Es war ein goldener Sonntagvormittag im Herbst, an dem Dogan seinen Dienst verrichten musste, und das war Segen und Fluch zugleich: Einerseits waren die Fahrten in der offenen Droschke bei diesem Wetter geradezu herrlich, und der leichte Wind, der seine Nase dabei umspielte, wehte beinahe all seine Sorgen hinfort. Andererseits hätte Dogan diesen schönen Tag umso mehr genießen können, wenn er ihn nicht in seinen Kutscherklamotten von morgens bis abends auf dem Bock hätte verbringen müssen. In diesem Zwiespalt half es ihm nur, sich an die alte Weisheit seiner verstorbenen Mutter zu erinnern: Es gibt nichts mit nur Vorteilen.
Dogan hatte in der Zentrale Bescheid bekommen, dass er heute den ganzen Tag für eine Kundin abgestellt war, die diverse Besorgungen über ganz Vengard verstreut zu tätigen hatte. Einen Namen hatte Dogan nicht bekommen, aber das war nicht unüblich. Er sollte zur alten Villa Vandorn fahren und dort nach einer ältlichen Dame Ausschau halten. Die Tore des Anwesens würden bereits geöffnet sein, damit er direkt vor die Haustüre fahren könne, dort würde die Kundin dann einsteigen, und ab da bestimme sie, wohin zu fahren sei. Dogan hatte den Auftrag mit großem Gleichmut entgegengenommen und sich dann sofort auf den Weg gemacht.
Auf der Hauptstraße war nicht viel los, nur einige wenige Droschkenfahrer kamen ihm entgegen, die Dogan nicht kannte, aber trotzdem grüßte. Die Herbstluft war kühl, aber die Sonnenstrahlen, die ihm direkt ins Gesicht schienen, wärmten ihn ausreichend. Seine Haare wurden vom Fahrtwind durcheinandergewirbelt, aber das machte nichts, er würde später einfach seine Kutschermütze aufsetzen und dann wieder wie frisch aus dem Ei gepellt aussehen. Durch zusammengekniffene Augen – die Sonne blendete ihn ein wenig – sah er bis zum Ende der großen Allee, die aus dem Vengarder Stadtzentrum herausführte. Dort, kurz vor dem Ende der breiten Fahrbahn, an deren Seiten die riesigen Pappeln Spalier standen, zweigte ein kleiner Weg nach rechts ab, der einen grasbewachsenen Hügel hinaufführte, auf dessen Kuppe die Villa Vandorn stand. Je näher Dogan dem Ziel kam, desto steiler schien ihm der Weg, aber sein treuer Gaul zog ohne Murren weiter, selbst als er auf dem Kies kurzzeitig ins Rutschen geriet. Dogan raunte dem Zugtier aufmunternde Worte zu, aber eigentlich war das sinnlos, denn das Pferd war schon seit vielen Jahren taub. Auf dem Vorplatz der Villa umfuhren sie einen runden, außer Betrieb gesetzten Springbrunnen aus Marmor, der früher mal ganz weiß gewesen sein musste, mittlerweile aber von deutlichen Verfallserscheinungen geziert wurde. In seiner Mitte ragte eine Figur empor, ebenfalls aus Marmor und in Gestalt einer Innosikone, wie man sie in kleineren Figürchen zu hunderten auf dem Vengarder Trödelmarkt erstehen konnte. Diese Figur hier erschien gegenüber diesen Billigimitaten aber recht eindrucksvoll, wenn man einmal davon absah, das von der rechten Schulter an bis hinauf zum Kopf ein größeres Stück Marmor herausgebrochen war. Im Brunnen selbst, der lediglich das Regenwasser vom Vortag enthielt, schwammen ein paar einsame Blätter wie kleine Boote auf einem Kanal, und das feuchte Moos an den Brunnenrändern bildete mit etwas Fantasie ein langes Flussufer.
Als sie den Brunnen umkurvt hatten, sah Dogan auch schon die Fahrgästin vor der Villa stehen. Sie trug ein sehr altmodisches, pastellgrünes Kleid und einen dazu passenden Hut und sah vor der großen, weißen Villa geradezu winzig aus. Die Villa, obwohl auch schon vom Zahn der Zeit sichtbar angenagt, war prächtig: Eine große, breite Treppe führte zum Haupthaus hinauf, dessen Eingangstür zwischen zwei riesigen Säulenpaaren lag, die einen Dachbau stützten, der an der Stirnseite figürliche Darstellungen von Engelsboten und dergleichen zierte; darunter ein Wahlspruch in der Alten Sprache, die Dogan aber nie lesen gelernt hatte. Zu den Seiten hin streckten sich zwei flachere Nebenbauten aus, die dem Haus eine beeindruckend symmetrische Gestalt verliehen.
Dogan brachte die Droschke in respektvollem Abstand zur alten Dame zum Stehen.
„Guten Tag“, sagte er, und ihm fiel erst jetzt im Angesicht der Kundin ein, dass er vergessen hatte, seine Mütze aufzusetzen. „Sie hatten einen Fahrer bestellt, für den ganzen Tag?“
Die Dame nickte kaum merklich und setzte sich in Bewegung. Dogan wollte schon absteigen, um sie sicherheitshalber beim Gehen zu stützen und ihr vor allem den Einstieg in die Droschke zu erleichtern, aber mit routinierter Geste gab die Dame ihm zu verstehen, dass sie keine Hilfe benötigte. Ihre Schritte waren klein und langsam, aber fest genug, um sie unfallfrei auf den Fahrgastsitz zu bringen. Als Dogan sich versicherte hatte, dass sie bequem auf der Rückbank Platz gefunden hatte, fragte er: „Wo darf es denn als erstes hingehen?“
„Zum Westfriedhof“, sagte die Dame, so leise, dass ihre Worte nur mithilfe des Windes bis an Dogans Ohr getragen wurden. Dogan nickte, warf einen letzten Blick auf die imposante Villa und zog dann einmal fest an den Zügeln, sodass sie losfuhren, wieder an dem alten Springbrunnen vorbei und den schmalen Weg den Grashügel hinunter.

Mit Rücksicht auf die alte Dame hatte Dogan das Fahrtempo ein kleines bisschen gedrosselt, auch wenn sie ihm keine Anweisung dazu gegeben hatte und auch sonst während der gesamten Fahrt kein Wort sprach. Sie saß, leicht wie sie war, kaum eingesunken auf den dem dicken, schwarzen Polster und hatte die Hände in den Schoß gelegt. Auf Kurvenfahrten, Bremsmanöver oder vorbeifliegende Blätter reagierte sie nicht, sie schaute auch nicht dem Straßenverlauf nach, sondern blickte einfach ins Leere. Selbst, als sie auf die kleine Straße zum Westfriedhof einbogen und dort durch das geöffnete Metallgatter fuhren, regte sie sich nicht, sodass sich Dogan beim Halten auf dem Parkplatz fast schon genötigt fühlte, ihr mitzuteilen, dass sie ihr Ziel nun erreicht hatten. Dann aber erwachte die Dame doch noch aus ihrer Starre, ließ sich auch beim Ausstieg aus der Droschke erneut nicht helfen und machte sich dann ohne ein weiteres Wort oder eine verabschiedende Geste auf den Weg den Hang hinauf zu den oberen Grabreihen.
„Ich warte dann hier auf Sie“, rief Dogan ihr noch halblaut nach, aber auch darauf reagierte die Frau nicht, sondern setzte ihren Weg unbeirrt fort. Sie ging sehr langsam, ihre Stöckelschuhe machten kaum ein Geräusch auf dem herbstfeuchten Pflaster, und die durchaus beachtliche Steigung des Friedhofs in Hanglage schien ihr kaum etwas auszumachen. Ihre kleine schwarze Handtasche, die sie am rechten Unterarm eingehangen hatte, baumelte bei jedem Schritt ein wenig hin und her, aber abgesehen davon schien es, als würde sie mehr schweben denn gehen. Dogan sah ihr noch eine Zeit lang nach, wie sie im Wechselspiel zwischen Licht und Baumschatten den Pfad hinauftaperte, bis sie irgendwann in eine der Grabreihen einbog und schließlich aus dem Blickfeld verschwand. Dogan zuckte mit den Schultern und kletterte vom Fahrerbock, damit er wenigstens nicht den ganzen Tag lang saß. Die Pause konnte er ja nutzen, um seinem kleinen Laster zu frönen.

Im Schatten wurde es bei längerem Warten sehr schnell kühl. Dogan wollte sich gerade schon eine zweite Zigarette anzünden, als er die Dame auf dem gepflasterten Pfad zurückkehren sah. Sie ging gemessenen Schrittes, für eine Frau in ihrem Alter aber auffallend zügig, und ebenso wie der Aufstieg schien ihr auch der Abstieg auf dem blätterbedeckten und daher rutschigen Weg keine großen Schwierigkeiten zu bereiten. Sie hatte einige Zeit auf dem Friedhof verbracht, die sich Dogan wiederum mit Warten, Rauchen und Gedanken an nichts vertrieben hatte, zumindest größtenteils, denn zwischendrin hatte er überlegt, wie er selber eigentlich mal bestattet werden wollte, wenn der liebe Herrgott ihn irgendwann holen würde. Der Friedhof hier strahlte ja ein gewisses Idyll aus: abseits gelegen, vom Wald eingehegt, ruhig und friedlich, zumal am heutigen Tage keine anderen Besucher weit und breit zu sehen waren. Das hatte alles durchaus etwas für sich, aber in Dogans Familie hatte seither jeder die Feuerbestattung gewählt, und die Urnen hatte man nicht in der Erde vergraben, sondern sie wurden traditionell beim ältesten in nächster Linie verwandten Familienmitglied im Hause, und so mussten bereits unzählige Großonkel und Großtanten ihr eingeäschertes Dasein auf irgendwelchen Kaminsimsen fristen. Dogan war das immer etwas lieblos vorgekommen, er hatte es aber bisher nie gewagt, diese Vorgehensweise offen zu kritisieren oder gar zu ändern. Der Blick auf den Friedhof, mit seinen verschiedenen Grabsteinen, kunstvoll hergerichteten Blumengestecken und Grablichtern, bestärkten Dogans Zweifel an dieser Familientradition aber sehr deutlich. Nur eines, das trug er sicher und unverrückbar mit sich bis ans Ende seines Lebens, denn das hatten alle Familienmitglieder immer wieder betont: Lass dich später bloß verbrennen, wir wollen das auch, dann ist es wenigstens sicher, dass man tot ist und man wird nicht lebendig begraben. Das, so fand Dogan, klang zu vernünftig, um es anders zu handhaben. Beim Rest aber würde er noch genau überlegen, und so Innos wollte, hatte er dafür ja noch viele Jahre Zeit.
Seine Fahrgästin war mittlerweile wieder unten bei der Droschke angekommen. Er nickte ihr zu, und vielleicht nickte sie sogar zurück, aber ganz sicher war Dogan sich nicht. Ihm fiel auf, dass ihr Kleid an den Beinen ein paar Flecke abbekommen hatte, ganz offensichtlich von feuchter Erde, und als die Dame wieder in die Droschke einstieg und dabei die Haltegriffe umklammerte, sah er, wie ein oder sogar mehrere ihre Fingernägel ganz dunkel vor Dreck geworden waren. Dogan fühlte sich ein wenig peinlich berührt, weil er der Dame nicht vorausschauend Hilfe bei der Grabpflege angeboten hatte, aber einerseits sprach die Frau ja nicht, und andererseits wurde er für solche Hilfstätigkeiten nicht bezahlt, so hart das auch klang. Vermutlich hätte sie seine Hilfe ohnehin abgelehnt, und deshalb entschied Dogan, die Sache auch im Nachhinein nicht mehr anzusprechen. Er stieg auf den Bock auf, setzte nun auch endlich seine Mütze auf und schaute über die Schulter. „Wohin darf’s als nächstes gehen?“
„Zum Nordfriedhof“, sagte die Frau, leise wispernd wie Blättergeraschel. Dogan nickte und setzte die Droschke in Bewegung.

Der Nordfriedhof war vergleichsweise plan und ebenerdig, und so hatte die alte Dame erst recht keine Mühe, den Weg zu den Gräbern zurückzulegen. Der Friedhof war als großes Gräberfeld angeordnet, ähnlich denen für Kriegsgefallene, aber die einzelnen Reihen waren abgetrennt durch Hecken und Bäume, vorzugsweise Eschen, und so verlor Dogan seine Auftraggeberin auch hier sehr schnell aus dem Blick. Wieder hatte Dogan das Gefühl, dass sie hier, wie schon auf dem Westfriedhof, die einzigen Menschenseelen waren, zumindest die einzigen lebenden, und bis auf ein bisschen Vogelgezwitscher herrschte auf diesem Friedhof die sprichwörtliche Totenstille in Reinform. Auch auf der Straße war es selbst für einen Sonntagmittag äußerst ruhig gewesen. Es schien, als hätten alle Vengarder in stiller Übereinkunft entschieden, ihre Geschäfte und Anstandsbesuche heute ruhen zu lassen und sich in ihren Häusern zu verkriechen. Dogan war das nur recht, es hatte die Fahrt auf dem Außenring Vengards hin zum Norden sehr entspannt gemacht. Wie auf der ersten Strecke war seine Fahrgästin auch diesmal sehr ruhig gewesen. Lediglich ein oder zweimal hatte Dogan das Gefühl, dass sie etwas gesagt, gemurmelt oder geseufzt hatte, es war ein Geräusch gewesen, wie wenn irgendwo angesammelte Luft aus einer Öffnung entwich. Als Dogan daraufhin beim Fahren vorsichtig über die Schulter geschaut hatte, war die alte Dame aber wie schon die ganze Zeit zuvor nur dagesessen, die Hände in den Schoß gelegt, den Blick starr auf nichts gerichtet. Vermutlich war das Geräusch also eher von der Droschke gekommen. Zum Glück war für nächste Woche eine Generalüberholung angesagt, bis dahin würde das Gespann ja sicherlich noch durchhalten.
Diesmal kehrte die alte Dame schneller zurück, sodass Dogan sich beeilen musste, seine Zigarette noch zu Ende zu rauchen. Als die Frau bei ihm angekommen war, schnippte er den Stummel dann einfach weg und auf den Boden, und erwartete aus Gewohnheit und Erfahrung mit vielen anderen Fahrgästen eine typisch altdamenhafte Ermahnung, aber seine Fahrgästin sagte wieder nichts und schritt nur stumm an ihm vorbei und stieg in die Droschke. Dogan sah dabei, dass sie nun noch mehr Flecken an ihrem Kleid trug und dieses am unteren Ende ganz nass und durchtränkt war, wie, als sei ihr bei der Grabpflege eine volle Gießkanne entglitten oder umgefallen. Als er selbst den Fahrersitz bestieg, beugte er sich unter dem Vorwand, etwas an den Wagenrädern überprüfen zu wollen, nach hinten, und warf dabei heimlich einen Blick auf die Hände der Frau. Sie waren nun deutlich von Erde und Matsch verschmiert, und unter einigen Fingernägeln glaubte er Spuren verkrusteten Blutes zu sehen. Da die Frau ansonsten aber voll beisammen und unverletzt schien, sagte Dogan nichts. Offenbar traute sich die Dame die eigenhändige Grabpflege noch zu, da wollte er keinesfalls übergriffig werden und ihr in ihre Angelegenheiten hineinreden. Es geziemte sich für einen Fahrer nicht, zu neugierig zu sein.
„Wohin als nächstes?“
„Zum Ostfriedhof.“

Der Ostfriedhof war ein kleiner Friedhof, relativ überschaubar und nur von wenigen hohen Trennhecken durchzogen, dabei nicht allzu verwinkelt und auf den durchweg gepflasterten Wegen überall gut begehbar. Dennoch dauerte es eine Weile, bis die alte Dame zurückkehrte, wenn auch nicht besonders lang; auch seiner Gesundheit wegen hatte Dogan sich noch keine Zigarette angezündet, als er sich schon wieder abfahrbereit machen konnte. Er war nichtmal von seinem Fahrerbock abgestiegen. Dogan hätte dies aber fast vor Schreck getan, als die alte Dame wieder an der Droschke war, denn sie sah furchtbar aus: Ihre Hände waren von vielen kleinen Wunden versehrt und mit Blutstropfen überzogen, ihre Fingernägel entweder abgebrochen oder in Matsch und Erde versunken; aber am meisten erschrak Dogan über den Anblick ihres Gesichts: Auch dort war sie mit Dreck und Erde beschmiert, und überdies war ihre Lippe aufgeplatzt, sodass sich ein deutlich sichtbares, wenn auch schon fast vollständig eingetrocknetes blutiges Rinnsal ihr Kinn hinunter bis zum Kragen ihres Kleides zog. Ihr schlohweißes Haar klebte an der Seite strähnenweise zusammen, weil auch dort etwas Matsch hineingeraten war.
„Was ist mit Ihnen passiert?“, platzte es aus Dogan heraus, der nun doch noch von seinem Fahrersitz abstieg. „Sind Sie gestürzt?“
„Es ist alles in Ordnung“, murmelte die Dame ohne ihn anzusehen, und machte sich schon wieder daran, in die Droschke einzusteigen.
Dogan machte einen Schritt auf sie zu. „Bei allem Respekt“, sagte er, „aber Sie bluten! Sind Sie sicher, dass Sie keine Hilfe brauchen?“
„Bitte fragen Sie nicht“, sagte die Dame leise und setzte sich mittig auf die Rückbank. „Lassen Sie uns einfach weiterfahren.“ Sie rückte ihren Hut zurecht und zog dann ein paar Tücher aus ihrer geöffneten Handtasche, mit denen sie notdürftig ihre Finger säuberte und auch ihr Gesicht abwischte. Als das Blut an Kinn und Lippe weg war, sah die Wunde schon gar nicht mehr so schlimm aus. Ihr Kleid hingegen würde wohl nie wieder richtig sauber werden, und Dogan konnte nur hoffen, dass der Dreck nicht auf die Sitzpolster abfärbte. Er wollte noch etwas zu der Dame sagen, irgendetwas, einfach um noch einmal sicherzustellen, ob wirklich alles in Ordnung war und sie weiterfahren sollten, aber schließlich entschied er sich dagegen, sie noch einmal anzusprechen. Sie war die Kundin und hatte klar und deutlich ihren Willen geäußert. Sofern keine akuter gesundheitlicher Notfall vorlag, musste Dogan weiterfahren, so waren die Regeln. Bevor er wieder auf den Fahrerbock aufstieg, zog er allerdings noch das schwarze Faltdach der Droschke hoch, bis es der alten Dame auf der Rückbank über den Kopf reichte, und rollte zusätzlich noch die Seitenbahnen aus, sodass seine Fahrgästin in einer Art halboffenem Zelt verschwand. „Falls es anfängt zu regnen“, kommentierte Dogan halb zu sich, halb zur Dame, die aber teilnahmslos blieb, und stieg dann wieder auf den Fahrersitz auf. Unter strahlend blauem Himmel setzten sie die Spazierfahrt fort.

Der letzte Friedhof war der Südfriedhof. Er war von allen Vengarder Friedhöfen der größte und zog sich über ein hügeliges Areal, das vom Friedhofseingang aus nicht vollständig überschaubar war. Entsprechend groß war der Parkplatz, aber auch hier war Dogan wieder ganz alleine, während er auf die Rückkehr der alten Dame wartete. Diesmal hatte er sich sofort nachdem sie losgezogen war eine Zigarette angesteckt, und mittlerweile war er schon bei der dritten angelangt. Unruhig blickte er über die Friedhofshügel, um nach der alten Dame und ihrer Rückkehr Ausschau zu halten, aber auf den verworrenen Friedhofswegen war keine Übersicht zu finden. Der Friedhof war, als hätte ein göttlicher Architekt eine riesige Hand voller Grabsteine, Kreuze, Kapellen und Schreine über die Hügellandschaft ausgestreut und das Ergebnis dann einfach so belassen. Die alte Frau konnte überall sein, und Dogan hoffte nur, dass sie sich auf dem riesigen Friedhof nicht verirrt hatte oder gar Schlimmeres passiert war. Seine Zigarette war schon wieder erloschen, und unwillkürlich griff Dogan in seiner Jackentasche nach der nächsten. Mit Mühe konnte er seine Hand noch zurückziehen, aber Warten konnte er nun nicht mehr. Es war sicherlich schon über eine Stunde seit dem Aufbruch der alten Dame vergangen, und auch wenn die Sonne noch schien, so ging sie um diese Jahreszeit früh und schnell unter. Dogan gab seinem Gaul einen beruhigenden Klaps auf die Flanke und machte sich dann durch das hohe Metalltor auf den Weg ins Friedhofsinnere. Da er nicht wusste, wo genau er suchen wollte, beschloss er, auf dem Hauptweg zu bleiben, so würde er die Dame am ehesten wiederfinden, glaubte er. Das klappte aber nicht lange, denn schon nach kurzer Zeit gabelte sich der Hauptweg in zwei Pfade auf, einer linker Hand, einer rechter Hand. Dogan hatte allerdings Glück im Unglück, denn noch bevor er sich für eine Richtung entschieden hatte, sah er die alte Dame auf dem linken Pfad hinter einer Hecke hervorkommen. Sie war offenbar schon längst auf dem Rückweg gewesen.
Dogans Erleichterung währte nur kurz, denn als die Dame näherkam, sah er, wie es um sie bestellt war: Ihr einst pastellgrünes Kleid war nun völlig in Matsch und dunkelroter Flüssigkeit getränkt, von der Dogan kaum glauben konnte, dass es Blut war – bis er ins Gesicht der Frau sah. Ihr Mund war völlig blutverschmiert, ebenso wie ihr ganzer Kragen, bis an die Haarspitzen reichten die roten und braunen Flecken, und offenbar hatte sie ihren Hut verloren, denn sie trug ihn gar nicht mehr. Ihre Hände waren verschmutzt, aufgeschürft und blutig wie nach sieben Tagen Minenarbeit. All diesen Erscheinungen zum Trotze aber schritt die Dame weiterhin mit gleichmäßigem Gang den Pfad hinab, und auch, als sie Dogan ganz nahe kam, reagierte sie gar nicht auf seine Anwesenheit, als ob sie ihn überhaupt nicht bemerkt hatte.
„Bei Innos, was ist geschehen?“, rief Dogan, aber die Frau ging einfach weiter und an ihm vorbei. „Geht es Ihnen gut? Sie brauchen einen Arzt!“
Die Frau blieb nun stehen, aber sie drehte sich nicht um. Dogan sah, dass die Rückseite ihres Kleides vergleichsweise wenig verschmutzt war. Ihre schwarze Handtasche baumelte noch immer an ihrem Unterarm.
„Ich brauche nichts“, sagte die Dame nur ganz leise. Sie blieb weiter stehen und wandte sich jetzt langsam zu ihm um. Dogan erschauderte beim erneuten Anblick ihres blutverschmierten Gesichts. Als sie den Mund zum Sprechen öffnete, sah er, dass auch ihre Zähne ganz rot und gelb waren, als würde ihr Zahnfleisch heftig bluten. „Sie sollen doch nichts fragen“, sagte sie.
„Aber Sie sind völlig blutverschmiert, das ist von Friedhof zu Friedhof immer schlimmer geworden! Was machen Sie denn eigentlich? Buddeln Sie die Gräber aus und fressen Sie die Leichen?“
Ja!!

~ Ende ~