Ein Schmerz bar jeder Beschreibung zerriss Odessas Brust. Gerade noch hatte sie gelächelt, hatte T’Saaris Befehl empfangen und war drauf und dran die neugewonnene Oberhand zu nutzen, um das Blatt zu ihren Gunsten zu wenden und mit einem Schlag war alles vorbei. Die Heftigkeit des Treffers riss sie aus ihrer hockenden Position, stieß sie wie von einem Pferd getreten mindestens zwei Meter zurück, wo sie hart gegen eine Wand prallte. Blut sickerte durch ihr helles Haar; sie hatte sich den Kopf aufgeschlagen. Den Schmerz aber spürte sie nicht, er wurde von der blühenden Agonie inmitten ihrer Oberkörpers vollkommen überlagert. Odessa blinzelte gegen die verschwimmende Welt an, einmal, zweimal, dann sackte sie auf den Boden, legte die nackte Wange auf dem kalten, blutbespritzen Stahl ab. Ihr heißer Atem beschlug die Fläche vor ihr. Sie spürte, wie sich eine warme Träne ihren Weg vom Auge über ihren Nasenrücken bahnte und stillschweigend hinabtropfte. Sie spürte, dass sie weinte, weil die Angst sie überkam. Eine überwältigende, tiefgreifende, evolutionäre Angst. „
Ich will nicht sterben“, flüsterte sie, ohne die Lippen zu bewegen. „
Ich will doch nur...“
Schwarze Leere. Kein Licht am Ende des Tunnels. Die Kampfgeräusche wurden zu einem fernen Donner, dann zu weniger und schließlich zu gar nichts. Odessas grüne Augen waren starr. Blut sammelte sich in ihrem Mundwinkel, tropfte zeitgleich mit einer weiteren Träne zu Boden. Der Tod ist friedlich und beängstigend gleichermaßen. „
Gleich ist es vorbei“, beruhigte sie die eigene Stimme im Kopf. „
Lass los. Du brauchst nicht mehr so krampfhaft festhalten. Lass einfach los.“
*
Das Gefecht entwickelte sich zu einem Grabenkampf mit Verlusten auf beiden Seiten. Was Seeva nicht wusste war, dass Xi mittlerweile überwältigt und ihr Gefangener kurz davor war, zu entkommen. Seeva sammelte biotische Energie, jagte sie quer durch die Gasse und schleuderte eine tonnenschwere Deckung mitsamt ihrer dahinter kauernden Nutzer fort. Einer der Turianer schlug gegen eine Wand, krabbelte wie ein in Panik geratener Käfer auf allen Vieren fort. Sein Kamerad hatte weniger Glück; der Container, der zuvor sein Leben vor den gezielten Schüssen Qatars abschirmte, zermalmte Kopf und Torso. „
Commander, Odessa hat’s erwischt“, meldete Lacan. „
Sie ist getroffen!“ „
Liegen lassen“, knurrte Seeva. Von irgendwoher roch es nach verbranntem Fleisch. „
Die ist hin.“ „
Die Feinde im Vorfeld sind mittlerweile dezimiert“, erklärte der Priester. Eine gute Beschreibung, kam das Wort doch aus der antiken Bestrafungstaktik, in einem aufständischen Dorf jeden zehnten Einwohner zu töten – eine Todesquote von zehn Prozent, die auch Seeva und ihr Team einhielten. „
Warten Sie… Commander, bei dem Gefangenen geschieht etwas.“ Die Stimme des Priesters, sonst ruhig und ausgeglichen, wurde hastiger. „
Mehrere Signaturen. Sie sind bei Petalins Container. Ich glaube sie wollen ihn…“ „
…befreien“, beendete Seeva den Satz. In dem Moment dämmerte es ihr. Das Ganze war ein Ablenkungsmanöver. Ihre Vernichtung war nie das priorisierte Ziel gewesen, höchstens ein positiver Nebeneffekt. Es ging um Petalin – und der Turianer wusste, wer Decius Vhans Feinde waren. Seeva stieß einen wütenden, animalischen Schrei aus, feuerte eine ungezielte Singularität in die Richtung des ablenkenden Feindes und funkte: „
Odessa!“ Dann fiel ihr ein, dass Odessa vermutlich tot war. Dann eben Plan B. „
Awan! Schnappen Sie sich eine Waffe und aktivieren Sie die Sicherheitsmechs.“ Die drei LOKI-Kampfmaschinen waren kaum wirklich effektiv, eher günstiges Kanonenfutter und sollten im Ursprungsgedanken lediglich Zeit für eine Evakuierung gewinnen. Ihnen und dem depressiven Quarianer den Mordauftrag zu geben erschien dem Spectre suboptimal, allerdings hatte sie kaum eine andere Wahl. „
Gehen Sie zu Petalins Gefängnis und töten Sie ihn! Sofort!“ Der Quarianer am anderen Ende zögerte. Es lag nicht in seiner Natur, Gefechten beizuwohnen und noch weniger jemandes Leben zu beenden. „
Sofort, habe ich gesagt!“ „
Commander…“, setzte er an. „
Führen Sie meinen Befehl aus oder ich schwöre Ihnen, dass ich Sie eigenhändig ausweide, Awan!“ „
Okay, ich tu’s“, erwiderte der Quarianer widerwillig. „
Qatar, van Zan, geben Sie mir Feuerschutz“, befahl der Spectre. Sie selbst würde sich sicherheitshalber ebenfalls auf den Weg zu Petalins Zelle machen. „
Feuer frei!“, rief sie und rannte los.
In diesem Moment kreuze etwas ihren Weg. Etwas glühendes, großes und zackiges. Wie ein Schatten, der im Licht einer geschwenkten Taschenlampe über die Wand huschte. Seeva spürte den biotischen Schlag, der ihre Barriere belastete, wie einen zu starken Klopfer auf den Rücken. Sie stolperte, fing ihr Gleichgewicht aber verlor ihr Gewehr. Die Disciple schlidderte inmitten des Korridors, direkt unter die zuckenden Lichtblitze pfeifender Projektile. Ein neuer Feind auf der Bildfläche.
*
„
Narissa.“ Unfähig sich zu rühren, zu blinzeln, zu atmen, nahm Odessa die Stimme wahr. Eine andere Stimme. Nicht die eigene, an die sie sich in den vergangenen – Sekunden? Stunden? Tagen? – gewöhnt hatte. Nicht ihre Stimme, die sie aus Selbstschutz zum Tod überreden wollte. Es war eine andere Stimme, fremd aber doch sonderbar bekannt. In der Schwärze, die hinter den aufgerissenen Augen lag, manifestierte sich etwas. Etwas helles und freundliches. Ein Licht. Nein! Eine Gestalt oder ein Gesicht. „
Narissa!“ „
Mama.“ Jetzt war Odessa wirklich nach Weinen zumute. „
Ich…, du…“ Ihre Mutter war vor langer Zeit gestorben, als sie selbst noch ein junges Mädchen gewesen war. Das war so lange her, dass Odessa nicht gedacht hätte, dass sie sich noch so genau an ihre Mutter hätte erinnern können. Doch da war sie, ganz genau so, wie sie sie damals erlebt hatte. „
Ich sterbe, Mama“, formulierte Odessa in Gedanken. „
Hältst du mich? Wie früher?“ „
Nein!“, war die kalte Antwort der Mutter. Nein zum Tod, nicht zu der Bitte ihres Kindes. „
Du stirbst nicht. Atme, Mädchen! Atme, mein Schatz und lebe weiter!“ „
Aber…“ „
ATME!“
Odessa hustete, spuckte Blut aus. Die Welt um sie herum materialisierte sich, nahm Schemen und Strukturen an. Sie sah Licht und Farbe. Der Schmerz kehrte zurück, aber auch das Leben. Odessa – oder Narissa – nahm ein paar heftige, tiefe Atemzüge, jeder davon war so schmerzhaft wie jahrelange Folter. Sie hörte ihre eigene Stimme pfeifen,
spürte das Projektil, dass in ihrer Brust steckte, gebremst durch ihren Körperschild aber trotzdem in ihr. Sie drückte ihr Omnitool. „
Hilfe.“
*
„
Hilfe.“ Das Geräusch klang durch den Kom-Kanal krächzend, fast wie ein Stück Kreide, dass man ohne Druck über eine Tafel zog. Die Stimme der Attentäterin war so schwach, wie eine so gezeichnete Kreidelinie. „
Sie ist nicht tot“, verstand Seeva während sie sich unter einem biotischen Krallenhieb wegduckte und ihrerseits einen Schwinger ihrer bläulich umwaberten Faust in der Rippengegend des Turianers platzierte, der sich ihr so dreist in den Weg gestellt hatte. Der Andere ächzte, als ihr Schlag ihm die Luft aus der Lunge presste. „
Commander, drei Signaturen sind an Ihrer Verteidigungslinie vorbei und im Innern der Operationsbasis“, erklärte Pater Lacan mit tonloser Stimme. Er klangt wie eine Bandansage. „
Scheiße!“, fluchte Seeva und verpasste dem taumelnden Turianer einen Fausthieb gegen den Kiefer. Seeva sammelte Energie – nicht viel, nur so viel, wie der Augenschlag von Sekundenbruchteil hergab – und schleuderte ihren Angreifer damit fort. Sie brauchte Zeit. Zeit für Befehle. Die Mechs hätten eigentlich erst jetzt eingreifen sollen, nun waren sie auf dem Weg zu einem Auftrag, für dessen hohe Priorität sie nicht programmiert waren. Der Spectre fasste eine schwere Entscheidung. „
Lacan, verriegeln Sie den Container und beginnen Sie, die Daten sofern möglich zu sichern. Nur das wichtigste! Der Rest wird vernichtet.“ Am anderen Ende der Leitung herrschte ein schweres Schweigen. Der Priester, obgleich ein Mann der sich um mehr Belange als die dieser schnöden Welt kümmerte und auf den die Ewigkeit wartete, verstand die Tragweite dieses Befehls. Sie würden den geringen Fortschritt ihrer Arbeit fast komplett neu aufsetzen müssen, wenn sie zu viele Daten verloren. „
Van Zan! Odessa lebt. Zumindest noch. Holen Sie sie und versorgen Sie Ihre Wunden, wenn möglich. Tiberias: Rückzug. Zum Container. Wir müssen Lacan Zeit verschaffen…“
*
Invictus grinste zufrieden. Er und auch Decius Vhan hatten mit Verlusten gerechnet und beide hatten mit dem Erfolg ihres Angriffs kalkuliert. Beider Erwartungen fanden ihre Erfüllung. Dass Decius‘ Mann Raxh einen Alleingang startete war bedauerlich, lag aber nicht in seinem Zuständigkeitsbereich. „
Wie Sie sehen ist meine Taktik ausgesprochen sicher, Mister Vhan“, sagte der Stratege und ließ erkennen, dass er sich von einem damals niederen Unteroffizier nicht ins Handwerk pfuschen ließ. Decius Vhan mochte der Mann mit dem Geld sein, mit der Macht und mit der Vision, aber auf diesem Schlachtfeld gab es nur einen Gott und der hieß „Sieg“. Und Invictus war sein Prophet. „
Rote Gruppe, Sie haben sich aufgeteilt. Wer geht da Richtung unbekannter Gebäudekomplexe? Machen Sie Meldung!“ „Hier ist Corporal Avernas“, meldete sich ein ehemaliger turianischer Militär, ein Typ den Invictus schon bei der Truppzusammenstellung für einen Draufgänger und Effekthascher gehalten hatte, der alles tun würde um seinem Herrn und Meister zu imponieren. „
Warum haben Sie Ihre Position verlassen?“ „Wegen der Gelegenheit, Sir.“ Invictus schnalzte ungehalten mit der Zunge. Typen wie Avernas waren der Grund, warum Spezialkommandos scheiterten. „
Scheiß drauf“, dachte der Turianer. Die Drei könnten versuchen dem Feind in die Flanke oder gar den Rücken zu fallen, könnten bei dem Versuch aber ebenso gut draufgehen. Invictus hatte sich bereits in zwei Faktoren geirrt: Der Feind hatte doch einen Scharfschützen – zumindest gehabt – und er besaß Sicherheitsmechs. Auch der Sprengsatz war eine Überraschung gewesen, aber keiner hatte behauptet, dass der Zugriff leicht werden würde. „
Na, hoffentlich ist Ihr Grobian das hier alles wert…“, sagte Invictus an Decius gewandt. „
Avernas, vorrücken und aufklären. Wenn Sie Zugang zu den Gebäuden bekommen, nutzen Sie ihn. Versuchen Sie Feindkontakt zu vermeiden.“ „Ich bin ein Kämpfer. Ich muss kämpfen“, kam es zurück. Invictus schlug mit der Hand auf den Tisch. „
Sie gehorchen, oder ich sorge dafür, dass man Ihren ehrenlosen Namen aus den Erinnerungen von Quod Puritas streichen wird!“ Ein Moment herrschte Schweigen. „Verstanden. Wir halten uns zurück.“