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    [Story]Der zweite Versuch

    Gritta

    An einem Tag in Khorinis, der so heiß war, dass er ihm die Luft aus der Brust zu saugen schien, bevor sein Körper sie verarbeiten konnte, trat Phil auf den Platz vor dem Adanostempel der großen Hafenstadt. Es wimmelte hier nur so von Untoten, die mit gekrümmten Gliedmaßen und eitrigen Wunden durch die Gegend staksten. Alles in allem sah er eine unappetitlich große Menge an Blut und Schleim. Offenbar hatte man mal wieder gründlich übertrieben, aber damit war eigentlich zu rechnen gewesen.
    Phil ließ den Blick über die Zombies um ihn herum schweifen. Eine Gruppe von Halbwüchsigen spielte johlend Fußball mit einem blutigen Klumpen, vielleicht eine Leber oder eine Milz, wer konnte das schon unterscheiden? Jedenfalls hinterließ das Ding ziemlich ekelhafte Flecken auf dem Pflaster. Phils Blick blieb an einer Frau hängen, die völlig ruhig in all dem Trubel stand, als würde sie der massenhafte Aufmarsch von Untoten in der Hafenstadt gar nicht betreffen. Fast hätte Phil sie nicht erkannt, wie sie so an der Umfriedung des Gartens lehnte und eine beachtliche Ladung glänzender Darmschlingen im Arm hielt. Ihr Gesicht war unter der Maske von Blut und schwärenden Pusteln sowieso nicht zu erkennen. Zuerst sah er ihre Füße, die seinem Herzen einen Stich versetzten, ohne dass er genau wusste, wieso. Sie hatte die Sandalen abgestreift und die nackten Zehen in das magere Moos vergraben. Sein Blick glitt ihre Beine entlang, die aus dem zerfetzten Kleid herausragten, und das bittersüße Gefühl verstärkte sich. Es war jedoch, das musste er sich eingestehen, ihr Hintern, der die Erinnerung ans Tageslicht brachte.
    So einen grandiosen Hintern habe ich zuletzt…, dachte er, und dann sprach sein Mund ihren Namen wie von selbst aus: „Gritta?“
    Das blutige Gesicht wandte sich zu ihm um, die Frau verlagerte ihre Eingeweide in die andere Armbeuge. Über ihre Stirn zog sich eine beeindruckende klaffende Wunde, auf die man sogar ein paar Fliegenlarven aufgebracht hatte. Phil konnte sogar bleichen Knochen darunter schimmern sehen.
    „Ja bitte?“, fragte Gritta spitz – wie hatte er ihre schnippische Art geliebt! – und versuchte, sein Gesicht unter der Schminke auszumachen. Da man ihm mit irgendeiner schnell härtenden Masse ein gebrochenes Jochbein modelliert und einen künstlichen Gallertaugapfel über die Wange drapiert hatte, gelang ihr das offenbar nicht, oder sie ließ es sich nicht anmerken, denn im nächsten Augenblick wandte sie sich wieder ihren Darmschlingen zu. Sie waren mit Fett eingeschmiert worden und glänzten im Sonnenschein.
    „Thorbens kleine Gritta, der ich schmierige Limericks geschrieben habe“, fuhr Phil fort und hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Sein Mundwerk war schon immer schneller gewesen als sein Gehirn, was ihm in den fast dreißig Jahren seines Lebens einiges an Ärger eingebracht hatte.
    Ohne von ihren Eingeweiden aufzublicken sagte Gritta: „Mir hat nie jemand Limericks geschrieben, das wüsste ich doch.“ Dann sah sie ihm direkt ins Gesicht. Sie hatte immer noch diese durchdringend grünen Augen: „Ich wäre vor Glück ja durchgedreht.“
    Phil lachte. „Doch, weißt du nicht mehr, als wir bei Meister Leviair strafsitzen mussten, weil wir bei der Predigt, ähm, Unsinn gemacht haben?“
    Gritta schien gegen ihren Willen grinsen zu müssen, aber sie hatte sich schnell wieder im Griff. Um sie noch ein bisschen zu reizen, fügte Phil hinzu: „Du hast aus einer von Lobarts Rüben etwas verdammt Unanständiges geschnitzt und auf den Erntedankaltar gelegt. Und ich habe mich nicht mehr eingekriegt vor Lachen, bis Leviair so rot wurde, dass man ihn für einen Feuermagier hätte halten können.“
    Gritta funkelte ihn an und schüttelte dann den Kopf. „Nein, tut mir leid, das muss eine Verwechslung sein. Ich musste nie strafsitzen und habe auch nie Rüben zu irgendwelchen Gegenständen geschnitzt. Das einzige, was ich mir vorwerfen könnte, ist meine Mitgliedschaft im ‚Phil-hat-einen-kleinen-Schwanz-Club‘, oder war es der ‚Scheiß-auf-Phil-Club‘? Ich kann mich gar nicht mehr so recht erinnern.“
    Sie spielte an ihren Darmschlingen herum, und fuhr dann fort: „Kannst du dich an irgendwelche Einzelheiten aus diesen angeblichen Limericks erinnern, um mir mal ein bisschen auf die Sprünge zu helfen?“
    Einen Moment lang glaubte Phil, sein überschnelles Mundwerk würde ihn genau jetzt, im entscheidendsten Moment, zum ersten Mal im Stich lassen. Eiskalte Lähmung hatte seine Zunge befallen, und er brachte nur ein Krächzen heraus.
    Sie lachte auf, kurz und trocken wie ein zerbrechender Ast. „Übst du schon mal für deine Rolle? Klingt überzeugend untot.“
    Auf einmal kam Leben in Phils Zunge, und ohne überlegen zu müssen rezitierte er:
    „Die schönste Maid hier in Khorinis,
    schnitzt Schweinkram aus Lobarts Zucchinis…“
    „Sie müsst‘ sich stets schämen
    für ihr Benehmen…“, fiel ihm Gritta lachend ins Wort, und er vervollständigte:
    „…weshalb sie die Beste für ihn is‘.“
    Unvermittelt fiel sie ihm um den Hals und murmelte an seiner Schulter: „Pass bloß auf, dass du meine Schminke nicht verschmierst, es geht hier doch gleich los.“
    Fassungslos schloss Phil die Augen und berührte ganz sacht ihre Schultern, als hätte er Angst, dass sie sich auflösen könnte wie ein Traum. Er fühlte sich leicht und vollständig. Es hatte seit seiner Rückkehr nach Khorinis vor ein paar Wochen keinen Tag gegeben, an dem er nicht daran gedacht hatte, wie es wäre, Gritta wiederzusehen – eigentlich hatte es überhaupt keinen Tag gegeben, an dem er nicht an sie gedacht hätte. In Vengard war es nicht allzu gut für ihn gelaufen, und wenn er wieder einmal niedergeschlagen gewesen war, hatte er oft mit offenen Augen von ihr geträumt. All seine Träume hatten mit genau dieser Situation begonnen, in der er sich nun befand. Nun ja, in seiner Vorstellung waren sie zwar nicht als Statisten für die miese Verfilmung eines noch mieseren Romans zurechtgemacht, und Gritta trug auch keine glänzenden Darmschlingen in ihrer Armbeuge. Manchmal wurden Phils Tagträume auch ein wenig expliziter, vor allem, wenn er sich daran erinnerte, wie sie sich hinter Onkel Thorbens Tischlerschuppen zurückgezogen hatten, wo eine alte Strohmatte lag. Sie hatte damals einen kurzen, sehr kurzen Rock getragen, und als er sie voller Angst und Aufregung geküsst hatte – o Innos, sein erster Kuss! -, hatte ihr Atem nach Waldbeeren geschmeckt. Es waren Tagträume wie Rosenranken, sehr süß und so dornig, dass man sich daran blutige Finger holte.
    „Weißt du, wer die Jenna spielt?“, sprudelte es aus Gritta heraus, ohne dass sie ihn losließ. „Natürlich Elena, das Flittchen. Und den Morgan gibt so ein Kerl vom Festland, der vor Schönheit kaum gehen kann.“ Sie rollte theatralisch mit den Augen. Phil war froh, dass sie ganz offensichtlich keine Gedanken lesen konnte.
    „Hast du das Buch eigentlich gelesen?“, fragte Gritta. „Ich fand es ja ziemlich überkandidelt und dahingeschwurbelt, aber als ich gehört habe, dass sie Statisten für die Untoten suchen, dachte ich gleich, dass das ein Riesenspaß wäre für…“. Sie brach verlegen ab und fügte dann lahm hinzu: „…für uns alle, meinte ich.“
    „Mama, wer ist der Zombie, den du da umarmst?“, fragte eine Stimme von links unten, und als Phil hinabsah, stand dort ein untotes kleines Mädchen mit einem kunstvoll ausgefransten Loch in der Wange und nur einem Arm.

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    Cassy

    Phil spürte, wie sich Gritta versteifte und dann hektisch aus seinen Armen löste.
    „Schatz!“, rief Gritta mit etwas zu schriller Heiterkeit. „Toll siehst du aus, ich fürchte mich ja fast zu Tode vor dir.“
    Phil setzte sein Allzweckgrinsen auf und sagte: „Hallo Kleine, ich bin Phil. Ich kannte deine Mutter schon, als noch der Schläfer über das Angesicht dieser Erde wandelte. Aus einem der Kackhaufen, die er hinterlassen hat, ist dann übrigens Khorinis entstanden.“
    Wie jedes Kind, ob lebendig oder untot, begann auch dieses Mädchen bei dem Wort Kackhaufen zu kichern. Dann warf sie einen vorsichtigen Blick zu Gritta hinauf, um zu sehen, was ihre Mutter wohl von so einem Ausdruck hielt.
    „Das ist meine Tochter Cassy“, sagte Gritta und lächelte angestrengt. Einen Wimpernschlag lang sah hinab auf ihre rechte Hand. Phil folgte ihrem Blick und bemerkte dort den schmalen goldenen Ehering.
    „Oh, ja dann… herzlichen Glückwunsch“, sagte Phil und wandte sich wieder Cassy zu: „ist dir das nicht zu gruselig mit all den fiesen Zombies hier?“
    „Die sind doch alle nur geschminkt“, sagte Cassy ein wenig mitleidig.
    „Achso. Glück für uns!“, erwiderte Phil. „Wie haben die das mit deinem Arm gemacht? Trägst du ihn irgendwie auf den Rücken gebunden?“
    Gritta sog scharf die Luft ein, doch bevor sie etwas sagen konnte, erklärte Cassy: „Nein, der fehlt mir wirklich.“
    Phil spürte, wie er unter seiner Schminke errötete, was man natürlich nicht sehen konnte.
    „Ich bin als kleines Kind zwischen zwei von Papas Fässern eingeklemmt worden und dann konnten sie den Arm nicht mehr reparieren. Aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern.“
    Dein Glück, dachte Phil und blickte zu Gritta, die so aussah, als ob sie sich noch genau daran erinnern konnte.
    Sie senkte den Blick und sagte: „Du musst mich für die schlimmste Mutter aller Zeiten halten.“
    Phil schüttelte den Kopf. In Wirklichkeit hielt er Grittas Ehemann für den schlimmsten Vater aller Zeiten, zog es aber vor, das nicht zu sagen.
    „Paul handelt mit Salzfisch in Fässern“, sagte Gritta. „Import-Export.“
    Paul war definitiv der schlimmste Vater aller Zeiten.
    „Wankt Paul hier auch irgendwo herum?“, fragte Phil mit gespielter Unbekümmertheit.
    „Nein, er hat uns nur abgesetzt und ist dann wieder zu seinen Fischen zurück.“
    Phil lag eine unglaubliche Pointe auf der Zunge, aber mit aller Kraft schluckte er sie hinunter. Sogar er wusste, dass es nicht gerade vorteilhaft war, sich vor Pauls Frau und Pauls kleiner Tochter über Paul lustig zu machen.
    „Ach wirklich? Große Klasse!“, antwortete er in einem Tonfall, den er sonst Freunden vorbehielt, die eine Rolle ergattert hatten, für die er sich selbst auch beworben hatte
    Cassy streckte ihre vorhandene Hand aus und versuchte, den glitschigen Augapfel auf Phils Wange zu berühren. Phil beugte sich ein Stück herunter, damit sie ihn erreichen konnte.
    „Der ist toll und fühlt sich richtig echt an“, sagte sie mit anerkennendem Schaudern in der Stimme.
    Da klatschte jemand vernehmlich in die Hände und die Gespräche verstummten. Ein junger Mann mit langem schwarzem Haar, das zu einem Pferdeschwanz gebunden war, stand auf der Tribüne vor dem Adanosheiligtum. Er trug abgelegte Armeeklamotten, darüber eine Art Schulterpanzer aus Templerbeständen und sah ganz aus wie der schlagkräftige Arm künstlerischer Subkultur.
    „Das ist der Regisseur“, sagte Cassy vertraulich.
    „Ach, tatsächlich?“, schmunzelte Phil.
    Der Regisseur begann mit einer Ansprache an die versammelten Statisten. Seine Stimme war laut und volltönend, und wenn er grinste, was eigentlich immer der Fall war, zeigten sich charmante Grübchen auf seinen Wangen.
    „Hat einer von euch Ahnung vom Filmemachen?“, rief er in die Runde.
    Ein paar der Zombies, darunter auch Phil, hoben die Hand.
    „Großartig“, johlte der Regisseurs, „dann wisst wenigstens ihr, was wir hier treiben.“
    Alle Untoten von Khorinis brachen in Gelächter aus. Dann begrüßte er sie zu dieser einzigartigen Produktion, die den packendsten Roman, der je über Khorinis geschrieben worden sei, in ein filmisches Spektakel der Superlative transformieren würde. Darüber lachten alle Untoten noch mehr, denn jeder wusste, dass „Durch einen Spiegel ein dunkles Bild“ zur billigsten Kategorie abgerockter Zombieromane gehörte, und dass der Film zumindest in diesem Punkt verdammt nah an der Vorlage bleiben würde.
    „Die Entlohnung für eure Mühe ist so fürstlich, dass ich sie euch nicht nennen, sondern nur zeigen kann“, fuhr der Regisseur grinsend fort und nestelte an seiner Tasche herum. Er zog eine kleine Münze heraus und hielt sie so, dass sich das Sonnenlicht darauf brach. Nun grölten die Untoten regelrecht, und die Regieassistentin, eine drahtige kleine Frau mit halb rasiertem Schädel und erstaunlich vielen Silberringen im Gesicht, brüllte gegen das Gejohle an: „Das ist immer noch mehr, als wir an diesem Schund verdienen werden!“
    Noch mehr Gelächter erscholl, und Phil hatte den Verdacht, dass zumindest dieser Teil der Rede einstudiert war und heute nicht zum ersten Mal zum Einsatz kam.
    Der Regisseur erklärte noch einmal die Handlung der ersten Szene. Die Aufgabe der Statisten bestand darin, möglichst zähnefletschend auf den Helden zuzukommen und dabei mit allerlei billigen Requisiten wie alten Tischbeinen oder Holzknüppel zu drohen. Am Nachmittag würde das Set zum Kloster weiterziehen.
    „Einer von euch darf sich übrigens erschießen lassen“, fuhr die Regieassistentin fort. Ich halte die Augen offen, ob ich einen geeigneten Kandidaten entdecken kann.“
    „Das Ganze soll möglichst authentisch rüberkommen“, übernahm der Regisseur. „Ihr seid keine geschminkten Khoriner, ihr seid tot, versteht ihr? Tot und besessen von einem Erzdämon. Bis es hier losgeht, hat jeder von euch die Aufgabe, sich zu überlegen, wie er wohl gestorben ist. So könnt ihr es fühlen.“
    Er verdrehte die Augen nach innen und streckte steif die Arme nach vorne, um in einer zweifelhaften Zombieimitation von der Bühne zu wanken. Phil fand, dass der Regisseur definitiv auf der richtigen Seite der Kamera stand.
    Gritta und Cassy hatten sich auf eine der steinernen Bänke gesetzt. Cassy winkte mit ihrem einen Arm Phil begeistert zu, was ihm einen Stich im Herzen versetzte. Er hasste Paul jetzt schon.
    „Komm rüber, Phil!“, rief sie. „Erzähl mir, wie du gestorben bist.“
    Phil setzte sich zwischen die beiden und grinste. „Das war so: Ich war Schauspieler in Vengard. Doch als ich die Bühne betrat, geschah etwas Furchtbares.“
    „Ja, dein Auftritt“, warf Gritta von der Seite ein.
    Phil ließ sich nicht beirren. „Etwas, das noch nie zuvor geschehen war.“
    „Die Leute haben sich amüsiert?“
    „Ich war brillant wie immer. Doch als ich mich zum letzten Mal verbeugt hatte, ließ ein Bühnenarbeiter über mir einen schweren Hammer fallen, mit dem er den Vorhang befestigen sollte. Der zertrümmerte mein Jochbein und mein Auge und ich starb unter dem Applaus des Publikums.“
    „Die haben dem Bühnenarbeiter applaudiert“, sagte Gritta.
    Phil wandte sich zu Gritta um, die viel näher saß, als er es in Erinnerung hatte. Ihre Gesichter waren sich plötzlich ganz nah. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber es kam nichts heraus. Auch Phil hatte vergessen, was er ihr auf ihre letzte spitze Bemerkung hatte erwidern wollen. Sein Kopf war wie leergefegt. Gritta lachte und schüttelte ihr Haar, aber sie wirkte eher erschreckt als amüsiert. Ihre kleinen Hände lagen zu Fäusten geballt auf ihren Oberschenkeln.
    „Weißt du, wie ich gestorben bin?“, rief Cassy von rechts. „Ich habe mich zwischen Papas Fässern eingeklemmt und wurde von zwei riesigen Tonnen voller Salzfische zerquetscht.“
    „Holst du Mami mal einen Schluck Wasser, Schatz?“, fragte Gritta. „Da drüben gibt es einen Stand, du darfst dir auch gern ein Stück Melone nehmen.“
    „Au ja“, sagte Cassy und hüpfte hinüber zu dem provisorischen Ausschank.
    „Niemand hatte damals Schuld daran, dass sie ihren Arm verloren hat“, sagte Gritta, sobald ihre Tochter außer Hörweite war. „Sie ist ins Lagerhaus hineingeschlüpft, als Paul Inventur gemacht hat. Und dann ist sie dort herumgeklettert, obwohl Paul ihr gesagt hat, sie solle draußen warten. Aber sie war noch zu klein, um die Gefahr einschätzen zu können.“
    Sie ließ den Kopf hängen, so dass ihr das blonde, heute mit Kunstblut bespritzte Haar ins Gesicht fiel.
    Und genau deshalb sollte Paul ja auch auf sie aufpassen, dachte Phil und sagte: „Klar, ein Unfall, keiner hat Schuld.“
    „Ja, ein Unfall“, sagte sie. „Paul kommt nach dem Dreh der ersten Szene und holt uns zum Mittagessen ab. Wir wollten mal wieder bei Thekla essen, kennst du sie noch? Sie hat jetzt die Taverne am Hafen übernommen und ihr Eintopf ist nach wie vor göttlich.“
    Sie sah Phil von der Seite an. „Komm doch mit, dann kannst du ihn kennenlernen.“
    Phils Magen schien eine halbe Drehung nach links zu machen.
    „Ich habe immer so wenig Appetit, wenn ich so ein Zombiemassaker…“
    „Ach Unsinn, komm schon!“, rief Gritta und winkte Cassy zu, die mit einem Pappbecher Wasser in der einen Hand und einem großen Stück Melone zwischen den Zähnen zu ihnen herüberkam. Phil dachte, dass Cassy auch seine Tochter hätte sein können, und dass sie dann noch beide Arme hätte und dieses verdammte Stück Melone nicht wie ein Hund mit den Zähnen apportieren müsste.
    „Dann komme ich gern mit“, sagte er. „Ich freu mich schon.“
    Geändert von El Toro (29.10.2020 um 09:24 Uhr)

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    Paul

    Eine Stunde später war die Szene im Kasten. Der Schönling vom Festland, den Phil, wie sich herausstellte, sogar weitläufig kannte, machte als Morgan gar keine so schlechte Figur, was eindeutig durch die Flachheit der literarischen Vorlage bedingt war. Cassy nahm ihre Rolle ausgesprochen ernst und schwang mit ihrem einzigen Arm einen rostigen Schürhaken so überzeugend, dass Phil lieber in Deckung ging.
    Nach dem Take rief die Regieassistentin, dass nun eine Stunde Pause sei und sich die Damen und Herren Zombies dann in der Maske einfinden sollten, um die Schminke aufzufrischen. Außerdem habe sie sich ein paar Kandidaten für die Rolle des niedergeschossenen Untoten ausgeguckt. Der Auserwählte würde nach der Pause von ihr benachrichtigt werden.
    Gritta, Cassy und Phil standen an der Straße, die hinunter zum Hafen führte und warteten auf Paul.
    „Wenn er jemanden zum ersten Mal trifft, ist er ein bisschen schüchtern“, sagte Gritta.
    „Das wird toll“, erwiderte Phil. „Es gibt so vieles, worüber wir reden könnten. Salzfische und Holzfässer haben mich schon immer fasziniert, das weißt du doch.“
    Gritta blinzelte ihn unsicher an, dann sagte sie: „Alles, was Sie schon immer über Salzfisch wissen wollten und nie zu fragen wagten.“
    Phil lachte. „Genau.“
    Einen Moment lang lächelten sie beide ein wenig hilflos.
    „Ich kann immer noch nicht glauben, dass wir uns nach so langer Zeit wieder über den Weg gelaufen sind“, fuhr Gritta fort. „Ich dachte, du wärst längst berühmt.“
    „Das ging mir mit dir genauso“, sagte Phil.
    „Ich habe öfter an dich gedacht“, sagte Gritta leise. „Wie läuft es denn so bei dir?“
    Phil dachte an seine leeren Taschen und das schäbige Zimmer, das er gemietet hatte, als er nach Khorinis zurückgekommen war und die Stelle als Lehrer in Krankheitsvertretung, die er an der Schule im Hafenviertel angenommen hatte, um über die Runden zu kommen.
    „Bei mir läuft es blendend“, sagte er. „Kurz vorm Durchbruch.“
    Als Paul endlich eintraf, war Phil wie vor den Kopf gestoßen. Er war nicht nur mindestens zehn Jahre älter als Gritta, er war auch einen halben Kopf kleiner als sie und musste den hals recken, als er sie zur Begrüßung küsste. Paul war gedrungen und muskulös und wie von oben sehr gut zu erkennen war, wurde sein dunkles Haar oben auf dem Schädel dünn. Als Gritta sie einander vorstellte, sah er Phil nur kurz flüchtig ins Gesicht, bevor er den Blick wieder schweifen ließ.
    „Du bist also dieser Spaßmacher, von dem Gritta mir erzählt hat“, stellte Paul fest.
    „Ja, aus irgendeinem Grund nennen die in Khorinis es Pädagoge, aber so in etwa kommt das hin“, sagte Phil.
    Paul lachte mit einer unangenehm hohen Stimme, die Phil an das Meckern einer Ziege erinnerte.
    „Ach, du unterrichtest, ist ja toll“, sagte er und sah auf irgendeinen Punkt hinter Phil.
    In der Taverne merkte Phil zunächst nicht, dass die Leute sie anstarrten, bis die Kellnerin zu ihnen trat. Sie hatte feuerrote krause Haare und trug ein viel zu enges Kleid.
    „Was ist denn mit euch los?“, fragte sie und zeigte mit ihrem Stift auf Gritta, Cassy und Phil.
    „Wir sind tot“, verkündete Cassy strahlend.
    „So ist das“, gab die Kellnerin zurück. „Das bedeutet entweder, ihr habt heute schon bei uns gegessen, oder ihr spielt bei diesem Film da oben auf dem Marktplatz mit.“
    Paul warf einen Blick in den Ausschnitt der Kellnerin und wieherte vor Lachen. Überhaupt schien es das Einfachste auf der Welt zu sein, ihn zum Lachen zu bringen. Er lachte beinahe über alles, was Gritta sagte, über das meiste, was Cassy erzählte und sogar einen guten Teil von Phils Bemerkungen, bis seine Wangen gerötet und seine Augen feucht waren. Gritta hatte ihn offenbar nicht wegen seiner Jugend oder Schönheit geheiratet, sondern weil er leicht zu unterhalten war.
    Gerade tupfte er sich die Augen ab. „So einen Lehrer wie dich hätte ich auch gerne gehabt. Einen, der Kinder zum Lachen bringen kann“, keuchte er.
    Phil nahm einen Löffel Eintopf, kaute gründlich – es schmeckte nach gar nichts – und sagte dann: „Ja, es war schon immer mein Traum, entweder auf den Bühnen Vengards groß herauszukommen oder in einer neunten Klasse aushilfsweise Religion zu unterrichten.“
    Paul, der gerade ein Stück Steak in den Mund geschoben hatte, prustete los. Kleine Fleischfetzten stoben über den Tisch. Die Leute am Nachbartisch drehten sich erschrocken um.
    „Innos, das tut mir leid“, japste Paul und zerrte die Serviette vom Schoß, um damit auf dem Tischtuch herumzuwischen. „Phil, du musst mich für das letzte Schwein halten.“
    „Nicht doch“, lächelte Phil. „Kann ich dir vielleicht noch etwas bestellen? Ein Wasser? Einen Eimer Roggenschlempe im Trog?“
    Pauls Gesicht sank auf das Tischtuch. Er gab bedrohlich keuchende Geräusche von sich. „Bitte aufhören“, stöhnte er.
    Phil hörte auf, aber nur, weil er spürte, dass Gritta ihn mit dem Knie anstieß. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, um einen Blick unter den Tisch zu werfen, denn er war sich nicht sicher, ob sie ihn absichtlich angestoßen hatte.
    Es schien keine Absicht gewesen zu sein. Gritta hatte wieder ihre Sandalen abgestreift und die Zehen ineinander gekrallt, so dass sich ihre Knie unwillkürlich nach außen gedreht hatten. Er blickte auf die schöne glänzende Haut ihrer Beine, dann wieder auf Pauls dunkelrot angelaufenes Gesicht und die winzigen Flöckchen Speichel, die in seinen Mundwinkel trockneten.
    Warum ausgerechnet Paul? war die große Frage des Nachmittags.

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    Phil

    Nachdem Paul sie wieder zum Marktplatz begleitet hatte, war die Stimmung völlig umgeschlagen. Gritta vermied es, Phil anzusehen, und auch Cassy drängte sich schüchtern an die Seite ihrer Mutter und sprach wenig. Phil selbst hatte Kopfschmerzen bekommen und verspürte wenig Lust, noch weitere Stunden damit zu verbringen, einen gehirnamputierten Untoten zu spielen. Es ging ihm auf den Geist, dass die anderen Zombies immer noch Spaß an der Sache zu haben schienen. Ein Halbstarker mit tonnenförmig modellierter Brust und eine junge Frau, deren Unterlippe lila wie ein Stück Leber auf das Kinn hinabhing, hatten die Milz aus dem Staub des Marktplatzes ausgegraben und warfen sie einander kichernd zu. Phil hatte sich vor der Maske eingefunden und wartete resigniert darauf, wieder in Form gebracht zu werden, während er die ärgerliche Ausgelassenheit der anderen zu ignorieren versuchte. Gritta wartete mit Cassy auf einer der Steinbänke. Cassy spielte gedankenverloren an den mittlerweile staubigen Darmschlingen ihrer Mutter herum, die dringend eine Portion frisches Fett brauchten.
    Die Milz war dem tonnenbrüstigen Untoten aus den Händen gerutscht und landete klatschend neben Phil auf dem Boden. Phil hätte ihn am liebsten angeschnauzt, doch ihm fehlte schlicht die Kraft. Es war unglaublich heiß auf dem Marktplatz und das Essen schien ihn jeder Energie beraubt zu haben. Cassy sprang auf und warf die Milz dem Mädchen zu. Im Nu war sie in das Spiel verwickelt. Sie war die einzige, der es Phil nicht übelnahm.
    Gritta kam zu ihm hinüber.
    „Tolles Mittagessen“, sagte sie gereizt und setzte sich neben ihn auf den Boden vor die Maske.
    „Sensationell“, gab er giftig zurück. „Immerhin wissen wir nun, wie wir Paul zum Lachen bringen können. Er erinnert mich außerdem an meinen Opa. Wie alt ist er eigentlich?“
    Gritta funkelte ihn an. „Was willst du damit sagen?“
    Jetzt ganz vorsichtig, sagte ihm die dünne Stimme der Vernunft.
    „Ich freue mich einfach, dass du glücklich bist“, antwortete er.
    „Ich bin glücklich“, fuhr sie ihn an, als hätte er das Gegenteil behauptet - was in gewisser Weise zutreffend war.
    „Ich wollte deinen Mann kennenlernen, um mich krank vor Eifersucht zu fühlen, und du präsentierst mir…Paul? Ist das dein Ernst?“
    „Er ist romantischer veranlagt, als er aussieht“, zischte Gritta.
    „Das glaube ich gern. Hat er vor dir niedergekniet, als er dir den Heiratsantrag gemacht hat?“
    Gritta beäugte Phil misstrauisch und nickte dann.
    „Und musstest du ihm danach wieder aufhelfen?“, fragte er mit boshafter Heiterkeit. Er hatte richtig Lust bekommen, ein paar Punkte zu machen.
    „Du einzigartig blöder Arsch“, sagte Gritta nicht ohne gewisse Anerkennung.
    „Was macht er denn, um dein Herz höher schlagen zu lassen?“
    Sie starrte auf ihre Hände und schwieg verbissen. Phil spürte, wie nackte Wut in ihm aufstieg. Am liebsten hätte er Gritta an den schmalen Schultern gepackt und geschüttelt.
    „Ich muss es wissen. Er ist nicht witzig, er ist nicht brillant, er sieht nicht einmal gut aus.“
    „Er ist freundlich“, murmelte Gritta.
    Phil war fassungslos. „Er ist freundlich? Das ist ja nicht gerade viel.“
    „Zu mir.“
    „Zu dir.“ Phil schnaubte. „Freundlich zu dir. Hat er wenigstens einen zwei Ellen langen…“
    Gritta sprang auf und hob die Hand, als wolle sie ihm ins Gesicht schlagen.
    Mach schon, dachte Phil. Das wäre das Beste für uns alle.
    Dann bemerkte er, dass sie die Hand gehoben hatte, um sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen.
    „Mir war durchaus klar, dass du Paul nicht mögen würdest. Aber dass du so gemein sein könntest, das hätte ich nicht gedacht.“
    „Ich habe überhaupt nichts gegen ihn, warum auch? Er hat getan, was jeder andere auch getan hätte. Wäre ich nur einen halben Meter groß und achtzig Jahre alt, dann würde ich mir eine Frau wie dich auch nicht entgehen lassen. Klar ist er freundlich zu dir. Er sollte dir und den Göttern jeden Tag auf Knien danken, dass du dich mit ihm abgibst!“
    „Du hattest deine Chance“, schnappte sie.
    „Die Frage ist vielmehr, ob du eine Chance hattest.“
    Sie wandte sich abrupt ab und ließ ihn der der Nachmittagshitze sitzen. Er glaubte, dass ihre Schultern bebten, aber sicher war er sich nicht.
    Die Milz kam herangerollt und blieb schlaff und klebrig zu seinen Füßen liegen. Er trat dagegen, um sie Cassy zuzuspielen. Das Ding gab unangenehm unter seinem Tritt nach.
    Dann wurde er in die Maske gerufen, wo zwei junge Männer die Ölschminke in seinem Gesicht auffrischten und den Augapfel mit einer Art Schleim bepinselten, damit er wieder schön glänzte. Die Regieassistentin mit dem halbrasierten Schädel und den Silberringen im Gesicht kam in das Zelt, sah Phil und strahlte ihn an. Bei näherer Betrachtung war sie unglaublich hübsch. Sie beugte sich zu Phil hinab, so dass er freie Aussicht in den Ausschnitt ihres Ledermieders hatte und sagte: „Du warst einfach großartig. Du und deine Freundin. Ihr seid die gruseligsten Untoten hier am Set.“ Sie lachte heiser, was in Phils Ohren ausgesprochen verführerisch klang. „Ricki und ich finden, dass Morgan euch beide umlegen sollte, bevor er selbst einen auf die Omme kriegt.“
    Ricki war, folgerte Phil, der Regisseur und große Zampano hier und vermutlich auch ihr Liebhaber.
    „Ich erkläre dir die Sache mit dem Blutbeutel, es ist wirklich ganz einfach. Du musst dich, wenn das Ding explodiert, einfach fallen lassen, als wärst du getroffen worden.“ Sie sah ihm prüfend ins Gesicht und befühlte sein künstliches Jochbein. Dann wanderten ihre weißen Finger mit den schwarz lackierten Nägeln hinter sein linkes Ohr, was ihm eine angenehme Gänsehaut verursachte.
    „Genau hier“, schnurrte sie und griff in eine nierenförmige Schale auf dem Schminktisch. Sie holte einen dunkelroten gallertigen Beutel heraus und applizierte ihn in der Kuhle zwischen Phils Ohr und Kieferknochen. Dann tätschelte sie ihm die entstellte Wange.
    „Das Ding explodiert, wenn du den Kopf in diese Richtung ruckst. Könnte ein bisschen laut werden am Ohr, aber taub wirst du davon nicht werden.“
    „Schade“, sagte Phil, woraufhin sie wieder heiser auflachte.
    „Wusstest du, dass die Autorin dieses Horrorschinkens auch als Zombie hier herumstakst?“, fragte sie im Plauderton. „Unser Masken-Mike sagt, dass er für sie fast keine Schminke brauchte.“
    Jetzt war es Phil, der lachte.

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    El Toro ist offline
    Ricki

    Als Phil aus der Maske trat, kam Gritta mit wehenden Haaren auf ihn zugelaufen. Cassy folgte ihr und kreischte schon von Weitem: „Sie wollen Mama ein Loch in die Brust schießen, hurra!“
    „Siehst du, wenn man sich etwas nur genügend wünscht, dann wird es irgendwann Wirklichkeit“, erwiderte Phil.
    Cassy strahlte ihn an und nickte begeistert. Phil wagte einen Blick zu Gritta hinüber, die ebenfalls lächelte – nicht so strahlend wie Cassy, aber gemessen daran, wie sie vorhin auseinandergegangen waren, war dieses Lächeln ziemlich gut.
    Die hübsche Regieassistentin kam mit Ricki, dem Regisseur, zu ihnen hinübergeschlendert.
    „Das wird ein großartiger Film“, hauchte Cassy.
    Rickis ohnehin breites Grinsen eskalierte.
    „Eines Tages werden alle Leute behaupten, sie wären in diesem Film als Untote herumgelaufen“, fügte Phil hinzu, teils, weil er Cassy nicht die Illusionen nehmen wollte, teils, weil er sehen wollte, ob Ricki es schaffte, so breit zu grinsen, dass seine Mundwinkel am Hinterkopf zusammentreffen und der obere Teil seines Gesichts einfach abfallen würde.
    Ricki brüllte vor Lachen.
    „Junge, im Arschkriechen bist du schon ein Profi. Hast du mal im Showgeschäft gearbeitet?“
    „Acht Jahre auf den Bühnen von Vengard“, antwortete Phil.
    „Und jetzt wieder in Khorinis, was? Pass auf, hier wirst du über kurz oder lang zum Star.“
    Ricki wandte sich an seine Assistentin: „Sheila-Babe, erklär unseren Turteltäubchen doch mal, was von ihnen erwartet wird. Und ich zeige unserer jungen Lady hier, wie so eine Blutbeutelexplosion funktioniert. Sonst kriegt sie noch einen Schreck, wenn plötzlich massenweise roter Schleim aus ihrer Mami schießt. Komm mal mit, Schätzchen.“
    Ricki streckte seine Hand aus, die Cassy voller Begeisterung ergriff. Er führte sie in die Maske, wo sie hinter dem grünen Vorhang verschwanden.
    Sheila bedeutete ihnen, ihr zu folgen. Sie gingen zum nordöstlichen Stadttor, wo Scheinwerfer unter mit winzigen Spiegelscherben besetzten Schirmen weißes Licht und trockene Hitze verbreiteten. Ein paar andere Statisten lungerten bereits dort herum und warteten auf ihren Einsatz, die Filmcrew wuselte um die Kameras herum. Auf dem Boden lag eine Menge muffig aussehender Strohsäcke um eine abgebrochene Säule aus hellem Kunststoff herum, die vermutlich Marmor imitieren sollte.
    Sheila erklärte, dass Gritta als erste getroffen werden sollte. „Wenn der Morgan schießt, beugst du dich kurz vornüber, so dass dein Beutel explodiert. Dann taumelst du zurück, aber nur ein, zwei Schritte. Du kannst deine Gedärme ruhig fallen lassen, so dass sie nochmal ordentlich eingenässt werden von der Pampe aus dem Beutel. Aber dann gehst du wieder auf die Kamera zu, als könne dich nichts aufhalten, deine Eingeweide schleifen hinter dir her, aus deiner Brust quillt unablässig Blut – das wird der Hammer, Süße. Aber bevor du Morgan erreichen kannst, lässt du dich auf einen der Säcke fallen.“
    Sheila wandte sich an Phil: „Du wartest ab, bis der zweite Schuss fällt. Du lässt deinen Beutel platzen, sinkst dann ich dich zusammen und kippst seitlich weg.“ Sie schenkte ihm einen koketten Augenaufschlag. „Außer natürlich, dir ist nach etwas Aufregenderem zumute, dann lässt du dich nach hinten fallen. Aber achte darauf, dass du auf einen der Säcke fällst, sonst könnte das unangenehm werden.“
    Nun wurden die übrigen Untoten auf ihre Plätze geschickt. Sie sollten sich nicht vom Fleck bewegen, sondern nur langsam und drohend ihre provisorischen Waffen schwingen. Der Kerl, der den Morgan spielte – ein Schauspieler der Kategorie, die nur zwei verschiedene Gesichtsausdrückte beherrschte, diese aber perfekt, was für einen Film wie diesen völlig ausreichte -, stand lässig neben einem Wassertrog nahe dem Tor. Er sah einfach umwerfend aus, das musste Phil zugeben, und er hatte nicht einmal einen Ansatz von Tiefgang. Ein bedauernswerter Statist lag darin in einer Pfütze aus trübem warmem Wasser und starrte in den weißen Himmel, unter dem Stadttor lag das künstliche Hinterteil eines Pferdes, in dessen Schenkel sich das Gitter des Tores gebohrt hatte.
    Auch Ricki kam, mit Cassy an der Hand, zu ihnen. Sie war bester Laune, denn Ricki hatte ihr die Milz als Souvenir überlassen.
    Ricki kniete sich neben Sheila direkt außerhalb des Bildausschnittes auf den Boden, Cassy setzte sich im Schneidersitz dazu und stützte das Kinn auf ihre Hand. Das blutige Organ ruhte auf ihrem Schoß und zauberte dort einen eindrucksvollen dunkelroten Fleck.
    „Film ab“, rief Ricki unvermittelt. Phil zuckte zusammen. Lief die Kamera etwa schon? Er sah zu Gritta, die genauso überrascht zu sein schien wie er. In diesem Moment spürte er ihre kleine kalte Hand in seiner. Er drückte kurz ihre Finger und ließ los.
    „Action!“, kommandierte Ricki, und Phil ließ seine Gesichtszüge erschlaffen. Er wankte in Richtung Morgan, der geschmeidig seine Waffe hob und rief: „Bleibt stehen, wo ihr seid! Nehmt euch in Acht vor mir, wenn ihr den Abend noch erleben wollt!“
    Phil machte einen Satz vorwärts und gab mit schriller, kraftloser Stimme eine Art Gelächter von sich. Er schwang ein Stück Holz, das wie ein aus dem städtischen Galgen herausgebrochener Balken aussah.
    Gritta hatte sich in Bewegung gesetzt. Mit gebückter, zielstrebiger Langsamkeit schlich sie dahin, wie eine Leiche, die unheilige Magie wiederbelebt hatte. Ihre Arme baumelten schlaff an ihren Schultern.
    „Erst das Mädchen!“, rief Ricki, und Morgan zielte auf Gritta. Phil hörte einen durchdringenden Knall und Grittas Ächzen, doch er blieb nicht stehen. Mittlerweile hatte er die Kunststoffsäule beinahe erreicht.
    „Jetzt der andere“, ließ sich Ricki vernehmen, und der zweite Schuss fiel. Der Knall direkt an seinem Kieferknochen war so laut, dass sein Ohr sofort taub war und er nur noch ein Klingeln hörte. Er taumelte zur Seite und kollidierte mit etwas. Aus den Augenwinkeln erkannte er die Säule und hatte einen genialen Einfall. Im Fallen schlug er mit dem Kopf gegen den rauen Kunststoff, wo er einen blutigen Fleck und Teile des glibberigen Augapfels hinterließ, und kam dann auf einem der Strohsäcke auf.
    „Cut!“, johlte Ricki.
    Der zweite Versuch

    Phil blieb einen Moment benommen liegen. Kopf brummte, seine Augen tränten, in seinem Ohr klingelte schrill ein hektisches Glöckchen. Es roch nach Schießpulver und Rübensirup, aus dem das Kunstblut hergestellt wurde. Zu dem Klingen gesellte sich nun ein tiefes Grollen, das Phil zunächst nicht einordnen konnte. Doch noch bevor sein Gehirn begriff, hatte sein Körper bereits reagiert. Ein Stoß Adrenalin nach dem anderen jagte durch seine Blutbahnen, er rappelte sich auf und deutete mit brummendem Schädel eine Verbeugung in Richtung des tosenden Applauses an. Ricki kam mit einem allumfassenden Grinsen zu ihm hinüber und schlug ihm so kräftig auf die Schulter, dass Phil taumelte. Er packte Phils Arm und hob ihn in Siegerpose in die Höhe. Cassy hüpfte jubelnd um ihn herum und reckte ihren Arm ebenfalls in die Höhe.
    „Der Move des Tages, Kumpel“, sagte Ricki. „Einfach nur wow.“
    Phil fühlte sich so schwindelig, dass er sich wieder auf die Strohsäcke plumpsen ließ, und plötzlich war Gritta da, legte ihre Hand auf seine Brust und lächelte ihn so ausgelassen an, wie sie es hinter Thorbens Schuppen getan hatte. Ihr blutverklebter Oberkörper hob und senkte sich.
    „Ich wusste, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis du dich wieder mit mir im Heu wälzt“, murmelte Phil, und sie knuffte ihn kichernd in die Seite. Im nächsten Augenblick spürte er ihre Lippen auf seinen, ganz zart nur, aber es reichte. Cassy warf sich zwischen sie und rief: „Au ja, wir schlafen heute Nacht alle zusammen hier auf den Säcken!“
    „Warum eigentlich nicht“, sagte Phil und sah Gritta an. Sie sagte zwar nichts, aber sie fuhr ihm durch das verklebte Haar und lächelte wieder.
    Ricki ließ sich neben die drei fallen und lachte dröhnend. „Ihr zwei seid richtig gut, wisst ihr das? Nachher im Kloster habe ich noch was Besonderes mit euch vor, freut euch!“
    Er sah zur Säule hinüber und sagte fachmännisch: „Tolle Idee mit dem Blutfleck. Der Kameramann hat richtig dicht draufgehalten. Wir werden das nachher nochmal so ähnlich wiederholen. Dann sollte unbedingt noch Hirnmasse ins Spiel kommen, am besten in Graugrün, damit sie schon verwest aussieht.
    Er blinzelte von Phil zu Gritta und wieder zurück. „Ihr sehr aus, als ob ihr Lust auf einen zweiten Versuch hättet.“
    „Klar“, sagte Cassy.
    „Ja“, sagte Gritta.
    „Einstimmig angenommen“, sagte Phil. „Wir sind alle für einen zweiten Versuch.“

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