Zitat von
Tjordas
Natürlich hatte sie recht - es war zu einem Teil sein Verschulden, das seine Luci in diesem erbärmlichen Zustand war. Vielleicht sogar zu einem Großteil? Dass er in einem Zwiespalt mit sich war, war kaum zu übersehen, so unruhig wie sein Blick zwischen den beunruhigenden Beweisen in seinen Händen, Fiorentinis anklagenden Augen und dem geschundenen Gesicht seiner Kleinen umherirrte. Doch sein altbekannter und nur zu offensichtlicher Stolz ließ es nicht zu, seiner Kollegin diesen Triumph zu lassen und sich selbst und all seine Erziehungsmethoden zu diffamieren.
"Machen Sie sich nicht lächerlich", bellte er regelrecht zurück, als sie ihm die Pillen hinhielt, deren Sinn er erst nach einer viel zu langen Dauer verstand. Und doch nahm er sie. Wütend zwar, grob wie mit einer Bärenpranke, doch er nahm den Blister an sich und versteckte ihn wie ein paar Drogen in seiner Tasche.
"Sie glauben doch wohl selber nicht, dass es zu sowas gekommen ist. Die Ductrats sind jämmerliche, unmoralische Feiglinge, aber keine Sadisten. Zudem mit sowas wie einem Ehrenkodex. Nein, Fiorentini, ich weiß, wo ich Luci habe herumstromern lassen und ich weiß, dass ich sie gut genug erzogen habe, vor wem sie sich in Acht nehmen muss. Wer auch immer dafür verantwortlich ist, hatte es auf sie speziell abgesehen. Vielleicht Profis? Vielleicht auch eine Botschaft von rivalisierenden Fraktionen. Aber nicht einfach irgendwelche Straßenköter. Hier will jemand der Familie ans Bein pissen und meine Luci machen sie zur lebendigen Nachricht an uns. Nein, mir können Sie das nicht zuschieben: Um sie vor solchen Leuten zu schützen, hätte ich Luci in einen goldenen Käfig sperren müssen und da wäre sie verkümmert wie eine Pflanze ohne Sonnenlicht."
Vor Wut und Aufregung begann er zu spucken, während er sprach und trotzdem wurden seine Augen glasig bei dem Gedanken, er hätte das alles verhindern können. Er setzte sich wieder zu seinem Zögling ans Bett auf einen ramponierten Rollhocker, der daneben stand und stützte seine Ellenbogen auf die Matratze, sein Gesicht in seine Hände vergraben und die Augen auf das geschundene Gesicht Luceijas gerichtet.
"Scheren Sie sich weg. Holen Sie sich meinetwegen täglich eine Krankenakte ab, aber lassen Sie Ihre Pfoten von ihr. An ihre Haut kommen keine anderen Finger mehr als meine."
Zum Ende seines Satzes hin sank seine Stimme mehr und mehr zu einem Murmeln hinab. In seinen Händen hielt er vorsichtig eine bandagierte Hand Luceijas und es war nicht ganz klar, ob er damit sie oder sich selbst zu beruhigen versuchte. Stumm wartete er so ab, bis seine Kollegin endlich den Raum verließ.
Sergio wurde ein Stammgast des Krankenhauses. Noch am selben Tag hatte er beim Leiter der Station darauf bestanden, natürlich nicht ohne eine erhebliche Summe an das Krankenhaus zu stiften, dass eines der Betten im Bereitschaftsschlafraum für ihn frei blieb und er so nahezu ununterbrochen in Luceijas Nähe sein konnte. Oft verließ er das Krankenhaus nur wenige Stunden täglich, um Arbeit von seinem Labor mitzubringen und die Besuchszeit so wenigstens halbwegs effektiv füllen zu können. Die restliche Zeit verbrachte er damit, Visiten von anderen Ärzten entweder gänzlich abzublocken, oder auf sein Beisein zu bestehen, wenn einige Behandlunsgmethoden ihm zumindest einleuchteten. Um sein eigenes Essen brauchte er sich wenigstens nicht zu sorgen - Luceija aß kaum, noch weniger als ohnehin schon, und so war er es, der meistens den Großteil des sowieso eher mittelmäßigen Essens abbekam, wobei Luceija oft nur mittels künstlicher Ernährung verköstigt wurde. Wenn er nicht gerade neben Lucis Bett an einem eigens bereitgestellten Schreibtisch arbeitete, ließ er einige Videos im Hintergrund laufen - und wie bei einem Kleinkind schaltete er zu einem anderen Vid, wenn ein Krimi etwa Gewalt zeigte oder auch nur Aliens zu lange im Bild waren - und so blieb es oft bei einschläfernd langweiligen irdischen Naturdokumentationen oder den Börsennachrichten.
"Verfickt nochmal Luci... Gore und Horror haben mir nie was ausgemacht, aber wenn ich eins nach all dem hier nicht mehr sehen kann, sind das Leoparden, die Gazellen reißen oder Schlangen, die Mäuse runterwürgen...", brummte er grimmig vor sich hin, und schaltete zu einer Dokumentation über Eezoraffinerien um, während er auf seinem Datapad die neuesten Krankendaten studierte, die ihm der Chefarzt pünktlich um 9 Uhr zugeschickt hatte. Ihre Entzündungswerte hatten sich inzwischen normalisiert, ihre nicht mehr durchblutenden Verbände wurden durch semitransparente Schürfwundenpfalster ersetzt und die Sauerstoffzufuhr durch die Nasenbrille wurde überflüssig. Doch seufzte er, als er heute, am dritten Tag ihrer Einlieferung immernoch lesen musste: 'Patientin verweigert Nahrungsaufnahme - Ernährungsweise weiterhin künstlich mittels Magensonde und Infusion'
"Nichtsdestotrotz... Wenn du diesmal beim Essen schmatzen würdest, würde ich nicht mal mehr was sagen."