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Die Antwort lautet Bildung - aber wie war nochmal die Frage?

  1. #1 Zitieren
    Starfleet's Finest  Avatar von Jean-Luc Picard
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    Wenn über gesellschaftspolitische Themen diskutiert und gestritten wird enden die Überlegungen zu möglichen Lösungsstrategien sehr häufig mit der Feststellung: Besser Bildung würde da helfen.

    Fachkräftemangel? Bildungssystem muss sich entsprechend anpassen!

    Populismus und Extremismus auf dem Vormarsch? Mehr Bildung!

    Bessere Aufstiegschancen für sozial schwache Schichten? In Bildung investieren!

    Soziale Medien, schlechte Ernährung, Perspektivlosigkeit, Gewalt, Drogenkonsum…Da muss man aufklären, am besten innerhalb des Bildungssystems.

    Das Bildungssystem scheint demnach das zu sein, was für Homer Simpson der Alkohol ist: „Die Ursache und die Lösung aller Probleme“.

    Aber kann ein Bildungssystem überhaupt so viel leisten? Und schließen sich vielleicht manche Ziele in der Bildung gegenseitig aus? Unser klassisches Schulsystem scheint sein Hauptaugenmerk darauf zu richten, Wirtschaftstauglichkeit als Endprodukt zu erzeugen. Bleibt da noch genug Platz für die Bildung zum bewussten und politisch oder gesellschaftlich engagierten Staatsbürger? Zufrieden mit dem Ergebnis des Bildungssystems scheint niemand so richtig zu sein. Für die Wirtschaft wird noch nicht genug praxisnah und gezielt gebildet, für andere ist viel zu wenig Raum für eigenes Denken und Kreativität.

    Was wären demnach notwendige Reformen für Bildung in der heutigen Gesellschaft?
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  2. #2 Zitieren
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    Als erstes muss ich voran stellen, dass sich die Misere der Bildung, nicht nur aber auch in Deutschland, recht einfach zusammenfassen lässt: Die Bildung richtet sich zu sehr nach dem Markt.

    Nun ist es natürlich so, dass diese Feststellung erstmal einfach klingt, aber doch ziemlich komplexe Hintergründe und vor allem Auswirkungen hat.

    Ein Symptom ist zum Beispiel die Verkürzung der Zeit, die Kinder und junge Erwachsene im Bildungswesen verbringen. Auf der einen Seite haben wir z.B. G8, also die Verkürzung der Zeit bis zum Abitur (also der Hochschulreife) um ein Jahr, u.a. auch um Deutschland mehr in Richtung internationalem Standard zu entwickeln. Zum Glück wird das gerade wieder großflächig zurückgefahren. Auf der anderen Seite die Bologna-Reform, so dass Studenten heute schon nach 3 Jahren (teilweise 2 Jahren!?!) mit Hochschulabschluss von der Uni abgehen und ins Berufsleben einsteigen können, bei gleichzeitiger Verschulung und stärkerer Durchtaktung und Durchplanung des Studienweges. Alles im Sinne des Marktes, nicht der Lehre, geschweige denn im Sinne der Bildung mündiger Bürger.

    Ein weiterer Aspekt ist die Gewichtung der Unterrichtsfächer, immer mehr Fokus auf "praktische" Naturwissenschaften sowie Deutsch und Englisch, immer weniger auf Sozialwissenschaften oder darauf, die Schüler zu mündigen und vor allem kritischen Bürgern zu erziehen. Schon allein, dass es in manchen Bundesländern Fächer mit Namen wie "Politik & Wirtschaft" gibt, zeigt die generelle Stoßrichtung. Immerhin heißt es (noch?) nicht "Wirtschaft & Politik".

    Das deutsche Bildungswesen siecht aber auch auf vielen anderen Ebenen, diese sind manchmal eher historischer und eher politisch- als markt-ideologischer Natur.

    Beispielsweise ist wissenschaftlich ziemlich unumstritten, dass die frühe Trennung der Kinder in verschiedene Schulzweige (idR nach der vierten Klasse) schädlich ist, und zwar für den Lernerfolg, vor allem aber für die persönliche Entwicklung aller Schüler.

    Weiterhin ist die strikte Trennung in Schulzweige (egal wann und zu welchem Zeitpunkt) kritisch zu sehen, ich bevorzuge prinzipiell das System der Gesamtschulen mit verschiedenen Kursen, erstens weil es den individuellen Bedürfnissen der Schüler prinzipiell besser gerecht werden kann, zweitens aufgrund des sozialen Aspektes, der beinhaltet dass man bis zum Abschluss mit Schülern aus allen Hintergründen und Schichten zusammen in der gleichen Schule ist.

    Dann haben wir noch die teilweise problematische föderale Struktur des Bildungswesens. Einerseits schön, wenn lokal auch mal was anders gemacht wird, und etwas neues ausprobiert werden kann, aber dann wird es ja doch wieder in großen territorialen Einheiten (Bundesländern) gemanaged. Dann lieber ein grober Rahmen, der von der Bundesregierung gesetzt wird, mit Freiheiten nicht für die Bundesländer, sondern für die einzelnen Bildungs-Einrichtungen selbst.

    Ein weiterer Aspekt der sehr gern vergessen wird, wenn es um Bildung geht, auch weil er real eben kaum eine Rolle spielt, ist die Erwachsenenbildung. Abseits sehr spezieller beruflicher Weiterbildung passiert da nicht viel, aber es wäre sehr erfreulich wenn das anders wäre. Frühere sozialistische Bewegungen hatten da das richtige Konzept, sie richteten freie Bildungsstätten ein die auch Erwachsenen politische Zusammenhänge und generelles Verständnis der Gesellschaft nahe brachten, ebenso wie praktische Fähigkeiten. In Rojava (Nordsyrien) wird dieses Konzept heute recht erfolgreich umgesetzt, auf Basis einer eher anarchistischen Ideologie.

    Wie sehen denn deine Antworten auf deine Fragen aus? Welche Reformen würdest du dir, speziell in Deutschland, wünschen?
    ulix ist offline

  3. #3 Zitieren
    Legende Avatar von Ajanna
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    Bildung ist auf der Basis eines humanistischen Weltbildes eingeführt worden und hat zum Ziel, mündige Bürger und Bürgerinnen zu erziehen, mit denen die Demokratie funtioniert. Dass dies prinzipiell funktioniert, ist in unzähligen wissenschaftlichen Untersuchungen bewiesen.

    Leider gibt es in der Politik Interessen, die nicht so großen Wert darauf legen, dass dies auch geschieht. Man hat nämlich auch herausgefunden, dass gebildete Menschen eher Mitte, grün und links wählen. Aus dem Grund gibt es seit Jahrzehnten eine Gegenbewegung. Scheinprogressive Verschleierung dieser ist die sogenannte Lebenswelt-Theorie. Es läge halt nicht im Interesse vieler Menschen, die Mühen der Bildung auf sich zu nehmen. Und das sei ok so. Sie seien halt nicht schlechter, sondern anders. Leider bedeutet das, dass Kinder aus diesem Milieu weniger gefördert werden und dass es viele Menschen gibt, die finden, das ist halt eben normal.

    Dazu kommt, dass auf Ebene der Medien diese Theorie ebenfalls umgesetzt wird. Das heißt, dass die differenzierte und unter Umständen auch ein bisschen anspruchsvollere Berichtserstattung marginalisiert wird. Viele relativ vernünftige Menschen fallen auf die "Lügenpresse-Schimpfer" herein, weil sie in Wirklichkeit gegen die Verflachung und Gleichschaltung der Medien sind. Das ist ein Problem, dass man gelegentlich mit diesen Aluhut-Spinnern in einen Verschwörungstheroretiker-Topf geworfen wird, wenn man fordert, dass sich bei den Medien etwas zum Progressiven verändert.

    Ajanna ist offline

  4. #4 Zitieren

    Faszinierend!
    Avatar von smiloDon
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    Zitat Zitat von Ajanna Beitrag anzeigen
    ... Aus dem Grund gibt es seit Jahrzehnten eine Gegenbewegung. Scheinprogressive Verschleierung dieser ist die sogenannte Lebenswelt-Theorie. Es läge halt nicht im Interesse vieler Menschen, die Mühen der Bildung auf sich zu nehmen. Und das sei ok so. Sie seien halt nicht schlechter, sondern anders. Leider bedeutet das, dass Kinder aus diesem Milieu weniger gefördert werden und dass es viele Menschen gibt, die finden, das ist halt eben normal.
    Meinst du damit die von Thiersch geprägte Theorie der Lebensweltorientierung?
    smiloDon ist offline

  5. #5 Zitieren
    Legende Avatar von Ajanna
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    Zitat Zitat von smiloDon Beitrag anzeigen
    Meinst du damit die von Thiersch geprägte Theorie der Lebensweltorientierung?
    Ja, allerdings mehr die Anwendung. Sie gilt als progressiv, aber de facto bewirkt sie "Jedem das Seine" (Zitat bewusst gewählt, ich kenne den Fascho-Hintergrund).

    Ajanna ist offline

  6. #6 Zitieren
    Starfleet's Finest  Avatar von Jean-Luc Picard
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    Zitat Zitat von ulix
    Wie sehen denn deine Antworten auf deine Fragen aus? Welche Reformen würdest du dir, speziell in Deutschland, wünschen?
    Seit ich selber im Bildungssektor arbeite sind mir meine persönlichen Antworten auf die Frage tatsächlich eher verloren gegangen, als dass ich mir sicherer geworden wäre.

    Aus meinen Erfahrungen ergibt sich da ein fieser Teufelskreis: Eine gesamtgesellschaftlich gewinnbringende Bildung setzt sehr hochqualifiziertes Bildungspersonal voraus, hochqualifiziert sowohl inhaltlich als auch methodisch. Ein solches hochqualifiziertes Bildungspersonal wird aber nur von einem optimalen Bildungssystem in der erforderlichen Menge erzeugt.

    Im Hinblick auf strukturelle Probleme würde ich vielen der von Dir genannten Aspekte zustimmen. Als übergeordnetes Thema würde ich da noch Unterfinanzierung ganz groß schreiben, wenn man sich vor Augen hält, wie hoch eigentlich die Erwartungshaltung an den Bildungssektor sind. Aber wie gesagt, zu bilden (eher sozialwissenschaftlich ausgelegt) oder auch auszubilden (mehr praxisorientiert), ist eben selbst wiederum eine eigene Kunst. Die Optimierung des Bildungssektor ist in diesem Sinne vom Bildungssektor selbst abhängig.

    Wenn wir beispielsweise den Bereich Evaluation von Bildung (also jetzt im Bezug auf den einzelnen Lernenden) nehmen, dann funktioniert dies in weiten Teilen immer noch rein defizitorientiert, im Sinne von: Schüler x hat Fähigkeit y noch nicht ausgebildet und muss dahingehend gefördert werden. Dass es aber häufig gar nicht an den grundsätzlichen Möglichkeiten des Schülers x liegen muss sondern auch an der Unterrichtsgestaltung z, kommt da oft zu kurz.
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  7. #7 Zitieren
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    Würdest du sagen im Lehramts-Studium wird zu wenig Didaktik, und fast gar keine Sozialkompetenz (Umgang mit Eltern, etc.) gelehrt?

    Das ist mein rein subjektiver Eindruck. Leider müssen Lehrer oft auch Sozialarbeiter sein, oder sollten es, wenn man schon kein Geld locker machen will um in alle Schulen zwei bis drei davon zu setzen (wo wir bei der von dir angesprochenen Finanzierung sind).
    ulix ist offline

  8. #8 Zitieren
    Starfleet's Finest  Avatar von Jean-Luc Picard
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    Ich kann es gar nicht wirklich beurteilen, ob zu wenig Didaktik gelehrt wird. Nach meinem Eindruck besteht das Problem eher an der Stelle, Didaktik anzuwenden und dabei gleichzeitig rein stofflich hoch kompetent zu sein und wissensübergreifend vernetzt zu sein und ganzheitlich zu denken.

    Lehrer müssen hohe Sozialkompetenz haben, so oder so. Aber auf der anderen Seite wird der Anspruch irgendwann unrealistisch, dass der Lehrer den Sozialarbeiter ersetzen könnte und dabei gleichzeitig die Effektivität des Unterrichts hoch hält. Da wären wir dann sicherlich bei den schon genannten Strukturproblemen, die am Ende im Bildungssektor irgendwie abgefangen werden sollen.

    Auch die Frage nach klareren Vorgaben oder größeren Freiheiten in der Umsetzung von Rahmenvorgaben im Unterricht ist ein sehr zweischneidiges Schwert.
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  9. #9 Zitieren
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    Ich denke, an Lehrer sind die Anforderung, diese ganzen Aufgaben effizient zu erledigen, ständig gestiegen. Es gibt mehr Projekte, Ausflüge, Schüleraustausche, Praxiszeiten - was gut ist. Gleichzeitig ist aber der Stoff nicht weniger geworden, und die Schüler driften immer weiter auseinander. Während manche noch mit der Sprache kämpfen, haben andere schon privat den Stoff gelernt, spielen ein Instrument und haben ein ein Ehrenamt in dem Bereich, in denen sie später mal beruflich tätig werden wollen oder sollen.

    Dazu kommt, dass der Stoff in Geschichte, Erdkunde oder Sozialkunde künstlich entpolitisiert wird. Diese drei Fächer sind politisch, das ist einfach so. Da geht es um die Deutung der Welt. Die einen findens einfach nur öde und denken "Laberfächer", die anderen sind sauer, weil sie finden, dass ihr Leben darin fehlt. Und sie haben auch Recht. Es ist alles ziemlich krampfig geworden. Die Eltern sind auch so oder so sauer. Weil, natürlich wissen sie es besser als die Lehrer und sagen das am Besten ihrem Kind auch so. Das wird dann bockig und hat sowieso keine Lust mehr, das alles zu lernen. Und derweil gehen Fächer wie Mathe und Englisch den Bach runter, weil zuwenig Zeit für sie bleibt.

    Ajanna ist offline

  10. #10 Zitieren
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    Zitat Zitat von Ajanna Beitrag anzeigen
    Dazu kommt, dass der Stoff in Geschichte, Erdkunde oder Sozialkunde künstlich entpolitisiert wird.
    Das stimmt. Bin mir ziemlich sicher nix über die Kolonialverbrechen Deutschlands gelernt zu haben, und wenn mich nicht alles täuscht wurde der spätere Kolonialismus der anderen europäischen Mächte nicht gerade kritisch betrachtet.

    Scheint sich nix dran geändert zu haben:
    Zwar findet sich der Kolonialismus im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg auf allen Lehrplänen der neunten Klassen im Fach Geschichte. Was dabei klassischerweise thematisiert wird, ist aber weniger die Perspektive der afrikanischen Länder oder gar die Völkerschauen, bei denen Menschen aus fernen Ländern in Deutschland wie Zootiere gehalten und vorgeführt wurden.

    Stattdessen ist im Kerncurriculum vom "Wettlauf der europäischen Mächte um den Platz an der Sonne" die Rede, sowie von den Spannungen zwischen den westlichen Staaten, die letztlich im Ersten Weltkrieg resultierten. Lediglich im Geschichtsleistungskurs soll eine "vertiefende Auseinandersetzung" mit den Auswirkungen auf die kolonialisierten Gebiete verpflichtend stattfinden.
    https://www.hessenschau.de/gesellsch...lfach-100.html

    Der für Deutschland unbequeme Scheiß wird bis auf den ersten WK und das dritte Reich (+2. WK) schon irgendwie komplett ausgeklammert.
    ulix ist offline

  11. #11 Zitieren
    Starfleet's Finest  Avatar von Jean-Luc Picard
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    Zitat Zitat von ulix
    Der für Deutschland unbequeme Scheiß wird bis auf den ersten WK und das dritte Reich (+2. WK) schon irgendwie komplett ausgeklammert.
    Ich denke nicht, dass sich das aufgrund ideologischer Verbohrtheit oder Ähnlichem erklärt. Vielmehr glaube ich, dass es aufgrund der klassischen Aufteilung nach Fächern so ist und aufgrund des Mangels an einer diesbezüglichen Vernetzung. Ich glaube das das Dritte Reich im Geschichtsunterricht die absolute Ausnahme bildet und dass es ansonsten bei allen anderen Themen gar nicht um eine Frage nach Verantwortung oder Ethik geht. In meinem Leistungskurs Geschichte war es damals beispielsweise beim Thema 1 WK gar nicht so, dass hier die Frage nach Schuld innerhalb des Unterrichts beantwortet worden wäre.

    Daran wäre prinzipiell auch gar nichts verkehrt, wenn die rein sach- und faktenbezogene Ebene ein Zugang zu diesem Thema wäre und es dann beispielsweise in der Sozialkunde oder in Politik nochmal anders erschlossen würde. Aber genau das würde schon mal eine Ganzheitlichkeit und eine sehr hohe multithematische Fachlichkeit beim Lehrpersonal voraussetzen. Das bildet aber die klassische Lehrerausbildung mit zwei Fächerschwerpunkten gar nicht ab.
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  12. #12 Zitieren
    Legende Avatar von Ajanna
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    Zitat Zitat von Jean-Luc Picard Beitrag anzeigen
    ...
    Daran wäre prinzipiell auch gar nichts verkehrt, wenn die rein sach- und faktenbezogene Ebene ein Zugang zu diesem Thema wäre und es dann beispielsweise in der Sozialkunde oder in Politik nochmal anders erschlossen würde. Aber genau das würde schon mal eine Ganzheitlichkeit und eine sehr hohe multithematische Fachlichkeit beim Lehrpersonal voraussetzen. Das bildet aber die klassische Lehrerausbildung mit zwei Fächerschwerpunkten gar nicht ab.
    Ich bezweifle, dass es diese rein sach- und faktenbezogene Ebene gibt. Nicht nur ich als Person, es ist erkannt worden, dass sich jeder Mensch seine eigene Realität konstruiert. Daran ist nichts Schlimmes: erstens sind wir soziale Wesen, das spielt eine Rolle. Andererseits sind wir subjektiv, das heißt wir nehmen etwas, was uns betrifft anders wahr als etwas Ferneres. Und auch die Wissenschaftler haben so geforscht. Ihre Zeit und ihre persönlichen Werturteile haben sie geprägt. Genau diese Erkenntnisse würden Menschen zur Debatte, zur Auseinandersetzung, zur Demokratie befähigen und eventuell auch ermutigen. Stattdessen wird alles in einem Einheitsbrei von falsch/richtig dargeboten, den es garnicht wirklich gibt. Ein Beispiel: jetzt wird so getan, als hätten wir plötzlich Klimawandel. Die Fakten waren schon in den Achtzigern des letzten Jahrhunderts bekannt, als ich Abi gemacht habe. Warum sind denn die Grünen so stark geworden? Weil alle anderen Parteien so getan haben, als ginge sie das nichts an. Da ist Glaubwürdigkeit verspielt worden. So geht es auch in anderen Bereichen.

    Ajanna ist offline

  13. #13 Zitieren
    Starfleet's Finest  Avatar von Jean-Luc Picard
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    Zitat Zitat von Ajanna
    Ich bezweifle, dass es diese rein sach- und faktenbezogene Ebene gibt.
    Für den Einzelnen innerhalb seiner Erfahrungen gibt es sie nicht, aber wir setzen ja nichtsdestotrotz die Annahme voraus, dass es so etwas wie eine Wirklichkeit gibt. Unser Zugang zu eben dieser ist durch und durch subjektiv und konstruiert, aber unsere Konstruktion und unsere Subjektivität bezieht sich ja auf etwas, nämlich dieses Etwas, dass bei uns Sinneseindrücke hervorruft.

    Ich bin da ganz bei Dir. Ich bin von der Annahme des Konstruktivismus mehr und mehr überzeugt. Die daraus resultierende Konsequenz für Bildung und Lernen ist, dass echtes Wissen (oder vielleicht besser Kompetenzen) gar nicht theoretisch beigebracht werden kann. Es muss in der Lernsituation erfahren werden, damit es zu echtem Wissen werden kann.

    Aber je mehr ich in meiner eigenen Arbeit an diesen Punkt komme, desto mehr sehe ich, was das eigentlich voraussetzt. Es setzt voraus, dass ich permanent ganzheitlich denken und planen muss, und jede Aufgabenstellung in diesem Gesamtkontext eingebettet sein muss, damit sie die Chance hat zu funktionieren.
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  14. #14 Zitieren
    Mythos
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    Eine Sache fehlt mir ganz besonders im heutigen Bildungssystem: Medienkompetenz. Wir haben ein mächtigeres Wissenstool als jemals zuvor. Eine Vernetzung der ganzen Welt, bei der jeder Einzelne ein Fünkchen Wissen mit der Welt teilen kann. Jeder kann sich selbstständig weiterbilden, aber nur wenn man weiß, wie man Informationen zu bewerten hat. Warum die Zeit noch damit verschwenden das exakte Datum in Geschichte auswendig zu lernen? Der 2. WK endete 1945 ist genug Information, das genaue Datum kann man bei Bedarf auf Wikipedia nachlesen - interessiert halt in den meisten Situationen nicht. Auf diese Weise kann man wieder Zeit für wichtigere Dinge schaffen.

    Oder weitere Zeitersparnis: es ist zwar gut und Schön Deutsch bis zur 12. Klasse zu haben und mal eine Gedichtsinterpretation zu haben. Aber wenn man die letzten 3 Jahre nicht anderes mehr tut, kann man 2,5 Jahre davon auch streichen. Wer sich dafür interessiert, sollte im Studium oder im Privaten weitermachen. Es gibt zu viel, was Menschen heute schon recht zeitig wissen müssen und sollten, da muss auch deutlich mehr optimiert werden, was überhaupt sinn macht zu lehren. Warum brauche ich als Physikstudent eine 2. Fremdsprache? Wenn ich Probleme mit Fremdsprachen habe, bin ich mit Englisch schon voll ausgelastet. Eine weitere Sprache hindert mich daran meine Energie in die wichtigen Fächer zu stecken (war übrigens sogar ein ganz persönliches Problem).

    Das und vieles mehr sind ganz grundlegende Fragen. Ich wäre sehr dafür, wenn "man" sich mal zusammen setzt, das ganze Bildungssystem auf dem Blatt Papier streicht und von null auf neu konstruiert. Das heißt nicht, dass alles weggeworfen werden soll. Aber das man nur das zurück holt, was notwendig ist und es so integriert, dass es den Schülern möglichst einfach fällt etwas zu verinnerlichen. Dazu gehört auch die Bildung und Weiterbildung der Lehrkräfte, die das umsetzen sollen.

    Das sind aber alles auch wieder Dinge, die nur Schüler betreffen. Aktuell befinde ich mich in einer Phase, in der ich mich als Erwachsener in etwas speziellem Bilden will, in einer Form, die von der Gesellschaft so nicht vorgesehen ist. Ich "muss" Arbeiten oder ein Bildungsinstitut besuchen. 2 Jahre lang arbeitslos sein und in Vollzeit dann Selbststudium betreiben ist quasi unmöglich (außer man ist finanziell unabhängig - soviel zur sozialen Bildungsgleichheit). In Zeiten, in denen das freie Wissen immer mehr an Bedeutung gewinnt, ist das aber alles andere als ein abwegiger Gedanke.

    Ich denke es ist so viel mehr möglich, aber es müssen sich verantwortliche erstmal eingestehen, dass ein kompletter konzeptioneller Neustart erforderlich ist und dann dementsprechend wenigstens anfangen zu handeln und sich Unterstützung aus der Zivilgesellschaft holen - da ist freies Wissen (auch in der Beziehung) in Massen vorhanden. Aber genau an dem Punkt wird es noch sehr lange scheitern.
    Wer mit Sonderzeichen gendert, diskriminiert jene, die sich nicht zu Mann oder Frau zuordnen lassen. Geschlechtergerechtigkeit in der Sprache erreicht man nur mit gender-neutralen Begriffen. Wer das weiß und dennoch gendert, diskriminiert mit Vorsatz!
    Xarthor ist offline

  15. #15 Zitieren
    Legende Avatar von Ajanna
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    @ Jean-Luc Picard: Dazu benötigt es kleinere Lerngruppen, als wir normalerweise in der Schule haben. Seit 40 Jahren sagen das die Fachleute, aber da wird gespart. Ich glaube garnicht, dass in der Lehrerausbildung so viel schief läuft, es gibt ja inzwischen mehr Praxiszeiten.

    @Xarthor: Das Selbst-Lernen musss man erst mal lernen! Man muss lesen und verstehen, Fragen stellen, priorisieren, strukturieren, Quellen beurteilen können. Dafür müssen erst die Grundlagen gelegt werden. Dieses typische Abfrage-Wissen "333 vor Issos Keilerei" ist wirklich Schwachsinn. Und in den Wissenschaften ist auch mehr mathematische und theoretische Vorbildung nötig.

    Ich finde, was leider komplett fehlt, aber wichtig ist, ist Recht, auch Vertrags- und Arbeitsrecht und angewandte Mechanik. Werken ist das ganze in rustikal - leider wird es größtenteils abgeschafft. Ich habe Hamet-Testungen durchgeführt, das Ergebnis war, dass Sonderschüler mit Werken oft besser abschneiden als Hauptschüler; Konsequenz: Werken abschaffen! Wtf! Alle wesentlichen Erkenntnisse sind vorhanden. Was fehlt, ist ein Komplettaustausch des leitenden verantwortlichen Personals in den Ministerien.

    Ajanna ist offline

  16. #16 Zitieren

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    @ xarthor

    ich bin ganz bei dir. man kann nicht immer mehr fordern, dass die schüler noch hier und dort kompetenzen erwerben müssen, wenn man nicht endlich bereit ist, etwas zu streichen. aus meiner sicht sollte das ganze konzept der oberstufe auf den prüfstand. viel mehr wahlfächer und da gründlich arbeiten und mehr abwahlmöglichkeiten. schluss mit dem allgemeinen bildungsgehabe bis zum abitur. frühere spezialisierung aber die möglichkeit für alle, abgewähltes später unkompliziert nachholen zu können im 2. bildungsweg oder so.

    ich hab zum beispiel gefühlte 100 jahre in mathe gelernt und wieder vergessen, was ich nie gebraucht habe. bei mir hat es immer bis zum dreisatz gereicht. bin ich deshalb ungebildet? ganz sicher nicht. genauso sehe ich das auch mit der 2. fremdsprache. klar, wer das will, soll das auch geboten bekommen aber dafür medienkompetenz, auch ein bisschen tiefer gehen in der frage, rechtsgrundlagen, simple haushaltsfertigkeiten wie steuererklärungen usw.

    ja, ich wäre dafür, das bildungskonzept neu zu denken

    Antje Vollmers Vermächtnis

    Die AFD ist wie ein Ölfleck in der Pfütze. Er sieht bunt aus.
    Aber wenn man hineingreift, ist da nur brauner Matsch (Haseloff)
    meditate ist offline

  17. #17 Zitieren
    Starfleet's Finest  Avatar von Jean-Luc Picard
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    Medienkompetenz als ein weiteres Bildungsziel ist ganz ohne Frage notwendig, wenn man sich die Entwicklung der letzten 25 Jahre vor Augen führt. Aber das Vermittlungsproblem taucht hier quasi noch intensiver auf.

    Corona hat das überdeutlich gezeigt. Beispielsweise waren die Unterrichtsmaterialien, die die Schule meines Sohnes für Homeschooling bereitgestellt hat, qualitativ unterirdisch im Hinblick auf einen tatsächlichen Lerneffekt. Das waren zu 85% sinnlose Fleißaufgaben die problemlos durch so etwas wie ein Kreuzworträtzel zu ersetzen gewesen wären (und manchmal waren es sogar Kreuzworträtsel). Gleichzeitig habe ich selber gemerkt, dass online-Materialien nochmal viel schwieriger sind als Materialien, die man im normalen Unterricht verwendet, da man die Verwendung dort steuern und moderieren kann.

    Mit Onlineangeboten kommen die Menschen gut zurecht, die schon eine hohe Kompetenz im Wissensbereich und im Transferbereich haben. Wie es schon über mir gesagt wurde, Lernen will gelernt sein und wenn das nicht da ist, dann nützt mehr Individualisierung und mehr selbstverantwortliches Lernen wenig.

    Hier zeigt sich dann, wie tiefgreifend eigentlich eine Bildungsreform aussehen müsste, wenn es denn jemals einen Konsens in diesem galoppierend wahnsinnigen Gremium wie der KMK geben würde. Als erstes müsste sich die Frage gestellt werden, welche Kompetenzen denn insgesamt für unsere heutige Lebenswirklichkeit notwendig und sinnvoll sind. Wahrscheinlich hätte sich unsere Gegenwart schon wieder tiefgreifend verändert, bevor die KMK auf sowas wie eine Idee für eine mögliche Strategie zu einer eventuellen Antwort gekommen wäre…

    Und die Frage nach den notwendigen Kompetenzen wäre ja erst der Anfang, denn dann käme die Frage, wie Menschen eigentlich lernen und wie die Erkenntnisse aus diesem Forschungsbereich (also Psychologie und Kognitionswissenschaft) wirklich auf den alltäglichen Unterricht umsetzbar wären.

    Ich will gar nicht behaupten, dass letzteres natürlich seit Jahr und Tag passiert. Die Didaktik kann hierauf endlose Antworten geben und Unterricht an Schulen hat sich ja in den letzten 30 Jahren auch deutlich geändert. Aber ich habe auf der anderen Seite jetzt schon viele, viele Fortbildungen im Bereich Didaktik hinter mir und mein Fazit ist, dass diejenigen, die solche Fortbildungen geben, zumeist an genau dem Scheitern, was sie unterrichten – nämlich wie man gut unterrichtet…
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  18. #18 Zitieren
    Legende Avatar von Ajanna
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    Zitat Zitat von meditate Beitrag anzeigen
    @ xarthor

    ich bin ganz bei dir. man kann nicht immer mehr fordern, dass die schüler noch hier und dort kompetenzen erwerben müssen, wenn man nicht endlich bereit ist, etwas zu streichen. aus meiner sicht sollte das ganze konzept der oberstufe auf den prüfstand. viel mehr wahlfächer und da gründlich arbeiten und mehr abwahlmöglichkeiten. schluss mit dem allgemeinen bildungsgehabe bis zum abitur. frühere spezialisierung aber die möglichkeit für alle, abgewähltes später unkompliziert nachholen zu können im 2. bildungsweg oder so.

    ich hab zum beispiel gefühlte 100 jahre in mathe gelernt und wieder vergessen, was ich nie gebraucht habe. bei mir hat es immer bis zum dreisatz gereicht. bin ich deshalb ungebildet? ganz sicher nicht. genauso sehe ich das auch mit der 2. fremdsprache. klar, wer das will, soll das auch geboten bekommen aber dafür medienkompetenz, auch ein bisschen tiefer gehen in der frage, rechtsgrundlagen, simple haushaltsfertigkeiten wie steuererklärungen usw.

    ja, ich wäre dafür, das bildungskonzept neu zu denken
    Hallo medi,

    ich hab später im Leben scheinbar auch nicht mehr viel Mathe gebraucht. Aber in der Diskussion mit meinem Vater, der Kaufmann ist und in Mathe eigentlich viel fitter als ich, merke ich immer wieder, dass er überhaupt kein Gespür für wissenschaftliche Gleichgewichte hat und Grenzwerte. Dafür, dass ein biologisches System viel abpuffern kann, aber wenn ein Grenzwert überschritten ist, dann geschehen Veränderungen ganz schnell. Da merke ich, dass diese ganzen Jahre an Limes Alpha gegen y und die Kurvendiskussionen mich in einer Art und Weise gebildet haben, die wichtig war, obwohl ich die einzelnen Aufgaben garnicht mehr reproduzieren könnte.

    Grüße

    Ajanna

    Ajanna ist offline

  19. #19 Zitieren

    Foren-Mutter
    Avatar von meditate
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    das war ja auch nur ein beispiel aus meinem leben. andere leben produzieren andere beispiele. darum ja garade die spezialisierung. ich hätte zum beispiel nie auf musik, überhaupt kunst verzichten wollen. für mich war auch deutsch bis zum abitur wichtig und unverzichtbar. so hat jeder sicher seine eigenen erfahrungen. aber es muss doch auf jeden fall etwas gestrichen werden, wenn man neue inhalte aufnehmen muss.

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    Aber wenn man hineingreift, ist da nur brauner Matsch (Haseloff)
    meditate ist offline

  20. #20 Zitieren
    Legende Avatar von Ajanna
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    Für mich war Latein, Französisch und Geschichte Zeitverschwendung, aber mehr, weil die Lehrer schlecht waren und ich weggepennt bin.
    Ich denke wirklich, dass die Lerngruppengröße und darin auch mal wirkliche Zusammenhänge und Debatten das Lerntempo so beschleunigen könnte, dass man nicht wirklich Inhalten streichen müsste. Beispiel: Ich habe nach der Schule innerhalb eines Jahres ziemlich gut eine andere Sprache gelernt. Latein hat mir nicht geholfen, Französisch hat mir nicht geholfen, geholfen hat unregelmäßige Verben gnadenlos auswendig lernen, Zeitungen lesen, mit Leuten reden. Es war für mich so eine Kompetenzerfahrung im Gegensatz dazu, dass ich sieben Jahre Französisch hatte und kriege kaum einen Satz raus.

    Ajanna ist offline

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