Sadiye - Die Hand des Südens


Sadiye war ein Sonderfall unter ihren Geschwistern. Als jüngstes Mädchen einer vierzehnköpfigen Familie kamen ihr nicht nur die üblichen häuslichen Pflichten zu, sondern auch der unterste Rang in der Hackordnung. Doch Sadiye beugte sich dieser nicht. Stattdessen nutzte sie alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel, um den drögen Aufgaben des Haushalts zu entgehen: Sie tauschte gestohlene Äpfel und bunten Stoff, den sie von prall gefüllten Ständen auf dem Markt stibitzt hatte, gegen Putzdienst und Wäsche waschen. Am Abend sang sie Schlaflieder für ihre Geschwister. Im engen Schlafzimmer ihrer Brüder und Schwestern kehrte Ruhe ein, sobald sie ihre Stimme erhob. Obgleich es keine harte Ware war, so war dennoch klar, dass die Sympathie, die sie erntete – bei den Jüngeren für das Lied selbst und bei den Älteren dafür, dass die Jüngeren Ruhe gaben – diese Sympathie gab ihr den Spielraum für die vielen kleinen Vereinbarungen, mit denen sie sich ihre Freiheit erstahl. Sadiye war eine Trickserin.

Doch trotz allem Geschick gab es Umstände, denen sie nicht entfliehen konnte. Die Pflicht zur Verhüllung, als sie ihr zwölftes Lebensjahr vollendete. Die Pflicht zum Anstand, durchgesetzt durch ihren strengen Vater und ihre noch strengere Mutter. Letztlich auch die Stellung als Außenseiter, wie sie alle Severim erlebten. Die Sichelküste war ein weltoffener Ort, zumindest, was Handel und Geschäfte betraf, doch in den Köpfen der einfachen Menschen wurzelte das Misstrauen und die unverhohlene Abneigung gegenüber allem Fremden. Eine andere Sprache, Hautfarbe, Kleidung und Religion waren Grund genug sich abzugrenzen und die heruntergekommenen Zustände des Hafenviertels vollendeten das zugeschriebene Bild des schmutzigen Severim. Doch zu Sadiyes eigenem Glück wagte sie sich heraus aus ihren Kreisen. Hinaus in die anderen Teile der Stadtgemeinschaft, heraus aus ihrem regelbestimmten, eigenbrötlerischen Umfeld, hinein in die bunte Stadt von Güldenport. In ihrer Abwesenheit hielten ihre Geschwister dicht – schließlich hatte sie sich ihre Gunst hart erarbeitet. Über die Jahre wandelte sich das Stadtbild, ebenso wie Sadiyes Bekanntschaften. Einige Familien der Severim kamen zu etwas Reichtum, sei es durch Handel, Handwerk oder das Geschäft abseits des Gesetzes. Sie sorgten für Arbeit und Lohn innerhalb ihrer Gemeinschaft und brachen mit dem Stigma der schmutzigen Taugenichtse, mit denen sie manche belegt hatten. In dieser Zeit, in der sie sich im oberen Viertel umtrieb und ihre Diebesfähigkeiten schulte – einmal in gestohlener Kleidung unters Publikum eines Theaterstücks gemischt, ein anderes Mal bei Nacht und Nebel zu Besuch in der Beweiskammer der Richterstube – schloss sie vorsichtige Freundschaften mit anderen Außenseitern. Frauen aus dem Freudenhaus an den Docks, Rausschmeißer aus schmutzigen Spelunken, Hehler, Drogenhändler und Tüftler, die die Werkzeuge herstellten, die Sadiyes Arbeit erleichterten. Alle hatten sie ihre Kreise, suchten sich die Ihresgleichen für ein kleines bisschen Sicherheit oder Rückhalt in schweren Zeiten. Bloß Sadiye gehörte nirgends hin, kannte sie alle und war doch nie eine von ihnen. Sie selbst ließ das nicht zu, war zu sprunghaft und zu beliebig, und man kannte sie unter mehr als einem Dutzend Namen in den verschiedenen Kreisen. Nur ihren Geschwistern blieb sie immer treu.

Ihr Ruf eilte ihr voraus. Die Menschen, die ihre vielen Namen flüsterten, waren bald nicht mehr nur ihre zwielichtigen Leidensgenossen im Hafenviertel, sondern auch die Gutbetuchten, die Hochgeborenen und die Männer von Ordnung und Gesetz. 'Die Hand des Südens' werde gesucht – so stand es auf Plakaten, die bald jede Hausecke Güldenports zierten und es dauerte nicht lange, da verloren Wachkommandant und Stadtrat die Geduld: Mehrere Razzien rüttelten das Hafenviertel auf. Mal des Tages, mal mitten in der Nacht wurden die Menschen aus ihren Häusern gezerrt, zu Geständnis und Aussage gezwungen, ihr Geschäft verwüstet oder man warf sie kurzerhand in den Kerker, wo sie für Tage am Stück im Finstern hungern durften. Sadiyes Hehler traf es, ganz unbeteiligte Kneipen und Freudenhäuser auch, aber vor allem traf die geballte Faust des Gesetzes die einen: Die Severim von Güldenport.

Aus zwölf Geschwistern wurden neun. Von zwei Eltern blieb eine, die Mutter. Ihr Zorn war unendlich und so der ihrer Brüder. Die alte Frau machte ihrer jüngsten Tochter keinen Vorwurf, nein, sie kannte die Schuldigen und sie waren nicht im Kreis der Familie zu finden. Doch Sadiye, flink und gewandt wie sie war, war kein Mensch von Gewalt und Konfrontation. Auch kannte sie die Zwischenwelten von Güldenport besser als der Rest ihrer Familie, schließlich hatte sie sich Zeit ihres Lebens in ihnen bewegt und – so schilderte sie es ihren Brüdern – sie bediene sich eher der Mittel von Raffinesse und Täuschung. Sie beschloss unterzutauchen. Ihre Familie betrat nun auch andere Wege als Dockarbeit und Tagelohn, während Sadiye den ersten 'Zircus Severi' diesseits der Silberstraße, den ersten Zirkus an der Sichelküste, ja, sogar den ersten und einzigen auf dem gesamten Kontinent von Lund gründete. Sie hatte zwar nicht die Tiere und Bestien zur Verfügung, wie sie in den Manegen ihrer Heimat über den Staub tanzten, doch sie hatte ihre eigenen Talente – Akrobatik und die Flinkheit ihrer Finger – und sie hatte ihre vielen Freunde – Musiker, Tänzerinnen, Feuerspucker, Witzfiguren – deren Fähigkeiten sie einzusetzen wusste. Wieder gab sie sich einen neuen Namen: Savessa, der Wüstenwind.

Es war ein Geniestreich: Nacht um Nacht trat sie auf. Dort war sie, die meist gesuchte Severim von Güldenport, im Zentrum der Aufmerksamkeit so vieler Augen. Auch das Bürgertum fand sich bald unter den Zuschauern und Sadiye demonstrierte voll Schadenfreude ihre Geschicke, mit denen sie früher ihre Taschen geleert hatte. 'Die Hand des Südens' verlor an Berühmtheit und 'der Wüstenwind' gewann. Natürlich kitzelte sie es das ein oder andere Mal in den Fingerspitzen die reichen Gäste ihrer schweren Geldbeutel zu erleichtern, doch sie erkannte die Gelegenheit, die ihr Zirkus den Severim als Ganzes bot: Der Zirkus war – ohne Raum für Zweifel, selbst bei den größten Skeptikern – eine Quelle von Prestige. Prestige von großer Tragweite, denn nicht nur öffneten weitere Zirkushäuser in Motterrand, in Sählfurt und Kreuzwege, es wandelte sich sogar das Bild der Severim unter den Bewohnern des Kontinents. Das gemeine Volk und der hohe Stand zugleich besuchten die Vorstellungen. Alle wurden Zeugen der Vielfalt und Kultur der Menschen aus dem fernen Süden und erlernten große Ehrfurcht und Achtung. Aber diese Glückssträhne sollte nicht halten, denn wo das Glück des einen ist, ist auch der Neid des anderen.

Sadiyes Brüder hatten nicht geruht. Im Stillen, in Kellern und dunklen Zimmern hatten sie sich getroffen, eingeschworen und vorbereitet. Auch sie erinnerten sich an die Wurzeln ihrer Vorfahren und übten sich im Handwerk der alten Königswächter, der Assassinen. Sie schärften ihre Klingen, schulten ihre Sinne, stählten ihre Muskeln und als sie bereit waren, zogen sie aus. Sadiye tanzte hoch in ihren Seilen, als sie ihre Brüder sah, wie sie in schwarzen Gewändern mit dunklen Mienen zu ihr aufblickten. Sie standen in der Menge und saßen auf den Rängen. Sadiye hatte schon begriffen, bevor sie es mit ihren eigenen Augen bezeugen musste: Ganz still schwebte sie über der Arena, die Menge hielt den Atem an, wie auch sie jetzt, als die Klingen aufblitzten und Ratsmänner, Richter, Wächter, Kaufmänner, Priester und Adel sich bald in den Pfützen ihres eigenen Blutes wanden.

Sadiye wartete nicht auf den Sturm, der sie zweifelsohne hinwegfegen würde. Sie gab ihr Geld an die, die ihr am nächsten standen und empfahl diesen Menschen ihrem Beispiel zu folgen: Die Flucht zu ergreifen. Doch der tiefe Graben zwischen den Kulturen klaffte weiter auf, als er es jemals gewesen war: Die Kirche, die Rechtsprechung und das gemeine Volk fanden alle ihren Zorn und ihren Neid wieder und eine Serie von Plünderungen, Vertreibungen und Verhaftungen erschütterte die freien Städte der Sichelküste. Überall kannte man den Feind: Die schmutzigen Severim. Sie stehlen dir dein Gold, sie nehmen dir die Arbeit, sie glauben nicht an deine Götter und sie drängen in dein Land. Ganze Viertel brannten. Hunderte starben. Armut war wieder die Norm. Die Südländer waren wieder die Dreckigen, die Nutzlosen, gerade gut genug fürs Warenschleppen aus den reich beladenen Handelsschiffen – für einen mageren Hungerlohn, der sicherstellte, dass sie dort blieben, wo sie so lange gewesen waren: ganz unten.

Doch Sadiye war fort. Sie hatte nicht auf ihr Schicksal gewartet. Zusammen mit ihrem engsten Vertrauten, Kersim, dem Buchhalter ihres Zirkus, hatte sie kurzerhand ihre wichtigsten Habseligkeiten auf einen Karren geladen, ein gutes Lastpferd erstanden und war fort. Sie drangen tief in den Kontinent vor, nur weit weg von der Küste. Die Menschen der Königreiche hier waren zwar nicht unbedingt von der größten Gastfreundschaft geprägt, aber zumindest ohne besonderes Vorurteil, was die Severim betraf. Doch dort konnten sie noch nicht Fuß fassen: Ein Geschäft eröffnen durfte nur ein Bürger des Reiches und die beiden Reisegefährten galten für viele als der Inbegriff eines Fremden.

Also zogen sie weiter, bis sie endlich einen Ort erreichten, der ihnen Obhut versprechen konnte: Die Stadt von Neigenbau im Talkessel, am Rande des Königreichs und am Fuße des Silbergebirges. Wiederum, wie ihre Heimat, eine freie Stadt, geprägt von Handel und Vielfalt. Selbst eine kleine Severimgemeinde gab es dort. Sadiye erwog ihren Zirkus erneut ins Leben zu rufen, doch sie scheute den Trubel, die Aufmerksamkeit und all die Risiken, die große Erfolge mit sich bringen konnten. Zu bitter waren ihre Erfahrungen an der Küste gewesen. Also entschied sie sich für ein anderes Feld von Expertise, welches weitaus weniger Rampenlicht genoss. Schließlich bot Neigenbau ein breites Angebot wohlhabender Bürger, im oberen Viertel am Fuße der Burg und außerhalb der Stadt, wo die Sturmhausanwesen an ihren Südhängen in der Sonne badeten und des Nachts ihre Bewohner sich in Seide betteten. Kersim eröffnete ein Geschäft. Der Ursprung seiner Güter war für die meisten Käufer ein offenes Geheimnis, doch er tauschte heiße Ware nur an abfahrende Händler und nur Unscheinbares verkaufte er über die Ladentheke. Sadiye stellte sich ein oberstes Gebot: Niemand sähe ihr Gesicht und kein Verdacht fiel auf die Severim. Der Frieden, den sie in Neigenbau gefunden hatte, den wollte sie erhalten. Die Armut ihrer Mitmenschen konnte sie lindern, ihren Durst löschen und ihren Hunger stillen. Sie fügte sich ein in ihre Gemeinschaft, übernahm hier und dort Verpflichtungen als Versorgerin und Problemlöserin. Die wenigen, die von ihren Ausflügen wussten, fragten nicht und hielten dicht. Schließlich hatte Sadiye sich ihre Gunst verdient. Doch sollte der Zorn der Herrscher erneut entflammen – sie würde wohl wieder fliehen. Sadiye lebte lieber ungesehen. Sie blieb eine Trickserin. In Neigenbau war sie nur ein Schatten, umsponnen von Gerüchten, aber ohne Namen, nicht als 'Hand des Südens', noch sonst mit einem Titel. Und so würde es bleiben.





Dies ist eine Nebengeschichte zu dem Gesamtwerk Suchende Wurzeln. Sadiye ist eine dort wiederkehrende Figur.
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Suchende Wurzeln
Ein Roman inspiriert und im Stile von Gothic

Viel Spaß, viel Freude!