Das politische Sperrfeuer auf Decius Vhan ließ nicht nach. Während Ethan Caine und Isabela Rivera, zwei nützliche Idioten, Vhan mit ihren Enthüllungen über seine Beteiligung im Attentat bedrängten, nahmen andere weniger subtil vorgehende Kräfte Vhans schmutzige Wäsche zum Anlass, ihn öffentlich zu diskreditieren. Waren Caine und Co. noch an so etwas wie Berufsethos und Ideologie gebunden, ließen sich militante Aktivisten nicht von warmen Worten und Pressestellen einlullen. Sie prangerten Vhan an – und die Augen der Station waren auf ihn gerichtet. „
Gut“, dachte Seeva. Das unfreiwillige Rampenlicht würde ihre Blendgranate sein.
Sie hatte damit gerechnet, dass der Patriarch irgendwann reagieren würde. Nur nicht so schnell. Mit der Reaktionsgeschwindigkeit eines Salarianers entwickelte der Turianer einen Gegenschlag in Form von Vergeltung. „
Jemand jagt die Aktivisten“, war die ansonsten unkommentierte Meldung, die Seevas Aufmerksamkeit beanspruchte. Decius Vhan hatte offenbar, ebenso wie Pater Lacan, Zugriff auf die Kameras der Citadel und die Störenfriede ausfindig gemacht. Ein VI-Abgleich verschiedenster Kameras zeigte, dass einer der politischen Aktivisten, die auch bei der Aktion vor Vhans Anwesen beteiligt gewesen war, Besuch von einem sehr großen Turianer bekam, der auf Seevas Beobachtungsliste stand. Weder der eine noch der andere tauchte wieder auf, irgendwann kam aber die Nachricht von Vincent van Zan. Der Mensch hatte das getan, was er am besten konnte – auf unbeschriebenen, entlegenen Pfaden Informationen gesammelt und verknüpft. Vhans Wut über die Gesamtheit des Bombardements seiner Person und Operation richtete sich gegen die greifbarsten und schwächsten Feinde. Bauernopfer, müsste man sie wohl nennen. Kleine Geister, die denken mit etwas aufgewirbeltem Staub politischen neuen Wind zu entfachten. Nun machte der ebenso grausame wie effektive Malonigrus Petalin Jagd wie ein instinktgetriebenes Raubtier. Decius hetzte seinen Kettenhund auf sie – und lieferte Seeva einen Zugriffspunkt. Eine Entführung war schwer zu rechtfertigen, eine Rettungsaktion nicht. Seeva erhob sich aus ihrem Schalensessel und spürte einen Impuls biotischer Energie durch ihren Körper zucken. Sie betätigte eine Taste an ihrem Omnitool. Drei Sekunden später sagte sie: „
Holen Sie Ihre Ausrüstung. Wir haben zu tun.“
*
Ein kurzer Pfiff lenkte Seevas Aufmerksamkeit auf sich. Der Wohnkomplex war recht gut beleuchtet und doch menschenleer – abgesehen von der Attentäterin Odessa, die nun aus einer Nische trat und sich der ankommenden Asari präsentierte. „
Alles sauber. Hier ist niemand gewesen – noch nicht.“ Seeva nickte. Das hier war die Adresse, die van Zan ihr genannt hatte. Hier wohnte der Kopf der Aktivistenbewegung, eine Quarianerin namens Kael. Hinter Seeva erschien Tiberias Qatar, zusammen mit drei weiteren Leuten in den blau-weiß lackierten Rüstungen der Blue Suns. „Verstärkung ist eingetroffen, Commander“, krächzte Tiberias mit seiner unangenehmen Stimme. Seeva musterte die Neuankömmlinge. Dem Anschein nach waren sie alle drei Menschen, angeführt von einem großen Mann, der für die Verhältnisse menschlicher Krieger bereits recht betagt war. Trotz der ergrauten Haare und Falten im Gesicht strahlte der Anführer der Suns eine Unnachgiebigkeit aus, die Seeva mehr als willkommen war. „
John“, sagte der großgewachsene Mensch lakonisch und reichte dem Spectre eine gepanzerte Hand. Seeva ergriff und schüttelte sie. „Nur John?“ „
John William Coltrane,
Lieutenant der Blue Suns. Tiberias hat mich vor kurzem wegen einer eventuellen Operation angesprochen.“ Er sah sich um. „
Scheint schneller gekommen zu sein, als gedacht.“ „
Das hier ist etwas anderes“, entgegnete Seeva. „Eine Gelegenheit, die ich nicht verstreichen lassen möchte.“ John zuckte die Achseln. „
Wie dem auch sei, Tiberias sagt, dass Sie gut zahlen. Unsere Waffen gehören Ihnen.“ Seeva nickte, dann wandte sie sich zu Odessa. „
Aufmachen.“ Die Attentäterin zückte ihren Türcodeüberbrücker und machte sich ans Werk.
*
Die Quarianerin war verständlicherweise panisch. Immerhin wurden sie und ihre Gruppe gejagt, sie hatte einen zwielichtigen Mann in Schwarz kontaktiert und gerade hatte eine Truppe bewaffneter ohne Ankündigung ihre Tür geöffnet. Seeva trat als erstes ein, die Waffen geholstert. Sie sah die junge Frau nicht, wusste aber, dass sie hier war. „
Miss Kael“, rief sie laut. „
Ich weiß, dass Sie hier sind und dass Sie mich hören können. Kommen Sie bitte hervor, es wird Ihnen nichts geschehen. Wir wissen, dass Sie Angst haben. Sie haben sich an einen gemeinsamen Freund gewandt, darum sind wir hier – zu Ihrem Schutz.“ Das entsprachen im Gröbsten der Wahrheit, wenn auch der Grund eigentlich ein anderer war. „
Miss Kael, ich gehöre zur Exekutive der Citadel. Kommen Sie bitte hervor. Ich verspreche Ihnen, es wird Ihnen nichts passieren.“ Der Spectre spekulierte darauf, dass die Quarianerin ihr etwas Glauben schenkte und nicht trotz ihrer Untergrundbewegung die C-Sicherheit verständigte. Die Polizei würde hier sicherlich mit Sirenengeheul anrücken und jedwede Chance auf einen Hinterhalt zunichtemachen.
Schließlich erschien die Quarianerin doch. Es gab auch keinen Ausweg. Sie kam aus dem mutmaßlichen Schlafzimmer, eine Predator-Pistole in den Händen. Sie zitterte dort wie Espenlaub; Seeva hätte fast mitleidig gelacht. Manche Wesen waren einfach zu schwach für den Kampf und sie waren es, die den Schutz von Leuten wie ihr brauchten. „
Legen Sie die Waffe weg, ehe Sie noch jemanden oder sich selbst damit verletzen“, sagte der Spectre ruhig. Es war schwer jemandes Gefühle zu erraten, der sein Gesicht hinter einer Maske verbarg, dennoch konnte Seeva abschätzen, wie aufgewühlt die junge Quarianerin sein musste. Sie musste sich selbst fragen, in was sie dort hineingeraten war. Was hatte ihr Leben so sehr auf den Kopf gestellt. „
Miss Kael, mein Name ist Seeva T’Saari. Ich bin ein Spectre und Sie sind hier in meine Mission geraten. Dafür möchte ich mich entschuldigen. Bitte, setzten Sie sich.“ Seeva bot Kael ihren eigenen Stuhl an. „
Ihre mutige Aktion vor dem Hause Vhan hat Sie in den Fokus von Kräften gerückt, mit denen ich mich zu beschäftigen gezwungen bin. Diese Kräfte werden in Form eines großen Turianers in Kürze auch hier erscheinen. Was ich von Ihnen brauche ist Ihre Kooperation und Ruhe: Bleiben Sie versteckt und kommen Sie nicht raus. Das ist für Sie am sichersten.“ Sie schaute zu Tiberas, der wiederum zu den Blue Suns blickte. „
Zwei Teams, eins hier, eins draußen. Die Suns bleiben mit mir hier, Qatar und Odessa gehen in die Gänge. Bleiben Sie bis zum Zugriff in Deckung und ungesehen.“ Die beiden Teammitglieder nickten zum Zeichen, das sie verstanden hatte. Die Suns taten nämliches, Lieutenant Coltrane setzte sich seinen Vollvisierhelm auf und lud seine Vindicator durch. „
Bereit, Commander.“
*
Malonigrus Petalin war ein Sadist, ein Kämpfer, fleischgewordener Blutrausch. In einer anderen Zeit hätte er vermutlich die Streitmächte turianischer Adelshäuser angeführt oder Raubzüge auf den Kolonien begangen. Vielleicht hätte er Stoßtruppen gegen die Rachni geführt oder wäre in der kroganischen Rebellion zu einem gefürchteten General aufgestiegen. Jetzt war nur ein blutrünstiger Mörder, ein stumpfes Instrument, die brachiale Keule des Skalpell-schwingenden Decius Vhan. Er war beseelt von dem Hass auf andere Spezies und dem süßen Geschmack des Todes. Seeva wusste, dass das Töten köstlich war. In dem Auslöschen eines Lebens lag eine gewisse Feierlichkeit und der Hauch grenzenloser, göttlicher Macht. Es war die Frage, für was man diese Macht einsetzte. Seeva war der Meinung, dass das Töten einem Ziel dienen musste und nicht dem Selbstzweck. Das Wohl des großen Ganzen musste im Auge behalten werden, denn sonst verlor man sich in dem Mahlstrom aus Gewalt und Ektase, so wie sich Petalin verloren hatte. Sein Blutdurst würde sein Untergang werden. „
Da ist er“, knackte es in Seeva Kom-Link. „
Verstanden. Auf Position“, befahl der Spectre. Das Licht im Innern des Apartments wurde abgeschaltet, Stille kehrte ein. Zum zweiten Mal an diesem Tag verschaffte sich jemand unerlaubten Zutritt zu Kaels Wohnräumen. Die Tür glitt auf, die Dunkelheit wich aber nur geringfügig, denn das Licht des Flurs wurde durch die massige Gestalt des Turianers fast vollständig verdeckt. Er erinnert Seeva stark an die kroganischen Missgeburten, die Seeva bei ihrer Jagd nach Gavros vernichtet hatte. Eine Klinge blitzte im hellen Licht des Flurlichts auf, ein Lächeln scharf wie das Messer. „Huhu, Kael“, sagte der Turianer bösartig. „Du hast Besuch vom Sensenmann.“ Er schaltete das Licht ein – und blickte in drei Gewehrläufe und eine Schrotflinte. „
Jetzt“, sagte Seeva, worauf Qatar und Odessa sich von hinten rechts und links den Gang herauf näherten, schwere Pistole und Gewehr auf den Hinterkopf des Riesen gerichtet. Diese unnatürlichen roten Augen fixierten Seeva. Der Spectre lächelte gewinnend, während Petalins Grinsen zerbröckelte. Selbst er musste wissen, dass seine Lage hoffnungslos war. Die Frage war: wählte er den Tod oder die Gefangenschaft. „
Wissen Sie, was Ihr Problem ist, Petalin? Sie kommen mit einem Messer zu einer Schießerei.“ Der Turianer knurrte. „
Fallen lassen. Wir müssen uns unterhalten…“