Portal-Zone Gothic-Zone Gothic II-Zone Gothic 3-Zone Gothic 4-Zone Modifikationen-Zone Download-Zone Foren-Zone RPG-Zone Almanach-Zone Spirit of Gothic

 

Ergebnis 1 bis 2 von 2
  1. Beiträge anzeigen #1 Zitieren
    Deus Avatar von John Irenicus
    Registriert seit
    Feb 2005
    Ort
    Civilization's Dreamy Hideout
    Beiträge
    28.110
     
    John Irenicus ist offline

    Post [Story]Der Tausendsassa

    Der Tausendsassa



    für Eispfötchen


    ~ PDF ~
    Geändert von John Irenicus (14.02.2021 um 15:48 Uhr)

  2. Beiträge anzeigen #2 Zitieren
    Deus Avatar von John Irenicus
    Registriert seit
    Feb 2005
    Ort
    Civilization's Dreamy Hideout
    Beiträge
    28.110
     
    John Irenicus ist offline
    Er hätte es natürlich niemals von sich selbst so gesagt, aber Gravo war ein Mann vieler Talente, ein echter Tausendsassa. Wie einige andere hier im Alten Lager konnte er recht behände mit einem Schwert umgehen, mit dem Bogen umso mehr und mit der Armbrust hätte er in seiner Jugend während der Soldatenausbildung sogar fast einmal einen Schießwettbewerb gewonnen. Er konnte lesen und schreiben, war geschickt mit seinen Fingern beim Nähen und Stopfen, besaß Grundkenntnisse in der Jagd – Schleichen, Fährtenlesen, Zähne ziehen, Felle nehmen, Krallen reißen, Stachel rupfen – und konnte einfache Salben und Tinkturen mixen. Er konnte Messer schleifen und simple Werkzeuge und Pfannen von Grund auf selber schmieden. Als seine Knochen es noch mitgemacht hatten, war er als Akrobat und Tänzer aufgetreten. Von klein auf hatte er das Kochen gelernt, denn als ältestes von insgesamt fünf Kindern hatte er immer den Haushalt schmeißen müssen, wenn seine verwitwete Mutter zur Arbeit in der Feldküche abkommandiert worden war. Später dann, er hatte die für Männer seines Alters vorgeschrieben Soldatenausbildung längst durchlaufen, hatte er sogar eine eigene Küche geleitet, die außerhalb der Öffnungszeiten als Hospital fungierte, in dem man kleinere Wunden behandelte oder einfache Brüche schiente und insbesondere die älteren, armen, alleinstehenden Stadtbewohner verpflegte. Seine Mutter war da schon längst verstorben, zwei seiner Geschwister in der Schlacht um Faring gefallen, seine jüngste Schwester von der Moleratpest dahingerafft und sein einziger noch lebender Bruder auf die schiefe Bahn geraten und in die Vengarder Unterwelt abgetaucht. Bis er, Shrat war sein Name, dann ausgerechnet am heiligen Abend an die Tür des Hospitals geklopft hatte, als längst kein Betrieb mehr gewesen war und sich außer Gravo nur noch diejenigen im Innern aufgehalten hatten, die dort übernachten durften. Shrat war sehr hektisch gewesen und hatte Gravo inständig darum gebeten, ihn nur eine Nacht im Hospital aufzunehmen, schon morgen früh würde er die Stadt verlassen. Gravo war hin- und hergerissen gewesen zwischen ehrlicher Wiedersehensfreude und großer Skepsis, denn obwohl oder gerade weil Shrat nichts über die Gründe seines nächtlichen und sehr eiligen Besuchs gesagt hatte, war es für Gravo offensichtlich gewesen, dass sein Bruder wieder einmal in irgendwelche zwielichtigen Geschichten hineingeraten war. Letzten Endes hatte Gravo seinen Bruder aufgenommen, denn Shrat war sein einziges noch lebendes Familienmitglied, und die brüderliche Hilfe konnte Gravo ihm da wohl kaum ausschlagen. Am nächsten Morgen dann, die Sonne war kaum über den Horizont gestiegen, hatten sie dann vor der Tür gestanden, zwei Männer von der Stadtwache, und hatten nach Shrat gefragt. Gravo hatte die Wachen umgehend in ein zähes Gespräch verwickeln wollen, um seinem Bruder genug Zeit zu geben, seine sieben Sachen zu packen und unauffällig zu verschwinden. Doch Shrat war wie von der Blutfliege gestochen vom ersten Stock aus dem Fenster gesprungen, nur um direkt neben den Wachleuten auf das Pflaster aufzuprallen und sich dabei so zu verletzen, dass seine Flucht sofort beendet gewesen war. Unmittelbar darauf war Shrat festgenommen worden wegen verbotenen Handelns mit Sumpfkraut in einem besonders schweren Fall, und Gravo hatte man als Kollaborateur, Gehilfen, Günstling und hilfsweise wegen Vereitelung der Strafverfolgung angeklagt, alles Tatbestände, für die man in gewöhnlichen Zeiten mit ein paar Tagen Zuchthaus oder einer Geldstrafe belangt worden wäre, doch in Zeiten des zweiten Orkkriegs wurde jeder, der sich eines auch noch so geringen Verbrechens schuldig gemacht hatte, zur Arbeit in den Erzminen von Khorinis gezwungen. So waren Gravo und Shrat schließlich gemeinsam in die Minenkolonie gekommen, doch ihre Wege hatten sich schnell wieder getrennt, denn während Shrat sein Glück anderswo, im kürzlich abgespaltenen Neuen Lager oder notfalls auch im Sumpf hatte suchen wollen, war Gravo bis zum heutigen Tage im Alten Lager geblieben und würde es wohl auch immer bleiben, wenn sie nicht irgendwann durch ein Wunder aus diesem Gefängnis befreit würden.

    ~


    Gravos Hände zitterten. Er schob das auf die Frühlingskühle an diesem späten Nachmittag und das kalte Wasser im Graben, an dem er gerade seine Pfanne auswusch. Er hatte sie, nach einigem Bitten einer der Köche aus der Burg, verliehen, aber leider nicht ganz sauber zurückbekommen. Wiedersehen macht Freude, hatte er dem Burschen, Omid hieß er, noch gesagt, aber dabei war er natürlich davon ausgegangen, dass er die Pfanne dann auch im tadellosen Zustand wiedersehen würde. Gravo war jedoch enttäuscht worden, wieder einmal, denn dass er verliehene Sachen beschädigt, zerstört oder gar nicht zurückbekam, das passierte immer wieder mal, und immer wieder mal beschloss Gravo daraufhin, niemals mehr etwas zu verleihen, bis eben der nächste an ihn herantrat und nach irgendetwas fragte: Hammer, Rasiermesser, Zange; selbst seine Spitzhacke hatte Gravo damals, als er noch regelmäßiger in der Mine gearbeitet hatte, verliehen, und der Buddlerkollege hatte sie noch am selben Tage einfach in einen Minenschacht geschmissen, weil er im Wahn geglaubt hatte, von dort würde eine Rotte Minecrawler heraufkriechen um ihn zu holen. Da hatte Gravo der bittere Verdacht ereilt, dass man Leuten, die sich selber nicht zu helfen in der Lage waren, eben auch nicht wirklich helfen konnte. Eine Konsequenz aus diesem Gedanken zu ziehen fiel ihm jedoch schwer in einer Welt, in der alle wie unbeholfene kleine Brüder waren.
    Gravo trocknete seine Pfanne ab und wollte gerade in seine Hütte unweit vom Graben gehen um ein paar Feuersteine zu holen, als er über die Schulter angesprochen wurde.
    „Hey Gravo, gut, dass ich dich treffe!“
    So fingen die Gespräche mit ihm meistens an. Gravo drehte sich um und erblickte Sharky, einen Taugenichts und Gelegenheitshehler, der immer lange schlief und trotzdem stets aussah wie ein geprügelter Hund. Dass er um diese Zeit nicht in der Mine zum Arbeiten war, wunderte Gravo nicht.
    „Wie will man mich denn auch nicht treffen?“, erwiderte Gravo. „Ich bin doch immer an meiner Hütte.“
    „Hast recht“, sagte Sharky artig. „Du, ich habe da ein mordsmäßiges Problem, bei dem ich vielleicht deine Hilfe bräuchte.“
    Gravo stemmte die Arme in die Seiten, auch, um das Zittern seiner Finger zu unterdrücken. Jeder hier wusste, dass er schon älter war, sein grauer Haarschopf machte das unübersehbar, aber für einen zitterigen Greis wollte er hier im Lager nun nicht gehalten werden.
    „Ich habe so das Gefühl, du brauchst nicht nur vielleicht meine Hilfe, sondern ganz sicher. Was gibt’s denn?“
    „Ja, also“, begann Sharky, der unruhig von einem Bein aufs andere trat, „ich habe Ärger mit Diego, wegen ’nem kleinen Missverständnis. Ich habe nämlich, letzte Nacht, als er gerade nicht in seiner Hütte war, einen kurzen Blick reingeworfen, und naja, ich habe mich schon immer irgendwie gefragt was er wohl in seiner Truhe hat, und da wollte ich einfach mal gucken, aus reiner Neugier, was der gute Diego da so lagert, vielleicht auch, weil ich dann weiß, was ich ihm zu Weihnachten schenken kann und -“
    „Und was? Hör mal, du musst hier nicht das Unschuldslamm spielen, es ist doch klar, dass du Mist gebaut hast. Ich nehme mal an, du hast seine Truhe geknackt, oder?“
    „Naja, das ist so nicht ganz richtig“, wandte Sharky ein, „ich wollte seine Truhe knacken, aber das war gar nicht so einfach, und als mir dann nach einigen Versuchen alle meine Dietriche abgebrochen waren, habe ich einfach den Deckel zertrümmert, war ganz leicht. Naja, und ausgerechnet in dem Moment kommt der Kerl auf einmal zurück, das war überhaupt nicht nach Plan, ich hatte die Nächte zuvor doch ganz genau ausbaldowert, dass er um diese Zeit und noch viel länger immer in dem umgestürzten Turm herumlungert, aber dann stand er auf einmal in der Tür und … naja, kannst du dir ja vorstellen, was dann war.“
    „Was hat er gesagt?“
    „Er war ganz ruhig, sehr ruhig, und hat gesagt, dass Schatten ja nicht umsonst Schatten und nicht Haudrauf heißen, und dass es mit meiner Aufnahme auf lange Sicht eher schlecht aussieht. Dann hat er mich nur noch angestarrt und ich bin schnell stiften gegangen.“
    „Und was soll ich jetzt machen? Ihm eine neue Truhe zimmern, dir das Schlösserknacken beibringen, oder … ?“
    „Das wird nicht nötig sein“, sagte Sharky. „Ich dachte nur, weil du ja einige Kontakte hier hast und Diego sicher gut kennst, ihr wohnt ja quasi direkt nebeneinander, dass du, also, vielleicht ein gutes Wort bei ihm für mich einlegen könntest?“
    „Ach so“, sagte Gravo und zog die Augenbrauen hoch. „Und was soll ich bei ihm jetzt Gutes über dich sagen? 'Mach dir nichts draus, Diego, du wolltest doch eh schon seit langem ’ne neue Truhe'? 'Der Sharky ist eigentlich ein ganz Lieber, wenn der erstmal richtig Schlösser knacken kann, kriegst du das nie mehr mit, wenn er dich beklauen will'?“
    „Na das weiß ich doch auch nicht!“, quengelte Sharky. „Deswegen frage ich ja dich! Wenn ich das alleine könnte, hätte ich es doch schon längst getan.“
    Gravo atmete einmal tief ein und wieder aus. Er fror. Je eher das Gespräch vorbei war, desto besser.
    „Mal angenommen, ich würde dir helfen … was springt für mich dabei raus?“
    „Ach so, du willst …“, begann Sharky stammelnd, brach dann aber zunächst wieder ab und überlegte. „Naja, ich könnte dir … ich bin ja Händler, irgendwo, und wenn ich vielleicht mal wieder etwas Sumpfkraut auftreibe …“
    „Ich rauche nicht.“
    „Ein Fläschchen Reisschnaps?“
    „Ich trinke nicht.“
    „Eine ordentlich durchgebratene Scavengerkeule?“
    „Kochen kann ich selber.“
    „Ein aufrichtiges Danke?“
    Gravo verschränkte mit finsterem Blick die Arme vor der Brust, aber dann brach es aus Sharky hervor.
    „Gravo, bitte, du musst mir helfen, das Alte Lager ist doch meine einzige Chance, ich bin doch den ganzen Tag am Machen und am Tun, dass ich hier endlich aufgenommen werde und nicht mehr in der Mine buddeln muss, es lief doch alles ganz gut und jetzt habe ich einmal einen blöden Fehler gemacht, das ist doch einfach nicht gerecht, wenn mir dadurch jetzt auf einmal alles verbaut ist. Ich bitte dich, du kannst mich doch jetzt nicht einfach so hängen lassen!“
    Gravo bekam Gänsehaut, aber nicht wegen Sharkys Auftritt, sondern wegen der Kälte. Wahrscheinlich half er Sharky auf lange Sicht sogar mehr damit, wenn er ihn nur mal die Konsequenzen seines Handelns spüren ließ, aber andererseits wollte er auch nicht daran Schuld haben, wenn der ausgestoßene Taugenichts eines Tages vor den Palisaden des Lagers gefunden wurde, von Orks erschlagen und von Molerats zerfressen.
    „Also gut“, seufzte Gravo, „ich will sehen, was sich machen lässt. Ich kann dir aber nichts versprechen. Komm morgen wieder, dann sag ich dir, wie es ausgegangen ist. Und bis dahin hältst du dich von Diego fern. Und von allen anderen Leuten im Lager am besten auch. Ist das klar?“
    „Klar wie Kloßbrühe“, sagte Sharky und setzte sein breitestes Grinsen auf. „Danke Gravo, du bist ein echter Kumpel. Das sagen auch alle anderen hier!“
    Ja, genau das befürchte ich nämlich, dachte Gravo, sagte aber weiter nichts. Als Sharky sich von ihm verabschiedete, war die Sonne bereits am Untergehen. Gravo erinnerte sich daran, dass er eigentlich etwas Kochen wollte und dafür seine Feuersteine holen musste, aber auf der Schwelle seiner Hütte blieb er stehen. Bevor er die Sache mit Diego nicht geregelt oder wenigstens angesprochen hatte, würde er den Kopf nicht frei bekommen, da machte er das lieber gleich. Gravo legte also seine Pfanne in der Hütte ab und marschierte dann die kleine Steigung zu Diegos Hütte hinauf, die sich unweit vom Burgtor befand. Der Chef der Schatten saß entspannt auf seiner Bank, guckte in die Ferne und tat so, als bemerkte er Gravo gar nicht.
    „Hör mal, wegen dieser Geschichte mit Sharky …“
    „Hätte ich mir ja denken können, dass er dich in diese Sache reinzieht“, sagte Diego ruhig, während er weiter geradeaus starrte und sich das Gesicht ungerührt von der orangenen Sonne bescheinen ließ.
    „Was hat er dir denn gesagt?“
    „Mir hat er gesagt, er wollte nur gucken.“
    „Nur gucken, ja, genau, der einzige Mann in der Kolonie, der nicht mit den Augen, sondern mit den Händen guckt.“ Diego lenkte seinen Blick jetzt doch noch auf Gravo. Der konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
    „Die Sache ist ja eigentlich klar“, sagte Gravo und hob hilflos die Hände in die Höhe. „Ich hätte dem ja auch sonstwas erzählt, wenn ich den in meiner Hütte an meinen Sachen gefunden hätte.“
    „Ja, du hättest ihn vermutlich gefragt, was er braucht und ihm dann noch beim Suchen geholfen.“ Diego blickte wieder in die Ferne. „An deiner Stelle würde ich ihm nicht helfen. Wenn der so weiter macht, bleibt der hier eh nicht lang. Das ist vergebene Liebesmüh, wenn du mich fragst.“
    „Das kann man vorher alles nie wissen. Und ich sage mal so: Eine kleine Fehltat sollte einem doch wirklich nicht die Karriere als Schatten verbauen. Wir sind hier in einer Verbrecherkolonie, das darfst du nicht vergessen. Eine Ansammlung von Halunken, Betrügern und Dieben. Da kann man es einem doch wohl kaum zur Last legen, wenn er mal stiehlt, oder?“
    „Doch, kann man“, sagte Diego nur. „Ganz davon abgesehen ist der Kerl zu nichts zu gebrauchen, das hab ich schon am ersten Tag gewusst. Gewinner erkennt man am Gang, Verlierer erkennt man am Sturz. Ich muss den Kerl hier im Lager nicht haben, schon gar nicht als Schatten.“
    „Das entscheidest du aber nicht allein, und da bist du doch sonst eigentlich ganz froh drüber“, meinte Gravo. „Gib ihm doch einfach noch eine Chance. Lass ihn Fürsprecher hier im Lager gewinnen. Wenn er das schafft, dann ist er ja offenbar doch zu etwas zu gebrauchen. Wenn er es nicht schafft, dann hattest du eben Recht.“
    „Dann hatte ich Recht und habe ihn trotzdem nicht davon abgehalten, den anderen Leuten hier auf die Nerven zu gehen. Der bringt hier doch nur Unruhe rein.“
    Gravo seufzte und blickte in die Sonne. Die Sonnenuntergänge hier im Alten Lager waren schön, kein Zweifel, aber es war eine fast schon perverse Art und Weise, wenn man hier in diesem Lager voll krimineller Zwangsarbeiter einen Moment der Schönheit erblickte. Aber es gab sie nun einmal, diese Momente.
    „Sag mal Diego, wann hast du eigentlich das letzte Mal gelacht? So richtig gelacht, meine ich.“
    Diego drehte sich wieder zu Gravo und lächelte milde. „Als du damals in die Kolonie geworfen wurdest.“
    Gravo lächelte jetzt auch. „Und sonst?“
    Diego sagte nichts und drehte sich wieder weg. Sie schwiegen eine ganze Weile, bis Gravo eine Idee kam.
    „Wenn ich es noch heute Abend schaffe, dich so richtig zum Lachen zu bringen, dann vergisst du den Vorfall mit Sharky wieder. Einverstanden?“
    Diego schnaubte belustigt auf. „Das ist der dümmste Handel, den man mir je auf ganz Khorinis angeboten hat. Aber ich gehe drauf ein. Dann gib mal dein Bestes. Aber denk dran, ich habe nicht den ganzen Abend Zeit.“

    „… dann guck nicht so wie so ein kackendes Molerat, ich fass’ es nicht!“, grölte Diego und schlug sich dabei die Schenkel wund. „Ganz ehrlich, die davor waren ja auch schon gut, aber der jetzt ist echt ein Kracher!“
    Gravo rang sich ein Lächeln ab. Er hatte jetzt fast eine ganze Stunde lang im Stehen Witze erzählt, erst sehr gute, intelligente, selbst ausgedachte, aber mit dem fortlaufenden Untergang der Sonne war auch das Niveau der Witze immer weiter gesunken, und jetzt, als es im Lager mehr dunkel als hell war, hatte Gravo auf die billigsten Kalauer und Flachwitze ausweichen müssen, bis der letzte davon Diego irgendwie gepackt hatte, völlig aus dem Nichts, dafür dann aber so richtig. Er hätte niemals gedacht, dass eine Person wie Diego, grimmig, gefasst, entschlossen bis zur Überlebensgröße, von Witzchen über fickende Wildschweine und kackende Molerats so sehr erheitert werden konnte, aber es war ja nunmal offenkundig, dass der Chef der Schatten gerade eine gute Zeit hatte wie schon lange nicht mehr.
    „Alles klar, Gravo“, jauchzte Diego und wischte sich eine Träne aus dem Gesicht, „ich muss jetzt los. Vielen Dank für die kleine Vorstellung.“
    Diego stand von seiner Bank auf, seinen Bogen geschultert, und marschierte im Fackellicht des Lagers los.
    „Und die Sache mit Sharky geht jetzt klar?“, rief Gravo ihm noch schnell hinterher.
    „Alles vergessen, kannst du ihm sagen“, lachte Diego zurück, ohne sich umzudrehen. „Vielleicht guckt er dann ja auch wie so ein kackendes Molerat!“
    Kurz darauf war der Schatten in der Dunkelheit verschwunden. Gravo schüttelte den Kopf. Ein paar der umstehenden Schatten und Buddler hatten das ganze Schauspiel mitverfolgt und wussten offensichtlich nicht, was sie dazu noch sagen sollten. Gravo wusste es auch nicht. Deshalb ging er zurück zu seiner Hütte. Für seine Verhältnisse war es schon recht spät und kochen wollte er nun auch nichts mehr. In seinem kleinen bescheidenen Wohnraum angekommen, stopfte er sich bloß ein Stück Käse in den Mund und trank einen Becher Milch, bevor er noch eine halbe Stunde lang seine gymnastischen Übungen machte und schließlich bei Kerzenlicht noch ein bisschen im Sammelband Myrtanas Lyrik schmökerte, um sich von seinen eigenen peinlichen Ergüssen zu erholen.

    ~


    Am nächsten Morgen hatte Gravo Husten. Er stand immer früh auf, aber jetzt trieb ihn sein eigenes Gebelle noch vor dem Sonnenaufgang aus dem Bett. Das bisschen medizinisches Wissen, das er sich in seiner Vergangenheit angeeignet hatte, schloss zwar mehr oder weniger aus, dass sein Husten allein von der Abendkälte kam, in der Gravo gestern bis spät in den Abend noch den Spaßmacher für Diego gegeben hatte. Aber wenn man jahrelang in der Mine gearbeitet hatte, dann setzte sich einiges an Staub in der Lunge ab, wovon man den groben, sichtbaren Teil zwar aushustete, aber der unsichtbare, unscheinbare Teil blieb irgendwo stecken, und das konnte nicht gesund sein. Gravo hatte schon vor einiger Zeit bemerkt, dass ihn die Minenarbeit immer stärker ermüdete, obwohl er eigentlich noch einen recht drahtigen und kräftigen Körper hatte, und ungefähr ein, zwei Tage nach einem Minenbesuch hielt dieser Husten in ihm Einzug, der dann noch einmal ebenso lange blieb. Gravos letztes Mal in der Mine war aber viel länger her, und dass er nun trotzdem auf einmal zu husten anfing, bestätigte seine Sorge, dass seine Bronchien über die Jahre nun schon so weit waren, dass sie sich gar nicht mehr vollständig erholten und auf die geringsten Reizungen empfindlich reagierten. Wenn er gekonnt hätte, dann hätte Gravo seine Minenarbeit längst noch weiter reduziert oder ganz eingestellt, aber auch er brauchte etwas zum Leben, und die paar Krumen, die er an guten Tagen für seine Hilfe bei Reperaturarbeiten, kleineren Wehwehchen oder sonstigen Problemen bekam, reichten dafür nicht aus. Oft genug hatte er seinen Bittstellern daher erklärt, dass auch er selbst versorgt sein müsse, denn mit Hunger half es sich nicht gut, aber Gravo wusste, dass seine vorsichtigen Bitten ja nur ins Leere laufen konnten: Die meisten Leute hier waren eben doch nur Dreckssäcke, und wer keiner war, der war hier von Natur aus arm und brauchte gerade deshalb Hilfe, weil er sie sich eigentlich nicht leisten konnte. Pack ’nem nackten Mann in die Tasche, was du findest, darfst du behalten, war einer der Lieblingssprüche seines Ausbilders in der Armee gewesen, und auch wenn der Kerl sonst nur Mist von sich gegeben hatte, an diesem Spruch war etwas Wahres dran, und er hatte Gravo über Jahrzehnte seines Lebens begleitet.
    Als Gravo sich angezogen hatte und mit Waschzeug unterm Arm aus seiner Hütte trat, sah er schon den nächsten nackten Mann auf ihn lauern.
    „Gravo, gut, dass du schon wach bist!“, sagte Sharky. Der Buddler trat aus dem Halbdunkel hervor und wirkte in seinem ganzen Gebaren sehr verschwörerisch, aber auch ein bisschen hektisch und atemlos, als hätten sie beide sich zu einer Nacht-und-Nebel-Aktion verabredet, zu der er fünf Minuten zu spät erschienen war. „Du musst mir helfen.“
    „Ja, das habe ich mir schon gedacht“, sagte Gravo tonlos. „Dabei hast du dich noch gar nicht für meine Hilfe mit Diego bedankt.“
    „Echt, du hast mit ihm gesprochen?“ Sharky war nun aufgeregt wie ein Kind vor Heiligabend. „Was hat er gesagt?“
    „Gelacht“, antwortete Gravo. „Er hat vor allem gelacht. Die Sache ist jedenfalls erledigt.“
    „Ich wusste, ich kann mich auf dich verlassen!“, rief Sharky begeistert aus und ließ nun alles verschwörerisches Gehabe hinter sich. „Normalerweise heißt es ja, verlass dich auf jemanden, und du bist verlassen, aber ich werde jetzt jedem sagen: Verlass dich auf Gravo, und dir wird geholfen!“
    „Ich glaube, das wird nicht nötig sein.“ Im zarten Licht der ersten Sonnenfunken an diesem Morgen deutete Gravo auf den Wassergraben. „Ich wollte mich eigentlich gerade waschen. Kann ich …?“
    „Ja klar, aber warte doch noch ganz kurz, du musst mir nämlich nochmal helfen.“
    „Müssen“, sagte Gravo, „müssen muss ich schonmal gar nichts.“
    „So ist es doch auch gar nicht gemeint!“, sagte Sharky nun wieder sehr hektisch. „Ich meinte, es wäre toll, wenn du mir nochmal so gut helfen könntest, wenn das bei Diego auch schon so gut geklappt hat. Ich habe halt wirklich eine ganz schöne Pechsträhne gerade, von einem Fettnäpfchen ins andere, haste Scheiße am Fuß, haste Scheiße am Fuß, sag ich mal. Ich kann da wirklich nichts zu, aber durch eine Verkettung unglücklicher Umstände habe ich schon wieder mit jemandem Ärger, und da dachte ich mir, du könntest …“
    „Mit wem?“, unterbrach Gravo.
    „Also, natürlich nur, wenn du Zeit hast, aber ich glaube, diesmal hängt wirklich meine ganze Karriere im Lager daran, wenn nicht sogar mein Leben, und -“
    „Mit wem?“
    Sharky druckste erst ein wenig herum, bevor er mit der Sprache herausrückte. „Mit Thorus.“
    „Thorus!“, rief Gravo ungläubig aus und wendete einen kleinen Hustenanfall nur mit Mühe ab.
    „Psst, doch nicht so laut!“, zischte Sharky. „Er könnte gerade in der Nähe sein!“
    „Wie hast du es denn geschafft, es dir mit ihm zu verscherzen? Der Kerl spricht doch für gewöhnlich nicht einmal mit Buddlern.“
    „Naja, wie gesagt, das war eine Verkettung ungünstiger Umstände …“
    „Bisher hast du noch nicht viel gesagt. Ich würde mich gerne noch waschen, bevor die Sonne ganz aufgegangen ist, also los jetzt: Was ist passiert?“
    „Naja, also ich hatte mir überlegt, ich werde vielleicht mal bei den Magiern in der Burg vorstellig, weil ich gehört habe, dass die immer mal irgendwelche Laufburschen und Boten brauchen, und dass die ihre Kuriere auch großzügig belohnen, und vor allem, dass das einem Respekt im Lager einbringt, wenn man einen guten Draht zu den Magiern hat.“
    „Ahja.“
    „Ja, das Problem ist nur, ich komme ja nicht in die Burg, solange ich nicht genug Respekt hier habe, um bei den Schatten aufgenommen zu werden. An der Stelle biss sich die Katze also so ein bisschen selbst in den Schwanz. Also habe ich mir gedacht, dass ich mit Thorus vielleicht verhandeln kann.“
    „Und, hat’s geklappt?“
    „Naja, um ehrlich zu sein, nicht so wirklich, dabei hatte ich mir vorher richtig viel überlegt, was ich Thorus sagen könnte, um ihn von mir zu überzeugen, aber das wollte er alles gar nicht hören, und er ist dann auch schon ziemlich ärgerlich geworden. Ich dachte mir also, vielleicht muss ich seine Erlaubnis auch gar nicht haben, sondern es reicht, wenn ich sie rückwirkend bekomme, denn wenn mich die Magier erst einmal zu ihrem Boten gemacht haben, dann muss Thorus mich ja schließlich durchlassen, oder? Also dachte ich mir, ich renne, denn das kann ich, aber das hat ihm gar nicht gefallen und den beiden Torwachen hinter ihm auch nicht. Und als ich dann auch noch meine Waffe gezogen habe, um seine Hilfswächter abzulenken, gab’s erst richtig Stress!“
    Gravo vergrub sein Gesicht in den Händen und schüttelte sachte den Kopf. „Hast du Prügel bezogen?“, fragte er dann nach einer Weile.
    „Ein bisschen schon.“
    „Gut“, sagte Gravo und nahm die Hände wieder vom Gesicht. „Hast du dir verdient.“
    „Aber du musst mir helfen!“, bettelte Sharky nun wieder. „Ich meine, du hast deine Hütte hier doch ganz in der Nähe von Thorus, da seid ihr doch sicher gut miteinander, da muss sich doch was machen lassen.“
    „Ich kenne Thorus gut“, sagte Gravo. „Und mit den meisten Leuten bin ich hier gut miteinander, und mittlerweile frage ich mich, warum ich diese guten Beziehungen damals nicht genutzt habe, um einfach Schatten oder Gardist zu werden, denn dann würde ich jetzt nicht hier stehen.“
    „Aber dann könntest du mir jetzt ja nicht helfen!“
    „Ja, eben.“
    „Du meinst …?“, stammelte Sharky, wusste aber offenbar nicht, was er noch sagen wollte und wartete einfach auf den Moment, in dem Gravo mal wieder umfiel, denn ja, Gravo stand hier mit allen ganz gut, aber das vermutlich auch deshalb, weil sie alle seine Schwächen so gut kannten.
    Gravo seufzte. „Was soll ich Thorus denn sagen?“
    „Naja …“ Sharky kratzte sich am Hinterkopf als wollte er von dort Ideen pflücken. „Wenn du ihm vielleicht erklärst, dass das alles nur ein Missverständnis war …“
    „Ich befürchte, Thorus hat das alles schon ganz richtig verstanden.“
    „Aber irgendwas muss dir doch einfallen, bei Diego hat es doch auch so gut geklappt! Bitte, Gravo! Sieh es mal so: Die ganze Mühe, die du dir mit Diego gemacht hast, die wäre jetzt doch ganz umsonst gewesen, wenn Thorus mich aus dem Lager wirft oder noch Schlimmeres mit mir macht! Es ist ja wirklich nur noch dieses eine Mal, wirklich! Und wenn ich irgendwann mal selber Schatten bin, dann kennst du mich und ich dich, ich werde dich nicht vergessen, und dann lege ich ein gutes Wort für dich ein und hole dich in die Burg. Abgemacht?“
    „Was auch immer“, sagte Gravo kraftlos. „Pass auf, ich kann dir nichts versprechen, außer, dass ich mit Thorus reden will, wenn er Zeit und Lust hat. Komm am Mittag wieder bei meiner Hütte vorbei, bis dahin sollte ich mit ihm gesprochen haben und kann dir sagen, was Sache ist.“
    „Alles klar, danke“, sagte Sharky und machte schon kehrt um zu gehen.
    „Und bis dahin machst du nicht noch mehr Scheiße, kapiert?“, rief Gravo ihm noch hinterher. Der Buddler hob die Hand zum Signal, dass er Gravo gehört hatte, und verschwand dann irgendwann wieder im Halbdunkel. Gravo verbat sich jeden weiteren Kommentar, auch sich selbst gegenüber. Jetzt würde er sich erstmal waschen und dann frühstücken, bevor er sich mit Thorus um irgendwelche Taugenichtse stritt.

    „Nee, also den Zahn kannste dir ziehen lassen“, sagte Thorus, die Arme wie zwei Baumstämme in die Hüfte gestemmt und die berüstete Brust nach vorne hin ausgestreckt. „Wer hier vor meinen Wachen die Waffe erhebt, der hat die längste Zeit im Lager gelebt. Sag ihm lieber, dass er seine sieben Sachen packen soll und bis morgen hier raus ist, sonst packe ich sie für ihn.“
    Gravo atmete einmal tief ein. Die Diskussion lief wirklich gar nicht gut. Er hatte Thorus zwar dazu gebracht, etwas anderes als nur einsilbige Antworten von sich zu geben, aber das half auch noch nichts. Gravo fühlte sich stellvertretend für Sharky vom Torwächter geschulmeistert, und dass die zwei Wachkollegen hinter ihm um die Wette feixten, machte es nicht besser. Gravo war froh, dass er dieses Gespräch immerhin nicht mit leerem Magen führen musste – und das brachte ihn auf eine Idee.
    „Sag mal, Thorus, macht das ganze Rumstehen nicht hungrig? Isst du eigentlich auch mal was?“
    Thorus lachte kehlig auf. „Was soll das denn jetzt werden? Willst du mich bestechen?“
    „Sagt der, der auch schonmal jemanden für eintausend Erzbrocken in die Burg gelassen hat“, kommentierte Gravo und sah mit Freude, wie Thorus mit finsterer Miene die Arme verschränkte, wie um sich vor dem Vorwurf zu schützen. „Ganz abgesehen davon könnte man das bei jedem Handel sagen. Besticht der Käufer den Verkäufer, wenn er auf dem Marktplatz etwas von ihm erwirbt? Besteche ich euch Gardisten, wenn ich mich für euch in die Mine schleppe und dann von meinem hart erarbeiteten Lohn direkt wieder Schutzgeld abdrücke? Bestechen wir den König, wenn wir ihm Erz im Austausch gegen Waren schicken? Vielleicht auch, aber wen kümmert’s denn? Ich mache dir nur ein Angebot, das ist doch alles.“
    „Und was soll das für ein Angebot sein? Ich brauche keine Mutti, die mir was zu essen macht, das kann ich auch selber. Außerdem brauche ich nicht viel.“
    „Die meisten Leute brauchen hier nicht viel, anders lässt es sich in der Kolonie auch schlecht leben, wenn man nicht gerade Erzbaron ist. Aber es geht ja nicht darum, was du brauchst, sondern was du willst. Du hast mir doch schon mehrmals erzählt, dass du den üblichen Fraß hier einfach nur fad findest. Fleisch fad, Wurst fad, Käse fad, Pilze fad, alles fad. Ich weiß schon, was du meinst. Wie wäre es denn mal, wenn ich dir ein Gericht aus deiner Heimat koche?“
    „Ha, meinst du, das Essen in Trelis war so viel besser? Da gab’s doch auch nur jeden zweiten Tag geschissene Pilze.“
    „Nein, nein, ich meine nicht Trelis. Ich meine da, wo du wirklich herkommst. Du wirst dich vielleicht nicht erinnern, aber ich habe dir bestimmt schonmal erzählt, dass ich, lang ist’s her, erst in einer Küche gearbeitet und dann selbst eine geleitet habe, und in dieser Zeit habe ich mit vielen Köchen zusammengearbeitet, darunter auch mit einem von Torgaan. Da habe ich mir schon das ein oder andere abgeschaut. Die Küche der Südlichen Inseln ist mir daher nicht fremd. Wenn du willst, kann ich dir ja mal eine kleine Spezialität zaubern.“
    Thorus runzelte die Stirn. Das war ein gutes Zeichen, wusste Gravo. Das hieß, dass der Hüne ernsthaft ins Überlegen kam.
    „Aber was hat das dann mit Sharky zu tun? Er wird doch nicht etwa für mich kochen?“
    „Nein, das nicht“, antwortete Gravo, „das mache schon ich. Aber er wird mir assistieren und er wird die Zutaten bezahlen, wie auch immer er das anstellen will. Und wenn dir das Gericht schmeckt, dann lässt du deinen Groll gegenüber Sharky fahren, einverstanden? Du kannst ihn dann ja immer noch aus dem Lager herausprügeln, sobald er wieder irgendeinen Mist abzieht, nochmal helfe ich ihm nämlich nicht.“
    „Einverstanden“, sagte Thorus mit einem zufriedenen Lächeln. „Ich wollte nur sichergehen, dass nicht er es ist, der kocht. Der Kerl hätte es doch nur fertiggebracht, mich zu vergiften, und das wahrscheinlich sogar noch aus Versehen …“
    „Gut“, schloss Gravo. „Dann kannst du dich schonmal auf ein Abendessen freuen, an das du noch wochenlang voller Wonne zurückdenken wirst!“

    „Ich soll was machen? Zutaten einkaufen? Aber wo soll ich da denn das Erz für herbekommen?“
    „Das ist dann wohl dein Problem“, sagte Gravo, „denn ich selber habe keinen einzigen Erzbrocken, den ich noch entbehren könnte. Es ist, wie es ist. Ich halte mich schon seit längerer Zeit immer nur gerade so über Wasser. Du bist der Jüngere von uns beiden und nebenbei gesagt der, der gerade den Ärger hat. Du wirst dir etwas einfallen lassen müssen. Handel die Händler runter, gib etwas in Zahlung, nimm Kredit auf …“
    „Oh Mann, und ich hatte gehofft, das klappt jetzt alles so am Schnürchen wie bei Diego“, murrte Sharky und rieb sich vorsichtig das rechte Auge. Ein saftiges Veilchen umgab seine Augenhöhle, seine Lippe blutete und sein Kinn sah irgendwie ramponiert aus. Im Gegensatz zu heute früh waren die Folgen seiner unglücklichen Begegnung mit Thorus und seinen Wächtern nun allzu gut zu sehen, jetzt, wo die Mittagssonne schien. Wenn Gravo genauer darüber nachdachte, war er letzten Abend, als er beim Lesen eingeschlafen war, kurz darauf noch einmal wachgeworden, weil es draußen so gepoltert hatte – vermutlich war da Sharky gerade auf den Lagerboden aufgeschlagen, denn Schürfwunden an Händen und Beinen hatte der Kerl außerdem noch.
    „Thorus ist eben eine ganz andere Hausnummer als Diego. Hör mal, ich gebe ja mein Möglichstes, dir zu helfen, und ich habe so das Gefühl, dass ich schon viel mehr für dich getan habe als ich verpflichtet gewesen wäre. Was du jetzt daraus machst, ist deine Sache.“
    Sharky überlegte noch eine Weile, gab dann aber schließlich nach. „Na gut“, sagte er, „was muss ich besorgen?“
    „Ich habe dir schon eine Liste vorbereitet“, sagte Gravo und zog einen zusammengefalteten Zettel aus seiner Hosentasche hervor, aber als er Sharkys Blick sah, sprach dieser Bände.
    „Du kannst gar nicht lesen, oder?“
    Sharky schüttelte den Kopf.
    Gravo seufzte auf und fühlte sich mit einem Mal ganz schwach. Er hatte ja schon immer ein Talent dafür gehabt, sich vornehmlich die hoffnungslosen Fälle ans Bein zu binden, aber mit steigendem Alter fiel es ihm immer schwerer, sowas zu stemmen.
    „Dann werde ich dir sagen, was du besorgen musst, bitte merk dir das gut. Also, zu erst einmal brauche ich einen Bund Steinwurzeln, wirklich so eine ganze Handvoll, lieber zu viel als zu wenig. Und dann …“
    „Was sind denn Steinwurzeln?“, fragte Sharky.
    Gravo ließ die Schultern hängen. Die Gelegenheiten, zu denen er mal so etwas wie einen Mittagsschlaf gehalten hatte, die konnte er wirklich an einer Hand abzählen. Aber heute, da war er sich sicher, heute würde er einen brauchen.

    Ein Klopfen an seinem türlosen Hütteneingang ließ ihn aus dem Halbschlaf aufschrecken. Er hatte wirres Zeug geträumt, wie immer, wenn sein Geist noch nicht müde war vom Tag, er aber trotzdem ein bisschen schlief; es ging dann auf einmal um Schiffskanonen auf den Palisaden des Alten Lagers, um geschmuggelte Reispakete im Orkgebiet, es ging um Konzerte des königlichen Musikkorps irgendwo auf einer Eisbahn in Nordmar. Immerhin Letzteres hatte noch einen gewissen Bezug zur Realität, denn wie Gravo vor ein paar Tagen aufgeschnappt hatte, sollte bald eine Musikgruppe von außerhalb ins Alte Lager kommen um die Buddler zu bespaßen, und er hatte viel darüber nachgedacht, ob er darauf neugierig sein sollte oder eher entsetzt, denn die behelfsmäßige, selten genutzte Bretterbühne des Außenrings lag in Wurfweite und damit auch in Hörweite seiner Hütte.
    Das Klopfen wiederholte sich. „Gravo?“, fragte eine bekannte Stimme. „Ich hab’ die Sachen.“
    „Ist gut“, murmelte Gravo vom Bett aus, setzte sich so schnell auf, dass ihm zunächst ein bisschen schwarz vor Augen wurde und sammelte sich dann so langsam. Sein Kopf fühlte sich an wie in Watte gepackt, er wusste jetzt wieder, warum er sonst keinen Mittagsschlaf hielt, denn wenn der zu lang wurde, dann kam er gar nicht mehr richtig bei und war ganz gefangen in der Schläfrigkeit. Es dauerte deshalb noch ein wenig, bis er sich im Halbdunkel seiner Hütte orientiert hatte und seine Sinne halbwegs beieinander hatte. Dann trat er nach draußen in die pralle Mittagssonne, in der Sharky im respektvollen Abstand zum Hütteneingang gewartet hatte. Er trug eine zufriedene Miene im Gesicht und einen großen Leinenbeutel über der Schulter.
    „Das sind die Sachen“, sagte er, streifte den Beutel ab und hielt ihn Gravo wie ein Waffenbündel entgegen. „Hat mich ganz schön viel Erz und Nerven gekostet. Es ist vielleicht nicht alles hundertprozentig, aber Dexter hat mir versichert, dass es mit diesen Sachen auch auf alle Fälle geht.“
    „Was soll das heißen, nicht hundertprozentig?“, sagte Gravo ruhig. Seine Knie schlotterten, aber das lag nur daran, dass ihm vom Schlafen noch ein wenig kühl war und die Sonne ihn jetzt langsam aufwärmte. „Was hast du dir denn von Dexter aufschwatzen lassen?“
    „Naja, er hatte zum Beispiel keinen Flammendorn, aber er meinte, Waldbeeren müssten genau so gut gehen.“
    „Ist Dexter jetzt auf einmal Koch, oder was?“, fragte Gravo, während er sich durch den Inhalt des Beutels wühlte und dort noch andere Zutaten sah, aus denen man sicherlich irgendwas machen konnte, aber eher nicht das, was er ursprünglich im Sinn hatte.
    „Naja, nicht direkt, aber ich dachte, so als Händler …“
    „Vergiss es“, sagte Gravo. „Auf den Flammendorn kommt es jetzt nicht wirklich an. Hast du die Steinwurzeln bekommen?“
    „Ja, er hatte noch welche“, bekundete Sharky. „Was er allerdings nicht hatte, das waren Turmeichensamen. Fisk hatte die auch nicht, und einen der Glatzköppe aus dem Sumpf habe ich auch gefragt, aber die sind im Minental wohl einfach nicht zu bekommen. Deshalb habe ich stattdessen Blutbuchensamen gekauft. Das meinten eigentlich alle, dass die im Prinzip genau gleich aussehen.“
    Gravo stieß genervt Luft aus. „Aussehen ja, aber die halten keine hohen Temperaturen aus … naja, wird schon irgendwie gehen. Was ist das hier?“ Er zog ein in Pergament eingeschlagenes, kleines Paket aus dem Leinenbeutel.
    „Das ist Schinken von draußen, vom Schwein, hat Dexter gesagt. War mächtig teuer.“
    Gravo blätterte das Papier ein wenig zur Seite und begutachtete das Fleisch. Es war noch genießbar, sicherlich, aber der Farbe nach hätte das alles sein können, von Schwein bis Kuh bis Wanze.
    „Ist das so in Ordnung?“, fragte Sharky nach einer Weile unsicher.
    Gravo schaute von den Untiefen des Leinenbeutels auf. „Das wird sich zeigen“, sagte er. „Ich gebe mein Bestes. Letzten Endes ist es dein Risiko. Aber es wird schon werden.“
    „Okay.“ Sharky stand noch ein wenig herum wie bestellt und nicht abgeholt, bis Gravo ihn erlöste.
    „Du kannst jetzt gehen.“

    „Nee, es geht einfach nicht“, befand Gravo leicht verbiestert, während er die aufgequollenen Höllenpilze in der Pfanne hin und her wälzte. Sie hatten die Flüssigkeit aufgesogen, die die Waldbeeren abgegeben hatten. Mit der eigentlichen Zutat, dem Flammendorn, wäre das nicht passiert, und so musste Gravo improvisieren, wie er überhaupt von Zutat Eins an am Improvisieren war. Das dubiose Fleisch, das Sharky eingekauft hatte, bereitete wider Erwarten noch am wenigsten Probleme, aber in allen anderen Dingen hangelte sich Gravo nun schon seit Stunden von einer Schwierigkeit zur nächsten und hatte zwischendrin sogar einmal ganz neu angefangen. Die für Thorus eigentlich angestrebte Portionsgröße des Torgaan-Ragouts würde er gewaltig untertreffen, so viel war schon einmal klar, aber im Moment lag Gravos größte Sorge darauf, aus den ihm zur Verfügung stehenden Zutaten überhaupt etwas zu fabrizieren, was nicht danach aussah, als hätte er es sich kurzerhand aus Snafs Kochtopf schöpfen lassen.
    „Jawoll, ich hab’s doch gesagt …“, raunte Gravo missmutig, nachdem er einen Blick in die Pfanne mit den Blutbuchensamen geworfen hatte. Schon bei mittlerer Hitze begannen sie sich aufzulösen, weshalb er die Pfanne erst einmal wieder vom Feuer nahm. Die Steinwurzeln hingegen benötigten große Hitze, um ihre verborgenen, scharfen Aromen freizusetzen, das ging also schon einmal nicht zusammen, aber wenn Gravo ehrlich war, dann tat dass der ganzen Sache auch nicht mehr groß Abbruch, denn von dem Bündel Steinwurzeln, das Sharky ihm gebracht hatte, hatte er sicher die Hälfte aussortieren müssen, weil die Wurzeln schmierig, angegammelt und angefressen waren.
    Gravo rödelte so noch eine ganze Weile herum, hin- und hergerissen zwischen optimistischen Phasen und dem Wunsch zur Aufgabe des Ganzen, bis er schließlich etwas zusammengekocht hatte, das tatsächlich aussah, als sei es von Torgaan gekommen, sechswöchige Anreise inklusive. Er würzte hier und würzte da, schmeckte ab, goss noch ein bisschen seiner privaten Weinreste ins Geköchel hinein und streute ein paar Eichenblätter hinzu, aber es half nichts. Fürs Alte Lager reichte es ganz sicher, für Thorus nur vielleicht, für seine eigenen Ansprüche auf keinen Fall. Glücklicherweise hatte Gravo auch für mittelmäßig gelungene Gerichte noch einen Trick in der Hinterhand, den er damals in seiner Küchenzeit früh zu schätzen gelernt hatte: Was nichts Dolles ist, das mach wenigstens doll scharf. Gravo zögerte zwar noch ein wenig, als er das Säckchen mit dem Roten Tränen-Pfeffer in der Hand hielt, denn er hatte nur noch wenig davon übrig, und das Gewürz war schon damals in Freiheit unglaublich schwer zu kriegen gewesen, da original von den Südlichen Inseln importiert. Für jemanden wie Sharky war das eigentlich eine viel zu große Draufgabe seinerseits. Aber es half ja nichts, dachte Gravo, während er das Säckchen aufzog, denn erstens ging es ja nicht nur um Sharky, sondern auch um Thorus, vor dem er sich nicht blamieren wollte, und zweitens hing er jetzt schon so tief in der Sache drin, dass er nichts mehr unversucht lassen wollte. Man sollte zwar niemals gute Zutaten schlechten Zutaten hinterherwerfen, hatte Gravo gelernt, aber er hatte ebenso gelernt, dass man sein Leben in einer Verbrecherkolonie eben nicht allein mit Küchenweisheiten bestreiten konnte. Gravo ließ eine großzügige Menge Pfeffer ins Ragout rieseln, behielt sich aber noch einen letzten Rest im Säckchen, schnürte dieses zu und verstaute es im Regal über ihm hinter einem Rezeptbuch, das er einmal von Snaf im Gegenzug für einen Gefallen bekommen hatte und dessen einzige interessante Rezeptur die für den Wein des Vergessens war, für dessen Herstellung Gravo das gemeine Syoskraut gebraucht hätte, das hier auf Khorinis aber leider nicht wuchs.
    Gravo ließ das Ragout noch ein wenig im Topf köcheln und probierte dann. Die Konsistenz war ebenso furchtbar wie die Farbgebung, aber es roch erstaunlich gut, und der Geschmack erinnerte nun tatsächlich an die Südlichen Inseln. Gravo stand sofort der Schweiß auf der Stirn, so scharf war es geworden. Das beunruhigte ihn nicht: Er schätzte Thorus sehr sicher als einen Mann ein, der es niemals zugeben würde, wenn ihm ein Essen zu scharf war. Gravo nahm den Topf vom Feuer und suchte schonmal eine Schüssel und einen großen Löffel raus. Das Zittern seiner Hände ignorierte er dabei. Gut zwanzig Minuten noch, dann war Essenszeit.

    „Gravo, ganz ehrlich, das ist fantastisch“, sagte Thorus mit vollem Mund, während er schon den nächsten Löffel auf Anschlag hielt. Der Torwächter saß vor ihm auf dem Boden, wirkte so fröhlich wie schon lange nicht mehr und hatte sogar seine Rüstung etwas gelockert, während er mit einer Hand die dampfende Schüssel umklammerte und mit der anderen löffelte, was das Zeug hielt. Auch er schwitzte beim Essen, hatte zwischendrin sogar mal husten müssen und hatte insbesondere die Würze des Gerichts gelobt, er esse ja gerne scharf und hier im Lager sei ja sonst alles fad. Sein Gesicht leuchtete dabei rötlich wie eine überreife Waldbeere. Gravo konnte nicht ganz einschätzen, ob es Thorus wirklich so gut schmeckte oder ob er nur beweisen wollte, wie scharf er essen konnte, aber wenigstens hatte der Kerl Spaß dabei, und das war ja die Hauptsache. Seine beiden Hilfswächter hinter ihm schauten ab und zu neidisch herüber und bewahrten sich mit soldatischer Strenge vor einem allzu lauten Magenknurren. Es kam nicht alle Tage vor, dass ihr Chef sich direkt vor dem Burgtor zu einem Abendessen niederließ.
    Gravo war auch in die Hocke gegangen, allein schon, um seinen Rücken zu schonen, nachdem er schon den ganzen Tag in seiner improvisierten Hüttenküche gestanden hatte. Er bemerkte dabei, dass er nicht mehr ganz mit der Ferse auf den Boden kam, ohne dabei mit dem Körper nach hinten zu kippen. Früher hatte das noch geklappt, es war die entspannte und gesündeste Art zu sitzen, aber heute ging es nicht mehr. Gravo schob das auf die Minenarbeit, man war dort ja stundenlang dazu gezwungen, völlig unnatürliche Körperbewegungen zu vollführen, mechanisch, monoton, einseitig, das konnte ja keinem Bewegungsapparat gut tun. Mit einigem Grausen dachte er daran, dass er in der kommenden Woche unbedingt mal wieder ein, zwei Schichten in der Mine machen musste, um sich etwas Erz zu verdienen. Thorus konnte er ja schlecht nach einer Bezahlung für das Essen fragen.
    „Hattest du wahrscheinlich viel Arbeit mit, oder?“, fragte der Torwächter zwischen zwei Löffeln.
    „Schon, aber gelernt ist gelernt“, gab Gravo zurück. „Und Sharky hat mir wirklich die ganzen Zutaten besorgt, das war nicht so einfach und auch alles andere als billig.“
    „Ich weiß schon, worauf du hinaus willst“, sagte Thorus kauend. „Habe ich schon verstanden. Abmachung ist Abmachung. Kannst Sharky sagen, dass die Sache vergessen ist, wenn er sich in Zukunft benimmt und sich bloß von mir fernhält. Dann ist das Thema für mich erledigt. Es sei denn natürlich, ich hab morgen früh schlimmen Durchfall, ich glaube nämlich, das hier brennt zweimal!“ Er wischte sich mit einem Tuch die Schweißperlen von der Stirn und lachte. Der sonst so grimmige Mann schien gerade völlig mit sich und der Welt im Reinen.
    Gravo beobachtete das Schauspiel noch bis Thorus fertiggegessen hatte, ließ sich noch einmal für das Gericht loben und nahm dann die benutzte Schüssel wieder mit in seine Hütte. Der Abend war mittlerweile wieder weit fortgeschritten, es wurde kühl, Gravo fühlte sich schon müde, hatte aber selber noch gar nichts gegessen. Nochmal kochen kam heute aber nicht in Frage. Deshalb nahm sich Gravo einen der Äpfel, die Sharky für ihn gekauft hatte, obwohl sie gar nicht auf der Liste gestanden hatten, und sammelte schon einmal die Pfannen, Töpfe und Schüsseln zusammen, um sie im Wassergraben zu säubern. So etwas konnte er nur schwer bis zum nächsten Tag liegen lassen. Während er den Apfel aß – er war innen schon ganz mehlig – hatte er einen Moment der Ruhe und kam ins Grübeln. Er hatte quasi den ganzen Tag damit verbracht, irgendeinem dahergelaufenen Hallodri unter die Arme zu greifen. Davon wurde er nicht satt, reich schon gar nicht, aber Reichtum brachte einem in der Kolonie auch nicht viel, höchstens einen frühen Tod durch die Neider und in Not Geratenen. Es ging Gravo aber auch gar nicht darum, zu Wohlstand zu kommen. Wenn es nach ihm ginge, konnte er hier so weiterleben, nur ordentlich versorgt sein musste er, es ging nicht mehr so wie früher, noch fünf weitere Jahre von der Hand in den Mund machte er sicher nicht mehr mit. Früher, als er noch in Freiheit und Vengard noch groß gewesen war, da hatte er darüber nachgedacht, sich irgendeinen wohlhabenden Mäzen zu suchen und unter dessen schützenden und goldgefüllten Händen irgendetwas zu machen, was ihm wirklich Spaß machte, ein Theaterstück schreiben zum Beispiel, oder sich mal wieder dem Zeichnen hingeben, das er als ganz junger Steppke mit kleinen Kohlestückchen so fasziniert und mit einigem Erfolg betrieben hatte, aber für das er einfach keine Zeit mehr gehabt hatte, nachdem sein Vater gestorben war. Die letzte Zeichnung, die er hier im Lager angefertigt hatte, lag schon lange zurück und war ein furchtbar vulgäres Aktbild aus der Fantasie, angefertigt für Graham, der seines Zeichens Kartenzeichner war und ihm Papier und Stifte geliehen hatte.
    Gravo fiel auf, dass er nun mitten im Dunklen stand. Den Apfel hatte er mittlerweile aufgegessen, dann aber in Gedanken die Zeit vergessen. Der Fackelschein draußen war noch ausreichend, um das Kochgeschirr zu spülen, aber mit einem Mal stand Gravo gar nicht mehr der Sinn danach. Morgen war auch noch ein Tag. Er wollte jetzt einfach nur ins Bett.

    ~


    Die folgenden zwei Wochen waren geprägt von einer großen Mittelprächtigkeit. Sharky hatte sich artig für die Hilfe mit Thorus bedankt und versprochen, nun aber wirklich keinen Ärger mehr zu machen, und offensichtlich hielt der Buddler diesmal Wort, denn seitdem hatte Gravo ihn nicht mehr gesehen. Für Gravo war das eine gewisse Erleichterung, die er auch bitter nötig hatte, denn tatsächlich ging er in der folgenden Zeit dreimal in die Mine, wenn auch jeweils nur einen halben Tag, denn mehr schaffte er nicht. Das Zittern an seinen Händen war nun beinahe dauerhaft da, er konnte es nur unterbrechen, wenn er mit ganzer Kraft auf eine Erzader einhieb, der Aufprall zog seine Nervenstränge für einen kurzen Moment auf Linie, aber das Zittern kam kurz danach nur noch stärker wieder. Noch dazu wurden Gravos Beine immer häufiger schwer wie Blei, dabei aber gleichzeitig unruhig, in seinem Kopf sauste es zuweilen wie beim Vorüberflug eines hungrigen Blutfliegenschwarms, und auch seine Lunge reagierte sofort auf die unsaubere Stollenluft. An die ganzen anderen Wehwehchen, das Ziehen in der Schulter, die Schmerzen in den Knien und der brennende Steinstaub in den Augen, an die dachte er schon gar nicht mehr. Gravo hatte schnell den Eindruck bekommen, dass er bei seiner Arbeit nicht nur Erz abbaute, sondern nunmehr auch Raubbau am eigenen Körper betrieb. Bei seinem dritten Arbeitseinsatz innerhalb der zwei Wochen hatte er sogar überlegt, sich an Grimes zu wenden und ihn, der geschätzt noch einmal zehn Jahre älter war, zu fragen, wie er das eigentlich machte, seit Jahr und Tag jede Woche volle Schichten zu fahren. Aber letztlich hatte Gravo von der Idee Abstand genommen, denn der alte Grimes war schlicht ein Phänomen für sich und vermutlich so geboren worden. Es gab diese Leute, die mit ihrem eigenen Körper ihr ganzes Leben lang umgehen konnten wie mit einem Sack Kartoffeln und trotzdem niemals Probleme damit bekamen; die einfach immer weitermachten, wo andere schon längst kaputtgegangen wären. Grimes war so jemand, man konnte das nicht weiter erklären und sich auch nichts davon abschauen.
    Außerhalb der Mine ließ Gravo es ruhig angehen, es blieb ihm ja auch nicht viel anderes übrig, er schlief viel und ging tagsüber einigen Gefälligkeitsaufträgen nach, für die er sogar ab und zu ein paar Erzbrocken einsacken konnte. Es war nicht viel und konnte seinen Einnahmeverlust in der Mine nicht völlig ausgleichen, aber es war ein gutes Zubrot: Ein symbolischer Erzbrocken für das Abtreten eines Schöpflöffels an Snaf, der es geschafft hatte, seinen alten irgendwie in Brand zu setzen; fünf Erzbrocken für die Schlichtung einer kleinen, aber lästigen Streitigkeit, die ein Buddler mit dem Gardisten Nek versehentlich angefangen hatte; drei Erzbrocken und zwei Bier für da Spielen ein paar Lieder auf einer geliehenen Laute am Lagerfeuer; fünf Erzbrocken für eine kleine Reparatur an Jackals Armbrust; zehn Erzbrocken für die Mithilfe beim Anbringen eines Vordachs an einer Hütte im Arenaviertel; und einmal hätte er sogar zehn Erzbrocken dafür bekommen, dass er einem Neuling erzählte, wer hier im Lager die einflussreichen Leute waren, aber Gravo hatte die Bezahlung schließlich abgelehnt, denn nur für das Ausplaudern von Wissen wollte er kein Geld nehmen – wenn so etwas Schule machen würde und sich alle nur noch gegen Entgelt etwas verrieten, war am Ende die ganze Welt dumm. Bei all diesen Tätigkeiten bemerkte Gravo aber, wie er zuweilen fahrig agierte und alles ein bisschen schwerer ging als gewohnt: Als er den Schöpflöffel für Snaf hatte holen wollten, hatte Gravo kurzzeitig wieder vergessen, wohin er eigentlich unterwegs war; beim Spannen von Jackals Armbrust und beim Lautespielen am Lagerfeuer machten seine Finger nicht das, was sie sollten; und als das Vordach endlich aufgebaut war, hatte Gravo geschwitzt und gekeucht wie ein trächtiges Molerat, es war ihm vor dem jungen Kerl, den alle hier bloß Guy nannten, geradezu peinlich gewesen. Es fiel Gravo schwer, sich das einzugestehen, aber auf Dauer war das alles nichts, was ihm den Lebensunterhalt sichern konnte. Er hatte zwar nie viel davon gehalten, allzu fern in die Zukunft zu schauen – denn je planmäßiger der Mensch vorging, desto zuverlässiger traf ihn der Zufall –, aber jene Zukunft, in der er nicht mehr jeden Tag mit seiner eigenen Hände Arbeit verbringen konnte, schien nun mit einem Mal doch sehr nahe gerückt zu sein, und da musste er sich am besten jetzt schon überlegen, was denn überhaupt seine Möglichkeiten waren.
    Es war eine dieser unruhigen Nächte, in denen Gravo sich über seine Zukunft sorgte, als er von einem Klopfen an seiner Hütte aus dem Schlaf gerissen wurde. Gravo schrak hoch, Blut schoss durch seinen Körper, er vertrieb die wirren Gedanken aus seinem Kopf und setzte sich erst einmal auf. Es klopfte noch einmal, diesmal intensiver. Von seinem Bett aus konnte er nach draußen schauen, eine dunkle Gestalt mit Fackel in der Hand stand an der Tür, es regnete. Gravo schlüpfte in seine Latschen und warf sich eine dünne Decke über die Schultern, bevor er aufstand.
    „Was ist los?“, fragte er die verhüllte Gestalt an der Tür. „Wer bist du?“
    Die Gestalt streifte sich die Kapuze vom Kopf. Im Fackellicht kam das Gesicht von Sharky zum Vorschein.
    „Gravo“, sagte er ganz aufgelöst. „Du musst mir helfen!“
    Gravo war nun hellwach. Dass Sharky jetzt auf einmal bei ihm vor der Tür stand, das war fast wie ein Gebrechen, das, endlich überwunden geglaubt, mit einem Mal stärker als zuvor zurückkehrte.
    „Was hast du denn jetzt schon wieder angestellt?“, ächzte Gravo.
    „Diesmal kann ich wirklich nichts dafür!“, begann Sharky sich zu verteidigen. Auf den strengen Blick Gravos hin rückte er dann aber schnell mit der Sprache raus. „Ich habe es mir mit Gomez verscherzt.“
    „Mit Gomez?! Ja wie willst du das denn geschafft haben?“
    „Psst, nicht so laut“, bat Sharky nervös. „Nicht, dass uns noch jemand hört. Ich kann mich im Lager eigentlich kaum noch blicken lassen, der Kerl ist auf der Suche nach mir, habe ich gehört, bestimmt gibt es auch schon ein Kopfgeld oder sowas!“
    Gravo hielt die ganze Geschichte für äußerst abenteuerlich, war sich aber im Klaren, dass er Sharky auch diesmal nicht so einfach abwimmeln konnte.
    „Mach die Fackel aus und komm rein“, sagte er, und der Buddler nahm das Angebot dankbar an. Drinnen entzündete Gravo eine kleine Kerze, es reichte, um ihre Gesichter zu erhellen. Als Gravo Sharky noch einmal genau musterte, wurde ihm sofort klar, dass es dem jungen Mann ernst war. Der Schalk, der sich bei ihren vorangegangenen Begegnungen noch stets in seinen Augen versteckt gehalten hatte, war fort.
    „Ich weiß wirklich nicht, wie das passieren konnte“, setzte Sharky fort, nachdem er sich unaufgefordert auf einen Hocker gesetzt hatte. „Die letzten Wochen liefen eigentlich ganz gut, ich habe regelmäßig Erz verdient und mich sogar bei Fisk ein bisschen beliebt gemacht, weil ich ihm bei seinen Geschäften ein bisschen zur Hand gegangen bin, und -“
    „Die Kurzfassung bitte“, sagte Gravo und rieb sich angestrengt die Schläfe. „Was war jetzt mit Gomez?“
    „Ja“, sagte Sharky. „Also, vor ein paar Tagen war ja der Auftritt von In Extremo, du hast es ja sicher mitbekommen.“
    Gravo nickte. Er hatte es mitbekommen, zu seinem Glück früh genug, dass er sich für diesen Abend aus seiner Hütte hatte ausquartieren können. Unter anderen Umständen wäre er froh gewesen, mal wieder ein wenig Musik geboten zu bekommen, aber momentan brauchte er einfach Ruhe, und so hatte er Diego überreden können, ihm für eine Nacht den umgestürzten Turm als Schlafstätte zu überlassen, in dem der Chef der Schatten sonst abends weilte, und Thorus hatte er erfolgreich darum gebeten, während seiner Abwesenheit ein bisschen auf seine Hütte aufzupassen, die ja nicht weit vom Burgtor lag, vor dem Thorus auch während des Auftritts der Musikgruppe ungerührt seinen Dienst verrichtet hatte. Gravo war da noch einmal bewusst geworden, wie wichtig und entscheidend vor allem gute Kontakte waren, wenn man hier im Lager zurechtkommen wollte; gute Kontakte stachen sogar viel Erz und einen Haufen Talente mühelos aus.
    „Ich war natürlich auch dabei und es war wirklich richtig klasse, aber leider habe ich dann, ich weiß nicht, vor Begeisterung oder so, eine Bierflasche in die Menge geworfen, mein Dunkles Paladiner, dass ich mir vorher extra für diesen Abend gekauft habe, es ist jedenfalls irgendwie passiert, und dann ist die in einem hohen Bogen ausgerechnet Gomez an den Kopf geflogen, der sich nur kurz unters Volk mischen wollte oder so. Ja, und das gab dann natürlich mächtig Ärger.“
    „Das ist doch jetzt nicht dein Ernst.“
    „Doch, ist es. Gomez hatte ’ne mächtige Beule am Kopf, und einer seiner Wächter, die mit dabei waren, hat auch noch genau gesehen, dass ich die Flasche geworfen habe. Der hat sofort auf mich gezeigt, Gomez hat sich direkt zu mir hingedreht und mir in die Augen geguckt, wie ein, ich weiß auch nicht, wie ein Säbelzahntiger oder so. Dann haben Gomez und seine Wächter sich einen Weg durch die Menge bahnen wollen, die anderen Leute hatten ja auch schon mitbekommen, dass irgendwas war. Ein paar haben sogar ganz hämisch gelacht, weil sie wohl wussten, was mir jetzt blüht. Und dann habe ich natürlich Fersengeld gegeben, bin stiften gegangen. Und jetzt traue ich mich im Lager kaum noch irgendwohin, aber ich kann ja auch sonst nirgendwo hin, und überhaupt, es lief doch gerade alles so gut, und jetzt wird mir das durch so ein Missgeschick alles wieder kaputtgemacht.“
    „Warum wirfst du denn überhaupt eine Bierflasche auf Gomez, wer kommt denn auf so eine Idee?“ Gravo bemerkte, dass ihn das Gespräch mehr aufwühlte als gesund für ihn war, aber gerade im Moment war er fast außer sich über so viel Dummheit.
    „Ich habe sie ja nicht auf Gomez geworfen, also jedenfalls nicht so richtig, ich meine gut, ich dachte, wenn sie ihn jetzt doch treffen sollte und er mit Glück dran stirbt, dann wird vielleicht derjenige neuer oberster Erzbaron, der den alten getötet hat, also von daher …“
    „Das hast du doch nicht wirklich gedacht, oder?“
    „Nein, natürlich nicht wirklich, aber naja.“
    „Ja was, naja? Hast du jetzt absichtlich geworfen oder nicht?“
    „Es ist eben irgendwie passiert!“, erwiderte Sharky nun etwas motzig. „Ist ja nicht so, als hätte ich mir ausgesucht, wieder irgendwelchen Ärger am Hals zu haben. Ich habe halt einfach ’ne Menge Pech, okay?“
    „Ja, allerdings“, kommentierte Gravo. „Pech beim Denken vor allem. Mit Gomez ist nicht zu spaßen. Der vergisst sowas nicht einfach so.“
    „Ja Mann!“, rief Sharky aus. „Deswegen sage ich ja, du musst mir helfen! Du hast doch so viele gute Kontakte im ganzen Lager, kannst du da nicht mal was draus machen?“
    „Wie stellst du dir das vor?“, fragte Gravo. Er hatte sich mittlerweile auf sein Bett niedergelassen, weil ihm während des Gesprächs ein bisschen schwindelig geworden war. Sowas musste man mit ihm wirklich nicht mehr veranstalten, ihn mitten in der Nacht einfach so aus dem Bett zu reißen. „Soll ich einfach zu Gomez in den Thronsaal spazieren und, ja was, ein paar Witze machen und ihm was Nettes kochen und dann Schwamm drüber? Vergiss es. Das wird nichts und diesmal werde ich dir nicht helfen. Auf keinen Fall. Du hattest deine Chancen, du hast mir jedes Mal versprochen, dass du dich ab jetzt benehmen willst, und jetzt hast du dir so einen kapitalen Bock geschossen, dass du mit dem alleine fertig werden musst. Ich kann dir buchstäblich nicht helfen. Ich weiß nicht, was ich tun soll, und ich muss mich auch mal um mich selbst kümmern. Es tut mir leid.“
    „Was soll das heißen, du kannst nicht?“, fragte Sharky aufgebracht. „Du musst! Es geht hier um … um Leben und Tod! Um mein Leben! Wenn mich Gomez und seine Männer in die Finger kriegen, machen die aus mir Fleischwanzenragout! Wie kannst du da jetzt nur an dich denken? Du hast mir schon so oft weitergeholfen, da hätte ich echt nicht gedacht, dass du in Wahrheit so ein Egoist bist!“
    Gravo sog scharf Luft ein. Das hatte noch nie jemand zu ihm gesagt, und er wusste, dass es falsch war, und trotzdem wollte er schreien. Mit Mühe rang er den Impuls nieder. Wer schreit, ist am Ende, hatte er mal einem Ausbilder bei der Armee entgegnet, als der ihn wegen irgendeiner Nichtigkeit zum Molerat hatte machen wollen, und dann war tatsächlich Ruhe gewesen. Gravo wusste nicht, ob er Sharky Kalkül dabei unterstellen wollte, ihn derart anzugreifen. Dazu konnte er den Kerl noch immer zu wenig einschätzen. Fakt war aber, dass Sharky bei ihm erneut ins Schwarze getroffen hatte. Natürlich wollte Gravo nicht, dass ihm Gomez und seine Handlanger irgendetwas antaten, und vor allem wollte er nicht, dass ihn irgendwann die Nachricht davon ereilte, wie ein junger Buddler tot über der Palisade hängen gefunden wurde. Damit wollte Gravo sein Gewissen sicher nicht belasten, und ja, in dieser Hinsicht traf der Vorwurf des Egoismus vielleicht sogar ein bisschen zu. Noch dazu: Es gab da eine Sache, die Gravo bei Gomez vielleicht versuchen konnte, da war etwas, was der oberste Erzbaron von ihm wollte, was er ihm vor Jahren schon verweigert hatte. Ob das dafür reichte, Sharky von der Feindesliste zu streichen, war fraglich, aber wenn Gravo es nicht auf den Versuch ankommen ließ, dann würde er sich das wohl auf ewig zum Vorwurf machen.
    „Also gut“, raunte Gravo. „Es gibt eine ganz geringe Chance, dass ich Gomez davon abhalten kann, dich in Stücke zu reißen. Ich will es versuchen. Aber dann war das wirklich das allerallerletzte Mal, dass ich dir bei auch nur irgendetwas geholfen habe. Wenn du dich danach nochmal in Schwierigkeiten bringst, musst du das selber ausbaden. Komm also ja nicht noch einmal zu mir, wenn du, was weiß ich, versucht hast, den obersten Feuermagier im Schlaf zu erdolchen oder was auch immer dir noch einfällt. Hast du das verstanden?“
    „Also du brauchst mich jetzt nicht als Mörder oder so darzustellen, ich habe doch nur -“
    „Ob du das verstanden hast“, insistierte Gravo.
    „Ja.“
    „Gut. Dann will ich mein Möglichstes geben. Aber ich kann dir nicht versprechen, dass es reicht.“

    Als Gravo wieder aufstand, fühlte er sich, als hätte er gar nicht geschlafen, und im Grunde war es auch so: Die Begegnung mit Sharky, den er dann zum Glück irgendwann aus seiner Hütte in den Regen hinaus gescheucht hatte, hatte ihn aufgewühlt. Gedanken und einzelne Satzfetzen aus dem Gespräch waren munter in seinem Kopf gekreist, während er sich in seinem Bett von links nach rechts und von rechts nach links gewälzt hatte und allenfalls in einen schwachen Halbschlaf vorgedrungen war, der aber immer wieder von einem plötzlichen Erwachen unterbrochen wurde. Gravo konnte sich das gar nicht erklären, denn es war ja nichts Schlimmes passiert, und ein Treffen mit Gomez war zwar sicherlich lästig, für ihn aber auch nicht allzu ängstigend, und er würde das Gespräch mit dem obersten Erzbaron sofort abbrechen können, wenn es denn in eine falsche Richtung ging. Aber gerade weil Gravo so völlig unnötig nervös war, fühlte sich das irgendwie ekelig und fremd an. Vielleicht rächte es sich auch einfach so langsam, dass man sich in der Kolonie fast alles nehmen konnte, wenn man nur findig oder skrupellos genug war, nur eines nicht: Urlaub von dieser ganzen Scheiße.
    Die Temperaturen an diesem Morgen waren eisig wie sonst nur im Winter. Gravo wunderte es fast, dass der Wassergraben nicht wenigstens teilweise zugefroren war, nicht hingegen hätte es ihn gewundert, wenn jeden Moment die ersten zarten Schneeflocken vom Himmel gerieselt wären. Auch in dieser Jahreszeit konnte das mal passieren, und bei dieser Kälte wäre es genau der richtige Tag dafür gewesen. Gravo wusch sich und vor allem seine Hände sehr gründlich im eiskalten Wasser, denn er hatte herausgefunden, dass das Zittern seiner Hände nachließ, wenn er sie mit Kälte betäubte. Dass er damit nur an den Symptomen herumdokterte war ihm zwar klar, aber zurzeit hatte er keine andere Möglichkeit, sich zu helfen. Nur Möglichkeiten, anderen zu helfen, die hatte er offenbar immer.
    Als Gravo fertig war, marschierte er zum Burgtor hinauf. Thorus empfing ihn mit seiner üblichen misstrauischen und grimmigen Miene. Immerhin aber rang er sich zu einer Begrüßung durch.
    „Hallo.“
    „Hallo“, erwiderte Gravo. „Thorus, ich müsste in die Burg.“
    Der Blick des Torwächters wurde nun noch misstrauischer. „Wieso willst du auf einmal in die Burg?“
    „Willst du das wirklich wissen?“
    „Würde ich sonst fragen?“
    „Vielleicht.“
    „Du wolltest die ganzen letzten Jahre nicht in die Burg, und jetzt auf einmal stiefelst du zu mir hin und willst da rein? Da muss es doch einen Grund geben.“
    „Natürlich gibt es da einen Grund, sonst würde ich ja nicht hineinwollen. Mir die Beine vertreten kann ich auch im Außenring. Also, geht das jetzt klar, dass ich in die Burg gehe?“
    „Bei allem Respekt, aber du bist nur ein einfacher Buddler“, stellte Thorus fest. „Damit hast du normalerweise kein Betretungsrecht.“
    „Normalerweise, ja“, bestätigte Gravo. „Aber ich darf ja eigentlich in die Burg. Ich frage ja nur aus Höflichkeit dir gegenüber, weißt du?“
    Thorus lachte kurz auf. „Seit wann darfst du denn bitte in die Burg?“
    „Seit du es mir erlaubt hast.“
    Thorus lachte nun noch lauter. „Wann soll ich das denn getan haben?“
    „Als ich die Prüfung des Vertrauens erledigt hatte und Schatten werden wollte. Da hast du mich in die Burg gelassen, damit ich zu Gomez kann.“
    Der Torwächter schaute ihn ungläubig an. „Aber das ist doch Ewigkeiten her! Und außerdem bist du ja nie Schatten geworden!“
    „Mag sein“, sagte Gravo, „aber du hast die Erlaubnis eben auch nie widerrufen.“
    „Und was hält mich davon ab, sie einfach jetzt zu widerrufen?“, fragte Thorus schnaubend.
    „Die Aussicht auf ein weiteres gelungenes Abendessen?“, bot Gravo an.
    „Ist das schon Bestechung?“
    „Ich würde es Kontaktpflege nennen, aber nenn du es, wie du es willst. Kann ich jetzt rein?“
    „Pah“, stieß Thorus lachend aus, „dann mach doch was du willst. Machst du ja eh. Aber auf die Sache mit dem Essen komme ich zurück! Was willst du denn jetzt eigentlich in der Burg? Willst du jetzt etwa doch noch Schatten werden?“
    „Lass das mal meine Sorge sein“, meinte Gravo, schlenderte an Thorus vorbei, grüßte die beiden Wachgardisten hinter ihm mit einem Nicken und trat dann zwischen ihnen durch das Tor.
    In der Burg war so früh am Morgen noch nicht viel los. Auf dem Vorhof trainierten zwei einsame Gardisten mit dem Schwert, ihre kreisenden und völlig nutzlosen Bewegungen verrieten, dass sie nie in der Armee gedient hatten. Von weit links hörte Gravo, wie der Schmied, Stone hieß er, die Esse anfeuerte, und Erinnerungen an ihre erste und einzige Begegnung wurden wach, das war vor einigen Jahren, als Stone sein Lagerleben noch im Außenring gefristet hatte und sich in der Arena auf einen Kampf mit Gravo eingelassen hatte, der unentschieden geblieben war.
    Direkt vor Gravo lag ein ausgetretener Pfad zum Haus der Erzbarone, die beiden Wachen standen wie zwei in den sandigen Boden gerammte Holzpfähle herum, so steif waren sie. Als Gravo sich ihnen näherte, bewegten sich nur ihre Augen.
    „Kann ich da rein?“
    „Mir doch egal“, meinte der linke von ihnen, ein Mann mit groben Gesichtszügen und schütterem Haar. Der andere sagte gar nichts. Gravo zuckte mit den Schultern und betrat das Herrenhaus. Im Eingangsbereich empfing ihn ein Mann mit rabenschwarzen Haaren und dunklen Augen, sein Gesicht sah aus wie mit einem scharfen Messer aus Birkenholz geschnitten. Er trug die Kleidung eines Erzbarons. Gravo konnte sich nicht daran erinnern, ihn je zuvor gesehen zu haben.
    „Ich will zu Gomez“, sagte er und kam damit einer Begrüßung seines Gegenübers zuvor.
    „Dann hast du dir den falschen Zeitpunkt ausgesucht, Gomez ist noch in seinen Gemächern und wird nicht vor Mittag herunterkommen. Er hat … Termine. Wenn du Schatten werden willst, dann musst du -“
    „Vielleicht will ich ja gar nicht Schatten werden“, unterbrach Gravo. „Ich war schon einmal hier. Ich kenne dich nicht, aber Gomez wird mich noch kennen, er vergisst niemanden. Sag ihm doch, Gravo ist hier und will nochmal auf das Angebot von damals zurückkommen. Dann wird er schon ein bisschen Zeit erübrigen können.“
    „Bin ich etwa dein Laufbursche?“, fragte der Erzbaron hörbar angesäuert. „Ich sollte dich für diese Unverschämtheit rausschmeißen!“
    „Kannst du machen, aber dann wird Gomez früher oder später erfahren, dass du mich abgewiesen hast. Und dann wird’s wahrscheinlich Ärger für dich geben.“
    Der Mann verschränkte empört die Arme, aber es war keine besonders überzeugende Geste, einen guten Torwächter gab er nicht gerade ab. „Warum sollte ich dir diesen Unsinn eigentlich glauben?“
    „Die Frage ist nicht, ob du mir glaubst“, erklärte Gravo. „Die Frage ist, kannst du es dir leisten, mir nicht zu glauben, wenn ich am Ende doch Recht habe. Ich weiß ja nicht, was deine Stellung hier ist und was du hier noch zu werden gedenkst, aber du könntest dir ganz schön was verbauen. Geh doch einfach hoch und frag Gomez, und wenn er nicht will, dann kannst du mich immer noch rausschmeißen.“
    „Werde ich mit Vergnügen tun“, sagte sein Gegenüber mit zusammengekniffenen Augen. „Wie war der Name nochmal?“
    „Gravo.“
    „Also schön Gravo, dann bis gleich. Kannst dich schon einmal warm anziehen, ich hatte schon lange keinen mehr, an dem ich mich so richtig abreagieren durfte.“
    Gravo ertrug das Gerede mit großer Gelassenheit und wartete dann im Eingangsbereich des Herrenhauses, während das Gute-Laune-Bündel mit der Raubvogelnase über die knarzenden Dielen ins obere Stockwerk stolzierte. Hier im unteren Stockwerk war Gravo nun fast alleine, lediglich aus dem Küchenraum zu seiner Rechten zeugte leises Kesselgeblubber von der Anwesenheit der beiden Köche. Er hätte fast Lust gehabt, kurz in der Küche vorbeizuschauen und Omid einen kleinen Hinweis dazulassen, dass man geliehene Pfannen üblicherweise blitzblank gesäubert wieder zurückgab, aber dann kam schon wieder sein Gesprächspartner von vorhin die Treppe herunter, diesmal sehr eiligen Schrittes.
    „Gravo, richtig?“, fragte er ein wenig atemlos.
    „Immer noch, ja.“
    „Du sollst sofort zu Gomez raufkommen“, erklärte der Mann mit säuerlicher Miene.
    „Habe ich dir ja gesagt.“
    „Quatsch nicht und komm mit.“
    Gravo tat wie geheißen und schritt hinter seinem missgelaunten Gastgeber hinauf ins Obergeschoss. Zwei schwer gerüstete Gardisten waren auf einer Brüstung postiert und schauten hinunter in den Eingangsbereich. Gravos erster Gedanke war, dass man die beiden auch gut hätte einsparen können, denn irgendwelche Angriffe, mit denen die Burgbewohner oder die Wachen vor dem Haus nicht fertig wurden, waren ja wirklich nicht zu erwarten. Andererseits hatte Gomez sicherlich irgendeinen Grund dafür, die beiden gelangweilten Männer dort abzustellen. Vielleicht war es ja auch bloß die nackte Angst vor Racheakten geprellter Schatten und Gardisten.
    Sie blieben kurz vor einer schweren Holztür stehen. Gravos Begleiter klopfte, wartete auf keine Antwort und öffnete die Tür einen Spalt.
    „Er ist da.“
    „Dann soll er reinkommen!“
    Der Mann vor ihm machte den Weg für Gravo frei und hauchte ihm im Vorbeigehen noch irgendetwas Biestiges zu, was Gravo nicht ganz verstand. Dann trat Gravo ein.
    „Gravo, dass wir uns nochmal treffen, wer hätte das gedacht!“, rief Gomez leutselig wie vor einer anstehenden Enthauptung. „Mach die Tür hinter dir zu!“
    Gravo leistete der Bitte Folge und trat dann über einen roten Teppich vor den Thron des obersten Erzbarons. Offenbar weil es noch so früh am Tag war, trug Gomez nicht seine volle Montur, sondern ein einfaches, aber sehr sauberes Leinenhemd und eine Hose, die Gravo allerhöchstens zum Schlafen angezogen hätte. Die Ausstattung des Gemachs war ähnlich abgespeckt: Der Thron, auf dem Gomez saß, war viel kleiner als derjenige unten im Empfangssaal und das Polster war furchtbar abgewetzt. An der Wand dahinter waren lieblos zwei Tierhäute angebracht, die vermutlich eher irgendwelche Schäden im Mauerwerk verdecken als den Raum wirklich zieren sollten. Direkt über dem Kopfstück des Throns hatte man einen Schädel angenagelt, der zu keinem Tier passen wollte, das Gravo kannte, und Gravo kannte viele Tierarten, auch solche, die nicht auf Khorinis heimisch waren. In der Mitte des Raumes stand ein hölzerner Waschzuber, der dem miefigen Geruch nach zu urteilen immer feucht blieb und nie zum Trocknen rausgestellt wurde. Direkt daneben an der Wand hing, ein Fremdkörper in diesem rustikal gestalteten Gemach, ein fast mannsgroßes Bild, das einen idealisierten Erzbaron im Kampf gegen eine Harpyie zeigte, sein riesiges Schwert zum finalen Stoß erhoben.
    „Ich bin ja schon ein wenig überrascht“, sagte Gomez. „Habe ich das wirklich richtig verstanden, dass du dich … umentschieden hast? Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich dich noch als Schatten aufnehmen will. Es ist lange her, und du bist nicht jünger geworden.“
    „Ich glaube, die Frage ist gar nicht, ob ich oder du willst, dass ich Schatten werde, sondern ob ich dir noch das geben kann, was du wirklich willst. Wenn du natürlich sagst, dass ich dir dafür zu alt geworden bin …“
    „Oh nein, so habe ich das nicht gemeint. Es ist nur … das ist doch ein Trick, oder? Und du solltest wissen, dass man mich nicht austricksen kann. Der letzte, der das versucht hat, wurde zu Heiligabend am Austauschplatz gepfählt. Wenn du also kein Schatten werden willst … was willst du dann?“
    „Ich würde mal sagen, wir fangen einfach an, und dann kann ich dir das währenddessen sagen. Natürlich nur, wenn du willst.“
    „Ich glaube, du hast vergessen, wen du hier gerade vor dir hast.“ Gomez’ Stimme wurde nun noch ein wenig leiser. Bei ihm war das kein Zeichen von Beruhigung – in der Hinsicht hatte er einige Ähnlichkeiten mit Diego. „Ich bin der oberste Erzbaron. Vor mir hat niemand Geheimnisse. Schon gar nicht, wenn er irgendetwas von mir will.“
    „Das habe ich schon kapiert“, gab Gravo unbeeindruckt zu Protokoll. „Aber sieh es doch mal so: Vielleicht wird es für dich ohnehin kein Geschäft. Vielleicht bin ich wirklich schon zu alt für diese Sache. Das können wir nur herausfinden, wenn wir es versuchen. Aber stell dir mal vor, wir fangen an, und du merkst sofort, dass das alles nicht das ist, was du dir versprochen hast. Dann hätte ich dir meinen Teil des Geschäfts vorher völlig umsonst erzählt, dich mit irgendeiner Scheiße beschäftigt und dir vor allem wertvolle Zeit gestohlen. Und niemand stiehlt einfach so Gomez’ wertvolle Zeit, oder?“
    Gomez hielt einen Moment lang inne. Hatte er vorher noch in ganz beiläufiger Haltung auf seinem Thron gesessen, war er nun kaum merklich in die einzig akzeptable Pose eines obersten Erzbarons gerückt.
    „Wenn du mit den Händen so gut bist wie mit deinem Mundwerk, dann kommen wir vielleicht ins Geschäft. Du hast Recht. Ich habe keine Zeit zu verschwenden. Also los.“
    Gomez stand mit etwas steifen Bewegungen von seinem Thron auf und wies dann mit seiner reich beringten Hand auf ein grauschleieriges Himmelbett am Ende des Raumes. Es war dieser Moment, in dem Gravo noch einmal bewusst wurde, für wen er das alles gerade eigentlich tat: Für Sharky, einen unzuverlässigen Taugenichts, dem er überhaupt nichts schuldete und der sich von ganz allein von einem Schlamassel ins nächste warf. Aber jetzt war natürlich nicht der Zeitpunkt, um die ganze Sache abzublasen. Gravo wollte jetzt einfach ausprobieren, wie weit er kam. Und wenn alles gut ging, dann hatte er mit Gomez einen weiteren wohlgesonnenen Kontakt im Portfolio, und daraus konnte sich vielleicht auch in Zukunft etwas machen lassen. Gute Beziehungen waren wertvoller als Gold – und Erz.
    „Weißt du“, sagte Gomez, während er sich bäuchlings auf das Bett legte, „du kommst genau zur rechten Zeit, das ist jetzt genau das, was ich brauche. Gomez hier, Gomez da, die meisten Leute können sich ja gar nicht vorstellen, wie anstrengend das ist, ein ganzes Lager anzuführen. Die haben ja alle nur die Annehmlichkeiten eines Daseins als Erzbaron im Kopf, aber den ganzen Ärger, den ich mitmachen muss, von dem haben die keine Ahnung.“
    „Ist nicht immer schön, wenn ständig jemand was von einem will, ja“, stimmte Gravo zu. Er hatte sich jetzt neben Gomez auf das Bett gesetzt, sein Kopf streifte die Stoffbahnen des Baldachins.
    „Soll ich dann einfach mal anfangen?“
    „Ja.“
    Gravo legte seine Hände auf den Nacken des obersten Erzbarons und begann mit der Massage. Es dauerte ein wenig, bis er herausgefunden hatte, wie fest er zupacken sollte, dann aber schien es ganz im Sinne des Patienten zu sein. In Gravos Kopf ploppten Erinnerungen auf, wie er einst den Nacken seiner Mutter nach deren langen und harten Arbeitstagen massiert hatte und wie sehr er sich gefreut hatte, ihr etwas Gutes tun zu können. Er verbannte die Erinnerungen aber schnell wieder, sie sollten sich bitte nicht mit dem Geschehen um den fürchterlichen Erzbaron vermischen.
    „Das ist wirklich gut, vom ganzen Rumsitzen auf dem Thron unten bin ich schon ganz verspannt, und die letzte Massage ist wirklich lange her.“
    „Kann ich mir denken“, sagte Gravo nur. Er war überrascht, wie leicht ihm diese Tätigkeit fiel, vor der er sich vor einigen Jahren noch derart gesträubt hatte, dass er lieber seine Karriere als Schatten aufgegeben hatte. Er spürte keine Reue: Gomez war ein Schlächter, ein Mann der Gewalt, und wenn es jemanden gab, der die Gefangenschaft in der Barriere wirklich verdient hatte, dann war es er. So jemandem, hatte Gravo damals beschlossen, so jemandem wollte er nicht helfen, schon gar nicht mit seiner eigenen Hände Arbeit. Die Vorstellung, wie ein Mann, der eine Vielzahl von Leben auf dem Gewissen hatte und eine noch größere Zahl an Leben fortlaufend tyrannisierte, sich wohlig unter fremden Händen räkelte, war Gravo völlig zuwider gewesen. Durfte sich ein Mann, der so viel Leid verursachte, selber gut fühlen? Gravo hatte sich diese Frage oft gestellt, und noch immer tendierte er zu einem Nein. Aber offenbar waren seine Prinzipien über die Jahre der Pragmatik gewichen, und so saß er nun halb über Gomez und musste erleben, wie dieser sich beim Durchknetenlassen seines Rückens vollauf entspannte. In Gravo kam die Frage auf, ob der Erzbaron es eigentlich bei jedem Schattenanwärter zur Bedingung gemacht hatte, dass er ihn massierte. Er wagte aber nicht, die Frage auszuformulieren, stattdessen musste er jetzt etwas anderes wissen.
    „Erinnerst du dich noch an das Konzert von In Extremo letztens?“
    „Hmhm“, machte Gomez verträumt. „Warte mal, ich würde jetzt gerne mein Hemd ausziehen.“
    Gravo hatte das schon befürchtet, aber er half mit, es war ja unausweichlich. Sein erster Gedanke, als er Gomez das Hemd über den Kopf hinweg ausgezogen hatte, galt dem armen Handlanger, dem die Aufgabe zuteil war, Gomez’ Rücken zu rasieren. Abgesehen davon war an der Rückseite des obersten Erzbarons aber nichts Besonderes, und als Gravo nun erneut einen beherzten Griff in den Nacken wagte, fühlte sich das auch nicht viel anders an als der Umgang mit einem noch nicht ganz weichgeklopften Moleratschnitzel.
    „Uaaah, was hast du denn für Eispfoten!“, rief Gomez und bockte wie ein Pferd. Gravo schreckt kurz auf, aber in der Sache war die Überraschung nicht allzu groß, denn seine Hände hatten sich die ganze Zeit schon ein wenig taub angefühlt, und die beheizten Räume des Erzbaronhauses hatten die morgendliche Kälte während seines ganzen Aufenthalts hier nicht ganz hinaustreiben können.
    „So geht das nicht“, bestimmte der Erzbaron. „Halt die mal für eine Minute ans Feuer. Sind die immer so? Dann kannst du vielleicht auch mal im Sommer vorbeikommen.“
    „Nicht immer, aber ich habe sie heute morgen gründlich im Wassergraben gewaschen, daher kommt das“, erklärte Gravo, während er zum Kamin ging. „Tut mir leid.“
    „Schon verziehen“, meinte Gomez, der nun wieder flach auf dem Bett lag. „Ungewaschene Flossen wären mir noch weniger lieb gewesen. Deshalb lasse ich mich ja auch nicht von jedem begrabbeln. Was war das jetzt noch gleich mit In Extremo?“
    „Ich habe gehört, jemand hat dich mit einer Bierflasche beworfen“, sagte Gravo möglichst beiläufig, während er seine Hände am Kaminfeuer wärmte. Er musste sie ziemlich nah an die Flamme halten, damit er überhaupt etwas spürte.
    „Allerdings“, erwiderte Gomez in der beunruhigend ruhigen Stimmlage. „Und wenn ich den Kerl in die Finger kriege, dann mache ich Hackfleisch aus ihm.“
    „Darüber wollte ich mit dir reden.“ Gravo schaute über die Schulter, um vielleicht im Gesicht des Erzbarons abzulesen, wie weit er mit seinem Plan kommen würde, aber Gomez lag weiterhin auf dem Bett herum, sein Gesicht in ein Kissen gesenkt, und rührte sich nicht. „Er sagte, es sei ein Versehen gewesen. Es tut ihm leid und er würde sich wünschen, dass du die Sache vielleicht einfach vergisst oder wenigstens ruhen lässt.“
    „Ein Versehen?!“, bellte Gomez. „Niemand trifft Gomez einfach nur aus Versehen! Das kann nicht ungesühnt bleiben! Ich -“
    Ein lautes Klopfen an der Zimmertür ließ Gomez abbrechen. „Ach du Scheiße“, zischte er. „Das hatte ich ja ganz verdrängt. Ich muss … du musst … schnell, es ist nicht viel Zeit!“ Gomez sprang vom Bett auf, er war ganz aufgeregt. „Schnell, hinter den Paravent, und mach keinen Mucks, hörst du? Komm erst wieder raus, wenn ich es dir sage, sonst Gnade dir Innos! Und wehe dir, du spannst! Nicht spinksen, klar?“
    Gravo verstand überhaupt nicht, was los war und warum Gomez derart hektisch wurde, dass ihm nicht einmal Zeit blieb, sich das Hemd anzuziehen oder ihn, seinen Gast, aus dem Raum herauszubitten, aber er nahm es einfach so hin und versteckte sich hinter dem dunklen Wandschirm. Er sah nun nichts vom Geschehen und hörte nur, wie Gomez zur Tür trat und sie öffnete.
    „Wird aber auch Zeit“, schnauzte er. „Meine Eier sind schon kurz vorm Platzen.“
    Mehrere leichte Schritte ertönten, gedämpft von den Teppichen. „Und ihr beiden“, sagte Gomez nun noch lauter. „Ihr seht zu, dass mich jetzt ja keiner stört, verstanden?“
    Zwei Männer draußen sagten irgendwas, dann hörte Gravo die Tür ins Schloss fallen.
    „So!“, rief Gomez aus. „Dann zieh dich mal aus und mach die Beine breit!“
    Es verging eine ganze Weile, dann stöhnte wie von der Fleischwanze gebissen eine Frau laut auf. „Ja, so ist’s gut!“, kommentierte Gomez mit einem kehligen Lachen. Es folgte weiteres exaltiertes Gejauchze, sämtlich kommentiert vom obersten Erzbaron mit allerlei verbalen Obszönitäten, bis Gravo seine Neugier nicht mehr im Zaum halten konnte und vorsichtig am Paravent vorbei linste. Zwischen Tür und Thron standen Gomez und eine blonde Frau, Gomez mit blankem Oberkörper, die Frau mit ernster Miene und äußerst knapp bekleidet, nicht aber nackt, und sie stöhnten sich in etwa einer Armlänge Abstand voneinander gegenseitig zu. Dann und wann klatschte sich die Frau mit der flachen Hand auf ihr eigenes Hinterteil, dass es nur so durch den Raum schallte, und Gomez reagierte darauf mit der Imitation eines deftigen Schattenläuferschnaubens. Nach und nach kamen noch mehr Gegenstände und Geräusche ins Spiel, Gomez griff sich eine rote Decke von einem Beistelltisch und knallte sie gegen die Thronlehnen, die Frau in ihren hochhackigen Stiefeln sprang auf dem Holzboden hin und her und ließ ihn knarzen. Das alles konnte Gravo noch irgendwie deuten, aber als Gomez dann auch noch eine kleine Eisenkette von einem Haken an der Wand nahm und sie klirrend umher schwang, fragte sich der Buddler, was genau dieses Geräusch denn nun simulieren sollte. Auch nach längerem Nachdenken konnte er sich darauf keinen Reim machen. Da hatte er in seiner aktiven Zeit wohl einiges verpasst.
    Als die Frau kurz in seine Richtung schaute, zog Gravo seinen Kopf rasch wieder hinter den Wandschirm zurück und musste erst ein Lachen, dann ein anschwellendes Husten unterdrücken. Gomez und seine Gefährtin machten munter weiter und brüllten sich die tollsten Dinge zu, bis Gomez das Schauspiel mit einem orkgleichen Brunftschrei beendete.
    „Kannst dich jetzt wieder anziehen und gehen“, rief er keuchend. „Wir sehen uns heute Abend wieder, da habe ich die nächste Ladung für dich. Und sei pünktlich!“
    Schritte auf dem Parkett, Tür auf, Tür zu. Gomez schnaufte einmal auf, dann kam er zu Gravo rüber.
    „Du kannst jetzt wieder herauskommen“, sagte er. „Der hab ich’s ordentlich gegeben.“
    Gravo überlegte einen Moment, was nun die beste Entscheidung war, zumal er sich noch immer das Lachen verkneifen musste. Am liebsten hätte er Gomez ins Gesicht gesagt, dass er alles gesehen hatte, aber das war zu riskant. Gomez war blöd genug um ernsthaft damit gerechnet zu haben, dass Gravo die ganze Zeit über nicht nachgesehen hatte, was jenseits des Wandschirms vor sich ging. Und Gomez war brutal genug, ihn als Zeugen des wahren Geschehens beiseite zu schaffen, notfalls auch mit bloßen Händen.
    „Habe ich gehört, Respekt“, sagte Gravo deshalb nur und verließ sein Versteck hinter dem Paravent. „Ich nehme mal an, jetzt brauchst du erst einmal deine Ruhe … aber nochmal wegen der Sache mit Sharky …“
    „Sharky? Wer soll das sein?“
    „Der Buddler, der aus Versehen die Bierflasche geworfen hat.“
    „Was ist mit dem?“
    „Er hat Angst, dass du ihn kalt machen willst. Und ich würde dir das gerne ausreden. Meine Hände sind jetzt auch gerade wieder warm geworden, vielleicht also wenn ich dich jetzt weitermassiere … ?“
    „Dafür habe ich jetzt leider keine Zeit mehr.“ Ernsthaftes Bedauern trat in Gomez’ sonst so unbewegte Miene. „Du siehst ja, was hier los ist. Ein Termin nach dem anderen. Ich muss dringend runter in den Thronsaal.“
    „Aber -“
    „Aber du kannst mir einen anderen Gefallen tun“, sagte Gomez, während er sich sein Hemd wieder anzog. „Und zwar wenn du gleich hier rausgehst …“
    „Ja?“
    „Dann erzählst du den beiden Wachen draußen, wie heftig ich Syra vorhin durchgevögelt habe. Richtig lang und ausdauernd. Und dass ich einen riesigen Schwanz habe.“
    Gravo lenkte das aufkommende Lachen gerade noch in einen Hustenanfall um. Es dauerte ein wenig, bis er sich gefangen hatte, und Gomez’ ratloser Blick trug nicht gerade zu seiner eigenen Beruhigung bei. „Ich bin ein bisschen erkältet“, würgte Gravo zwischendrin zu seiner Verteidigung hervor. Er musste all seine Konzentration darauf lenken, nicht zu lachen. Es half ihm, daran zu denken, dass eigentlich überhaupt nichts daran komisch war, dass sie alle hier im Lager unter der Führung eines so eitlen Gockels lebten.
    „Aber was“, fragte er dann noch ein bisschen hüstelnd, „was erzähle ich denn, wenn ich gefragt werde, warum ich überhaupt dabei war?“
    „Sag ihnen, ich wollte dir zeigen, was du hier nie bekommen kannst, zur Strafe für … irgendwas, was weiß ich, denk dir was aus. Das sollte reichen.“
    „Und im Gegenzug dazu vergisst du die Sache mit Sharky?“
    Gomez ging ein paar Schritte auf Gravo zu, ganz langsam, dann verengte er seine Augen zu Schlitzen, es war wie einstudiert und sollte wohl bedrohlich wirken.
    „Niemals vergeben, niemals vergessen. Aber ich will die Sache ruhen lassen. Solange der Kerl sich nie wieder so einen Fehler leistet.“
    „Wird er nicht, da bin ich mir sicher“, log Gravo. „Kann ich dann gehen?“
    Der oberste Erzbaron nickte nur. Gravo wandte sich ab und grinste die Tür in voller Breite an, bevor er sie öffnete.
    „Ich hoffe du hast was daraus gelernt, du Memme!“, brüllte Gomez auf einmal, als Gravo gerade hinaustrat. Der Buddler zuckte zusammen, aber das war gut für das abgesprochene Schauspiel, denn die Wachen an der Brüstung hatten ihn bereits im Blick. „Kannst dir jetzt irgendwo ein Loch in die Erde buddeln und dann deinen kleinen Schwanz da reinstecken, was anderes wirst du hier nämlich nie bekommen!“
    Gravo schloss die Tür, biss sich in die Innenseiten der Wangen und blickte die beiden Wachposten möglichst finster an. Er hätte nie gedacht, dass er all seine Fähigkeit zur Disziplin und Selbstbeherrschung nun ausgerechnet für so ein Schmierentheater aufwenden musste.
    „Bitte was?“, prustete die eine Wache los und entblößte dabei ihre gelben Zähne. Sein kahler Kopf war eckig, als ob man ihn als Säugling lange in einer engen Schublade verstaut hatte.
    „Du warst da noch drin, als Syra auch dabei war, oder?“, fragte die andere Wache neugierig, ein jüngerer Kerl mit fettigem schwarzen Haar. „Stimmt das, was man über Gomez sagt? Dass er keinen hochkriegt?“
    „Ich habe gehört, er hat nur noch ein Ei“, warf der Kahlköpfige ein. „Hat man ihm wohl in Gefangenschaft wegoperiert weil da irgendwas gewuchert ist. Würd’ mich nichtmal wundern, wenn der da unten gar nichts mehr hängen hat, geschweige denn stehen.“
    „Oh, weit gefehlt“, merkte Gravo mit betontem Ernst an. „Der hat da ’nen ganz schönen Knüppel unten, kann ich euch sagen. Und gestanden hat er auch, die ganze Zeit lang. Musste mir den Scheiß ja zur Strafe angucken.“
    „Echt?“, fragte der Schwarzhaarige. „Ich kenne nur die Gerüchte, dass der Kerl impotent ist.“
    Gravo schüttelte den Kopf. „Funktioniert alles tadellos. Kann man glatt neidisch werden.“
    „Und das ist jetzt nicht nur sowas, was du sagen musst, weil Gomez dich dazu gezwungen hat?“, raunte der Kahlkopf. „Klingt nämlich fast so.“
    „Ich kann nur sagen, was ich gesehen hab’“, sagte Gravo und zuckte mit den Schultern. „Und was ich gesehen habe, war groß und lang und es ging zur Sache. Ihr müsst es ja auch gehört haben. Und ich würde mich doch nie vom obersten Erzbaron des Lagers, der bekannt dafür ist, Leute nur wegen eines falschen Wortes abzuschlachten, unter Druck setzen lassen, oder?“
    „Nee“, sagte der Kahlkopf, während der Schwarzhaarige nur mit halboffenem Mund daneben stand. Gravo ging seiner Wege und marschierte ohne weitere Begegnungen aus dem Haus der Erzbarone hinaus ins Freie. Sonnenschein empfing ihn. Es stimmte wohl, was Gomez gesagt hatte: Oberster Erzbaron zu sein, das war kein leichtes Geschäft. Und es war wahrscheinlich umso schwerer, wenn sogar die größten Stehrummännchen der eigenen Wachmannschaft schlauer waren als ihr Anführer.

    ~


    Die kommenden Tage verliefen angenehm ereignislos und gaben Gravo die Gelegenheit, sich ein bisschen zu erholen – von seinen körperlichen Schieflagen, aber auch von der Begegnung mit Gomez, die ihm immer noch ein wenig nachhing. Es wurde wärmer und Gravos Husten ging zurück. Das lag allerdings auch daran, dass Gravo die ganze Zeit über nicht wieder in die Mine gegangen war. Was seinem Körper spürbar gut tat, zahlte leider nicht in seinen Geldbeutel ein, und bis auf ein paar Gelegenheitsarbeiten – Anfertigung von Wettlisten für den nicht schreibbegabten Arenaleiter Scatty; Ausbesserung von ein paar Fässern, die niemand brauchte; Mithilfe beim Einbau einer zweiten Tür in einer Hütte, die jemand unsinnigerweise direkt am Graben gebaut hatte – hatte Gravo auch keine weiteren Einnahmequellen gefunden. Noch nicht. Denn die vergangenen Tage hatten in ihm einiges zum Rumoren gebracht, und interessanterweise war es ausgerechnet eine Äußerung von Sharky, die seit einiger Zeit wieder in seinen Gedanken kreiste. Du hast doch so viele gute Kontakte im ganzen Lager, kannst du da nicht mal was draus machen? Das hatte Sharky gesagt, und so ein großer Taugenichts er auch war, das war wohl einer seiner lichten Momente gewesen. Momentan nutzte Gravo seine Kontakte bloß, um über sie Arbeit zu bekommen. Aber was, wenn er es schaffen könnte, seine guten Beziehungen unmittelbar zu Erz zu machen? Er hatte es immerhin fertig gebracht, einen ausgewachsenen Unruhestifter wie Sharky der Reihe nach bei Diego, Thorus und schließlich sogar Gomez rauszuhauen, und er hätte dies – Innos bewahre – sicherlich auch noch bei gut einem Dutzend weiterer einflussreicher Persönlichkeiten im Lager tun können. Wenn jemand Hilfe brauchte, kam er zu ihm, vor allem, wenn er die Hilfe billig brauchte. Denn Kartenzeichnen, Schwerterschmieden, Hüttenbauen und Essenmachen, das konnten andere hier auch, nur verlangten sie dafür mehr oder überhaupt Erz. Was aber nur wenige hier hatten und was häufig genug unersetzbar war, das waren Kontakte und Beziehungen, und die hatte Gravo zuhauf. Wenn er die nur konsequent versilbern, oder besser gesagt, vererzen würde …
    Gravo seufzte und schaute von seinem Suppentopf auf. Zwei einsame Feldrüben schwammen in der dünnen Brühe, es war bei ihm mal wieder Sparfraß angesagt, und der sollte für zwei, besser noch für drei Tage reichen. Aber das war es gar nicht, was ihn akut umtrieb. Vielmehr war es so, dass er Sharky nun schon längere Zeit nicht mehr gesehen hatte. Das war gut und angenehm, aber nur, wenn der Grund dafür nicht war, dass Sharky irgendwo tot über dem Zaun hing. Gomez hatte ihm zwar versprochen, Sharky nicht anzurühren, aber er hatte es beiläufig getan, aus einer Laune raus, und Versprechen waren hier im Lager nur selten dafür gemacht, gehalten zu werden – da würde gerade so ein Drecksack wie Gomez nicht die rühmliche Ausnahme sein. Da Gravo ohnehin schweren Herzens entschlossen hatte, auf dem Marktplatz seinen letzten Rest Tränen-Pfeffer für möglichst viel Erz zu verkaufen, wollte er die Händler dort bei der Gelegenheit nach Sharky fragen. Er löschte das Feuer unter dem Topf und verließ seine Hütte.
    Es dauerte ein wenig länger, bis Gravo am überdachten Marktplatz angekommen war, denn unterwegs sah er einige bekannte und unbekannte Gesichter, die ihn grüßten und dann auch direkt etwas von ihm wollten, aber die meisten Bitten beschied er abschlägig, bis auf die von Sly, der ihm davon erzählte, dass Nek vor kurzem verschwunden war. Gravo versprach ihm halbherzig, sich beizeiten nach dem Gardisten umzuhören, erfuhr im Gegenzug dafür aber leider nichts über Sharkys Verbleib, denn Sly kannte ihn nicht oder wollte ihn nicht kennen. In etwa so verliefen auch die anderen Begegnungen, kaum jemand wusste überhaupt, wer Sharky war, geschweige denn, dass sie eine Ahnung hatten, wo er sich gerade herumtrieb. Am Marktplatz wussten die meisten Leute zwar immerhin, von wem Gravo redete, wirkliches Interesse an Sharky hatte aber keiner von ihnen. Als Gravo allerdings Fisk auf den Buddler ansprach, wurde der Händler hellhörig.
    „Fisk, du hast doch mal Sharky für dich arbeiten lassen, oder?“
    „Sharky? Ja, doch, der hat immer mal wieder, sagen wir mal Botengänge für mich erledigt.“
    „Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?“
    „Das ist schon ein paar Tage her. Da hat er mir gesagt, er hat erstmal keinen Bock mehr auf den Pfeifenverein hier, er würde mal einen Ausflug machen und kann deshalb erstmal nicht mehr für mich arbeiten. Ich hab’ darauf nicht so viel gegeben, der Kerl hatte heute diesen und morgen jenen Gedanken, sprunghafter Typ irgendwie, vielleicht ein bisschen undankbar manchmal. Sich aber auch für nichts zu schade, das ist der Vorteil, für einige Sachen konnte ich den schon ganz gut gebrauchen, also vor allem für die, die kein anderer machen wollte. Aber ja, ich habe ihn seither nicht mehr gesehen. Wer weiß, vielleicht hat sich der Hallodri jetzt ja fest bei den Blauen eingenistet, der hat ja eh immer davon gefaselt, dass es da doch viel besser laufen würde ohne Gomez und die Gardisten im Nacken. Als hätte er eine Ahnung davon, wie es im Neuen Lager aussieht. Aber naja, genug Erz scheint’s da ja zu geben, bei dem Haufen, auf dem die angeblich sitzen. Weiß auch nicht, wie die das ganze Zeug aus dem Berg rausholen, die ganzen echten Buddler sind doch alle bei uns. Aber gut, die tauschen halt auch kein Erz beim König ein, daran wird es wohl liegen. Habe ja schon immer gesagt, wir sollten auch nicht so viel von dem Kram eintauschen, aber auf mich hört ja keiner.“
    „Und was sollte das dann bringen? Wenn wir auch auf einem Erzhaufen sitzen?“
    „Keine Ahnung“, gestand Fisk ein. „Aber mehr Erz ist doch immer besser als weniger Erz, oder?“ Er lachte kehlig. „War sonst noch was?“
    „Nein. Danke, Fisk.“
    „Keine Ursache.“

    Als Gravo direkt darauf den Rückweg antrat, hielt er die Faust geballt in der Hosentasche – und bemerkte dabei, dass er vor lauter Ärger gar nicht daran gedacht hatte, sein Pfeffersäckchen feilzubieten. Da hatte er sich für Sharky gleich dreimal den Arsch aufgerissen und zuletzt sogar den Schlächter von Khorinis begrabbelt, und so wurde es ihm gedankt: Sharky hatte sich aus einer Laune heraus verpisst. Gravo hatte ja Verständnis für Leute, die immer wieder in Not gerieten, denn bekanntlich schiss Beliar ja immer auf den größten Haufen, aber wenn man ihm Aufgaben völlig umsonst aufbürdete, dann war das etwas, was schon ein bisschen an seinem Ehrgefühl kratzte. Er hatte sich in der Vergangenheit sehr häufig dazu ermahnt, auf derartige Gefühle nichts zu geben und sich nicht als enttäuschten Gönner zu geben, dessen Gutmütigkeit ausgenutzt wurde. Vielleicht aber hatte er das ein paarmal zu oft getan.

    ~

    Es war Sommer, und die Sonne strahlte so heiß, dass sich die Scavengerkeule im Seraphissud fast schon ohne Feuer unterm Pfanneneisen gebraten hätte. Deshalb löschte Gravo die Flamme nun, und zwar indem er sie schlicht auspustete. Es lockte ihm ein Grinsen hervor: Vor zwei Monaten noch wäre er dazu nicht in der Lage gewesen, hätte sich wahrscheinlich in einem Hustenanfall gekrümmt, aber jetzt funktionierte wieder alles. Er hockte behände und gelenkig am Boden, seine Knie trugen ihn sicher, seine Finger zitterten nicht mehr und sein Rücken … gut, sein Rücken tat weh, aber Rückenschmerzen hatte hier jeder. Insgesamt fühlte es sich für Gravo aber an, als sei er binnen der letzten zwei Monate um mehrere Jahre rückwärts gealtert, und wenn es nach ihm ging, durfte das auch gerne so weiter gehen.
    „Hey, du! Wie steht’s denn so?“
    Gravo ging aus der Hocke und kam hoch. Vor ihm stand ein kräftiger, blonder Kerl mit Pferdeschwanz und Bart. Er hatte ihn zuvor noch nicht gesehen.
    „Seit ich aufgehört habe, in der Mine zu arbeiten, lässt sich’s hier richtig gut leben“, antwortete Gravo.
    „Und woher kriegst du dein Erz?“
    Das war die Frage, auf die Gravo lange genug keine Antwort gehabt hatte, aber die Zeiten waren nun glücklicherweise vorbei.
    „Ich helfe Leuten, die Probleme haben. Wenn du hier Ärger mit den einflussreichen Leuten hast, kann ich dafür sorgen, dass die Sache wieder ins Lot kommt.“
    „Wenn ich Ärger habe, kannst du mir also helfen?“, fragte der Blonde mit einem deutlichen Anflug von Skepsis in der Stimme. „Wie?“
    „Nun“, erklärte Gravo, „sagen wir mal, du hast Ärger mit Thorus. Du solltest es besser nie dazu kommen lassen, aber man weiß ja nie, was passiert. Thorus kann ziemlich stur sein – wenn du’s dir einmal mit ihm verscherzt hast, redet er nicht mehr mit dir. Das ist schlecht. Denn als Neuer bist du auf ihn angewiesen. Also kommst du zu mir. Ich kenne ’ne Menge Leute hier, die Einfluss auf Thorus haben. Die legen ein gutes Wort für dich ein und Thorus ist wieder auf deiner Seite. Natürlich wollen die Jungs dafür Erz sehen. Dein Erz. Und ich kümmere mich darum, dass dein Erz die richtigen Leute erreicht.“
    Gravo fühlte sich bei diesen Ausführungen ein bisschen zu sehr wie ein Geschäftsmann, so richtig daran gewöhnen würde er sich wohl nie. Der Blonde aber nickte ganz beflissen, er hatte das Prinzip von Leistung und Gegenleistung, das die Kolonie so rücksichtslos wie kaum einen anderen Ort beherrschte, offenbar gänzlich verinnerlicht.
    „Das mit Thorus ist ein passendes Beispiel“, sagte er. „Ich glaub’, ich hab’ Ärger mit ihm.“
    „Mit Thorus?“, fragte Gravo. „Oh weh … was hast du denn angestellt?“
    „Die Sache ist die“, begann der Blonde. „Ich bin noch ganz neu hier und ich will bei den Schatten aufgenommen werden. Und man hat mir gesagt, man kann hier Leute brauchen, die gut mit dem Bogen umgehen können. Also habe ich mal mit ein paar Schießübungen angefangen. Hat sich rausgestellt, dass ich wirklich noch nicht so gut bin mit Pfeil und Bogen. Und naja … da ist es irgendwie passiert.“
    „Was ist passiert?“
    „Ich habe Thorus getroffen. Mitten vor die Brust. Der Pfeil ist an seiner Rüstung abgeprallt, aber er hat gesehen, dass ich geschossen habe, und ist sofort hinter mir hergerannt. Ich musste zwei Runden durch den Außenring drehen, bis er von mir abgelassen hat. Keine Ahnung, wo er jetzt ist, aber ich fürchte, er kommt jeden Moment wieder. Kannst du mir helfen?“
    „Das gibt’s doch gar nicht …“, murmelte Gravo und vergrub sein Gesicht in den Händen. Er schnaufte einmal tief durch, bevor er seine Routine abspulte.
    „Ich denke schon. Wenn ich ein paar Jungs davon überzeugen soll, ihn wieder gut zu stimmen, wird das nicht billig. 100 Erz musst du schon hinlegen.“
    „So viel hab’ ich nicht.“
    „Dann kann ich nichts für dich tun“, sagte Gravo schweren Herzens. „Tut mir leid, Junge.“
    „Alles klar“, sagte der Blonde ungerührt. „Dann komme ich vielleicht später wieder.“ Dann zog er ab, sinnigerweise nicht in Richtung Burgtor, sondern den Graben entlang.
    Gravo seufzte. Auch daran würde er sich noch gewöhnen müssen. Wer kein Erz hatte, dem wurde auch nicht geholfen. Für ihn war das ein schrecklicher Bruch mit dem, was er lange Jahre für seine Prinzipien gehalten hatte. Helfen, wo man konnte, auch und gerade denen, die in Not und mittellos waren. Aber mittlerweile verstand er, dass er nicht jedem für lau helfen konnte, wenn er nicht selbst irgendwann in Not und Armut geraten wollte. Vielleicht war es am Ende aber auch für alle nur zum Besten. Seine vielen kleinen Brüder mussten schließlich auch irgendwann einmal erwachsen werden.
    Geändert von John Irenicus (14.02.2021 um 15:45 Uhr)

Berechtigungen

  • Neue Themen erstellen: Nein
  • Themen beantworten: Nein
  • Anhänge hochladen: Nein
  • Beiträge bearbeiten: Nein
Impressum | Link Us | intern
World of Gothic © by World of Gothic Team
Gothic, Gothic 2 & Gothic 3 are © by Piranha Bytes & Egmont Interactive & JoWooD Productions AG, all rights reserved worldwide