werden könnte.
    Was sind das für Zeiten, wo
    Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
    Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
    Aus Bertolt Brechts "An die Nachgeborenen".
    Salieri ist offline

  5. #5 Zitieren
    Ritter Avatar von Apfelblau
    Registriert seit
    Sep 2006
    Beiträge
    1.330
    Vielen Dank für eure Antworten. Ein Dankeschön auch an Salieri für das Aufarbeiten der Bedürfnisse aus definitorischer Sicht.
    Natürlich würde es mich freuen weitere Stimmen zu hören, gerne auch kürzere - so, wie jeder mag. Gerne auch zu einzelnen Punkten.

    In meinen vorläufigen eigenen Überlegungen komme ich auf zwei Betrachtungspunkte:

    Braucht der Mensch Kulter, in welcher Form auch immer, um glücklich, zufrieden oder ausgeglichen zu sein?
    Diese Frage würde ich ganz eindeutig mit "Ja" beantworten und als gut verständliches Beispiel Musik nehmen wollen.
    Unabhängig von Effekten wie dem Genuss von Konzerten oder Festivals, wo die zwischenmenschliche Interaktion und das Event an sich bereits glücklich machende Faktoren sein können, sieht man bei ganz vielen Menschen, welch hohen Stellenwert Musik in ihrem Leben/ Wohlbefinden einnimmt.
    Nähme man den Menschen die Musik, nähme man ihnen ein wesentliches Element.
    Viele würden, wenn sie müssten, nicht auf den Gehörsinn verzichten wollen.

    Man sieht in fast jeder (vielleicht sogar jeder) Kultur auf dieser Welt, dass Musik ein ganz wesentliches Element ist.

    Ist Kultur so wichtig für das Wohlbefinden der Menschen, dass man zu ihrer Gunsten anderes einschränkt?
    Bei dieser Frage werden die Meinungen wahrscheinlich ziemlich weit auseinander gehen.
    Ich möchte behaupten, dass es die allermeisten kein bisschen stört, dass Museen oder Ausstellungen aktuell geschlossen sind.
    Das Theater mag noch mehr Fürsprecher haben, aber auch hier dürften die Aufschreie außerhalb eines bestimmten Klientels kaum noch wahrnehmbar sein.

    Solange der durchschnittliche Mensch Kultur in Form von jederzeit verfügbaren Büchern, Filmen oder Musik konsumieren kann, ist er zufrieden und würde andere Aktivitäten nicht dafür eintauschen wollen.
    "Durchschnittlich" soll hier nichts bewerten, sondern ist im Sinne von "verbreitet" gemeint.

    Mir ist übrigens auch die Idee in den Sinn gekommen, dass alleine der Umstand, dass viele zeichnen, musizieren (oder rhythmische Geräusche machen) oder eigene Texte schreiben, also selbst Kultur produzieren, schon ein Ausdruck von einem Grundbedürfnis ist.
    Apfelblau ist offline

  6. #6 Zitieren
    Legende Avatar von Ajanna
    Registriert seit
    Mar 2020
    Ort
    Hessen
    Beiträge
    7.525
    Ältere Definitionen von Grundbedürfnissen stammen aus Zeiten, in denen der gesellschaftliche Zusammenhang allgegenwärtig war. Heute sind viele Menschen isoliert. Und Menschen sind soziale Wesen, das ist eine Essenz von dem, was sie sind.
    Kultur schafft diesen sozialen Bezug immer wieder neu, auch isolierte Person können so teilhaben am sozialen Leben.
    Die ganze Corona-Politik der Bundesregierung ignoriert das total.
    Ajanna ist offline

Berechtigungen

  • Neue Themen erstellen: Nein
  • Themen beantworten: Nein
  • Anhänge hochladen: Nein
  • Beiträge bearbeiten: Nein
  •