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Das Genre des Cyberpunk begleitet mich schon sehr lange. Nachdem ich das Lesen lernte, las ich zuerst Harry Potter – Und der Stein der Weisen, im Anschluss brauchte ich Lesenachschub. Solchen bot mir das Regal meines Bruders. Wie das sicher andere im Grundschulalter ebenfalls getan haben (auch mit Musik), wählte ich das nächste Buch anhand seines Covers. Es wurde Robert N. Charette – Lass ab von Drachen. Ein Buch in der Cyberpunk-Fantasy-Mischwelt von Shadowrun
.
Mich faszinierte die Geschichte über eine dystopische Zukunft, in der Söldner für und gegen alles beherrschende Großkonzerne kämpfen, in der Klingen aus Unterarmen schnellen und die Bevölkerung ihre Gehirne per Datenbuchse mit einem weltumspannenden Informationsnetz koppelte. Schnell sog ich den Slang der Welt auf: „Hoi Chummer! Der Johnson will den Sarariman gegeekt sehen? So ka.“

Am PC war mein erster Kontakt das Spiel Syndicate Wars, in dem man selbst einen solchen Konzern verkörperte und zwischen den Missionen ein Team von Agenten mit Cyberimplantaten und Knarren aufrüstete. Aus der isometrischen Perspektive lenkte man seine Söldner durch die engen Häuserschluchten zwischen Wolkenkratzern. Knapp über dem Asphalt schwebten Hoverwagen und Werbung pfiff von den Reklametafeln wie es die ausgestorbenen Vögel hätten tun sollen.

Schwebeautos kannte ich bereits aus Blade Runner. Ein Film bei dem ich als Kind regelmäßig einschlief, den ich heute aber über alles liebe. Etwas später sah ich Vernetzt – Johnny Mnemonic mit Keanu Reeves als Datenschmuggler auf der Flucht vor den Konzernen und der Yakuza. Johnny Mnemonic war für mich die filmische Synthese all der Dinge über die ich in Shadowrun-Romanen gelesen hatte (minus den Fantasy-Magie-Kram). Irgendwann stolperte ich über Deus Ex und obwohl ich der Reihe verschiedene Chancen einräumte, fühlte sie sich für mich immer zu verkopft und spielerisch starr an.

Dann kam Shadowrun Returns. Einer der ersten großen Gaming-Crowdfunding-Erfolge auf Kickstarter sollte Shadowrun Returns das komplette Paket der Shadowrun Pen & Paper Erfahrung abbilden. Das gelang natürlich nicht vollständig, aber das Ergebnis war trotzdem ein Spiel, welches den Angelpunkt so vieler Shadowrun-Bücher wiedergab. Runs, die alles entscheidenden Missionen, die in Reichtum oder Katastrophe enden konnten, waren das Herzstück von Shadowrun Returns und paarten sich mit einer interessanter Geschichte. Ähnliches galt für die Erweiterung Dragonfall. Nur fehlte es irgendwie am Spektakel einer AAA-Produktion.

Schließlich kam der Tag an dem CD Project Red Cyberpunk 2077 ankündigte. Ich war ein wenig verstimmt, weil ich dachte: „Na toll, jetzt gibt es da draußen genug Newbies, die glauben Cyberpunk wäre eine Erfindung der Witcher-Entwickler. Wie kann man überhaupt so auf die Kacke hauen und sein Spiel nach einem Genre nennen?“ Ich begann ein wenig zu recherchieren und siehe da, Cyberpunk 2077 hatte das Tischrollenspiel Cyberpunk 2020 zur Vorlage. Das stimmte mich schon sehr viel versöhnlicher, denn ich hatte gerade meine Liebe zum P&P entdeckt.

Mike Pondsmith, der Erfinder von Cyberpunk 2020, hatte ein Rollenspiel geschaffen, das stark auf den Werken von William Gibson aufbaute. William Gibson war nicht nur der Verfasser von Neuromancer (der Trilogie), sondern auch von Johnny Mnemonic. So begann meine Lesereise in eben diese Welt des von William Gibson erdachten Sprawl. Ich war verblüfft wie vieles Gibson für das Genre geprägt hatte. Die Shadowrun-Romane meiner Vergangenheit waren Echos dieses Genre-Ur-Werks.

Ich erfuhr das Cyberpunk von Pondsmith älter war als Shadowrun und von diesem ein wenig verdrängt worden war. Nach dem Auslesen von Neuromancer erwarb ich ein gebrauchtes Cyberpunk 2020 Regelwerk, aber legte es bald wieder zur Seite. An vielen Stellen sagte mir das Layout nicht zu und Ideen für Klassen wie den Rockerboy konnte ich nicht ernst nehmen. Ein Barde in einer Cyberpunk-Dystopie? What the Fuckadoodeldoo!

Die Ankündigung von CD Project Red schien dem Genre videospieltechnisch wieder Feuer gemacht zu haben. Bald genoss ich Indie-Titel wie Observer und Cloudpunk. Red Strings Club und Ruiner warten noch auf mich.

Mit Cyberpunk 2077 hatte ich mich bewusst nach dem CGI Trailer nicht mehr auseinandergesetzt. Sicherlich gab es Informationen denen man im Internet nicht entgehen konnte. Keanu Reeves spielt Johnny Silverhand. Silverhand? Der Beispielcharakter/NPC aus meinem Regelwerk und diesem Turmabenteuer? Ok… Na mal sehen. Viel wichtiger war für mich, dass Mike Pondsmith parallel zu Cyberpunk 2077 seine neue Version der Vorlage als Cyberpunk Red angekündigt hatte.

Als Cyberpunk 2077 schließlich hier ankam, geladen und installiert war, legte ich los. Ich tauchte ein meine Choombas. Ich tauchte ein, in eine Spielwelt, wie ich sie mir seit „Lass ab von Drachen“ immer gewünscht hatte. Klar es fehlten Elemente, die in Shadowrun Returns stärker vertreten waren, aber hier hatte ich mein Spektakel, hier war die lebendige dystopische Cyberpunkwelt in der man für viele Stunden versinken konnte. Ich halte Cyberpunk 2077 für ein großartiges Spiel, eben weil es mir diesen Wunsch erfüllt hat.

Dabei ist es auch noch sehr gut geschrieben, bietet vieles auf besten The Witcher 3 Niveau und ist absolut hochwertig produziert. Cyberpunk 2077 ist der Katapultstart, der mich zurück in die Niederungen von Runnern, Konzernen und Netzwerken schießt. Ich kann kaum erwarten was CD Project Red an DLCs nachlegt und ich kann kaum erwarten mit Cyberpunk Red meine Freunde in eben dieser Welt in Abenteuer aus meiner Feder zu schicken.