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    Ranger Avatar von GesustheG
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    GesustheG ist offline

    Post [Story] Suchende Wurzeln

    Liebe Community, liebe Freunde,


    hier die 2. Auflage von Suchende Wurzeln !
    Als PDF, viel viel bequemer, go grab it...

    https://upload.worldofplayers.de/fil...2._Auflage.pdf


    Schickt mir gerne euer Feedback unter Immerlinde@gmail.com
    Hier noch das Cover der Druckvariante*, ich hoffe es weckt deine Neugierde!
    Viel Freude beim Lesen!

    *die ich als Fanfiction leider nicht vertreiben darf...

    [Bild: iXnhVgS.jpg]



    ALLES UNTERHALB ist eine alte Version.


    Band 1
    Vorwort
    (...ist überspringbar, lies unter der Karte einfach los!)
    Wer ein Fan der Gothic-Spiele ist, wird sicherlich seine Freude mit diesem Buch haben! Die Tierwesen, der zuweilen raue Ton oder auch die Idee einer abgeschotteten Minenkolonie, all dies hat seinen Weg in diese Geschichtegefunden und diente mehr als einmal zur Inspiration. Nicht zuletzt hoffe ich zahlreiche Leser aus der selbst heute noch, mehr als 20 Jahre nach dem Erscheinungsdatum des ersten Spieles, stets lebendigen Community zu gewinnen. Doch ein paar Unterschiede zur Gothic-Welt gibt es und diese möchte ich darlegen. Zum einen, um der Verwirrung eines Fans vorzubeugen und zum anderen, um für den neuen Lesereinen schönen Einstieg in die vielfältige Welt von Suchende Wurzeln zu gestatten: Dies ist eine Geschichte in der Welt von Gothic, doch nicht am selben Ort und nicht zur selben Zeit.

    Magie & Religion
    Magie liegt nicht in Menschenhand. Im Gegenteil: Sie wird gefürchtet. Ihre Wirkung ist obskur, sagenumwoben und ihre Geheimnisse weitestgehend nicht gelüftet. Es gibt keinen Zirkel der Feuer- oder Wassermagier, noch nicht. Innos, Beliar und Adanos haben sich dieser Welt noch nicht offenbart und die Götter des Feuers und der Dunkelheit ihren Streit noch nicht begonnen; den Streit, den man in den Spielen als der namenlose Auserwählte durchleben kann. Anstelle dieser Religionen stehen unzählige andere, die um Anhänger und Verehrung durch das gemeine Volk, sowie um ein Ohr der Herrschenden buhlen. Die Sumpfvölker, die Nordmar, die Wüstenvölker des fernen Südens, alle haben sie ihren eigenen Glauben, ihre eigenen Riten und Traditionen. Doch eine Religion, die Religion der sieben Wächter zählt die meisten Gläubigen und hat so auch den längsten Arm. Die Kirche der Sieben unterhält Gotteshäuser selbst in den kleinsten Gemeinden und der Klerus flüstert den Königen und Stadträten seinen Rat zu. Nicht zuletzt ist es das Wort der Kirche, welches den Herrschaftsanspruch von Krone und Adel legitimiert. Ob in den Zeremonien ihrer Gottesdienste wahre Magie gewirkt wird? Die Kirche weiß dies zumindest zu behaupten und die betörende Wirkung ihres Weihrauchs hat schon so manchen Kirchengänger einen der sieben Wächter vor seinen eigenen Augen erscheinen lassen. Ein handfester Beweis bleibt jedoch aus. Die Wächter erfüllen verschiedene Aufgaben, von Liebe und Wachstum bis hin zu Tod und feuriger Zerstörung. An ihrer Spitze steht Addo, Gott des Schutzes, des Gleichgewichts und der Ordnung. Nach seinem Namen betitelt man auch die Zeitrechnung, beginnend mit der ersten Vision seines ersten Propheten vor mehr als 300 Jahren.

    Ländereien & Völker
    Die Ereignisse von Suchende Wurzeln finden nicht auf Myrtana oder auf den Inseln bei Khorinis statt, den Schauplätzen der Gothic-Spiele. Die Abenteuer von Fjonn und Henrik und all den anderen Figuren beginnen auf dem Kontinent von Lund. Im Norden erheben sich die hohen Gipfel der Schwarzspitzen, ein weites Gebirge, nur bewohnt von den hartgesottenen Clans der Nordmar. Die eisigen Weiten dahinter sind so unwirtlich wie unerforscht. Selbst die Bergvölker können ihrer klirrenden Kälte nicht strotzen. Zum Westen liegt die offene See, aber die Berge setzen sich fort in Richtung Osten, gehen über ins Silbergebirge. Zu Füßen dieser Berge liegt auch der Talkessel, der Drehscheibe dieser Geschichte. Die Silberberge laufen aus in die Märsche des Ostens, ein unwegsames Gelände, wo die seltsamen Menschen in den Sümpfen des Nachts unter dem Einfluss verschiedenster Substanzen ihre Geistertänze zelebrieren. Im Süden endet Lund mit der Sichelküste, dessen Handelsstädte sich ihre Unabhängigkeit ihres Reichtums wegen erhalten können. Jenseits der Salzstraße, der Meereszunge an der Sichelküste, finden sich die trockenen Wüsten, in denen die Severim ihre Heimat gefunden haben. Meilen um Meilen erstreckt sich der goldene Sand und die Dünen überragen so manch hohen Turm der Küstenstädte. Nur die Nomaden kennenden Weg zu den entlegenen Oasen im Meer der Sonne, wie sie die endlose Wüste nennen. Im Westen liegt das weite und unerforschte Bärenmeer. Schiffe, die dorthinaus segeln, kehren selten wieder. Auch dieser Teil der Landkarte bleibt bis dato unerforscht. Im Herzstück des Kontinents, geborgen zwischen Bergen, Meeren und Sümpfen, befinden sich die fruchtbaren Ebenen. Dichte Wälder beherbergen gefährliche Kreaturen. Sanfte Hügel und breite Flusstäler bieten gutes Ackerland. Hier wohnen die Menschen der Königreiche, derer es zweierlei gibt: Gebeland entlang der Küste im Westen und Frehnland, das größere und mächtigere der beiden. König Batan III von Frehnland regiert sicher und gut. Sicher und gut zu regieren heißt in diesem Falle nicht etwa, dass die Bauern keine hohen Steuern zahlen müssten oder dass den Bürgern ein außerordentliches Maß an Freiheit vergönnt sein würde, nein, aber Batan III führt zumindest keine Kriege mit seinen Nachbarn. Seine Herrschaft ist stabil. Die Handelsstädte, die Nordmar und die Bewohner der Königreiche genießen diesen Frieden und der Handel blüht und das Korn wächst. Doch etwas geschieht in den Bergen: Um die Nordmar ist es ungewöhnlich still geworden. Ihre Pässe sind gesperrt, ihre Pfadwächter hüllen sich in Schweigen, der Pelzhandel ist versiegt. Und von einer Region, dem Talkessel samt der freien Stadt Neigenbau, ist kein Lebenszeichen mehr zuhören. Seltsame Ereignisse gehen dort vor sich und der Pass, der einzige Zugang zum Kessel, er ist versperrt. Es ist die erste Hürde auf der langen Reise von Erik und Frank. Aber lest selbst! Viel Freude mit der Geschichte von „SuchendeWurzeln“!


    Suchende Wurzeln
    von D. N.
    [Bild: kGtK6gB]

    [Bild: 5LyMEPd.png]


    PROLOG
    Am schiefen Baum
    Der Wind fuhr in die Blätter. Sie warfen sich um, wanden sich und stemmten sich gegen den steten Strom der kühlen Gebirgsluft. Unter ihnen bedeckten knorrige Wurzeln den Waldboden. Der Baum stand allein. Er hatte mehr Macht und mehr Gewicht als seine Nacheiferer und der sanfte Hügel, auf dem man ihn finden konnte, gehörte nur ihm. Wenn man ihn so sah, dann konnte man tatsächlich meinen, dass die Natur aus fast menschlichen Gründen von ihm Abstand nahm: Sein Anblick war abnormal, widernatürlich, sein Blattwerk war nirgends das Gleiche. Das Laub wucherte und verdrehte sich, wuchs nur unregelmäßig der Sonne entgegen, spross an sinnlosen Stellen am schattigen Hauptstamm, bildete gelb-grüne Büschel und schmiegte sich an die alten Zweige, anstatt sich von ihnen zu strecken. Seine Rinde warf sich auf und sackte wieder zusammen, seine Silhouette war schief und gebrochen. Schwarze Dornen bespickten hier und dort die Äste. Triefendes Moos bedeckte große Teile des Stammes und wo das Moos nicht wuchs, zeigten sich tiefe Einschnitte bis hinein ins Kernholz, so, als hätte das Gewüchs tiefe Narben aus einem Kampf davongetragen. Im Dunkel dieser tiefen Wunden schimmerte es nass und kühl und unheimlich.
    Im Gewirr der Wurzeln ruhte ein Mann. Eine greise Frau beugte sich über ihn und lange graue Haare fielen ihr über die Schulter. Sie hielt einen Krug an seine Lippen. Als sie ihn neigte, rann eine breiige Flüssigkeit aus dem Gefäß und sickerte seine Kehle hinab. Er sträubte sich, doch da seine Glieder gefangen waren von knorrigem Holz, da seine Kraft schnell versiegte, schluckte er letztendlich. Die Frau murmelte leise Worte und nickte langsam. Ihre Stimme war alt und ruhig, doch der Mann litt Schmerzen und konnte sich von einer sanften Stimme nicht helfen lassen. Er ächzte und seine Muskeln in Armen und Beinen spannten sich wieder. Die Augenlider flatterten, er rang um die Kontrolle. Ruckartig schlug er sie auf. Seine weißen Augäpfel schossen panisch umher, nach Orientierung suchend, bis er die alte Frau fokussierte: Ein Anblick, dem er nicht begegnen wollte. Seine Augen verriet seine Furcht. Sie hingegen berührte ihn zärtlich an der Wange und murmelte weiter leise Worte. Der Mann mühte sich ab sich noch einmal aufzubäumen, doch die Frau tippte mit einem knorrigen Finger auf eine Wurzel. Mit Knarzen und Knacken schloss sich das Holz noch enger um seine Glieder. Die Alte schob eine Hand unter seine Schulter, mit der anderen hielt sie den Kopf. Sie richtete ihn gerade. Langsam verließ ihn sein Bewusstsein wieder. Sein Körper erschlaffte und er glitt zurück in die dunkle Geborgenheit tiefen Schlafes.
    Die Frau richtete sich auf und nahm einen tiefen Atemzug. Zweifel und Skepsis huschten über ihre Miene. Ihr Blick war wie der eines Handwerkers, der nach langer, harter Arbeit nur der Makel an seinem Werk gewahr wurde. Gemächlich umrundete sie den schiefen Baum. Auf der anderen Seite war ein Eingang im Geflecht seiner mächtigen Wurzeln. Sie schritt die Stufen hinab und verschwand in den Schatten des eigentümlichen Geschöpfes des Waldes.


    KAPITEL 1
    I Die Süße Sandra
    Im Jahre des Addo 389, Am Abend des 10. September
    Erik & Frank
    Zur Süßen Sandra‘ hieß es auf dem Kneipenschild. Darunter ein Frosch, der mit verdrehten Augen einen großen Humpen Bier genoss. Die Farbe war ausgeblichen und das Dämmerlicht machte es schwer den Schriftzug zu entziffern. Zwei Brüder, Erik und Frank, ausgestattet mit prallen Reisetaschen, standen vor dem Eingang.
    Das...“, sagte Erik, der jüngere, und legte sich einen Finger auf die Lippen, „...ist erstaunlich intelligenter Humor für diese Landbevölkerung.“
    Sein Bruder legte den Kopf schief. „Was meinst du?“
    „Der Frosch. Eine Figur der lokalen Märchen hier. Die Geschichte besagt, dass die dicke Magd Sandra nichts außer Frösche isst und so, mittels ihres gewaltigen Körperumfangs und ihrer unglaublichen Kraft, die verschiedensten Bedrohungen für ihren Hof abwehrt. Die neidischen Nachbarn, Wolfsrudel, Goblins, alles was so kreucht und fleucht...“
    „Frösche also?“
    „Exakt! Und wenn man dieses Schild und die Aufschrift interpretieren möchte, dann lernt man schnell, dass der Frosch symbolisch für die Gäste steht und die Wirtsfrau besagte Gäste wohl-“
    Frank seufzte vernehmlich. „Wollen wir?“, unterbrach er seinen kleinen Bruder.
    Frank schob ihn sanft, aber nachdrücklich in Richtung Tür. Erik, kein Kind mehr, aber auch noch kein Mann, musste sich die Anweisungen seines Bruders gefallen lassen. Schließlich war Frank derjenige, der Weg und Ziel kannte, mehr Erfahrung hatte und von ihrem Vater als seines kleinen Bruders Schutzbefohlener auserkoren worden war. Es galt die Macht der Gewohnheit und das Gesetz des Stärkeren. Sie betraten die Schenke. Drinnen wurden sie begrüßt durch die vertrauten Gerüche eines solchen Hauses: Bier, Eintopf und der Schweiß eines langen Tages voll harter Arbeit auf dem Felde. Im gelben Licht der Öllampen konnte man den prall gefüllten Raum ausmachen. Das Ende der Weizenernte brachte die Bauern in die Schankhäuser und der Lärm von Geschwätz und Gelächter machte es schwer sich zu verständigen.
    Frank?
    Erik klopfte seinem großen Bruder auf die Schulter. Er deutete auf die Theke hinter den dicht gedrängten Gästen.
    „Was bei den sieben Wächtern?“, antwortete dieser, seine Miene voller Unglauben.
    Hinter dem Tresen bediente eine Frau, die in ihrer Gestalt eher einem Braunbären glich als einer Schankmaid. Groß und breit gebaut war sie und ihre fettigen, schwarzen Haare und ihr buschiger Damenbart unterm satten Doppelkinn taten ihr Übriges. Mit überraschend flinken Handbewegungen teilte sie Krüge und Suppe aus, wischte den Tresen und verlangte in barschen Worten die Münzen ihrer Kunden.
    „Erik?“
    „Ja?“
    „Was meintest du über das Schild und die Gäste?“
    „Nun, wenn die betrunkenen Gäste die Frösche sind… und sie hier mit Alkohol gefügig gemacht werden, dann ist es der Handlung des Märchens nach nur logisch, dass unsere Sandra hier...“, Erik deutete auf die Barfrau, „...sie wohl irgendwann auffressen wird.“
    Er sah Frank bedeutungsvoll an. Sein älterer Bruder blickte stutzig.
    „Die Märchen hier im Norden haben wohl ihren eigenen Charme.“, sagte er.
    Frank löste sich vom Anblick der beeindruckenden Gestalt und überflog den Raum. Schon fand er, was er suchte.
    „Folg mir“, sagte er knapp.
    Er hielt auf einen Tisch zu, an dem ein kahlköpfiger Mann in abgenutzter Lederkleidung saß. Sein Gesicht war wettergegerbt und seine Mundwinkel dem Anschein nach dauerhaft heruntergezogen. Als sie an den Tisch traten, blickte er auf.
    Ihr seid die beiden Wagemutigen?“, sagte er und schniefte abschätzig. „Ein Bier und ich gehöre ganz euch!“
    Der kahle Mann verschränkte die Arme und lehnte sich demonstrativ zurück. Frank bedeutete seinem Bruder sich darum zu kümmern und schon war Erik davon. Noch bevor Frank sich setzte, fragte er prompt:
    „Wie lange bist du schon Jäger?“
    Der Mann hob die Brauen.
    „Wenn ich mir einen Rat einhole...“, sagte Frank, „...für den ich bezahle, dann muss ich wissen, ob er auch etwas taugt.“
    Der Jäger schnaubte herablassend. „Schon immer“, sagte er.
    Sein Ton war schulmeisterlich und seine Stimme älter als seine Gestalt vermuten ließ.
    „Und die Gegend kenne ich wie der Wirt seine Gäste. Die kannst du auch gern fragen, wenn du Sorgen hast, ich würde dich über den Tisch ziehen wollen.“
    Frank schürzte die Lippen und nickte.
    „Dein Junge, ist er dein Lehrling oder so?“, fragte der Mann.
    Frank setzte sich. „Mein Schüler“, sagte er, betont kurz und sachlich.
    Der Jäger kniff die Augen zusammen. „Und was lernt er?“
    „Nicht jedem zu trauen.“
    Frank blickte dem Mann unverhohlen in die Augen. Die tiefen Falten seines Gegenübers machten seine kantigen Gesichtszüge unlesbar. Schließlich brach der Jäger das zähe Starren.
    „Und ihr wollt unbedingt in den Talkessel?“, fragte er weiter.
    Frank nickte. Nach einem tiefen Atemzug, voll von schweren Sorgen, begann der Kahlköpfige:
    „Nun. Du solltest ja bereits wissen, dass seit zwei Jahren keine Menschenseele mehr das Tal verlassen hat. Keiner weiß, wie es in Eichenbruck und Neigenbau aussieht. Die letzte Neuigkeit war, dass die Nordmar den Handel eingestellt haben. Man munkelt, das wäre wegen den Scharmützeln zwischen Batans Truppen und den Nordmarclans im Westen.“ Der Mann zuckte mit den Schultern. „Schließlich hat der König damals ein Regiment von Soldaten geschickt, um den Lehnsmann des Tals zu unterstützen.“, schloss der Jäger und schnalzte mit der Zunge.
    Frank begegnete dem erwartungsvollen Blick des Jägermanns, aber schüttelte ratlos den Kopf.
    „Und?“, sagte Frank.
    „Verstehst du nicht? Wenn es einhundert Soldaten nicht herausschaffen, dann stimmt irgendwas nicht!“
    „Vielleicht wurden sie von den Nordmar aufgerieben.“
    „Vielleicht. Bist du bereit das Leben deines Schülers darauf zu verwetten?“
    Franks Blick ruhte auf seinem Rücken seiner Hand. Er atmete ruhig und trommelte mit den Fingern. Dass dieser Wald ihm tatsächlich Sorgen machte würde er ganz sicher nicht gegenüber einem wildfremden Menschen eingestehen. Am Ende erhöhte der Jäger noch den Preis für sein Wissen.
    „Na gut, dann sag mir, was du weißt! Warum ist der Weg versperrt?“
    Sein Gegenüber lächelte verschmitzt. Er pochte zweimal auf den Tisch.
    „Erst das Bier!“
    Erik bahnte sich einen Weg durch die Menge, doch er hatte weder die Masse noch das Durchsetzungsvermögen des bäuerlichen Besuchs der Kneipe. Nach der ersten Runde weigerte sich der Jäger immer noch, über den Talkessel zu reden und er bestand stets auf das nächste Bier, das er in tiefen Zügen leerte, sobald die Aussicht auf ein weiteres bestand. Er wusste genau, dass er die Brüder am Haken hatte. Doch der Alkohol lockerte seine Zunge, was zumindest Eriks Neugierde befriedigte. Er sprach über seine Ausflüge in die Vorgebirge, die neuerdings mageren Wildbestände und vor allem über seine großen Erfolge. Ein gesamtes Wolfsrudel und einmal sogar drei Snapper, auf einen Schlag! Es schien so, als würde er nicht sehr häufig ein aufmerksames Publikum haben, aber Erik lauschte wissbegierig seinen Erzählungen. Mit einem süffisanten Lächeln lehnte er sich zurück.
    „Versteht ihr was vom Jagen?“, fragte er.
    Frank antwortete, bevor Erik es konnte.
    „Ich schon“, sagte er ungeduldig. „Hör zu! Wir sind nicht zum Plaudern hier. Ich suche nach jemandem, der mehr über den Talkessel weiß. Mehr als das, was sich sowieso alle erzählen.“
    Der Jäger lächelte erschlagen und warf dann einen nervösen Blick auf die Gäste. Niemand schien ihnen besondere Aufmerksamkeit zu schenken.
    „Wenn man einen sitzen hat…“, sagte der Jäger und sein Ton war auf einmal ganz wehmütig, „…dann redet man doch eh nur Stuss, hab ich Recht?“
    Seine glasigen Augen guckten ins Leere und ein Anflug von Trotz und Enttäuschung huschten über seine faltigen Züge. Er fasste die Brüder ins Auge und blickte sie streng an.
    „Das bleibt unter uns, verstanden?“ Er beugte sich vor. Sein Atem roch nach Alkohol und Moder. „Also, was habt ihr gehört? Das Tal ist verflucht? Ein böser Geist wohnt zwischen den Bäumen am Pass?“
    Er wackelte mysteriös mit den Fingern. Seine Lippen waren nass von Speichel. Frank machte eine Geste, dass er fortfahren sollte.
    „Ich bin kein Freund von Schauergeschichten. Ich glaube nur das, was ich sehe! Aber dieser Wald ist mir unheimlich. Und ich kenne diese Gegend wie meine eigene Westentasche!“
    Er schlug mit der Faust auf den Tisch.
    „Ich schwöre auf meine tote Mutter...“, mit großen Augen sah er die Brüder an, „...vor drei Jahren war der Wald noch nicht so groß. Und nicht so dicht!“ Speichel spritzte in sein Bier. „Die Hänge oberhalb sind so wie immer, ein paar Sträucher, einzelne Bäume. Aber Unten, im Tal, da wuchert alles! Das Dickicht ist undurchdringlich.“
    Erik rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her, Frank aber zeigte sich demonstrativ unbeeindruckt. Doch der betagte Jäger ließ sich davon nicht unterkriegen. Er erzählte von seinen Erlebnissen, davon wie er ein Mann seines Fachs war, dass sein Wert in seinen Erfahrungen bestand und dass er das Außergewöhnliche von dem Üblichen unterscheiden könnte. Der Alkohol machte sowohl Stimme als auch Gesten fahrig, nichtsdestotrotz: Seine Ausführungen waren glaubwürdig. Bis er von einem Streifzug erzählte, der nicht so ausging, wie ein Jäger es sich erhoffen würde; mit Beute über der Schulter auf dem Weg zurück zu Haus und Heim. Seine Anspannung war beinahe ansteckend.
    „Ich sehe dort drei Scavenger, perfekt für die Jagd. Die Laufvögel waren eigentlich größer als das, wonach ich gesucht habe, aber in Ordnung, sag ich mir. Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul, denke ich! Ich peile also das fetteste Männchen an...“, er hob einen belehrenden Zeigefinger, „...hol dir nie zuerst das Weibchen, dann hast du die ganze Schar an der Backe.“
    Er erntete ein wissendes Nicken von Frank.
    „Ich pirsche voran, in eine gute Position, ich lege an, warte bis das Tier stillhält und lass den Pfeil fliegen. Das Federvieh bekommt den Pfeil direkt in die Flanke...“, er stach sich mit seinem Finger in die Seite, zwischen seine Rippen und stierte die Brüder mit großen Augen an, „...durchs Herz und auf der anderen Seite hinaus! Die anderen Vögel sind aufgeschreckt und machen einen Satz zur Seite.“
    Er senkte seine Stimme, bis zu einem Flüstern. Die Brüder rückten näher.
    „Das Tier, das fette Männchen, es taumelt kurz, blickt sich um. Es sieht mich! Und dann, als wäre sonst nix, beginnt es mit seinem beschissenen Drohruf!
    Der Mann platzte beinahe mit seinen letzten Worten, was den vorherigen Flüsterton absolut sinnlos machte.
    „Ich hab den Pfeil gesehen! Das hat den Vogel nicht interessiert!“, polterte er.
    Dank des Kneipenlärms ging ihre Unterhaltung zwischen den vielen anderen unter. Wie ein Pendel, hin und her schwingend zwischen verschwörerisch und empört, kam der Kahlköpfige wieder näher heran. Er nahm es vermutlich durch den Rausch nicht wahr, doch diese offenkundige Heimlichtuerei ließ sein Gebärden überhaupt erst verdächtig erscheinen. Durch zusammengebissene Zähne sprach er weiter.
    „Das Tier hat geblutet, wie ein Schwein. Ich muss das Herz erwischt haben! Und das Blut, das Blut hat gekocht! Hat gedampft wie heiße Kürbissuppe! Und es roch seltsam, so wie nach heißem Eisen. Es brannte widerlich in der Nase. Jetzt sag mir, dass das normal ist!“ Der Jäger lehnte sich zurück und verschränkte die Arme.
    „Und dann?“, fragte Erik sofort.
    Nichts und dann! Ich hab das Weite gesucht. Das Ding fiel nicht um! Es hat angefangen mit den Füßen zu scharren und ich hab keine Lust auf ´nen Faustkampf mit einem Tier, dass sich von Durchbohrungen nicht beeindrucken lässt!“
    Er schüttelte den Kopf.
    Frank kratzte sich an der Wange. „Bist du später wieder zu der Stelle zurückgekehrt?“
    Der Mann hob sein Bier und zog die Mundwinkel noch weiter herunter, als sie ohnehin schon waren.
    „Danke, aber nein!“, sagte er.
    „Das ist das, was du uns zu erzählen kannst? Du hast einen Scavenger geschossen und er ist nicht sofort gestorben?“
    Der Jäger schnaubte empört. „Söhnchen, ich habe mein Leben lang gejagt! Ich weiß wo das Herz sitzt. Ich weiß wie man einen Pfeil im Ziel versenkt und ich weiß wann das Ding umkippt. Oder umkippen soll!“ Der Jäger betonte jedes einzelne Wort: „Ist es nicht!
    Frank atmete tief durch und fuhr sich durch die kurzen Haare.
    „In Ordnung.“ Er erhob sich ruckartig. „Danke für deine Hilfe.“
    Das abrupte Ende der Unterhaltung überraschte den jüngeren Bruder.
    „Was? Das war´s?“ Erik wandte sich an den Jäger. „Was hat das zu bedeuten? Warum ist der Scavenger nicht gestorben?“
    Der alte Jäger fuhr sich mit der Hand über seinen kahlen Schädel und zuckte bloß mit den Schultern.
    „Wir wissen alles, was er weiß.“, sagte Frank und berührte Erik an der Schulter. „Auf geht´s. Wir holen uns noch einen Eintopf für die Nacht.“
    Widerwillig stand Erik auf.
    „Vielen Dank für eure Erzählungen.“, sagte Erik mit einer leichten Verneigung.
    Der Jägersmann hob geistesabwesend die Hand zum Krug, grüßte mit diesem und starrte durch den Boden des leeren Humpens. Die Erlebnisse und vor allem wohl seine Erzählungen davon hatten ihn zum Außenseiter gemacht, zum ewig missverstandenen. Doch dies war nicht länger Franks Problem. Er bahnte ihnen einen Weg durch das gefüllte Gasthaus bis zur Theke, wo er Eintopf bestellte. Nach einer kurzen Weile brachte die übergroße Barfrau eine hölzerne Schüssel. Sie war gefüllt mit dampfenden Kartoffeln, etwas Speck und einem kleinen Bröckchen Butter. Schwarze Punkte auf den gelben Kartoffeln ließen Gewürz vermuten, konnten aber auch Dreck bedeuten. Frank wandte sich zum Gehen, als Erik seine Stimme erhob.
    „He! Entschuldigung!“
    Die Frau reagierte nicht. Der Junge rief noch einmal, ohne Erfolg. Sein Bruder lieh ihm seine Stimme:
    He, Sandra!“, rief Frank bestimmt.
    Diesmal hatte die Bardame sie gehört. Langsam, mit merklich mehr Zeit als bei ihrem sonstigen Tun, kam sie zu ihnen zurück. Ihr wankender, massiger Körper bewegte sich stetig. Auch die Stimmung hatte sich verändert, die Gespräche in ihrer Nähe wurden leiser, erstarben sogar. Sie starrte Frank an.
    „Wie kann ich dir helfen?“, sagte sie.
    Ihr Mund war kaum mehr als ein dünner Strich in ihrem fleischigen Gesicht. In Franks Ohren klang der Satz etwas unecht. Erik spürte etwas an seiner Hüfte: Frank hielt ihm die Schüssel hin, so, dass niemand sehen konnte, wie er sie überreichte. Etwas begriffsstutzig nahm er sie entgegen.
    „Der Junge wollte was von dir.“, sagte Frank ruhig und in neutralem Ton.
    Frank hielt ihren Blick. Sie erwiderte ihn.
    „Verstehe“, sagte sie ruhig. Zu ruhig. „Und wie hast du mich genannt?“
    Frank hob verlegen die Schultern. „Ach, eigentlich-“
    Plötzlich stieß er Erik beiseite und duckte sich. Ein dicker Holzprügel krachte auf die Kante des Tresens, Holz splitterte, wo gerade noch Franks Kopf gewesen war. Die Menge schreckte zurück. Eilig zerrte Frank seinen Bruder von der Bar weg.
    Ihr Schisser! Ich heiße immer noch Sabrina! Sabrina! Ihr hässlichen Saufköppe!
    Die verschreckte Menge löste sich aus ihrer Spannung und fiel in lautes Gelächter ein. Die Brüder schürften sich auf allen Vieren die Knie auf und waren schon fast an der Tür, als ein zweiter harter Schlag ertönte. Erik blickte nach hinten: Ein zuvor noch lachender Mann kippte mit offenem Mund und verdrehten Augen um. Das dumpfe Geräusch des Aufpralls seines Körpers auf den Brettern ließ die Gäste wieder verstummen.
    „Wenn sich noch einer von euch Lumpen über meinen Namen lustig macht...“, sie zeigte mit dem Knüppel auf den bewusstlosen Mann „...das ist die Quittung!
    Die erneute Stille im Schankraum wurde durch ein lautes „Prost darauf!“ aus der Menge gelöst und die Gäste stießen auf ihren Namen, ihren richtigen Namen, an. Natürlich nur mit einer ordentlichen Portion überspielter Nervosität seitens der gestandenen Bauersleut. Außerhalb der 'Süßen Sandra', nach ein paar Schritten in der frischen Luft, schwand Franks Anspannung endlich. Er schnaubte amüsiert.
    „Sabrina, nicht Sandra! Daran werde ich mich erinnern! Das war auf jeden Fall nicht ihr erster Keulenhieb.“ Frank lachte auf. „Sag mal, was wolltest du eigentlich noch von ihr?“
    Erik sah voller Unschuld hinauf in den klaren Sternenhimmel und räusperte sich betreten.
    „Besteck“, sagte er leise.
    „Besteck?“
    „Ja“
    Frank warf hilflos die Arme in die Luft und sein Bruder wrang seine Hände, während er seinen Standpunkt verteidigte.
    „Wir essen zusammen aus einer Schüssel!“, protestierte Erik. „Ich habe keine Lust mit den Fingern da rein zu gehen, wo du schon drin warst!“
    Er gestikulierte übertrieben, wohl wissend, wie lächerlich sein Einwand war. Nach mehreren Wochen auf Wanderschaft wurden Sauberkeit und gehobene Sitten aus gutem Grund zu zweitrangigen Belangen degradiert.
    „Ach du meine Güte, du bist wirklich zu gut erzogen.“, sagte Frank mit einem Kopfschütteln.
    „Der Herr, sie meinen?“, sagte Erik und grinste schelmisch.
    „Ich meine, dass ich dich wieder aus dem Schlamassel ziehen muss, so wie immer! Rede mit den Menschen wie sie sind und nicht so, wie du die Welt gerne hättest! Lass uns einen Schlafplatz suchen! Wir müssen am frühen Morgen los und bei Sandra dürfen wir denke ich nicht mehr schlafen.“
    Franks Kritik traf tiefer, als Erik es sich eingestehen wollte. Tatsächlich stellte er sich immer wieder ungeschickt an und es lag an seinem älteren Bruder die Wogen zu glätten.
    „Sie heißt Sabrina.“, sagte Erik trocken.
    „Sabrina“, entschuldigte sich Frank höflichst.


    II Aufbruch
    Im Jahre des Addo 389, Am Morgen des 11. September
    Erik & Frank
    Erik wurde unsanft aus dem Schlaf gerüttelt.
    „Einen wunderschönen Morgen!“, sagte Frank mit einem hämischen Grinsen, der Erik an den Schultern gepackt hatte und seinen Kopf gnadenlos hin und her rüttelte. Erik wehrte sich mit Händen und Füßen und brachte zunächst nur ein hilfloses Stammeln hervor.
    Lass das!“, protestierte er lautstark und schlug Franks Hand beiseite. „Machst du den Mist immer noch?“
    Leise! Wir wollen doch niemanden wecken.“
    Frank griente schadenfroh. Dieser Austausch brüderlicher Zärtlichkeit war ein gut einstudiertes Spiel und es war leider auch der schnellste Weg Erik aus den Federn zu bekommen. Sie mussten früh aufbrechen, obwohl ihnen die Nacht keine echte Ruhe vergönnt hatte. Der Heuboden der Scheune in die sie eingestiegen waren, war zwar angenehm weich, aber der Geruch der Pferde darunter doch zu streng um wahres Wohlbefinden entstehen zu lassen. Frank machte sich zurecht für den Aufbruch, nahm noch schnell einen Schluck aus seinem Wasserschlauch und war auch schon auf den Beinen.
    „Auf geht´s!“, sagte Frank. „Wir kommen noch zu spät zum Treffpunkt! Außerdem sind Pferdezüchter Frühaufsteher und ich kann solche Leute nicht leiden.“
    „Und was machen wir dann gerade?“
    Frank nahm sich einen Moment, um seinen Logikfehler zu überdenken.
    „Dem Schwein eins auswischen, indem wir noch früher aufstehen!“, erwiderte er mit einem Schulterzucken.
    Er begann die Leiter hinunter zu klettern und Erik gab sich geschlagen und raffte sich auf.
    „Eigentlich Schade...“, bemerkte der Junge trocken, „...wenn wir doch nur ein bisschen mehr Zeit hätten, dann könnte ich hier noch ins Heu pinkeln.“
    Frank hielt auf den Sprossen inne. Völlig verdattert starrte er Erik an. Dieser legte bloß den Kopf schief.
    „Ich weiß, das wäre nicht sehr nett...“, sagte Erik, „...aber ich dachte es ginge dir darum dem Herren Pferdehändler eins auszuwischen?“
    Franks Augen waren groß. Mit fragendem Blick und der Unschuld eines Klosterschülers starrte Erik zurück. Frank blickte zur Seite, als müsse er erst einmal gedanklich mit den doch manchmal erstaunlich unhöflichen Anwandlungen seines kleinen Bruders arbeiten.
    „Manchmal überraschst du mich doch sehr.“, sagte Frank.
    Erik erhaschte ein Schmunzeln auf Franks Gesicht, aber dieser war schon die Leiter hinab verschwunden.
    „Liegt wohl an meiner zu guten Erziehung!“, rief Erik ihm hinterher.

    Auf dem Weg zum Dorfzentrum verzehrten sie die Reste ihres Proviants, etwas Brot und die letzten Äpfel. Ein mageres Frühstück, aber es musste reichen. Die Straße wandelte sich von fest getrampeltem Lehm hin zu ordentlichem Pflaster und Bürgersteig. Mit den Trittsteinen kam auch der Gestank einer Ortschaft dieser Größe mit sich. Der Kot und der Abfall eines jeden Haushalts lag in den Straßen und nur der Regen wusch es weg. Kanalisationen, wie man sie aus den oberen Vierteln der reichen Städte an der Sichelküste kannte, waren hier im Hinterland nicht mehr als ein Fremdwort. Die Fachwerkhäuser zu beiden Seiten standen jetzt dichter gedrängt. Schmale Gässchen waren manchmal gerade mal breit genug für einen Mann, sodass die Überhänge in den oberen Stockwerken fast gegeneinander lehnten. Schließlich näherten sie sich dem Dorfplatz. Die Straßen waren zu dieser Uhrzeit noch menschenleer, der Himmel grau und diesig. Die ausgeräumten Marktstände, der kühle Morgenwind und das monotone Quietschen eines Ladenschildes unterstrichen die ungemütliche, unbelebte Atmosphäre. Frank lenkte sie zu einem Gasthaus, das dem Anschein nach für gehobenere Gäste gedacht war.
    „Warum haben wir nicht hier drin geschlafen?“, protestierte Erik.
    Seine Frage war rhetorischer Natur: Er wusste sehr wohl, dass sie so weit in ihrer Reise, so nah an ihrem Ziel, keinen Taler für teure Unterkünfte mehr überhatten. Frank schnalzte mit der Zunge, lehnte sich an die Hauswand des Gasthauses und fuhr mit den Fingern über die feinen Gravuren des Gebälks. Erik hockte sich daneben. Ihre Kleider rochen nach Pferd. Es war immerhin besser als der Gestank der Gosse. Zumindest hier, auf dem zentralen Dorfplatz, schob man den Mist beiseite, doch der Geruch wehte von den Seitenstraßen wieder hinein. Sie warteten dort, der graue Morgen gewann durch die aufgehende Sonne etwas mehr an Farbe und die Westseite des Platzes wurde in ein warmes goldenes Licht getaucht. Ein Bursche in einfacher Kleidung überquerte auf der gegenüberliegenden Seite den Platz. Er war in Eile. Ihre Blicke folgten dem Bauernjungen, bis er wieder in einer Straße verschwand und seine Schritte verhallten.
    „Warum sagst du ihm nicht meinen echten Namen?“, fragte Erik.
    Frank grunzte teilnahmslos.
    „Deshalb“, sagte er und seufzte laut.
    „Ach so, ja, natürlich. Damit kann ich mich zufriedengeben.“, spottete Erik.
    „Ich habe es dir doch schon mal gesagt...“, sagte er, „...wenn du es mit der Obrigkeit zu tun hast, ist es nie schlau einfach so deinen Namen preiszugeben.“
    „Und warum gibst du dann deinen Namen preis?“
    „Es gibt viele, die Frank heißen.“
    Erik schüttelte den Kopf. „Und genauso viele Eriks.“
    Frank horchte auf, als er Schritte aus dem Gasthaus hörte. Er deutete mit dem Daumen auf die Hauswand. Einen Moment später schwang die Tür auf. Ein Mann mittleren Alters kam heraus, er sah sich um und erblickte die beiden Brüder. Sein roter Mantel, der genietete Lederharnisch und der breite Gurt quer über der Brust verrieten auf den ersten Blick: Er war Mitglied der königlichen Armee und dabei kein kleines Tier.
    „Frank, Sören.“ Er nickte den beiden zu.
    „Guten Morgen, mein Herr.“, erwiderte Frank mit ungewohnter Höflichkeit und bot ihm sogar die Hand.
    Der Soldat schüttelte sie.
    „Ihr beiden solltet vorgehen. Ich hole meine Pferde und schließe dann zu euch auf.“
    „In Ordnung, aber... eine Sache noch, mein Herr?“ Frank stellte sein aufrichtigstes Bedauern zur Schau. „Wir hatten leider keine Gelegenheit mehr uns etwas Proviant für den Morgen zu kaufen. Habt ihr noch etwas übrig für zwei hungernde Reisende?“
    Erik musste an sich halten, nicht seine Verlegenheit zu zeigen. Es waren diese Anwandlungen von Frank, die ihn immer wieder zum Grübeln brachten. Er kannte seinen älteren Bruder als jemanden, der sich um die Familie sorgte, der den Garten pflegte, der Geld und Brot nach Hause brachte. Was er nicht kannte, war der Mensch der Leute um ihr Eigentum betrog, mit der Wahrheit spielte und sich keine Gelegenheiten entgehen ließ seinen eigenen Vorteil zu fördern. Franks alltägliches Leben in der Stadt musste ein anderes gewesen sein als es den Anschein gehabt hatte. Tatsächlich, sogar ohne große Umstände, ließ der Soldat sich überreden seine Rationen mit ihnen zu teilen. Schließlich, nachdem sie einen Treffpunkt vereinbart hatten und sich ihre Wege trennten, überkam Erik die Neugierde und es platzte aus ihm heraus.
    „Zwei Fragen habe ich: Erstens, ich wollte ja nichts sagen, aber haben wir nicht schon gefrühstückt? Und zweitens: Warum zur Hölle gerade Sören?“
    Frank wiegte den Kopf hin und bevor er sich erklärte.
    „Nun ja, also ich für meinen Teil habe noch Hunger. Du doch auch, oder? Außerdem hat dieser Hans genug, schau dir doch einfach seine feine Uniform an. Zwei Pferde hat er!“ Er hob zwei Finger und wedelte sie vor Eriks Gesicht. „Wer hat, der soll geben!“, schloss er mit einem Schulterzucken.
    Erik schürzte die Lippen. „Und Zweitens?“
    „Was?“
    „Warum Sören?“
    Frank grinste breit. „Ich finde den Namen bescheuert.“
    „Außerordentlich bescheuert!“, stimmte Erik zu. „Weißt du, dieser Name hat vielleicht deine schlechte Schauspielerei gerettet. Sören ist so bekloppt, dass sich unser Freund und Helfer bestimmt aus Gründen der Höflichkeit nicht getraut hat deine Augenwischereien zu hinterfragen.“
    Frank hob die Augenbrauen. „Habe ich gerade schlechte Schauspielerei gehört?“
    Erik blieb abrupt stehen, was ihm die volle Aufmerksamkeit seines Bruders einbrachte. Mit tiefer Verbeugung und übertriebener Aussprache sagte er:
    „Ja, mein Herr – tausend Dank, mein Herr. Sören zu ihren Diensten, mein Herr.“
    Zusammen fielen sie in Gelächter ein.
    „Zwackst dem Mann noch sein Futter ab.“, prustete Erik. „Du bist vielleicht bescheuert!“
    „Immerhin bin ich nicht Sören.“, konterte Frank.

    Es war ein kurzer Weg bis zum Treffpunkt. Als er in Sichtweite kam, sahen sie auch schon den Wagen. Der Besitzer sah nicht sehr glücklich aus, wie er gleichzeitig seine Ladung festzurrte und seine Frau herumkommandierte. Das Seil wollte nicht halten, glitt ihm aus den Händen und schnappte zurück, was den Kutscher für den ersten Moment fassungslos dastehen ließ und dann eine gute einstudierte Choreografie von Schuldzuweisungen zwischen ihm und seiner Frau provozierte. Eine Gruppe von fünf Mann, bewaffnet mit Bögen und Knüppeln, gespickt mit kruden Nägeln, lungerte ein paar Meter weiter an einem Zaun herum. Sie zeigten sich ausgesprochen unbeteiligt.
    „Wie wär´s ihr packt mal an, hä?“, spie der Kutscher sie an.
    „Nicht wofür du uns bezahlst.“, war die Antwort des Anführers der Truppe.
    Demonstrativ betrachtete er seine Fingernägel und machte beiläufig eine kurze Geste zur Begrüßung zu den Brüdern.
    Nichtsnutze! He, ihr kommt mir gerade recht!“, sagte der Händler, als er Erik und Frank entdeckte. „Ihr seid die beiden Mitreisenden? Anpacken!
    „Bitte, gerne, Sören mein Name.“, gab sich Erik unterwürfig.
    Frank gab seinem Bruder einen heftigen Stoß in die Rippen. Der Wagenbesitzer runzelte darauf die Stirn, vergaß aber die rätselhafte Interaktion zwischen den beiden schnell, zu groß war sein Frust. Erik mühte sich tunlichst ab, soweit dies seine jungenhafte und für sein Alter etwas schmächtige Statur zuließ.
    „Und was ist mit dir?“, sagte der Kutscher, unzufrieden mit Eriks Leistung, zu Frank. „Wenn ihr schon unter dem Schutz meiner Eskorte reisen wollt, könnt ihr wenigstens Hand anlegen!“
    Frank blieb unbeeindruckt vom barschen Ton des Kutschers.
    „Ich pass auf meinen Jungen auf.“, sagte Frank mit einem Schulterzucken. „Ist mir Arbeit genug.“
    Die Söldner feixten im Hintergrund, doch sie schürten damit nur die Ungeduld des Händlers, die nun in heiße Wut umschlug. Einem Mann Hilfe auszuschlagen war das eine, aber dies vor seiner Frau, an einem schlechten Morgen mit schlechten Geschäften zu tun, das war etwas anderes.
    Ihr könnt ja alleine reisen!“, platzte es aus dem Kutscher heraus. Sein Gesicht war puterrot. „Auf deinen Jungen aufpassen? Aufpasser haben wir genug! Der Haufen Halsabschneider da ist doch unser Beistand in der Not.“ Seine Worte trieften nur so vor Spott.
    Frank musterte die fünf Mann kurz. Keine wirklichen Kämpfer, aber mitunter grobschlächtige Schlägertypen, die zumindest die üblichen Wegelagerer abschrecken konnten. Ihr Anführer blickte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an, gespannt auf Franks Entscheidung. Doch Frank war kein Mann, der seinen Stolz nicht schlucken konnte, wenn die Situation es verlangte, also biss er sich auf die Zunge und kam zur Hilfe. Der vollgerümpelte Wagen machte es ihnen keineswegs leicht, aber gemeinsam bewältigten sie die Herausforderung. Mit einem Augenzwinkern zu seinem kleinen Bruder ächzte Frank unter den Anstrengungen theatralisch und mit der Ware gesichert waren sie endlich bereit zum Aufbruch. Es dauerte nicht lange, bis der Soldat zur Gruppe dazustieß. Gleich bei seinem Erscheinen warf er Frank einen halben Brotlaib zu.
    „Teilt´s euch. Können wir?“, fragte er in die Runde.
    Die Söldner jedoch waren überrascht einen Mann des Königs zu sehen. Einige von ihnen konnte man sehr schnell als die Art von Männern ausmachen, die sich so manches Mal abseits des Gesetzes bewegten.
    Der kommt mit?“, fragte sofort einer der Männer mit einem Nagelknüppel in den Händen. „Und wer hat die Blutjacke eingeladen?“
    „Ich habe meine eigenen Angelegenheiten.“, antwortete der Soldat. „Und ihr würdet euch selbst einen Gefallen tun, mich nicht mit Blutjacke anzusprechen.“
    Der Söldner zeigte mit seinem hünenhaften Prügel in seine Richtung. „Danach hab ich dich aber nicht gefragt. Warum du bei uns mitkommst, will ich wissen!“
    Bevor der Königsmann erneut eine offizielle Erklärung seiner Beweggründe geben konnte unterbrach ihn der Anführer:
    „Ist gut, auf seinen roten Fummel muss er selber aufpassen. Wollen wir jetzt los, oder nicht?“
    In mürrischer Übereinkunft brachen die unwahrscheinlichen Gefährten schließlich auf. Im stillen Einverständnis ließen sich Söldner und Soldat genügend Platz und übten sich in Toleranz. Die Sonne schien, die Straße gut. Die umliegenden Gehöfte benutzten sie häufig und solange die Beine noch frisch waren war das Reisen keine Last. Im fernen Norden, in Reiserichtung, konnte man die mächtigen Steilhänge des grauen Ambosses sehen, ein Felsplateau von gewaltigen Ausmaßen. Die unbezwingbaren Klippen türmten sich über der hügeligen Ebene auf und fielen zur rechten Seite in zerklüftete Täler ab, die Täler, die man das Silbergebirge nannte. Dort wollten sie entlang. Ein Händler, um seine Waren an abgeschottete Hinterwäldler zu verkaufen und seine Söldner, ein hoheitlich Gesandter, dessen Mission nur er selbst kannte und die zwei Brüder.

    „Eigentlich wissen wir zu wenig über diesen Quentin.“, sagte Erik. „Wir wissen nicht einmal, ob er etwas mit einem Schüler anfangen kann!“
    Nachdenklich senkte er seinen Kopf, aber Frank winkte ab.
    „Alle großen Meister haben mehr als einen Schüler, mach dir darüber keine Gedanken.“
    „Wenn er überhaupt ein großer Meister ist! Außerdem bräuchte er noch einen Grund mich aufzunehmen. Viel Vorwissen habe ich ja nicht...“
    „Nein? Mir fallen täglich fast die Ohren ab, weil du mir schon wieder dieses oder jenes von den Wundern der Pflanzenwelt erzählen willst.“
    „Frank, die Lehre der Kräuter und die der Alchemie sind zwei vollkommen verschiedene Fachrichtungen. So wie... Bäume fällen und Häuser bauen. Ich sage dir, es ist einfach ein Risiko den weiten Weg zu gehen, nur um letztendlich abgelehnt zu werden!“, bestand Erik auf seinen Ansichten.
    Ein bisschen genoss Erik auch diese Momente, in denen er seinem älteren Bruder in etwas voraus war. Frank seufzte, denn es war nicht das erste Mal, dass sie diese Diskussion führten.
    „Er wird dich schon aufnehmen.“
    „Und wenn nicht? Es gab in Middenheim auch einige Tränkebrauer und Ärzte. Ich hätte genauso gut bei denen lernen können und dann später zum sogenannten Meister der Alchemie, Quentin von Güldenport, gehen können.“ Erik gestikulierte ausladend. „Stattdessen stürzen wir uns mit dem Kopf voran ins kalte Wasser!“
    Frank hob das Kinn und blickte geradeaus.
    „Darf ich unseren lieben Vater zitieren?“, sagte er in getragener Stimme. „Für diesen Haufen Scharlatane bist du einfach zu schlau.“
    Erik quittierte das bloß mit bitterem Sarkasmus: „Ach so. Na dann, natürlich!“
    Ihm war klar, dass er nur wieder gegen die gleiche Wand laufen würde, sollte er weiter diskutieren, also ließ er das Thema fallen. Seinen Blick schweifte über die Landschaft. Die Felder und Höfe in dorfnähe hatten den geschwungenen Hügeln des Vorgebirges Platz gemacht, Häuser und Gehöfte sah man nur noch vereinzelt in der Ferne. Hier fand man Weideland und Wildnis. Der Spätsommer ließ die saftigen Wiesen blühen und der Wind wogte durch das Gras. Zur Mittagszeit erblickten sie den Wald. Der Jäger hatte die Wahrheit gesprochen: Er hatte den Zugang zum Talkessel vollständig überwuchert. Wie eine dicke grüne Matte lag er in der Sohle und auf den Hängen und verbarg den Verlauf des Passes. Ein Gebirgsfluss verschwand von links im dichten Grün. Die Gruppe beschloss eine kurze Rast einzulegen, bevor sie sich an die nächste Etappe, die wohl gefährlichste, den Pass zum Kessel wagten.


    III Unter Kaufmännern
    Im Jahre des Addo 389, Am Nachmittag des 11. September
    Ferdinand & Quentin
    Ferdinand kämpfte wieder einmal den aussichtslosen Kampf der Worte mit seinem Mentor. In dem seltenen Fall, dass er Recht hatte und dies auch so gesagt bekam, fühlte es sich leider nicht wie ein Triumph an, sondern viel eher wie ein aufwendiger Umweg zu einem einfachen Ja. Sein Mentor Quentin hingegen schien dabei immer seine Freude zu haben.
    „Hunderte von Details...“, sagte Ferdinand und fuhr sich aufgebracht durch die blonden Haare, „...jedes Gesicht, jede Pflanze, jedes Tier. Wohl eher Tausende, wenn ich über die Grenzen meiner möglichen Wahrnehmung hinaus gehen könnte!“
    „Aber du kannst es nicht.“
    „Natürlich kann ich das nicht.“
    „Also solltest du es versuchen?“, sagte Quentin.
    „Alle Details aufzunehmen? Du stellst mir eine Frage, obwohl du eine Aussage treffen willst.“ Ferdinand seufzte vernehmlich. „Deine schulmeisterliche Art steigt dir mal wieder zu Kopf. Spucks aus, was ist deine großartige Lektion?“
    Ferdinand gab ihm einen herausfordernden Blick, aber Quentin blieb gelassen und zwirbelte seinen eleganten Schnauzbart. Er brummte gedehnt und wippte auf seinem Stuhl vor und zurück während er gründlich überlegte.
    „Nein. Eigentlich... nein! Die beste Lektion, die ein Mann erfahren kann, ist die der eigenen Erkenntnis. Deine jugendliche Ungeduld steigt dir mal wieder zu Kopf, also, spuck du es aus!“
    Quentin zwinkerte ihm zu und ein Lächeln huschte über seine Lippen. Seine Lachfalten an Augen und Mundwinkeln zeigten sich. Er hatte mit den letzten Worten den Kopf auf seine Faust gestützt und seine langen glatten Haare fielen über seine Schulter, was ihm eine feminine Erscheinung gab. Die Gelassenheit, seine sonst so vornehme Körperhaltung fahren zu lassen war Ausdruck der Vertrautheit zwischen den beiden. Ferdinand und Quentin schienen in mancher Hinsicht gegensätzlich: Der Meister mit seinem kohlschwarzen Haar, Ziegenbart und geschwungenem Schnauzbart und das strahlende Blond des Lehrlings. Jedoch einte sie ihre Leidenschaft für das Wortgefecht. Für den Moment schwiegen beide. Der Balkon, auf dem sie saßen, bot zwar keinen weiten Ausblick, aber der kühle Strom unterhalb und das dichte Gestrüpp am anderen Ufer verliehen dem Ort eine lauschige Geborgenheit. Der Lehrling ging auf und ab, bis er den Zeigefinger hob und sich eilig gegenüber seinem Meister setzte.
    „In Ordnung. Ich weiß, worauf du hinauswillst!“, sagte Ferdinand schließlich. „Zumindest zu Teilen. Grüble ich zu viel, bleibt keine Zeit mehr für die Interaktion, und das, wo Geschwindigkeit doch so eine große Rolle spielt in unserem Geschäft. Ganz simpel. Dennoch...“, er hob die Hand, wiegte sie hin und her, „...alles was ich wahrnehme, kann ich nutzen. Nun gut, nicht alles. Das was ich für nutzlos empfinde tue ich ab und verwerfe diese Information. Die Farbe deines Hemds, deiner Schuhe, deiner langen Haare, deiner Hose, die Art wie du deinen Kopf auf deinen Arm stützt, der Fakt, dass du dich eben gerade gekratzt hast. Letzteres könnte bedeuten, dass ich dich zum Nachdenken gebracht habe, oder es hat dich einfach nur etwas gejuckt. All dies sind jetzt Nebensächlichkeiten. Ich sehe sie, ich bemerke und verarbeite sie, sie bleiben aber für den Moment irrelevant-“
    Ferdinands schneller Redefluss bedeutete für viele eine Überforderung, nicht so für seinen Mentor.
    „Meine Schuhe sind wohl kaum irrelevant!“, protestierte Quentin überzogen. „Wie du sicherlich mit deiner hervorragenden Beobachtungsgabe bemerkt hast, pflege ich sie jeden Tag.“
    Er hob seine spitzen Schuhe, um seine Aussage zu unterstreichen. Ferdinand schüttelte verständnislos den Kopf und warf sich frustriert gegen die Lehne seines Stuhls. Quentin amüsierte sich leise über die Reaktion seines Lehrlings.
    „Ich meine ja nur! In diesem traurigen Hinterlande sind meine Schuhe vermutlich das extravaganteste, was du finden kannst. Echtes Wellenläuferleder! Von den Stränden der wunderschönen Sichelküste.“
    „Sind deine Schuhe gerade von irgendwelcher Bedeutung? Abgesehen von deiner Belustigung?“
    Quentin machte eine entschuldigende Geste. „Nein, nicht wirklich. Fahre fort.“
    Erneut setzte Ferdinand an. „Sagen wir... ich handle einen Preis aus. Rede ich mit einem Nordmar, dann weiß ich, dass man seinen Preis kaum drücken kann. Also schlage ich gar nicht erst den halben Preis vor, sonst schickt er mich sofort weg oder beschimpft mich als anstandslos. Aber es gibt noch viel mehr Informationen: Hat er heute bereits Geschäfte gemacht? Gute oder Schlechte? Ist er genervt, gelangweilt, wachsam, defensiv, abweisend oder vielleicht sogar freundlich.“
    Quentin kommentierte den letzten Punkt mit einem belustigten Schnauben. „Ein Nordmar?“
    „Und wenn er freundlich ist...“, fuhr Ferdinand unbeirrt fort, „...ist es geschäftsmännische Freundlichkeit, oder eine ehrlichere Variante?“
    Ferdinands Frage war offensichtlich rhetorischer Natur, doch Quentin unterbrach ihn schon wieder.
    „Es gibt Leute, die behaupten, es gibt keine ehrlichere Freundlichkeit als diese.“
    „Diese Leute haben in der Regel keine Freunde.“, erwiderte Ferdinand.
    „Diese Leute sagen, sie hätten sehr viele Freunde.“
    „Diese Leute lügen meist. Darf ich fortfahren, Meister Quentin Nicolas zu Roddenport?“
    Mit einem breiten Grinsen nickte Quentin.
    „Nun gut, diese Dinge, diesen Kontext, den kann ich vielleicht aus seinen Gesichtszügen lesen und kann mich auf die ein oder andere Art und Weise darauf einstellen. Aber dann muss ich noch die Ware in Betracht ziehen. Nordmar schätzen es wert, wenn du ihre Kultur kennst, also kann, sollte man wohl auch, laut nachdenken.“
    Quentin räusperte sich vernehmlich.
    Ferdinand antwortete genervt mit: „Manche Nordmar“
    Sein Mentor deutete eine Verbeugung an, gepaart mit einem stillen Applaus.
    „Ein Kaufmann ist immer ein Mann von Welt. Bravo!“
    Mit einem Seufzen fuhr Ferdinand fort.
    „Die Ware. Die Qualität, die Art, die Menge, das Alter und so weiter. Allein die Qualität der Ware hat so viele Nuancen, wie der König Steuern. Die Jahreszeit könnte eine Rolle spielen! Wölfe werden im großen Stil nur im späten Sommer gejagt. Großwild im Frühling, wenn die Muttertiere ihre Kälber durchgebracht haben. Der Punkt ist dieser: Diese Unmengen an Informationen sind wichtig für meine Verhandlungen. Ich muss mir ihrer bewusst sein, damit ich gute und vorteilhafte Entscheidungen treffen kann. Denke ich nicht darüber nach...“ Ferdinand machte einen tiefen Atemzug und ließ die Hände fallen, „...dann mache ich Fehler.“
    Er lehnte sich zurück, legte die Hände in den Schoß und blickte Quentin an. Normalerweise kam jetzt die Korrektur seines Mentors. Dieser ließ sich aber Zeit. Nach ein paar nachdenklichen Momenten und etwas Zwirbeln seines Bartes sagte er:
    „Du hast Recht.“, und stand auf.
    „Und?“
    „Nun ja, du hast Recht, du solltest so handeln.“
    „Und?“
    Quentin sah ihm in die Augen. „Du hast eine gute Beobachtungsgabe, nutze sie.“
    Der Kaufmann wollte sich abwenden, aber Ferdinand war mit dieser Antwort nicht zufrieden.
    „Hast du nicht irgendeine, deinen reichen Erfahrungen geschuldete Weisheit mit mir zu teilen?“
    Quentin rieb sich die Stirn und strich seine Haare über die Schulter, wie er es immer tat.
    „Nun gut. Ja, die habe ich.“ Er räusperte sich. „Spontanität.“
    „Spontanität?“, sagte Ferdinand und dann, nach einer Pause: „Das ist alles?“
    „Ganz genau, Spontanität. Selbstverständlich solltest du so viele Informationen aufsaugen, wie nur möglich. Und diese auch nutzen! Aber nicht zum Preis der schnellen Interaktion. Denn Spontanität bedeutet Glaubwürdigkeit und Glaubwürdigkeit wird gern verwechselt mit Ehrlichkeit und Ehrlichkeit ist harte Ware, hin oder her ob es ein Nordmar oder ein Straßenräuber ist.“ Quentin schnalzte mit der Zunge. „Spontanität, mein Junge! Lass deine vielen Gedanken sie dir nicht rauben!“
    Er schürzte die Lippen und nickte, mehr für sich selbst, als würde er seine Gedanken sortieren. Als keine Antwort von Ferdinand kam sagte er:
    „Morgen schwingst du wieder den Hammer.“ Sofort unterband er das Aufbegehren seines Schülers. „Nein, nein! Wenn du den Sinn darin nicht siehst, dann lass deinen Frust am Stahl aus.“
    „Schmiedemeister Boris meint, man soll nicht mit Wut hämmern, sondern mit Gefühl.“, murmelte Ferdinand.
    „Und schon bist du eine Lektion reicher als ich!“, erwiderte Quentin.
    Er zwinkerte ihm zu, verließ den Balkon und verschwand durch den Bogengang ins Innere des Gebäudes. Ferdinand rieb sich die Schwielen auf seinen Händen. Mit jedem Tag in der Schmiede wuchs seine Hornhaut. Er gab sich Mühe keine Blasen zu bekommen, legte oft einen Lappen um den Griff des Hammers, oder trug Handschuhe. Eine verbrauchte Hand würde schließlich sein Schriftbild beeinträchtigen! Das Leben eines Kaufmanns erschien ihm leichter, besonders in dieser Zeit, wenn das Geschäft brach lag. Zwei Meister zu haben, so meinte Quentin, war ein Privileg, keine Last. Mit einem Seufzen schwang er sich vom Stuhl hoch und folgte seinem Mentor.


    IV Willkommen im Talkessel
    Im Jahre des Addo 389, Am Nachmittag des 11. September
    Frank & Erik
    Nur zu gerne würde Erik einen dieser Bäume in seiner Gänze betrachten. Jeder bedrängte den nächsten und nur hier unten, aus seinem Blickwinkel, ließen sich diese mächtigen Bäume genügend Raum zum Gedeihen. Ein moosbewachsener Stamm gab dem nächsten ein paar Meter Platz, um sein eigenes Wasser zu finden. Oben fochten sie um das Sonnenlicht. Immerlinden boten einen stattlichen Anblick, wenn sie alleinstanden, an Hängen und in der Ebene. Die breite Baumkrone raubte allem was nördlich des Stammes wuchs jegliches Licht, denn jedes einzelne Blatt wandte sich der Sonne entgegen. Sie drehten sich den Tag über von Osten nach Westen, ganz wie eine Sonnenblume in voller Pracht. Die gewölbten Kronen hatten eine Ordnung, die sich so nirgends in der Natur fand: Ein Schild aus dichtem Blattwerk bildete die Front, fast wie zugeschnitten, wie die Zierhecken der hohen Bürgerschaft. Die Luft hinter dieser grünen Barriere war schwül und wenn man sie eine Weile atmete schmeckte man einen frischen, metallenen Beigeschmack. Es erinnerte ein wenig an Minze, bloß mit dem unangenehmen Nebeneffekt, dass diese Luft auf längere Sicht einen schmerzhaften Reizhusten nach sich zog. Erik wusste genaustens über die Verwendungszwecke dieser Pflanze Bescheid, schließlich hatte sein Vater es ihm allzu oft eingetrichtert:
    „Der Saft der oberen Blätter öffnet den Geist. Es macht den Verstand weich, weicher als das Rauchwerk der Sumpfleute, doch ohne die betäubende Wirkung. Abgesehen davon ist der Saft giftiger als Schnaps und ohne weitere Verarbeitung definitiv ungenießbar.“
    Angeblich gab es ein Kloster in den Bergen, wo die Mönche täglich einen Sud aus diesen Blättern tranken. So experimentierfreudig waren jedoch weder sein Vater noch Erik selbst nicht. Er schwelgte in den Erinnerungen an den Unterricht und die Stimme Vaters. Immerlinde, dehnbares, lebendiges Holz, selbst wenn es trocken ist. Handelsware der Nordmar. Sehr gut zum Schnitzen geeignet, gut als Baumaterial in Fachwerkhäusern, da Schädlinge sich von dem Gift abschrecken lassen. Ein guter Jäger hat gerne einen Streifen Immerlinde in seinen Bogen eingearbeitet. Sie hält lange und bietet reichlich Spannkraft – und entlastet so den Rest des Bogenholzes. Hinzu kamen die verschiedenen Nutzen der Pflanze in der Alchemie: Verdünnung, Lösungsmittel, Wirkungsverstärker, Schmerzmittel. Ihr Vater Thorben hatte so viel Wissen angehäuft, wie es ihm möglich war und davon so viel an seine Söhne weitergegeben, wie sie entgegennehmen konnten, zu Eriks Vergnügen und Frank zum Trotz. Doch für Immerlinden war die Gegend ihrer Heimat schlicht zu flach gewesen. Sie wuchsen nur im Vorgebirge und ein Stamm der Nordmar schuldete dem Baum sogar seinen Namen, der Etterlindenclan. Der Boden unter diesen Bäumen war stets bedeckt von feuchtem Moos, einer besonderen Sorte, die man Lindleber nannte. Es nährte sich an den Unmengen von Blättern, die das ganze Jahr über abgeworfen wurden, denn die Immerlinde war niemals kahl. Thorben hatte damals vermutet, dass der giftige Saft das Blattwerk im Winter vor der Kälte schützte. Eriks Füße steckten in einer satten Masse aus diesem dichten Moos; es erstreckte sich über den gesamten Waldboden und tauchte die Stämme und die ganze Umgebung in ein bläulich-grünes Licht. Der Junge sog den Anblick in sich auf und verwahrte ihn an einem besonderen Ort in seinen Erinnerungen.
    Sören!“, hallte es durch den Wald.
    Lindleber hieß dieses Moos, das sich nur unter diesen Linden fand – das Leuchten ein Nebeneffekt des Zersetzungsvorgangs der Blätter, wie er gelernt hatte. Was seltsam war, war, dass sie hier dicht an dicht standen: Immerlinden rauben sich auch gegenseitig das Licht. Widerwillig wandte Erik sich vom Anblick des Farbenspiels ab. Nach wenigen Schritten begegnete er dem strengen Blick seines Bruders.
    Komm wieder zum Wagen!“, blaffte Frank ihn an.
    Er hatte die Arme in die Hüfte gestemmt. Hinter ihm trottete die kleine Reisegruppe entlang. Die fünf bewaffneten Männer mit grimmigen Mienen, der Ochsenwagen und vorneweg der Reiter samt Packpferd.
    „Was soll der Unfug?“, schimpfte Frank weiter. „Hast du nicht gehört, wie gefährlich dieser Wald sein soll? Bleib auf der Straße!“
    Erik winkte ab, während er die Böschung hinunterstieg.
    „Das sind Immerlinden.“, sagte er. „Du hast wie immer nicht zugehört, wenn Vater etwas von der Pflanzenwelt erzählt hat! Die Blätter sind giftig, die Rinde ist giftig und das Moos darunter ist auch giftig. Kein größeres Tier hält sich dort auf.“
    „Ach ja, natürlich. Und wenn eine Blutfliege deinen schönen Duft schnuppert? Wenn ein Snapper deinen schlauen Kopf lecker findet?“
    „Dann rettet mich dein eisenharter Holzkopf, Frank.“
    Erik schenkte ihm ein breites Grinsen, aber sein Bruder schüttelte bloß den Kopf.
    „Bleib einfach bei der Gruppe und lass dich nicht fressen.“
    Erik seufzte laut. „Du solltest dir das wirklich einmal ansehen! Für gewöhnlich wachsen diese Linden nicht so dicht beieinander, das ist einzigartig! Sie brauchen viel Licht, viel Wasser und frischen Wind.“
    Frank gab ihm den Blick, den er immer zur Schau stellte, wenn es sich um die Wunder der Natur drehte.
    „Gibt es irgendeine Formulierung, mit der dir endlich in den Schädel geht, dass ich einen feuchten Dreck darauf gebe?“
    Er wandte sich zum Gehen, sie waren wegen ihrer Diskussion zu den Letzten im Trott geworden.
    „Beziehungsweise, gibt es eine, die ich noch nicht benutzt habe?“, setzte er erbost nach.
    Erik hob resigniert die Brauen. „Wohl kaum“
    Es war ein Disput, den sie schon zu häufig ausgetragen hatten. Während Erik die Lektionen ihres Vaters aufgesogen hatte wie ein Schwamm, war sein älterer Bruder meistens abwesend gewesen. Aber Thorben war nicht die Art Vater, der einen Sohn auf seinen Platz verwies, vermutlich auch, weil Frank sich um die Familie gekümmert hatte. Manchmal brachte er ein erlegtes Tier nach Hause, manchmal ein paar Münzen aus der Stadt. Zu jagen war dem einfachen Mann zwar verboten und wo er das Geld herbekam, blieb ungewiss. Er würde als Rausschmeißer arbeiten, war seine Erklärung, wenn Vater ihn einmal fragte. Thorben hatte das stets so hingenommen, er wusste es wahrscheinlich besser, so wie Erik es nun auch besser wusste: Franks Fähigkeiten mit den verschlagensten Gestalten umgehen zu können, als würde er ihre Sprache sprechen, konnten unmöglich von ungefähr kommen. Doch genauso wie sein Vater akzeptierte Erik das Tun seines Bruders. In der Not sind alle Mittel lauter. Als Pflanzenkundiger konnte ihr Vater sich nicht selbst das Brot verdienen, besonders seitdem damals sein Lehrstuhl im oberen Viertel seine Gönner verloren hatte. Vermutlich hatte einer seiner verzogenen Schüler ihn bei seinen reichen Eltern angeschwärzt, also hatten sie zum einen von dem gelebt, was der Garten abwarf und zum anderen von den Unternehmungen Franks. Ihr Vater war grundsätzlich eine ruhige Person, die immer ein Gespür für das richtige Maß zwischen Geduld oder Eile hatte, bloß wenn man ihn auf seinen damaligen Beruf ansprach, kochte er hoch.
    „Diese verwöhnten Drecksbälger dieser reichen Pisspinkel!“, hatte er dann immer geschimpft. „Nichts tun sie selber und strampeln und sträuben sich, wenn sie es auf einmal im Unterricht müssen! Erst hämmert man ihnen ein, wie man liest und schreibt und wenn sie dann gerade mal ihren Namen kritzeln können sehen sie es als Zeichen ihrer Überlegenheit, als hätten sie ihren Status verdient!“
    Erik kam es vor, als wäre es eine Ewigkeit her, seitdem sie aufgebrochen waren, dabei reisten sie erst seit wenigen Wochen. Allerdings war er noch nie so lange von Zuhause fort gewesen. Das Fluchen des Händlers weckte Erik aus seinen Tagträumen. Ein Baumstamm versperrte den Weg.
    „Das ist schon der Dritte!“, grummelte der Händler. „Langsam versteh ich, warum hier keiner durchwill.“
    Er zügelte den Ochsen und fuchtelte mit den Händen, um die allgegenwärtigen Mücken zu verscheuchen. Der Soldat hatte seine Pferde angehalten und betrachtete die Situation während der Begleitschutz sich sofort damit beschäftigte demonstrativ nichts zu tun. Als Erik und Frank zur Spitze des Zugs aufschlossen stieg der Soldat gerade ab. Er setzte einen Fuß auf den Stamm, der quer über der Straße lag. Schon beim kleinsten Druck sank sein Stiefel sofort darin ein und eine lebendige Masse aus kleinen Körpern von Käfern und Gewürm schwärmte aus dem Loch. Erschrocken machte der Soldat einen Satz zurück. Frank konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
    „Der Stamm ist verrottet.“, rief Frank über die Schulter. „Wir können durch!
    Der Händler trieb wieder seinen Wagen an und die Mannschaft setzte sich in Bewegung. Nur Erik blieb stehen, ging auf die Knie und betastete das Holz. Frank drängte ihn zum Weitergehen.
    „Das ist eine Eiche.“, sagte Erik verwundert. „Und sie ist schon so morsch?“
    „Du hast doch die ganzen Viecher gesehen.“, antwortete Frank desinteressiert.
    „Nein, du verstehst nicht. Die Käfer gehen erst ins Holz, wenn Pilze oder Krankheiten die Rinde befallen haben. Dieses Holz ist fast vollständig zersetzt. Das dauert... Jahrzehnte!“
    Die eisenbeschlagenen Räder des Wagens zerdrückten die morschen Überreste des Baumes und unterbrachen Eriks Untersuchungen. Der Soldat hatte inzwischen wieder aufgesattelt und war dem Gespräch gefolgt.
    „Und was hat das zu bedeuten?“, fragte er vom Pferd herab.
    Erik reagierte erst mit einem Schulterzucken, dann einem Kopfschütteln.
    „Vielleicht ist die Stelle das ganze Jahr über feucht.“, sagte der Junge. „Vielleicht war der Baum schon abgestorben, bevor er gefallen ist...“
    Der Soldat betrachtete den nicht allzu ungewöhnlich aussehenden Baumstamm skeptisch.
    „Wenn dir noch mehr auffällt, dann lass es mich wissen.“, sagte er, griff seine Zügel und ritt wieder zur Spitze des Zugs.
    „Wie´s aussieht, hast du jemanden gefunden, den es interessiert.“, spotte Frank.
    Die Gruppe folgte wieder der Straße, oder vielmehr dem, was davon übrig war. So tief im Wald war nur noch ein schmales Stück in den Fahrrinnen frei von Bewuchs. Der Mittelstreifen war überwuchert mit hohen Gräsern. Zur Linken ragten knorrige Wurzeln aus der Böschung, zur Rechten ging es leicht bergab, hinunter ins scheinbar undurchdringliche Dickicht. Die Äste hingen tief und der Soldat musste sich immer wieder ducken, wenn er nicht absteigen wollte. Schließlich zog er sein Schwert und hackte die Zweige kurzerhand ab. Erik schloss zu ihm auf.
    „Mein Herr, kann ich euch eine Frage stellen?“
    Der Soldat blickte auf ihn herab. „Sören. Wie kann ich dir helfen, mein Junge?“
    Erik hatte sich noch nicht an seinen neuen Namen gewöhnt. Er stockte kurz.
    „Ich wollte wissen, was ihr im Talkessel sucht? Seid ihr hier als Kundschafter, oder...“
    Erik hielt inne, als der Soldat sich laut räusperte und entschieden nach vorne blickte. Mit einem geübten Schwung durchtrennte er einen Zweig. Sein Pferd wurde etwas unruhig, also berührte er es am Hals und trieb es ein wenig an.
    „Diese Frage kann ich dir genauso wenig beantworten wie den Herren hinter uns.“
    Erik schürzte die Lippen. Seine Neugierde war noch nicht befriedigt.
    „In Ordnung. Wie kamt ihr in die Dienste des Königs?“
    „Warum fragst du?“
    „Reine Neugierde. Vielleicht möchte ich auch eines Tages in die Armee.“, war Eriks ehrliche Antwort.
    Der Soldat legte die Stirn in Falten, doch er ließ sich überreden. Bevor er sprach schob er eine Hand unter seine Lederrüstung, als würde er dort etwas greifen.
    „Mein Vater hat mich mit sechzehn Jahren an die Garde gegeben, für ein Jahr Lehnsarbeit. Es ging um eine Steuerschuld. Also habe ich ein Jahr die Baracken geputzt. Danach habe ich mich dafür entschieden meinen Dienst für die Krone anzutreten. Essen, Lohn, ein Platz zum Schlafen, Disziplin. Und danach... die richtigen Hände schmieren, die richtigen Dinge tun, hart Arbeiten und jetzt bin ich hier. Aber die Armee ist nicht für jeden der richtige Ort.“
    Der Soldat rückte mit strenger Miene seinen Umhang zurecht. Die Situation um den Vater des Soldaten erinnerte Erik nur zu sehr an seine eigene Familie. Auch Thorben hatte immer wieder mit den horrenden Steuern zu kämpfen.
    „Und was macht ihr nun?“, fragte Erik.
    Der Soldat hob das Kinn und schmunzelte ein wenig.
    „So leicht kannst du mich nicht überrumpeln!“ Ein weiterer Hieb und ein Stück dünnes Geäst sank zu Boden. „Hör zu, ich kann dir nur wenig verraten. Wenn wir erst mal im Tal sind, wird es eh bald jeder wissen. Ich habe eine Botschaft für den Lehnsmann von Eichenbruck.“
    Das Pferd begehrte wieder auf, schüttelte den Kopf, dass das Zaumzeug rasselte, aber der Soldat drückte ihm seine Stiefel in die Fersen und zwang es auf der Straße zu bleiben.
    Ein Bote also, dachte Erik im Stillen.
    „Lehnsherren stehen in den Diensten des Königs.“, fuhr der Soldat fort. „Nicht etwa wie ein Graf, der seine eigenen Befugnisse und Besitztümer hat. Und mit dem Dienst geht ein Sold einher. Und diese Sache... sagen wir, sie bedarf Klärung. Und damit habe ich dir wirklich schon genug verraten!“
    Der Bote gab Erik einen wissenden Blick und der Junge dachte an die Jahre von Abschottung, die dem Talkessel widerfahren waren. Als hätte es das widerspenstige Ross eine Vorahnung gehabt erreichten sie eine weitere Hürde auf ihrem Weg. Ein kleiner Bach hatte eine Furche durch die Straße gespült. Dahinter, im alten Flussbett, lag eine hölzerne Brücke. Sie war fast gänzlich verrottet und blockierte so den ursprünglichen Weg des Wassers. Die Gruppe hielt an, wieder einmal. Der Händler richtete sich in seinem Sitz auf, um die Situation zu besehen. Er setzte an, um sich lautstark zu beklagen, als sein Ochse unruhig wurde. Der Händler verlor beinahe das Gleichgewicht, setzte sich schnell und zog an der Bremse, um die Räder zu blockieren.
    He-he!“, versuchte er das Tier zu beruhigen.
    Aber der massige Ochse schnaubte laut und warf sich gegen sein Geschirr. Der ganze Karren erschütterte.
    Erik, zu mir!“, bellte Frank.
    Franks Hand fuhr an seine Hüfte, zu seinem Messer. Seine Augen zuckten hin und her, sein Körper angespannt. Die Pferde scheuten nun auch und der Bote versuchte vergeblich seinen Lastgaul unter Kontrolle zu bringen.
    „Verdammt, was ist denn...“, fluchte der Soldat, doch er wurde unterbrochen.
    Ein tiefes Grollen. Es schnitt scharf in die Unruhe. Aus was für einer Kehle? Für einen Moment herrschte Stille. Dann, eine schwarze Masse stürzte aus der Böschung herab, prallte gegen den Ochsen und riss ihn zu Boden. Erik sah riesige Klauen, tief im Fleisch des Tiers. Blut, dass aus den Wunden quoll. Schwarze Schlieren, wie nasser Rauch, umspielten den Körper der Kreatur, machten seine Form unkenntlich. Es tat einen Ruck, das Gespann zerriss, Holz barst und der Ochse wurde in einer gewaltvollen Bewegung von der Straße gehievt. Die Männer beim Wagen lösten sich aus ihrer Schreckensstarre.
    Zusammen!“, brüllte ihr Anführer.
    Der Händler und seine Frau krallten sich an das Holz des Wagens, ihre Gesichter bleich. Der Bote kämpfte immer noch mit seinen Pferden, sein Ross wollte losstürzen, aber sein Lastpferd bockte. Er fluchte laut. Mit seinem Schwert durchtrennte er kurzerhand das Seil zwischen Reittier und Lastpferd. Endlich entfesselt stürmte sein Gaul die Straße entlang und der Soldat war auf und davon. Die Männer hatten sich unterdessen gesammelt und sahen sich nervös in alle Richtungen um. Einer der Männer hielt seinen Bogen gespannt und suchte panisch nach einem Ziel. Es knackte im Dickicht. Der Mann ließ die Sehne los und der Pfeil verschwand im Dickicht. Wieder Stille. Ein zweites Grollen ertönte. Frank handelte nun sehr schnell, zückte ein Messer und trennte die Stricke auf dem Rücken des Lastpferds. Schwere Kisten prallten zu Boden. Erik sah, was er vorhatte und eilte zu ihm. Kurzerhand warf Frank ihn auf den Rücken des Pferdes und sprang gleich nach ihm auf. Das Pferd jedoch blieb widerspenstig. Erik sah, dass das Ledergeschirr tief in den Nacken drückte, vermutlich durch das Gezerre des Soldaten.
    Hier, Hier!“, schrie Erik.
    Er zog an den Lederriemen, sodass Frank sie durchtrennen konnte. Der Gaul röchelte unerträglich, als das Leder ihn würgte, aber das Geschirr sprang bei der Berührung mit dem Messer entzwei und endlich, wenn auch viel zu langsam, setzte sich das Tier in Bewegung. Die Männer standen Rücken an Rücken. Mit weißen Knöcheln umklammerten sie ihre Waffen. Schwarze Schlieren krochen aus der Böschung heraus und leckten an den Rädern des Wagens und der Mann, der den Pfeil geschossen hatte, er hatte genug, warf Pfeil und Bogen fort und ergriff die Flucht. Frank lenkte das Pferd zu der zerstörten Brücke. Immer noch rang das Pferd nach Atem. Der Mann holte auf und rannte neben ihnen her. Er streckte seine Hand aus.
    He! Nehmt mich mit!“, rief er.
    Die Furcht stand ihm ins Gesicht geschrieben. Doch Frank trieb nur das Pferd an. Erik streckte seine Hand aus, er ergriff sie, zerrte Erik dabei beinah hinunter, doch er schaffte es sicher hinauf. Das Tier nahm Geschwindigkeit auf. Sie stürmten um eine Wegbiegung, hinter ihnen ertönte ein Grollen und sie hörten das Bersten von Holz. Man rief etwas. Die Geräusche gingen im Luftzug unter. Sie preschten die Straße entlang, der Gaul hatte seine Kraft wieder gefunden und war nun nicht mehr zu bremsen. Zweige peitschten ihnen ins Gesicht, verursachten feine Schnitte. Dann wurde der Wald lichter, die Laubdecke offener. Erik blickte nach vorn: Man konnte zwischen den Bäumen eine offene Wiese erkennen! Doch dort, im blendend hellen Sonnenlicht, trat eine Gestalt auf die Straße. Keine zehn Meter vor ihnen, ein Mann. Frank zerrte an der Mähne, das Pferd bremste und schlitterte auf den Hufen, geradezu dem Mann entgegen. Er hielt einen Speer. Er hob ihn, rammte ihn in die Brust des Tiers und die Zeit verstrich Bild für Bild: Vor Eriks Augen durchdrang die Spitze den Nacken des Tiers. Er stütze sich mit beiden Händen gegen den Hals. In einem Moment von Geistesgegenwart drückte er sich zur Seite weg, schlitterte an der Klinge vorbei. Hart kam er auf den Boden auf. Ein Zucken durchfuhr sein Bein. Er überschlug sich mehrmals, bevor er zum Liegen kam. Seine Sicht war verschwommen. Sein Körper war taub. Ein Gesicht bewegte sich in sein Blickfeld.
    „Willkommen im Talkessel.“, schallte es von sehr weit weg.
    Dann kam ein Stiefel auf seinen Kopf hinab.
    Geändert von GesustheG (09.03.2023 um 16:17 Uhr)

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    KAPITEL 2
    I Der Hauptmann
    Im Jahre des Addo 389, Am Vormittag des 12. September
    Hermann & Sybille
    Sybille saß in ihrem Ohrensessel, als Hermann die Tür zur Terrasse öffnete.
    „Na, wie geht’s, mein Süßer?“, fragte sie.
    Sie hatte die Beine überschlagen. Weiße Rüschen unter einem roten Kleid umspielten ihre Knie, während sie mit ihren nackten Füßen wippte. Mit gehobenem Kinn betrachtete sie ihr kleines Reich, den Hinterhof, der zu allen Seiten mit Efeu bewachsen war. Schwarze Locken und rote Lippen verliehen ihr etwas Majestätisches, ihre Art und Weise war jedoch vielmehr verspielt als wohlgeboren.
    „Gut“, sagte Hermann knapp.
    Er richtete seine Uniform, lächelte zufrieden und streckte sich. Als er in seinem Geldbeutel kramte und ihr vier Kupfermünzen anbot, blickte sie ihn tadelnd an.
    „Stefanie ist ein gutes Mädchen. Du könntest ihr ruhig ein Trinkgeld geben!“
    Ihr Tonfall verriet, dass dies eher eine Feststellung, als ein Vorschlag war. Hermann hob die Augenbrauen und legte eine fünfte Münze dazu. Von ihrem Schaukelstuhl, als wäre es ihr Thron und Hermann ihr Bittsteller, nahm sie das Geld entgegen. Er setzte sich auf einen Schemel neben ihr und stützte seine Hände auf die Knie.
    „Irgendetwas Neues aus der Burgruine?“, fragte sie.
    „Wohl kaum“
    Sein Tonfall war nüchtern, worauf Sybille vernehmlich seufzte.
    „Du musst deinen Jungs nochmal einbläuen nicht so derb mit meinen Mädels umzugehen.“
    Hermann kratzte sich besorgt an der Stirn. „Es hängt ihnen zu den Ohren raus. Wenn ich es ihnen als Befehl erteile, sagen sie natürlich jawohl, mein Herr! Bloß heißt das nicht mehr so viel wie früher...“
    „Und Raik?“
    „Raik? Der Kommandant bläst den ganzen Tag Trübsal und möchte mit solchen Belanglosigkeiten nichts zu tun haben. Als wäre die Moral belanglos... wir standen einander auch mal näher. Aber jetzt-“
    Hermann hob die Hände ratlos in die Luft und ließ sie kraftlos fallen. Beide sahen für einen stillen Moment ins Leere.
    „Soldaten, die die Füße stillhalten. An den Matterforst traut sich keiner ran, der Pass der Nordmar ist versperrt und wir verharren in der Ruine. Seit Jahren.“ Er tat einen tiefen Atemzug. „Ich glaube ohne dich wäre der Karren nicht im Dreck stecken geblieben, er wäre im Morast versunken!“, sagte er.
    Der Hauptmann musterte Sybille von der Seite.
    „Immer gerne zu Diensten.“, antwortete sie müde. „Wenn sich nichts ändert, geht hier trotzdem alles den Bach runter. Noch weiter! Du musst irgendetwas tun.“
    Sie erwiderte seinen Blick.
    „Und was wäre das?“, fragte er.
    Sie beugte sich zu ihm, so nahe, dass sich fast ihre Nasenspitzen berührten.
    „Ich sagte irgendetwas, weil...“, sie tätschelte ihn sanft auf der Wange „...du herausfinden sollst, was das ist.“
    Sie warf sich zurück in ihren Schaukelstuhl und sank darin hinab. Es erinnerte an ein lustloses Kind, wie sie so nach vorn und hinten wippte. Ein Lächeln stahl sich über Hermanns Lippen, als er wie so oft einer ihrer andersartigen Anwandlungen gewahr wurde. Sie zeigte diese Seite nicht vor jedem. Er hingegen war der krasse Gegensatz, mit seiner ordentlichen Art und Weise, seiner militärischen Ernsthaftigkeit und dem obersten Gebot des Pragmatismus. Hermanns Hände waren meist überkreuzt hinter seinem Rücken. Der Wind bewegte sanft die Ranken an den Stützen der Terrasse. Die Tür öffnete sich erneut und eines ihrer Mädchen stand auf der Türschwelle.
    „Maman?“ Dies hieß Mutter auf Arbu, der Sprache der Severim. „Wir brauchen dich mal kurz.“
    „Hach! Der Ruf der Pflicht.“, seufzte sie.
    Sie stand auf und machte einen für sie sehr untypischen Knicks.
    „Auf bald“, sagte sie und verschwand.
    Hermann brummte gedankenversunken. Er saß noch eine Weile dort, nachdem Sybille ihn verlassen hatte, dachte an seine Männer, seinen Vorgesetzten und seinen Herrn, den Lehnsmann. Er riss sich aus seinen Grübeleien, stand auf und ging. Schließlich hatte er noch einige Dinge zu erledigen. Er grüßte beim Gehen den Rausschmeißer und folgte der engen Gasse aus dem Hinterhof hinaus. Hermann zog die schmalen Pfade den breiteren Straßen vor, ganz im Gegensatz zu seinen Kameraden. Die wollten ihre Präsenz stets bemerkbar machen. Die Leute, die ihm in den engen Straßen entgegenkamen, machten eilig Platz: Seine Uniform war unter den Bürgern ein deutliches Signal, lieber den Untertan zu spielen. Bedanken tat sich Hermann nicht und Grüßen hatte keinen Sinn, da nie eine Antwort käme. Nach vielen Umwegen erreichte er den Fluss, dem Namensgeber der Stadt Neigenbau. Mit vorsichtigen Schritten über einen wackligen Steg, unter ihm das schnelle Wasser der Neige, und einer kurzen Strecke durchs Krämerviertel fand er schließlich zur Schmiede. Er erhielt, was er bestellt hatte und bezahlte großzügig. Vier kurze Metallschienen, die seine Rüstung verstärken sollten, an den Ellen sowie am Schienbein. Den Schmied, Boris war sein Name, kannte er bereits. Der Meister hatte großen Einfluss in der Stadt und hatte früher oft den Soldaten Zuarbeit geleistet. Da es eher eine Geschäftliche Beziehung war, blieb die Begegnung kurz und pragmatisch. Hermann vermutete ein gewisses Misstrauen auf Seiten des Schmieds, wurde aber nicht schlau aus der wortkargen Art von Boris. Seit den Plünderungen hatten die einfachen Leute schließlich auch einen Grund den Soldaten zu misstrauen. Erneut machte Hermann sich auf den Weg. Jetzt musste er zum Sattler. Für diesen Mann jedoch war er bloß ein Fremder und es brauchte einiges an Überzeugungskraft, um den Auftrag aufzugeben, einschließlich eines horrenden Preises. Das war die Art von Sonderbehandlung, die die Soldaten in der Stadt bekamen. Nicht ohne Grund hatte die Bevölkerung den Männern der königlichen Armee den liebevollen Namen Blutjacken gegeben, in Anspielung auf ihre roten Umhänge und Markierungen. Erst als Hermann erwähnte, dass er Boris kannte, hatte der Sattler schließlich eingelenkt. In drei Tagen sollte er wiederkommen. Hermann ging also wieder, nahm noch einmal den Weg durch Hintergässchen und über Schleichwege, bis er auf die Hauptstraße einbog, um in der Menge unterzutauchen. Er dachte über die Worte Sybilles nach. In seinem Kopf machte er eine Liste der üblichen Verdächtigen. Befehle an Soldaten waren einfach, das klärende Gespräch mit frustrierten Männern schwieriger. Beinahe hatte er das Stadttor erreicht, ging schon leichteren Schrittes, da wurde er von jemandem entdeckt.
    Soldat!“, rief jemand hinter ihm.


    II Der Bote in Eichenbruck
    Im Jahre des Addo 389, Am Vormittag des 12. September
    Der Bote
    Die Mauern waren mit schwarzem Ruß überzogen. Drohend ragten sie auf der leichten Anhöhe empor und der Bergfried setzte sich wie ein finsteres Mahnmal von wucherndem Grün und blauen Himmel ab. Eichenbruck war ein einprägsamer Anblick. Die überstehenden Zinnen auf der Außenmauer verhinderten, dass der Regen die schwarzen Steine abwaschen konnte. Vereinzelt hatte das Wasser jedoch seinen Weg gefunden und in senkrechten Bahnen den hellgrauen Stein freigelegt. Erst dadurch wurde der Gegensatz von tiefem Schwarz zu hellem Grau offenbar. Ein schrecklicher Brand musste hier gewütet haben. Östlich des Bauwerks hingen die Überreste einer einst massiven Holzbrücke über einem reißenden Gebirgsstrom. Die Balken waren seltsam gebogen, verzerrt und gesplittert, aber seltsamerweise ohne Schmauchspuren. Unterhalb der Mauern ragten verkohlte Balken und bröckelnde Gebäudereste aus den Sträuchern. Dünne Birkenstämme versuchten an den von Wind und Wetter gebrochenen Fassaden Halt zu finden. Die breite Pflasterstraße und die abgenutzten Fahrrinnen waren Zeugnis einer besseren Vergangenheit.
    Der Reiter, der diese Straße entlang galoppierte, konnte diesem Anblick jedoch nichts beimessen. Er sprach leise eine Reihe von Gebetsfersen auf und seine Hand umklammerte eine kleine Ikone, die an einer Kette von seinem Hals baumelte. Seine Kleider waren schweißnass, sein Gesicht zerschnitten von den Zweigen, die ihm auf der Flucht ins Gesicht geschlagen hatten und seinem Pferd rann der Schaum aus dem Mund. Als wäre das Monstrum im Wald nicht genug gewesen, nein, Banditen hatten ihm aufgelauert und die letzte Nacht hatte er damit verbracht sie abzuschütteln, denn sein Pferd hinterließ eine Fährte und nichts hatten Räuber lieber als einen einzelnen Soldaten, wehrlos und verwundbar. Außerdem war die Natur hier war ungezähmt und wild und schlaf hatte er keinen gefunden. Als wäre das nicht genug, sein Packpferd hatte er im Wald verloren und nun fehlten ihm Brot und Wasser, doch damit war die Katastrophe noch nicht perfekt: Der Sold für Lehnsmann und Soldaten war auf dem Pferd gewesen. Alles was ihm blieb, war der Brief in seiner Tasche. Der Bote bemerkte nun die Überreste der Behausungen um ihn herum. Es verwunderte ihn, er verstummte in seinem Gebet, aber hielt nicht an. Die Straße wand sich den sanften Anstieg zum Gemäuer hinauf und ein hölzernes Tor kam in Sicht. Seine Hoffnungen wuchsen schon, aber als er es genauer betrachtete, erwachte nun doch sein Misstrauen: Es war ebenso dunkel wie die Steine, die es einschlossen, gänzlich schwarz und verkohlt. Der Soldat verlangsamte seinen Gaul, stieg ab und hämmerte laut an die Torflügel. Seine Faust war sofort beschmutzt von fettem Ruß. Er hörte eilige Schritte hinter dem Tor. Eine Luke öffnete sich.
    Wer da?
    Die Stimme war argwöhnisch, das Gesicht in der schmalen Öffnung unkenntlich. Gero leistete die offizielle Antwort:
    „Gero Bodelhamm, Bote des Königs.“
    Der Wachmann reagierte zunächst nicht. Mit einem Seufzen löste Gero die Schnalle seines Umhangs und hielt das bronzene Insigne vor den Schlitz. Ein sich aufbäumendes Pferd vor einem Wachturm, das Abzeichen jedes ranghöheren Soldaten in der königlichen Armee. Die Wache schloss den Schlitz und es klackte, als die verschiedenen Riegel geöffnet wurden. Das Tor tat einen Ruck und schwang langsam auf. Verkohltes Holz bröckelte herab; offenbar war es eine Weile nicht mehr geöffnet worden. Die Sicht auf den Innenhof wurde freigegeben und im Gegensatz zum Eindruck vor der Außenmauer, bot der Hof einen stattlichen Anblick und zeigte keinerlei Spuren von Feuer und Verwüstung. Die Straße setzte sich gerade fort, direkt zu einem Tunnel, der durch ein massives steinernes Gebäude führte. Der Tunnel führte nur ins Dunkel, aber Gero vermutete die eingestürzte Brücke dahinter. Zu beiden Seiten der Straße war ein Bürgersteig und eine Reihe von Häusern, die dicht an dicht ihre verzierten Fassaden zeigten. Holzschnitzereien, Fachwerkmuster, Überhänge und Erker. Eiserne Halterungen für Ladenschilde hingen an den Wänden, aber nur an einem war tatsächlich ein Schild angebracht. 'Zum Brückenkopf' war darauf zu lesen. Die Wache trat hinter dem Torflügel hervor.
    „Kommst du von außerhalb? Lange keinen mehr von deiner Sorte hier gesehen.“
    Er winkte Gero hinein.
    „Habt ihr Wasser? Oder Bier?“, fragte der Bote.
    „Das Gasthaus. Da hinten rechts.“
    Der Wachmann deutete auf das im sanften Wind schwankende Schild vom 'Brückenkopf'. Gero ließ es sich nicht zweimal sagen, passierte das Tor und ging den Innenhof entlang. Es war seltsam hier zu sein, denn dieser Ort war so stattlich wie menschenleer. War das aus dem Talkessel geworden? Ein verlassenes Museum vergangenen Ruhms? Er band sein Pferd bei einer Tränke an. Kurz bevor er eintreten konnte, hielt man ihn auf. Ein Mann erschien in einem der Fenster des Steinbaus über dem Tunnel und rief aufgeregt:
    He, Fremder! Ich komme, ich komme, einen Moment!“
    Der Mann verschwand wieder und trat wenig später aus einer Seitentür in die Schatten des Tunnels.
    „Willkommen in Eichenbruck!“, sagte er feierlich, wie er mit langen Schritten auf den Reisenden zueilte.
    Er deutete eine Verbeugung an, was seine langen schwarzen Haare über seine Schultern fallen ließ. Er strich sie mit einer eleganten Bewegung wieder zurück.
    „Quentin Nicolas zu Roddenport mein Name, Kaufmann von Beruf und Verwalter dieser bescheidenen Räumlichkeiten zu dieser Zeit.“
    Er verbeugte sich erneut. Quentin musterte Gero von oben bis unten und der Kaufmann konnte seinen Unglauben kaum verbergen.
    „Ihr seid durch den Matterforst gereist? Ihr seid hindurch gekommen? Wie? Ach, was rede ich! Kann ich euch einladen?“
    Er machte eine verspielte, beiläufige anmutende Bewegung zu dem Bergfried hinter ihm. Gero blickte zu den unzähligen Fenstern, der stattlichen Wölbung des Tunnels und dem hölzernen Portal links davon. 'Zollburg zu Eichenbruck' stand über letzterem in steinernen Lettern. Hier hatte jemand viel Geld für eine einfache Tür ausgegeben.
    „Ich verstehe das als eine Zustimmung. Kommt, tretet ein! Wie ist euer Name?“
    Gero stellte sich vor und folgte ihm. „Ist das nicht der Sitz des Lehnsmannes?“, fragte er.
    „Oh, der hat seinen Sitz verlegt. Zu einer Burgruine an der Nordklippe. Seit dem Feuer.“
    Quentin wedelte mit der Hand in Richtung Toreingang, während er seinen Gast zum Portal mehr drängte als führte. Gero ließ es mit sich machen, denn er hatte nichts einzuwenden gegen einen Sitzplatz und etwas Kühles zu trinken. Diese Neuigkeiten waren allerdings beunruhigend. Der Lehnsmann des Tals sollte hier residieren und sich nicht in einer Ecke des Kessels verstecken. Offenbar war seine Reise hier noch nicht zu Ende.
    Das Gebäude war angenehm kühl. Quentin brachte ihn durch einen langen Flur, dann durch ein Zimmer und schließlich auf einen Balkon auf der dem Fluss zugewandten Seite des Gebäudes. Er bot ihm einen Platz und verschwand eilig wieder. Der Kaufmann war sichtlich aufgebracht über den unerwarteten Besuch. Gero lehnte sich über den Balkon und blickte hinab in den Strom. Das Wasser hatte dort eine tiefe Furche in das Land gespült. Es rann über großen Steinbrocken, die der Zahn der Zeit noch nicht zermahlen, aber abgerundet hatte, und staute sich an den Überresten einer Holzbrücke. Gero konnte sie jetzt aus der Nähe betrachten. Diesseits sah er den Tunneleingang, genau wo er ihn vermutet hatte. Jenseits, am anderen Ufer, setzte eine Pflasterstraße den Weg fort. Gräser und Sträucher hatten dort das Pflaster fast gänzlich zurückerobert. Die dicken Balken der Brücke waren oft eigenartig gekrümmt oder der Länge nach gespalten und es war keine Spur von einem Brand an den Überresten erkennbar. Quentin kam wieder auf den Balkon, einen Krug in der einen und zwei Becher in der anderen Hand. Hinter ihm kam ein blonder Junge, der einen niedrigen Tisch trug. Der Junge richtete alles an und schenkte Gero ein. In tiefen Zügen leerte der Soldat den ersten Becher, der Junge füllte ihn erneut und freundlich nickte Quentin dem Boten zu.
    „Habt ihr Hunger?“
    Gero nickte.
    „Ferdinand!“ Mit einer Kopfbewegung bedeutete er dem Jungen ins Haus zu gehen.
    „Nicht zu knapp. Und bring dir auch was mit.“, rief er ihm hinterher.
    Quentin atmete tief aus und machte es sich auf seinem Stuhl bequem.
    „Also, was führt euch nach Eichenbruck? Den Namen sollte man wahrscheinlich ändern.“, sagte er mit einem Blick hinab in den Fluss.
    „Ein königlicher Auftrag.“, sagte Gero und machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr. „Eine Botschaft. Für den Lehnsmann des Tals. Mehr kann ich dazu nicht sagen.“
    „Verstehe. Die Angelegenheiten der Hoheit obliegen der Geheimhaltung. Gut zu wissen, dass dort draußen einige Dinge immer noch die Alten sind.“ Quentin schenkte ihm ein Schmunzeln. „Aber könnt ihr mir eine Frage gestatten?“
    Er lehnte sich nach vorne, seine Augen blitzten auf.
    „Wie ist es dort draußen? Das Gebeland, Frehnland, das ganze Königreich? Die Clans, gab es nun einen Krieg oder nicht? Sind die Beziehungen mit den Severim immer noch wie eine gescheiterte Ehe – wirtschaftlicher Austausch und politische Abneigung?“
    Quentin bemühte sich, sich zu zügeln, und lehnte sich wieder zurück.
    „Tut mir leid, es ist bloß seit einer ganzen Weile niemand mehr von außerhalb in den Kessel gekommen!“
    „Verstehe“, sagte Gero.
    Der Junge betrat wieder den Balkon, diesmal mit einer gefüllten Platte.
    „Cassi macht gerade noch ein Huhn fertig.“, sagte der Junge und nahm sich einen Stuhl abseits des Tisches. Quentin machte eine seiner für ihn typischen leichten Verbeugungen.
    „Dies ist mein Lehrling, Ferdinand.“
    Dieser nickte freundlich. Gero tat es ihm gleich und nahm sich Brot, ein Stück Hartkäse und etwas Wurst.
    „Ich schätze dies ist die Entlohnung für meine Neuigkeiten?“, fragte er.
    Quentin grinste ihn an. „Kann man so sehen, wenn man ein Mann des Geschäfts ist...“
    „Nun gut“, sagte Gero, legte sein Essen beiseite und faltete die Hände im Schoß. „Dem Königreich geht es gut. König Batan II hat zwar nicht viel fürs gemeine Volk übrig, aber er regiert sicher. Er hat etwa keinen Angriff gegen den Hammerclan geführt und seit dem Scharmützel mit den Nordmarsöldnern ist es ruhig geworden. Der König hat damals die Garnisonen aufgestockt, nur als Vorsichtsmaßnahme. Genauso wie hier im Kessel, wenn ich das recht verstehe?“
    Quentin nickte gedankenversunken.
    „Der König war zum Glück so weise...“, setzte Gero fort, „...den Überfall auf seine Söldner nicht als einen Angriff auf seine Armee zu verstehen. Das hätte schmutzig enden können.“
    Nun tat Gero einen großen Bissen und nahm sich Zeit zum Kauen.
    „Das ist gut!“, meldete sich der blonde Junge zu Wort. „Das heißt, dass die Nordmar hier keinen Grund haben mit den Ketten zu rasseln.“
    Gero hob einen Finger und schluckte eilig runter. „Wisst ihr, das Eigenartige ist, nach dem Zwischenfall gab es keinen Kontakt mehr mit dem Hammerclan. Der König hat nach ein paar Wochen Unterhändler geschickt, um den Streit beizulegen. Die Pfadwächter jedoch haben keinen passieren lassen. Normalerweise lassen die Clans so eine Sache nicht einfach ungeklärt, das ist nicht ihre Art.“
    „Wohl wahr“, sagte Quentin nachdenklich.
    „Aber was soll ich sagen, ich kenne mich nicht wirklich aus mit den Bergvölkern.“ Gero nahm einen tiefen Schluck aus seinem Becher. „Und die Severim – alles beim Alten. Eine gesunde Hass-Hass Beziehung zwischen dem Königreich und den Menschen aus der Wüste.“
    Sie schwiegen, während Gero sein Mahl verzehrte. Erfrischt und gesättigt lehnte er sich zurück.
    Quentin strich sich durch den Schnurrbart. „Außerhalb – was sagen die Leute über den Talkessel?“
    „Nicht viel. Der Handel mit den Nordmar erstarb im gesamten Norden, nicht nur hier. Ansonsten, dass der Weg hierher zugewuchert und schwierig sein soll. Ich meine, der Talkessel ist ein kleines Stück Land in der hintersten Ecke des Gebelands. Abgesehen von Kohl und Korn interessiert sich niemand für diesen Flecken. Normalerweise ist da noch der Handel mit den Clans... aber, nun ja-“
    Gero machte eine entschuldigende Geste. Quentin nickte andächtig.
    „Das erklärt einiges. Ansonsten, keine...“ der Kaufmann suchte nach den richtigen Worten „...ungewöhnlichen Ereignisse? Ein willkürlicher Stadtbrand? Unheimliche Wälder, die sprießen wie Unkraut? Solche Dinge?“
    Der Bote schüttelte etwas verdutzt den Kopf und sah sein Gegenüber erwartungsvoll an. Schwunghaft stand Quentin auf.
    „Folgt mir“
    „Wohin?“
    „Ihr werdet sehen.“
    Gero leerte den letzten Becher und stand etwas wehmütig, den kühlen Ort sofort wieder verlassen zu müssen, auf. Sie gingen durch die Innereien der Zollburg vorbei an zahlreichen Türen und Seitengängen und schließlich eine Wendeltreppe hinauf. Ferdinand folgte ihnen. Oben angekommen traten sie erneut in einen langen Flur, an dessen Ende Sonnenlicht durch eine Tür fiel. Hinter dem Kaufmann trat er ins rötliche Abendlicht, auf die Mauer von Eichenbruck. Der Wind wehte hier oben stärker. Man hatte eine weite Aussicht nach Norden und Westen, auf einen dichten Wald, hügeliges Vorgebirge und die umliegenden Berge. Im Osten war der steile Hang, den der Fluss in die Landschaft geschnitten hatte, gut dreißig Schritt hoch. Eine Scheune und ein einfaches Haus standen einsam vor dem Wald. Die hügelige Landschaft verbarg vielleicht noch mehr.
    Als könnte er Geros Gedanken lesen, sagte Quentin: „Diesseits der Mauern lebt keiner mehr. Sie sind alle ins Innere des Talkessels gezogen. Siehst du diesen Wald?“ Quentin deutete nach Westen. „Du bist durch ihn durchgeritten. Kennst du seinen Namen?“
    Gero schüttelte den Kopf.
    „Das liegt daran, dass er bis vor kurzem keinen hatte. Und das wiederum liegt daran, dass es ihn bis vor kurzem noch nicht gab. Er hat seinen Namen von einem Phänomen, was sich manchmal in der Abenddämmerung zeigt. Es muss eine Art Lichtspiel sein, die Schatten der Berge oder die Nebelschwaden von Gebirgsflüssen oder irgendetwas in der Luft. Matterforst nennt man ihn.“ Der Kaufmann kniff die Augen zusammen. „Ich schau es mir nicht gerne an. Es beunruhigt mich, es scheint mir... unnatürlich.“
    Mit einem Schaudern wandte er sich ab und neigte den Kopf. Er deutete auf die verkohlten Ruinen unterhalb der Mauer.
    „Und das hier, das war einmal Eichenbruck. Florierender Handelsposten und größter Umschlagsort des ganzen Kessels! Das Gebäude hinter dir: Zollhaus, Lagerhaus, Regentensitz und Handelsforum zugleich. Das waren noch Zeiten!“
    Gero lehnte sich über die Zinnen. Von hier oben aus konnte man gut erkennen, wie es einmal ausgesehen haben musste: Verkohlte Balken ragten wie krumme Rippen aus dem dichten Gewucher. Grundmauern ohne Aufbauten machten den Eindruck, als würde jemand planen hier Häuser zu bauen. Bloß war das Gegenteil der Fall. Dort waren einmal Häuser gewesen.
    „Ein Feuer?“, fragte Gero.
    „Kein gewöhnliches!“, sagte Quentin. „Vor drei Jahren, mitten im Hochsommer. Eines Nachmittags kam dieser Wind auf. Zuerst war er nur trocken und warm. Ungewöhnlich allemal, aber dann wurde er immer heißer und schärfer. Die Leute sind gerannt, und zwar in diesen Hof.“ Er deutete mit dem Daumen hinter sich. „Ein fürchterliches Ereignis. Es war ein Meer von Köpfen dort unten, die meisten schrien in Panik. Das hielt eine Weile an, überall krachten und knackten die Balken. Die plötzliche Hitze trocknete das Holz und wenn Holz trocknet, dann verformt es sich. Häuserwände fielen zusammen, Dächer warfen ihr Schindeln ab, der Schutt prasselte auf die Straße. Wer nicht schon im Hof war, fand kein Entkommen. Die Eichenbrücke zersprang dabei wie ein Spielzeug in den Händen eines Trolls.“
    Gero dachte an die krummen und gespaltenen Überreste in der Flusssohle.
    „Der Lärm war ohrenbetäubend. Es war ja nicht nur so, dass die Brücke einfach so zusammengestürzt ist. Jedes einzelne Stück ist geborsten!“ Er schüttelte den Kopf. „Irgendwie ist dann ein Feuer ausgebrochen. Ein Herd in einer Stube oder vielleicht waren es die Funken einer Esse. Die gesamte Siedlung brannte wie Zunder. Wenn man auf den Mauern stand, wie ich, dann verbrannte der Luftzug einem das Gesicht, und ich habe nur einen kurzen Blick erhaschen können. Irgendetwas stimmte nicht mit den Flammen, sie schien beinahe blau oder grün...?“
    Die Zweifel an der Wahrhaftigkeit seiner Erinnerungen standen dem Kaufmann ins Gesicht geschrieben, aber er fasste sich wieder.
    „Die Leute im Hof haben Wasser gegen das Tor geschüttet. Zum Glück ist es nicht übergeschlagen. Diese Häuser...“ er winkte mit der Hand zum Innenhof „...sind die einzigen, die noch stehen. Den Rest haben die Flammen geschluckt.“
    Er machte eine lange Pause. Langsamen Schrittes ging er die Mauer entlang.
    „Warum? Woher kam der Wind?“, sagte Gero.
    Quentin zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf.
    „Hätte ich die geringste Ahnung, dann würde ich dieses Wissen sofort teilen. Woher kam der Matterforst?“, fragte der Kaufmann und hob ratlos die Arme.
    „Hat man...“
    Natürlich hat man versucht hindurch zu kommen!“, schnitt ihm Quentin das Wort ab. „Entschuldigt. Dies ist nicht meine Art. Man hat es versucht. Erst ein paar Händler. Dann die einfachen Leute. Es hat eine Weile gedauert, bis man bemerkte, dass nicht nur kein Händler wiederkehrt, sondern auch niemand von außen hineinkommt. Dann hat man den Lehnsmann des Tals überreden können, sich der Sache anzunehmen. Den Spähtrupp, den er geschickt hat, sah man nie wieder.“
    Quentin konnte seine Betroffenheit in dieser Angelegenheit kaum verbergen.
    „Entschuldigt nochmals. Aber wenn dieser Wald nicht wäre, dann würde hier wieder das Geschäft aufblühen wie der Flieder im Sommer. Dann würden hier neue Häuser stehen und ständig die Wagen rollen. So sitze ich mir nur den Hintern wund. Und starre auf den Wald.“
    Voller Wut trat er gegen die Zinnen. Er besah danach skeptisch seine Schuhe und Sorgenfalten bildeten sich auf seiner Stirn.
    „Ich bin einer Bestie begegnet im Wald.“, sagte Gero nachdenklich.
    „Eine Bestie? Eine Art Tier?“, fragte Quentin aufgebracht.
    „Es war ein Wesen, dass ich noch nie zuvor gesehen habe.“ Gero legte die Stirn in Falten. Seine Erinnerungen waren verschwommen, alles war so schnell passiert. „Es war, als wären die Schatten dem Tier gefolgt, als wäre eine Art Zauber im Spiel.“
    Geros Hand ging an seine Brust, und er holte eine Halskette hervor. Er führte den kleinen Talisman an die Lippen und küsste ihn. Quentin erkannte das Symbol: Zwei Hände, in der einen ein Stein, in der anderen eine Feder, das war das Symbol für Addo, dem höchsten Heiligen der Kirche der sieben Wächter. Addo stand für Gleichgewicht und Gerechtigkeit, ein Idol vieler Soldaten und Wachmänner. Der Kaufmann legte die Stirn kraus, denn für die Kirche war Magie ein erklärter Gegner, dessen Existenz man entweder leugnete oder verteufelte. Dass ein Jünger Addos von Zauberei redete, war nicht gerade alltäglich. Gero verstaute seine kleine Ikone wieder.
    „Sagt, warum unternimmt der Lehnsmann des Tals nichts wegen dem Wald?“, fragte Gero.
    Quentin lachte auf. „Was denkt ihr, warum hat er seinen Sitz von hier weg verlegt?“
    Gero hatte verstanden. Lehnsmänner waren kein Adel. Sie waren nicht durch einen Eid an ihren Dienst gebunden, eher durch eine Art Vertrag. Sie erhielten hoheitliche Befugnisse und verpflichteten sich für die Verteidigung eines Landstriches. Dieser Lehnsmann war wegen der Nordmar herbeordert worden und sah sich offenbar nicht in der Pflicht für Ordnung zu sorgen. Es war ja nicht sein Land.
    „Tut mir nochmals leid.“, entschuldigte sich der Kaufmann nun ein drittes Mal. „Diese Sache ist für mich persönlich. Aber sagt, wollt ihr hier übernachten? Der Abend hat schon begonnen und Betten haben wir viele frei.“
    Die Sonne neigte sich tatsächlich auf die Berge nieder. Während Gero noch abwägte, pfiff der Kaufmann schon seinen Lehrling herbei.
    „Ferdinand, bring unseren Gast zu einem Zimmer. Und kümmere dich um sein Pferd.“
    Ferdinand nickte und wartete bis Gero ihm in das Gemäuer folgte. Sie liefen ein Stück durch das großzügig angelegte Gebäude.
    „Wie kommt dein Meister zu diesem Haus?“, fragte er, als sie sich durch das Gewirr von Gängen bewegten.
    „Es ist nicht direkt sein Besitz. Er hat nur die Verwaltungshoheit, übertragen vom Lehnsmann höchstselbst.“ Ferdinand gab Gero einen wissenden Blick „Wenn er sie weitere zwei Jahre hält, ohne dass der Lehnsmann des Tals eine Lösesumme zahlt, geht das Haus in Quentins Besitz über. Aber solange der Kessel zu ist, kann er wohl nicht viel damit anfangen. Und solange das so bleibt, wohnen in dem gesamten Hof nur vier Leute.“ Er zählte sie an den Fingern ab. „Ich, Quentin, die Magd und der Wachmann. Wenn hier nicht das Geld von Quentin fließen würde, dann wären wir vermutlich noch zwei weniger.“
    „Und was machst du hier? Ein Lehrling eines Kaufmanns, der keine Geschäfte macht?“
    „Botengänge, Aushilfen, Haushalt, dies und das. Ich kann mich nicht beklagen.“
    Sie hielten vor einer schweren Holztür.
    „Dein Zimmer“, sagte Ferdinand und schloss die Tür auf.
    Dort waren ein einfaches Bett, ein Fenster gen Osten zum Fluss, eine Truhe und ein Stuhl. Gero bedankte sich und verabschiedete sich von Ferdinand. Er verstaute seine Habseligkeiten in der Truhe und legte seine Lederrüstung ab. Nach langen Tagen gab es keine größere Wonne, als sich aus seinen Steifen Kleidern zu schälen und sein schweißnasses Hemd roch eindeutig nach zu vielen Tagen Wanderschaft. Er sah aus dem Fenster. Der rote Schein der Abendsonne reichte gerade noch in die Furche des Gebirgsstroms hinein. Er verließ sein Zimmer, schloss ab und erkundete die Burg. Der Geruch von Brathähnchen stieg in seine Nase. Nach einiger Zeit fand er seinen Weg hinauf zum Wehrgang. Er blickte zum Matterforst. Wie ein Nebel, oder wie kalter Rauch, lag ein Schatten auf dem Wald. Er stieg immer wieder zwischen den Baumkronen empor, bis er im Wind zerfaserte. Es sah eigenartig aus, fast lebendig, wie die Mächte von Licht und Schatten dort miteinander rangen. Gero verstand nicht, was er sah, aber es hielt ihn in seinem Bann und seinen Blick fixiert. Eine Erinnerung von der seltsamen Kreatur, die sie im Wald überfallen hatte, huschte durch seinen Kopf, doch er verdrängte den Gedanken eilig. Er hatte doch ohnehin kaum einen Blick erhaschen können. Die Worte Quentins, dass er diesen Anblick meiden würde, hallten in seinem Kopf wider und seine Hand bewegte sich zu seiner Ikone. Er warf noch einen Blick Richtung Sonne. Sein Gefühl sagte ihm, dass es noch nicht so spät sein sollte, doch die anstrengende Flucht machte ihn müde. Er hatte wohl die Zeit vergessen. Als er schließlich die Mauer verließ, bemerkte er den zarten Geruch von Brathähnchen in den Gängen der Burg zu Eichenbruck.


    III Nachrichten aus den Bergen
    Im Jahre des Addo 389, Zur Mittagsstunde des 12. September
    Hermann
    Soldat!“, rief jemand hinter ihm.
    Hermann drehte sich um. Zwei Nordmar, erkennbar an ihrer Kluft aus Grauwolffellen, kamen ihm näher.
    „Kann ich dich begleiten, wenn es der Wind gestattet?“
    Hermann hatte vor Jahren einmal „Was für n´ Wind?“ gefragt; Es war eine seine weniger glorreichen Unterhaltungen mit den Menschen der Bergclans gewesen, denn die Nordmar verehrten die Winde als eine Kraft der Strafe und Reinigung zugleich, als zentrales Medium und Symbol ihrer Religion. Das Wort eines Windlesers war das Einzige, was höher stand als das ihrer frei gewählten Oberhäupter.
    „Nur zu, mein Weg ist weit.“, sagte Hermann.
    Er wies dem Mann den Platz an seiner Seite, gemäß der Tradition. Auf den engen Bergpässen ließ man Fremden zunächst großen Raum, es diente der Sicherheit aller und für Nordmar schlicht eine Frage des Anstands. Der andere Mann hielt sich im Hintergrund und sein Verhalten verriet den Grund seiner Anwesenheit: Er behielt die Umgebung im Blick und seine Hand ruhte auf dem Schaft seines Kampfbeils. Er war Seilmann. Hermann musterte den Mann, der ihn zunächst angesprochen hatte. Hagere Züge, buschige Augenbrauen und geschwungene Tätowierungen auf dem geschorenen Schädel. Keine schlechte Kleidung, vermutlich aus den gehobeneren Rängen seines Clans. Hermann schätzte ihn auf ungefähr vierzig.
    „Was kann ich für dich tun?“, sagte Hermann.
    Die Nordmar benutzten kein höfliches sie, ihr oder euch.
    „Welchen Platz hast du, Soldat?“, fragte der Nordmar.
    „Hauptmann“, sagte Hermann und überlegte kurz. „Dritter Mann, könnte man sagen.“
    „Hauptmann“ Der Nordmar nickte ihm zu. „Mein Name ist Skerta. Erster Jäger. Dies ist Heffas, mein Seilmann.“
    Wieder suchte Hermann in seinen Erinnerungen an die Clans. Zum einen kannten die Bergclans keine militärischen Ränge, denn ein Dienst an der Waffe war ein Dienst an der Gemeinschaft. Oberhäupter hatten stets den ersten Platz, waren der erste Mann oder, im Gegensatz zu den Bräuchen der Königreiche, auch die erste Frau. Diese hohen Plätze waren nicht unbedingt von den besten Kriegern bekleidet, sondern oft auch von den Müttern vieler Kinder, von Ältesten oder Sehern. Es war eine Ordnung, die sich durch die gesamte Clangemeinschaft zog, ob Mann oder Frau, ob jung oder alt. Fünfzig bis zweihundert Köpfe zählte ein Clan zumeist und die Führung eines Dreigespanns bestimmte ihr Schicksal. Skerta also, seines Zeichens Jäger, war an der Spitze von einer der drei Säulen der Silberkrähen, neben den Kriegern und den Wächtern. Seine Begleitung, sein Seilmann, war eine Art Leibwache, aber viel mehr als das: Es war eine lebenslange Partnerschaft, gefestigt durch viele Rituale und Sitten.
    Hermann stellte sich vor und fragte höflich, worum es ginge.
    „Ich habe einen Belang mit eurem Ersten. Wie lautet sein Titel?“ Das Wort Titel sprach er überdeutlich und es klang ein wenig wie auswendig gelernt.
    „Lehnsmann des Tals, Albert von Mottenheim.“
    Der Hauptmann konnte beobachten, wie Skerta versuchte diese Informationen zu verarbeiten. Die Nordmar verließen sich auf die Ehrbarkeit und Kompetenz ihrer Anführer. Strenge Werte und klare Gebote der Weisen, ihre freien Wahlen und ihre Rituale des Kräftemessens gestatteten ihnen dieses Vertrauen. Dass die mächtigen der Königreiche diesem Standard nicht immer gerecht wurden, war gemeinhin bekannt; ob man nun aus den Bergen oder aus der Ebene stammte, in dieser Sache war man sich einig. Der erste Jäger machte eine einladende Geste und schlug vor, zunächst einmal die Stadt zu verlassen. Schließlich, fernab von den neugierigen Augen auf den belebten Straßen, erhob Skerta wieder das Wort.
    „Wir schlagen ein Treffen vor.“
    Er gab Heffas ein Zeichen. Dieser zog eine Rolle Pergament aus seinem Gürtel, versiegelt und verschnürt, und überreichte sie dem Hauptmann.
    „Kann der Lehnsmann lesen?“, fragte Skerta mit gesenktem Kopf.
    Hermann verneinte.
    „Kannst du es?“
    Hermann nickte.
    „Gut. Es steht alles im Brief, lest ihn selbst. Stell sicher, dass er ihn heute noch bekommt. Es ist dringend!“
    Hermann verstaute den Brief gewissenhaft und Heffas fiel wieder zurück. Er hatte eine Kunst daraus gemacht immer den gleichen Abstand zu wahren: Stets bereit einzugreifen, doch unscheinbar im Hintergrund.
    „Du kennst die Bräuche der Clans, nicht wahr?“, fragte Skerta.
    „Ich lernte sie kennen, bevor ich in den Kessel kam.“, sagte Hermann. „Ich war in der Garde eines königlichen Unterhändlers, damals ging es um Handel und Söldner. Das war kurz vor den Auseinandersetzungen mit dem Hammerclan.“
    Skerta brummte zustimmend.
    „Der Hammerclan ist stolz.“, sagte er. „Die Krieger hätten auf ihre Clansmänner hören sollen. Ein Nordmar, der seine Axt für Gold feilbietet, das ist... ungewöhnlich. Nun ja, das liegt alles in weiter Ferne. Sorgen wir uns um die Probleme vor uns!“
    Skerta blieb abrupt stehen, Heffas ebenso.
    „Lest den Brief!“, sagte er mit ernstem Blick. „Dein Pfad ist gut?“
    Skerta streckte seinen Arm aus.
    „Ist er“, erwiderte Hermann und sie griffen sich kräftig an den Unterarmen.
    Hermann setzte seinen Weg allein fort. Erinnerungen an seine Begegnungen mit den Clans gingen ihm durch den Kopf. Das Vertrauen und die Offenheit Skertas erschien ihm ungewöhnlich, es war nicht vollkommen befremdlich, aber eben auch nicht die Norm eines Nordmars. Als er ein Stück der Stecke zur Ruine hinter sich hatte, beschloss er sich den Brief vorzunehmen und machte eine Rast auf einem Stein am Straßenrand. Von hier aus konnte er den Pass in die Berge gen Osten sehen und darunter einen Ort, den man schlicht die Grube nannte. Es war zwar schon Abend, aber immer noch sah er die Arbeiter dort. Grübelnd beobachtete der Hauptmann das Tun im grauen Schlamm des alten Flussbetts. Die Grube war der Ort, der derzeit die meiste Arbeit bot: Eine Front von Arbeitern buddelte sich durch das freigelegte Ufer und verfrachtete die Rohmaterialien in Hand- und Ochsenkarren und von dort in die Lagerhäuser der reichen Kaufmänner von Neigenbau. Vor ein paar Monaten hatte der größte Fluss im Talkessel, die Neige, seinen Verlauf verändert. Das Ereignis war den Bewohnern noch gut im Gedächtnis. Ein Beben hatte damals den Kessel erschüttert. Die Neige versiegte und für eine Zeit standen die Wasserräder still. Am nächsten Tag fand man den Grund dafür: Im oberen Teil des Flusslaufs war ein riesiger Erdhügel zu sehen. Er hatte sich aus dem nichts erhoben, so hoch wie drei Scheunen, die Ursache dafür unbekannt. Der Flussverlauf war gebrochen. Zumindest für ein Stück. Zum Glück fand das Wasser wieder seinen Weg zurück in sein altes Bett, sonst wären wohl ganze Landstriche überschwemmt worden. Das hätte den Verlust von Ernte, ganzer Gehöfte und vielleicht sogar Menschenleben bedeutet. Das freigelegte Flussbett entpuppte sich jedoch als eine willkommene Gelegenheit: Arbeit für die vielen untätigen Hände. Zum einen bot die Grube einen feinkörnigen, gut ausgewaschenen Kies und zum anderen reinsten grauen Ton. Die Qualität war außerordentlich, also begann man das Material abzubauen. Eine der reichen Familien, die Fehdamms, organisierten den Abbau und die Lagerung. Da sie die Felder links und rechts des Flusses besaßen, erhoben sie kurzerhand Anspruch. Nicht zuletzt fand man noch einen weiteren Rohstoff im Flussschlamm: Funkelnde Edelsteine. Hier galt ein anderes Recht: Wer sie fand, der behielt sie auch. Die Fehdamms hatten versucht auch darauf Anspruch zu erheben, aber nach mehreren Ausschreitungen mit den verarmten Buddlern überdachten sie letztendlich ihre Herangehensweise. Sie setzten einfach die Löhne aus, die Arbeiter fänden schließlich ihren eigenen Lohn, so hieß es. Und die Männer rackerten sich tatsächlich wie die Ochsen ab. Wer mehr schaufelte, fand mehr Steine und schon sehr lange hatte es keine Arbeit mehr mit echtem Lohn gegeben. Nicht zuletzt war die Münzwährung zu unzuverlässig und rar geworden und der Edelstein hingegen nicht, zumindest noch nicht. Der abgeschottete Talkessel war kein dankbarer Ort für junge, starke Arme. Man konnte immer in die Mine gehen, so sagten manche, aber der Lohn dort reichte kaum, um sich die Mahlzeiten zu leisten, die einem die schwere Minenarbeit abverlangt. Das Erz kaufte nämlich keiner, der Markt war gesättigt. So würde es irgendwann auch mit dem Kies und Ton aus dem Flussbett verlaufen. Es gab keinen Austausch mit dem Königreich, wer sollte die Ware also kaufen? Die Grube war nur ein weiteres Geschäft zur Vorratsspeicherung; eine wirtschaftliche Sackgasse, deren Ende jeden Tag ein bisschen näher rückte. Hermann schätzte den Fortschritt des Abbaus: Ungefähr die Hälfte der Strecke war bereits enthoben, für ein paar Wochen würde es noch reichen. Mit dem Schließen der Grube würden die Straßen von Niederbau dann wieder gefüllt sein. Mit bettelnden Männern, Männern mit starken Armen, die nach Arbeit flehten, bloß um ein Stück Brot für die leeren Mägen ihrer Familien zu ergattern. Alles was an den Handel gebunden war, die Warenschlepper, die Handwerker, die Straßenküchen, die Botenjungen, die Wirtshäuser, alle dies war mit dem Zusammenbruch des Handels obsolet geworden. Viele waren abgereist, nachdem bekannt geworden war, dass der Handel mit den Nordmar ausbleiben würde. Aber die meisten waren vorerst geblieben. Keiner wusste, wie viele Menschenseelen der Matterforst verschlungen hatte und wie viele es hindurch geschafft hatten. Als das Problem offenbar wurde, war man mit Fackeln losgezogen und hatte versuchte den Wald in Brand zu setzen. Aber das Gewüchs am Pass war ungewöhnlich feucht. Also schickte man die Jäger vor. Als diese nicht wiederkamen, sandte der Lehnsmann einen Spähtrupp. Einer kam wieder, aber es stellte sich heraus, dass er feige geflohen war, bevor sie tiefer in den Wald eingedrungen waren. Sie hängten den Deserteur. Die Menschen schlugen ihre Lager ab und gingen nach Eichenbruck. Das Desaster, der unerklärliche Stadtbrand, raubte Besitztümer und Leben und wieder zogen sie weiter. Ohne Haus und Habseligkeiten, dorthin von wo sie ursprünglich fortwollten, nach Neigenbau, gefolgt von den restlichen Bewohnern von Eichenbruck. Wie ein Heerzug, die jede Schlacht verlor, zogen sie sich Stück für Stück zurück, bis sie mit dem Rücken zur Wand standen. Dort verharrten sie seit drei langen Jahren. Manche hatten sich ein Heim gebaut. Manche suchten nach Arbeit, wo sie sie nur finden konnten. Keiner machte mehr einen Schritt nach vorne, gen Matterforst und Königreich und Freiheit, und die Schritte zurück hatten sie bereits alle getan. Letztendlich gehörten sie doch nur zu den Nutzlosen und Ungebrauchten in der Gesellschaft von Neigenbau.
    Hermann erwachte aus seinen Tagträumen und rieb sich die Augen. Er holte den Brief hervor, entrollte die Kordel und öffnete ihn. Ohne Anrede begann der knappe Text:

    Wir,
    Skerta – Erster Jäger
    Duren – Erste Wächterin
    Terreson – Erster Krieger
    grüßen den ersten Mann des Kessels. Die Welt um uns verändert sich. Das Tal, wie die Berge. Der Clan der Silberkrähen hat beschlossen, den Werken von Dämonen und Geistern die Stirn zu bieten.
    Wir bitten um ein Treffen am Mittag des Nuhntedag.
    Treffpunkt soll der Wegestein am Middenberg sein.
    Mögen die Winde dir den Rücken stärken.

    Der Nuhntedag; die Nordmar zählten in Zyklen von 13 Tagen, dieser war der neunte und wenn Hermann sich nicht irrte, dann war dies bereits in sieben Tagen. Der Hauptmann sog scharf Luft ein. Die Nordmar suchten das Gespräch mit der königlichen Armee. Dies war seit Jahren nicht mehr geschehen. Warum jetzt? Warum erst jetzt?


    IV In Gefangenschaft
    Im Jahre des Addo 389, Irgendwann am 12. September
    Frank
    Das Erste was Frank spürte waren seine Beine. Hände packten seine Knöchel. Etwas presste gegen seinen Rücken, nein, er wurde gezogen! Langsam, nach und nach, kehrten seine Sinne wieder. Die Flucht, das Pferd, der Sturz. Die Erinnerungen brachten scharfe Schmerzen mit sich. Eine Rippe pulsierte dumpf, seine linke Schulter war geprellt; sie hatte seinen Fall abgefangen. Frank ächzte, zwang sich aber zur Beherrschung. Erst die Situation einschätzen, erst die Umgebung beobachten! Quietschende Scharniere deuteten auf eine Tür hin. Er wurde hindurchgezogen, seine Schädel pochte dumpf auf eine steinerne Schwelle. Zwei Stufen ging es hinunter, er spannte seine Schultern, und verhinderte einen zweiten Stoß. Hier angekommen wurden seine Beine aus dem Griff befreit, seine Träger verließen den Raum.
    „Gute Nacht!“, sagte eine kehlige Stimme, dann krachte die Tür ins Schloss.
    Frank blickte auf. Ein schmaler Lichtstreifen, von einer Fackel vermutlich, drang durch ein Guckloch in der Tür. Eine Erdhöhle, ein paar Meter Platz, feuchter Boden, Wurzeln hingen von der Decke, eine Holztür, vermutlich mit einfachem Schloss. Er setzte sich gegen eine Wand auf und betastete seinen Körper. Seine Rippe war gebrochen, keine Frage, und seine Schulter protestierte bei der kleinsten Bewegung. Es hätte schlimmer kommen können. Im Stillen dankte er den sieben Wächtern, auch wenn er nicht an sie glaubte. In der Not werden die Ketzer gläubig, hatte er einmal einen Priester sagen hören. Die unzähligen Blessuren, Schürfwunden und Prellungen, die er am ganzen Körper spürte, machten es ihm unmöglich eine entspannte Haltung zu finden, aber er beschloss, sich ein paar Stunden Ruhe zu gönnen. Etwas Zeit brauchten seinen Wunden. Er musste hier raus, natürlich musste er raus, aber so konnte er nicht einmal rennen. Und Erik müsste er mitnehmen. Wie es dem wohl ging?
    Die Zeit verfloss, wie lange war schwer einzuschätzen. Die Rippe pulsierte nicht mehr so heftig, war nun dick geschwollen. Das Beißen der frischen Schürfwunden hatte sich in Taubheit gewandelt. Er bewegte probehalber seinen linken Arm, die Schmerzen schossen sofort wieder in die Gelenke. Noch etwas Ruhe. Frank rutschte an der Wand hinab und dämmerte weg.
    Als er wieder erwachte, war er steif. Er berührte seine Wange und spürte Schorf. Fünf Stunden, mindestens, vielleicht auch viel mehr. War es Nacht? Geräusche waren keine zu hören, außer – er bewegte sich vorsichtig zur Tür. Durch die Luke fiel immer noch ein Streifen warmen Lichts. Er sah den Gang, durch den er gezerrt worden war. Ebenso ein einfacher irdener Tunnel, der sich nach links und rechts fortsetzte, außerhalb seines Blickfelds. Frank schloss die Augen und horchte genau hin. Fetzen von Gesprächen in der Ferne, hörbar, wenn jemand rief oder laut lachte. Und noch etwas war dort: viel näher, aber ebenso leise. Jemand atmete leise und gleichmäßig, jemand im Tunnel – rechts im Gang.
    Frank kniete sich vor die Tür. Sein Kiefer arbeitete, wie er den Schmerz herunterschluckte und sich keinen Ton gestattete. Das Schloss war recht groß, der Schlüssel dazu musste grob und einfach sein. Ruhig sortierte er seine Gedanken: Die schwere Tür, eine schlafende Wache, Gespräche weiter außerhalb, vermutlich ein halbes Dutzend Männer, vielleicht war es Nacht. Frank fasste einen Entschluss: Er löste die Schnüre seines rechten Lederschuhs, zog ihn aus und schob seine Hand hinein. Drei kurze metallene Stifte und ein dicker Draht kamen hervor. Er wählte die zwei dickeren, einer davon hatte einen Haken an der Spitze. Behutsam schob er das Eisen ins Schloss. Metall rieb auf Metall, nur eine falsche Bewegung und er würde die Wache wecken. Doch er hatte Glück und es dauerte nicht lange, dann ertönte ein leises Klicken. Frank zog vorsichtig an der Tür: Sie gab nicht nach. Wieder versuchte er es mit dem Dietrich. Er fand die richtige Stelle und hebelte. Mit einem lauteren Klacken sprang das Schloss auf. Frank hielt inne. Immer noch hörte er das gleichmäßige Atmen und sein Herzschlag beruhigte sich wieder. Er verstaute seine Werkzeuge, öffnete langsam die Tür, hob sie dabei leicht an, um zu verhindern, dass die Angeln quietschten. Ebenso langsam und bedächtig schob er sich in den Gang. Zu seiner Linken macht der Gang eine Kurve. Zu seiner rechten sah er zwei Stiefel, die aus einer Einbuchtung in den Gang ragten. Vorsichtig näherte er sich, die Anspannung vertrieb die Schmerzen. Er schlich bis zur Einbuchtung. Ein rundlicher Mann, ungepflegt und dreckig. Keine Uniform. Er schlief fest, saß auf einem Schemel und lehnte gegen die Wand. Frank wägte seine Optionen ab. Er sah den Prügel quer über seinen Beinen, sicher gehalten zwischen seinen dicken Fingern, und seinen Speer, der hinter ihm an der Wand lehnte. Den Knüppel aus der Hand zu reißen war schwer möglich, denn auch schlafende hatten noch manche Reflexe. Frank hatte einen Einfall. Er baute sich vor der Wache auf, so dass der Fackelschein sein Gesicht im Schatten ließ. Er stieß mit seinem Fuß gegen das Bein des Mannes.
    He!“, sagte Frank barsch. „Deinen Prügel!“
    Frank griff nach dem Stock in der Hand der Wache. Doch dieser ließ nicht los.
    „Was ist...?“, brabbelte die Wache verdattert.
    „Dein Knüppel hab ich gesagt! Der Boss will, dass ich mich um die Gefangenen kümmere!“
    Frank gab sich größte Mühe einen festen Befehlston abzugeben, seiner Angst und Aufregung zum Trotz. Mit einem genervten Stöhnen ließ die Wache den Knüppel los. Er lehnte sich nach vorne und rieb sich die Augen.
    „Was´s los? Warum-“
    Das Holz machte ein dumpfes Geräusch, als es gegen den Schädel prallte. Der Wachmann stürzte nach vorn und blieb liegen. Frank atmete schwer und seine Anspannung wich langsam wieder aus seinem Körper. Er sammelte sich und machte sich daran die Wache auf den Stuhl zu hieven, was wegen seiner Masse nicht ganz leicht war.
    „Fettes Schwein“, beschwerte sich Frank bei dem Ohnmächtigen.
    Als er ihn wieder aufgesetzt hatte, fiel sein Blick auf den Speer. Nach kurzer Überlegung ließ Frank den Prügel zurück und entschied sich für die andere Waffe. Er lag gut in der Hand, der Schaft war stabil und die Klinge blank. Bewaffnet und mit geschärften Sinnen setzte er seine Flucht fort. Der Gang führte leicht aufwärts, bis das Ende sichtbar wurde: Es war ein einfacher Holzverschlag. Einen Spalt breit öffnete er ihn. Eine Welle der Erleichterung durchströmte seinen Körper, denn er atmete frische Luft und sah über sich den nächtlichen Sternenhimmel. Die Dunkelheit kam Frank gerade recht. Er schlüpfte durch die Tür und die Gespräche waren jetzt laut vernehmbar. Man sprach übers Jagen und über erlegte Beute. Er presste sich an die Seite des Ausgangs. Diffuser Feuerschein bot gerade genügend Licht, um seine Umgebung zu erkennen: Er befand sich in einer kreisrunden Grube, sie spann ungefähr fünfzehn Schritte im Durchmesser. Die obere Kante war ringsum mit hölzernen Spießen versehen, vermutlich, um zu verhindern, dass jemand herauskletterte. Drei weitere Tunneleingänge waren erkennbar, alle verschlossen und einer davon besonders breit und mit einem Fallgatter versperrt. Frank entdeckte eine Stelle im Ring, an der steile Stufen und dicke Wurzeln einen Ausweg ermöglichten. Er sammelte sich und setzte sich in Bewegung, entlang der Erdwand. Den Speer klammerte fest in den Händen. Er wusste sehr genau, dass die Situation für ihn kaum einzuschätzen war, dass sein Unterfangen sehr riskant war und dass er wohl möglich geradewegs in die Höhle des Löwen spaziert war. Frank erreichte den Aufstieg und begann zu klettern. Wieder straften ihn seine Wunden, seine Schulter protestierte, sein Herz schlug aber höher, mit jedem Stück ein bisschen mehr. Er erreichte die Kante, zog sich empor und blickte auf. Vor ihm, zwei Lederschuhe. Ein Mann lächelte auf ihn herab, eine markante Narbe zierte seinen kahlen Schädel, seine Arme waren verschränkt. Eine kehlige Stimme ertönte:
    „Ich hab dir doch schon mal gute Nacht gesagt, oder nicht?“
    Unvermittelt trat er Frank gegen die Brust. Er verlor den Halt, fiel herab und prallte hart auf den Lehmboden. Er rang nach Luft. Erst der Tritt, dann der Sturz auf den Rücken und wieder ächzte sein malträtierter Brustkorb.
    Seht mal Jungs! Ein frisch geschlüpftes Küken!“, rief der Mann mit einem breiten Grinsen.
    Schwach und schwindelig raffte Frank sich auf. Tränen schossen ihm in den Augen, Frustration und Schmerz spülten sie hervor. Frank hörte die eiligen Schritte der Mannschaft. Er blieb auf den Knien und legte den Speer quer über seine Beine. Was jetzt geschah lag nicht mehr in seinen Händen. Weitere Gestalten erschienen hinter dem Kranz von hölzernen Spießen.
    „Sieht so aus, als würden wir heute noch ein bisschen Spaß bekommen!“, schallte die kehlige Stimme.
    „Nun gut...“, er rieb sich die Hände und sah zu den Männern „...ihr Beide, schaut nach, was mit seiner Zelle ist.“
    Er suchte nach einem weiteren Kandidaten für seine Befehle.
    „Hol Greg!“, schickte er einen weiteren Mann weg.
    Der Auserwählte sah nicht besonders glücklich über seine Aufgabe aus, hielt aber seinen Mund geschlossen. Zwei junge Männer kletterten hinab, machten einen Bogen um Frank und verschwanden in demselben Eingang, aus dem er gekommen war.
    „Sollen wir Leto Bescheid geben?“, fragte einer der Beistehenden.
    Der Mann mit der Narbe blickte nachdenklich, schüttelte dann aber den Kopf. Die beiden Männer, die nach Franks Wache geschaut hatten, kamen wieder in die Arena.
    Yorrick!“, rief einer von ihnen aufgebracht. „Unsere Wache ist ausgeschaltet. Und die Tür war offen!“
    „Ha, nicht schlecht!“ Yorrick nickte anerkennend und rieb sich den kurzen Bart. „Dann kommt raus, wir fangen gleich mit der ersten Runde an.“
    Die beiden Laufburschen hatten es auf einmal furchtbar eilig die Grube zu verlassen. Frank konnte diese Situation gewissermaßen einschätzen: Er wusste, dies waren keine Soldaten. Aber es waren ganz sicher auch keine ahnungslosen Strolche. Eine stramme Organisation wie diese kannte er so nur aus der Armee, oder, selten auch bei den kriminellen Banden von Middenheim. Was nun geschehen sollte, beunruhigte ihn jedoch. Diese erste Runde hörte sich nicht gerade nach einem Tanzwettbewerb an. Er rappelte sich auf, umklammerte seinen Speer und sah sich in alle Richtungen um. Immer mehr Köpfe erschienen über den gespickten Rand. Man stellte Fackeln auf und einige hielten Steine in ihren Händen.
    „Hör zu, Kleiner...“, sagte Yorrick und ging in die Hocke, „...wir werden jetzt dieses Gatter öffnen.“
    Er deutete auf die Tunnel auf der gegenüberliegenden Seite.
    „Das ist deine erste Prüfung.“ Er breitete seine Arme aus und lächelte unschuldig. „Bestehst du sie, bist du einen Schritt näher an deiner Freiheit. Verstanden?“
    Frank nickte und die Menge begrüßte Yorricks kleine Ansprache mit lautem Gegröle. Die gleichen Zwei, die nach den Zellen geschaut hatten, eilten zu den Gattern. Frank beobachtete sie. Sie packten eine Winde und zogen kräftig. Stück für Stück, in unheilvollem Takt, hob sich das Gatter und im gleichen Takt wuchs Franks Anspannung. Das Gitter rastete mit lautem Klacken ein. Erneutes Gebrüll brauste auf.
    Keine Wölfe bitte, bloß keine Wölfe!
    Frank wiederholte den Gedanken wie ein Stoßgebet, als täte es irgendeine Wirkung, würde er es nur häufig genug runterbeten. Wäre er doch nur öfter in die Kirche gegangen! Dunkle Umrisse zeigten sich in der finsteren Öffnung. Franks Herz stockte für einen Augenblick, doch dann wollte er fast schreien vor Freude: Ein Scavenger stakste in die Arena, ein harmloses Männchen, zwei Köpfe kleiner als er. Die Menge begrüßte den Laufvogel lautstark. Doch das Blatt wendete sich und Franks Erleichterung verpuffte so schnell, wie sie erwacht war, als ein ausgewachsenes Weibchen aus dem Tunnel trat. Mannshoch, blutunterlaufene, aggressiv zuckende Augen und ein mächtiger, mit Scharten übersäter Schnabel: Das Zeugnis vieler erfolgreicher Revierkämpfe.
    Die Laufvögel, gestresst und desorientiert, wie sie waren, bemerkten Frank erst gar nicht. Steine und Dreck flogen aus der Menge, was die Tiere weiter anstachelte. Frank blieb ganz still. Ein Stein traf das kleine Weibchen am Hals. Das Männchen reagierte, sein Beschützerinstinkt geweckt, zuckte mit seinem Kopf herum, fokussierte den Übeltäter und rannte drauf los. Doch an der Wand endete der Ansturm, tanzte nach links und rechts. Zwischen seinen zwecklosen Drohrufen hackte es in die Wand und hinterließ tiefe Einkerbungen im lockeren Lehm. Frank erkannte seine Gelegenheit. Er eilte am Rand entlang, stapfte durch den schlammigen Untergrund, pirschte sich näher heran. Das Weibchen hatte ihn nicht bemerkt und war noch ein gutes Stück entfernt. Frank erhöhte seine Geschwindigkeit. Nur noch ein paar Schritte. Im letzten Moment drehte das Männchen seinen Kopf, doch Frank war schon da. Er stach mit dem Speer in die Flanke. Der Vogel zappelte hilflos, erschlaffte aber schnell und mit einem letzten Gackern erloschen die schwarzen Augen. Die Menge feierte Frank für seinen Erfolg, doch der hatte keine Zeit dafür. Das viel größere Weibchen hatte ihn in seinen Blick gefasst. Es schob seinen Kopf hin und her, das Zeichen für einen Attacke: So schätzten diese Vögel Distanzen ein. Frank wartete nicht länger, er hatte einen Plan. Er riss den blutigen Speer heraus, wendete auf der Stelle und rannte den Weg zurück, den er gekommen war. Er warf einen kurzen Blick nach hinten, der Scavenger hatte die Verfolgung aufgenommen. Das Tier war schneller als Frank, viel schneller. Frank erreichte eine Stelle, wo der Boden nass und weich war. Mit einem weiten Satz, den Speer in den Boden rammend, stieß er sich ab und flog in hohem Bogen über die Pfütze aus tiefem Matsch. Er strauchelte, fing sich und war bereit. Der Vogel holte auf, in vollem Lauf, trat mit seinen breiten Klauenfüßen in den Schlamm und Frank tat einen Satz zur Seite. Der Scavenger versuchte seine Richtung zu korrigieren. Er rutschte aus, strampelte mit den Beinen, stürzte nieder und schlitterte Frank vor die Füße. Tief trieb Frank die Klinge durch den Hals des Tiers, bis in die Erde darunter. Die Menge schrie, Blut strömte den Speer herab und Frank atmete wieder frei. Das Tier zuckte hilflos, spuckte roten Schleim und schließlich, mit einem letzten Erbeben seines Körpers, endete sein Todeskampf.
    Frank zog seinen Speer aus dem Körper, stützte sich auf den Schaft und nahm mehrere tiefe Atemzüge. Seine Verletzungen machten ihm zu schaffen und er spürte, wie schnell er erschöpfte. Kaum Schlaf, kein Wasser, keine Nahrung. Allmählich kamen die erheiterten Zuschauer zur Ruhe. Frank entdeckte Schadenfreude, Hohn, aber auch Anerkennung und Respekt in ihren Gesichtern. Yorrick erhob das Wort.
    Ist Greg hier?“, rief er.
    Die Menge teilte sich und gab einen gedrungenen Mann frei. Sein Gang war selbstgefällig, seine Kiefer mahlte.
    „Was haben wir denn heute angeschleppt?“, rief er, schnarrig und voll widerlicher Schadenfreude.
    Er rieb sich genüsslich die Hände und leckte sich über die Lippen. Seine Augen waren unruhig, rastlos. Er starrte erst Frank und dann Yorrick mit suchendem Blick an.
    „Er hat die beiden Federviecher erlegt.“, sagte Yorrick.
    Sein Ton war eher nüchtern, als hätte er selbst weniger Freude an dem was er tat, zumindest weniger als bei den Scavangern.
    „Wir brauchen dich für Runde zwei.“
    Es war irritierend, wie Greg seine Augen starr auf Yorrick hielt, bis dieser ausgeredet hatte. Fast, als wäre er sonst nicht fähig seine Worte zu verstehen. Frank kannte diese Art von Mensch. Unfassbar dumm und zu keinem Teil im Bewusstsein dessen, sozial unfähig, aber randvoll mit falschem Stolz. Die Daseinsberechtigung dieser Männer war auch ihr einziges Talent: Ihr Hang zur Grausamkeit. Sie erledigten das, was den meisten zu weit ging, zumindest, wenn sie es selbst tun müssten. Sie waren ein unersetzliches Werkzeug in den Organisationen von Gesetzeslosen. Greg schob seinen Unterkiefer nach vorne, nickte eifrig, zuckte mit den Schultern, leckte seine Lippen. Yorrick gab den Wärtern, die das Gatter gehoben hatten, ein Handzeichen.
    „Welchen der Zwei?“, fragte einer, bevor er hinabstieg.
    Yorrick zog gleichgültig die Mundwinkel herab. „Einen, der bei Bewusstsein ist.“, sagte er mit einem Schulterzucken.
    Frank begriff. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Er würde gegen einen Gefangen kämpfen. Und sein Bruder war einer davon. Die ganze Zeit über hatte er versucht zu entkommen, sich auf sein Überleben konzentriert. Aber dabei hatte er keinen Gedanken mehr an Erik verschwendet. Und jetzt, jetzt musste er gegen ihn kämpfen? Seine Gedanken rasten.
    Fluchtversuch? Unmöglich. Verhandeln? Blödsinnig.
    Er probierte es trotzdem.
    Reicht es nicht langsam?“, brüllte er.
    Die Worte kamen aus ihm heraus, bevor er darüber nachdenken konnte. Es waren seine ersten Worte überhaupt. Die Verblüffung stand den Zuschauern ins Gesicht geschrieben. Yorrick verschränkte die Arme.
    „Kann ich dir bei was helfen?“ Er legte den Kopf schief und hob die Brauen.
    „Die Biester waren zäh!“, sagte Frank und deutete mit dem Speer auf den Leichnam neben sich. „Reicht das nicht? Ich kann kämpfen, das seht ihr doch!“
    Er erntete für seine Dreistigkeit Gelächter aus der Menge. Greg fühlte sich offenbar angesprochen und beugte sich nach vorn.
    „Pass mal auf: Ob das reicht, sagen wir. Und wenn du tot bist, dann reicht das auch! Oder Leto sagt was anderes, verstehste?“
    Dieses Mal war Frank mit dem starren Blick von Greg konfrontiert. Frank blieb stumm und biss die Zähne zusammen, während sich ein albernes Wettstarren entwickelte, als würden zwei trotzige Kinder auf ihren Standpunkt bestehen. Doch sie wurden unterbrochen: Eine Tür schwang auf. Ein Mann trat heraus, es war einer der beiden Wärter. Frank schloss die Hände fester um seinen Speer, seine Knöchel wurden weiß, seine Schultern spannten sich, sein Kiefer mahlte. Eine zweite Gestalt kam aus der Tür. Sie humpelte. Es war keiner der Arenahelfer. Und vor allen Dingen: Es war nicht Erik!
    Es war der Mann, der mit ihnen auf dem Pferd geflüchtet war! Der Mann, der den Händler und seine Kameraden im Stich gelassen hatte, so wie Frank selbst auch. Frank spürte, wie eine Woge der Erleichterung seine Sorgen hinfort wusch, wie sein Nacken und seine Hände sich entspannten. Er schloss kurz die Augen und sandte ein Stoßgebet an die sieben Wächter, ob sie ihn hören mochten oder nicht, er war dankbar! Einer der Wärter winkte jemandem oberhalb zu. Man warf ihnen zwei Holzstöcke herunter. Einen hielt er dem etwas begriffsstutzigen Gefangenen hin, doch er nahm ihn entgegen, wenn auch zögerlich. Frank hielt seine Waffe locker in der rechten Hand.
    „Boss! Was ist mit seinem Speer?“, rief der Wärter.
    Yorrick legte die Stirn in Falten. Nach kurzem Überlegen sagte er:
    „Lass ihm den, hat er sich verdient!“
    Regeln, das war so eine Sache unter Gesetzeslosen und in diesem Fall zugunsten Franks galt das Recht des Stärkeren im Zweifelsfall immer. Eilig verließen die beiden Wärter wieder die Arena. Die Aufregung unter den Zuschauern wuchs. Franks Leidensgenosse sah ihn fragend an.
    „Was ist hier los?“, sagte der Gefangene mit ängstlicher Stimme.
    Man konnte ihm ansehen, dass er sich wünschte, Teil eines schlechten Scherzes zu sein. Frank konnte schon erahnen was nun passierte und wich daher seinem Blick aus.
    Aufgepasst!“, rief Yorrick aus voller Kehle.
    Der Anführer machte eine bestimmende Geste. Er schien kein Mensch für große Reden zu sein, denn seine kehlige Stimme raubte ihm die Kraft. Sein Befehlston machte es jedoch wett.
    Runde Zwei!“, rief er. „Der einzige Weg aus der Arena heraus führt nur durch euren Gegner hindurch. Der Gewinner hat eine Chance im Lager aufgenommen zu werden, gesetzt dem Fall ihr versteht euch gut mit Leto.“
    Einige Männer lachten, andere blickten bitterernst.
    „Oh, und wenn ihr nicht kämpfen wollt, dann hilft Greg euch auf die Sprünge.“
    Greg leckte wieder über seine Oberlippe und jemand reichte ihm einen Bogen und ein Bündel Pfeile. Wie ein guter Schütze sah er nicht aus, auf diese Distanz war das aber auch nicht nötig
    „In Ordnung“ Yorrick stemmte die Hände in die Hüfte. „Viel Glück“, sagte er trocken.
    Damit war der Kampf eröffnet. Die Zuschauer brachen ein in tosendem Gejaule. Jubel und Beleidigungen vermischten sich mit den Rufen eines Wettschreiers, der Münzen annahm und sie in einem Büchlein notierte. Das Durcheinander und die Aufregung waren ohrenbetäubend. Frank und sein Gegenüber sahen sich an.
    „Das kann doch nicht wahr sein, oder?“, sagte der Mann, die Augen geweitet, die Hände zitternd. „Ich hab keine Lust mich für diese Schweine blutig zu prügeln!
    Er musste schreien, um verstanden zu werden. Frank sah sich um. Die Stimmung war schwankend und schlug langsam um. Die blutrünstige Menge spottete. Einige warfen schon mit Dreck.
    „Doch, müssen wir.“, sagte Frank. Sein Ton war nüchtern und kühl.
    Kein Ausweg, außer mit dem Kopf durch die Wand. Er sah Greg an, ihn und sein breites Grinsen. Er sah seinen Gegner an. Und auf seinen Speer.
    „Tut mir leid, mein Freund.“, murmelte er.
    Frank machte zwei entschiedene Schritte vor. Panik erfasste seinen Gegner. Seine Augen waren weit geöffnet, er hob seinen Prügel vor sich. Frank hob in einer fließenden Bewegung zum Stoß an, der Mann reagierte und schlug mit viel zu viel Wucht nach dem Speer. Franks Angriffsbewegung stockte ruckartig, er hatte mit der Parade gerechnet: Die Keule fuhr ins Leere. Sein Speer zuckte voran. Tief versenkte Frank die Spitze in der Brust des Mannes. Das Geräusch war brutal und ekelhaft: Das Eisen, das das Fleisch schnitt und auf den Rippen schabte. Das Brüllen der Menge drückte in seinen Ohren. Er ließ den Speer los, wandte sich ab. Er wollte dem Mann nicht beim Todeskampf zusehen. Es widerte ihn an, auch, dass es seine Hände gewesen waren. Der dumpfe Aufprall des Körpers wurde geschluckt vom Grölen der Menge. Ihre rücksichtslose Begeisterung drückte auf ihn nieder. Er fuhr sich über die schweißnasse Stirn und ging entschlossenen Schrittes zum Ausstieg der Arena.
    Geändert von GesustheG (06.04.2021 um 12:56 Uhr)

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    KAPITEL 3
    I Der Bote und der Waisenjunge
    Im Jahre des Addo 389, Am Morgen des 13. September
    Gero & Ferdinand
    Gero brach früh auf. Er ließ sein Pferd im Hof von Eichenbruck, denn der wacklige Steg, der den Gebirgsfluss überbrückte, war zu unsicher für sein Reittier. Quentin verlangte gnädigerweise nur eine kleine Entschädigung für die Haltung. Ferdinand begleitete ihn, denn der Junge kannte den Weg.
    „Keine Sorge, dieser Steg ist auch schon der gefährlichste Teil deiner Reise.“, rief Ferdinand vom anderen Ufer herüber.
    Seine Stimme wurde beinah vom Brausen der oberen Neige geschluckt. Der Junge war ein geschickter Kletterer, und dass er schlank und jung war, half auch die Bretter furchtlos zu überqueren. Der Strom unter Geros Füßen rauschte und gurgelte und das Wasser floss steil und schnell und die Trümmer der alten Brücke bremsten es nicht, nein, sie sorgten nur für weitere Verwirbelungen. Er zwang sich weiterzugehen, aller Angst zum Trotz. In Geros Augen verstrich auf den wackligen Brettern eine Ewigkeit, doch schließlich erreichte er trockenen Fußes das andere Ufer.
    „Beim nächsten Mal ist es einfacher!“, versuchte Ferdinand ihn aufzumuntern. „Auf geht´s!“
    Sie erklommen die steile Böschung, bis zur Straße hinauf. Von hier aus konnte man die Felswände, die Klippen und Schluchten sehen, die das Tal zu allen Seiten begrenzten. Die Bedeutung des Wortes Kessel wurde Gero nun vollständig klar: Die Steilwand im Norden, die trügerischen Geröllhänge im Süden und das Vorgebirge im Osten, wo das Land der Clans begann und die Wege verworrener waren als die Häfen der Sichelküste; all diese Felsmassen dienten als natürliche Begrenzung. Was früher ein strategischer Vorteil gewesen sein mochte, waren nun die Gitterstäbe einer Zelle, mit tausenden Insassen und den Ausmaßen eines ganzen Tals. Gero warf einen letzten Blick nach hinten. Der Bergfried von Eichenbruck stach dort in den Himmel. Der nutzlose Tunneleingang mahnte vor den seltsamen Ereignissen im Kessel. Ferdinand drängte zum Aufbruch, er war schon ein paar Schritte gelaufen und der Bote folgte. Die Reise war einfach. Die Straße hatte zwar unter dem Mangel an Verkehr gelitten, Kräuter und Gräser drückten die Steine auseinander, aber zu Fuß war dies keine Hürde. Nach einer Weile blieb Ferdinand stehen, damit sein Begleiter zu ihm aufschließen konnte. Sie liefen nebeneinander, der Lehrling blickte grübelnd zu Boden.
    „Seid ihr königstreu?“, fragte er, ganz unverblümt.
    „Ob ich königstreu bin? Ich bin Soldat!“, sagte Gero empört.
    „Ich meine, seid ihr... nun ja, loyal? Oder anders: Interessiert ihr euch für die Politik des Hofes oder ist der König für euch nur ein tiefer Geldbeutel?“
    Gero runzelte die Stirn über diese Frage.
    „Weder noch! Ich interessiere mich nicht für Politik. Aber der König ist auch nicht nur mein Geldgeber! Ich habe einen Eid geschworen, falls du das meinst.“
    Ferdinand grunzte bloß.
    „Also? Worauf willst du hinaus?“, sagte Gero.
    „Ja, ja, ich denke nach.“ Der Junge wedelte mit der Hand.
    Für sein Alter war dies eigentlich eine respektlose Geste, erst recht gegenüber einem Gesandten des Königs. Der blonde Junge hob den Finger, setzte an, schwieg dann aber doch. Er atmete ein zweites Mal tief ein.
    „Wie ihr sicherlich wisst, ist der Lehnsmann des Tals weder Teil der Armee noch des Adels, nicht wahr? Seine Verpflichtungen sind an einen Vertrag gebunden. Er hat die Verwaltungspflicht der ihm zugeteilten Soldaten, er erhält keinen Sold, aber eine Entlohnung zum Ende seines Dienstes – das heißt, sollte er zur Zufriedenheit des Königs handeln.“
    Ferdinand war sich seiner schnellen Art und Weise zu reden bewusst, also legte er gnädigerweise eine kurze Gedankenpause ein.
    „Das heißt...“, fuhr er fort, „...dass die Entlohnung, Land oder Gold oder was auch immer, dass sie nicht nur aussteht, nein, sie könnte sogar gänzlich ausbleiben, oder?“
    „Verstehe. Du willst die Loyalität der Soldaten hier in Frage stellen.“ Gero blickte stolz in die Ferne, seine Züge starr.
    „Nein, ich will euch einen Hinweis geben!“, fuhr Ferdinand mit einer beschwichtigenden Geste fort. „Und zwar, dass ihr eure Lage überdenken solltet.“
    Gero schüttelte den Kopf. „Ich habe mich verpflichtet und ich bin an einen Eid gebunden! Und ich habe einen Auftrag.“
    „Was auch immer der sein mag, ich spare mir natürlich die Nachfrage. Ihr solltet jedoch ganz einfach bedenken: König und Hoheit sind für die Menschen im Talkessel keine allzu schönen Schlagwörter.“
    „Das sind sie beim gemeinen Volk doch nirgendswo!“
    „Das mag sein, aber hier kriegen die Soldaten keinen Sold. Sie bedienen sich stattdessen an den Bauernhöfen und den Bürgern in Neigenbau. Sie nennen es Tribut, ich würde es eher… Raubrittertum nennen.“
    Gero seufzte. „Ich werde mir selbst ein Bild machen. Die Männer haben immer noch einen Eid geschworen.“, sagte er mit fester Stimme.
    Schweigend setzten sie ihren Weg fort. Rechts der Straße lag ein alleinstehendes Bergmassiv, riesige Geröllhalden schmiegten sich mancherorts an die Bergflanken. Eine zerschmetterte Lore lag zwischen den losen Gesteinsbrocken, der Sturz musste sie zerstört haben. Ferdinand unterrichtete seinen Begleiter von der Geschichte dieses Berges: Man nannte ihn den Hohlen Zahn, denn die Löcher unzähliger Minenschächte zierten den gesamten Berg auf allen Seiten. Das Massiv war beinahe ausgehöhlt worden, bis es zu einem Einsturz kam und man die Arbeiten einstellen musste. Es war eine der ersten Katastrophen, die den Kessel erschüttert hatten. Unzählige Menschenleben waren der Preis. Ihre Leichname wurden nie geborgen.
    Eine Kreuzung kam in Sicht. Die Straße setzte sich in zwei Richtungen fort: Nach Norden und Osten. In der Ferne, im Osten, kräuselten sich Rauchfahnen aus den Schornsteinen von Neigenbau gen Himmel. Der Herbst stand vor der Tür, die Apfelernte würde bald beginnen, und während die Sonne zwar noch wärmende Strahlen sandte, mussten in manchen Nächten die Menschen bereits die Öfen anheizen.
    „Ihr müsst dort entlang.“, sagte Ferdinand und deutete nach Norden, wo der Weg noch überwucherter war als die Pflasterstraße.
    „Der Pfad endet bei einer Ruine, sie sieht von weitem leer aus, aber dort sitzt der Lehnsmann.“
    „In Ordnung“ Gero rückte seine Tasche zurück. „Habt Dank!“
    „Eine Sache noch! Spielt den Unbeteiligten. Nicht ihr vertretet den Brief, der Brief vertritt den König.“
    Bevor Gero etwas erwidern konnte, drehte sich Ferdinand schon um und rief eine saloppe Verabschiedung über die Schulter. Gero schüttelte den Kopf und grummelte leise vor sich hin. Die unvorsichtige Respektlosigkeit vor Rang und Alter Seitens des blonden Jungen überforderte ihn ein wenig.
    „Dreister Bengel“, entwich ihm mit gedämpfter Stimme.
    „Zu ihren Diensten!“, antwortete Ferdinand lautstark und schenkte ihm eine Verbeugung, bevor er hinter der Biegung verschwand.
    Ferdinand hatte es nicht sehr weit bis zu seinem Ziel, die Schmiede im Krämerviertel, diesseitig der Neige. Geros Weg war nicht viel weiter, führte jedoch nicht über befestigte Straßen, sondern über Trampelpfade und grüne Hügel.


    II Der Schmiedemeister
    Im Jahre des Addo 389, Am Vormittag des 13. September
    Ferdinand & Boris
    Boris ließ den Stahl singen. Der Schweiß rann in dicken Tropfen seinen kahlen Schädel hinab und in seinen buschigen, mit Brandlöchern übersäten Bart. Es war ein gutes Eisen, teuer erstanden vom Clan der Silberkrähen. Eine besondere Legierung; Das Geheimnis um die Zutaten wurde streng gehütet. Nach sechs Schlägen war das rubinrote Glühen erloschen und der Schmied schob das Eisen wieder in die Esse. Boris sinnierte darüber, was er mit dem Rohling tun würde. Drei Ellen lang war es, er könnte es stauchen, um die Hiebe einer solchen Klinge wuchtiger zu machen. Er könnte sie ausdünnen, was das Schneiden leichter machte, aber dabei die Stabilität verringerte. Er bewegte das Eisen in den Kohlen, seine Bewegungen waren geübte Routine. Mit einer kurzen Zange hielt er es auf den Amboss, wieder sechs Schläge. Langsam, aber stetig formte sich der Stahl. Ferdinand erschien unter dem Vordach des Schmiedehauses.
    „Meister“, begrüßte er seinen Lehrer höflich.
    „Ah, Fred! Kohle schippen!“
    „Was machen wir?“
    Boris tat gerade wieder sechs wohl platzierte Hiebe auf das Eisen.
    „Schmelzen. Und dann ein paar Schaufelköpfe.“, sagte er, während er das Eisen wieder vom Amboss zur Esse brachte. Boris war eine wortkarge Person. Er konnte viel reden, aber nur, wenn er es für wichtig empfand, was meistens nicht der Fall war. Ferdinand hatte ihn einmal gefragt, warum er ihn Fred nannte.
    „Hab ich Zeit für deinen langen Namen?“, war seine Gegenfrage damals gewesen.
    Ferdinand umrundete den Schmelzofen, öffnete die Luke und besah die Kohle am Ofenboden. Eine dünne Schicht Glut war noch übrig. Das Schaufeln brachte ihn ordentlich ins Schwitzen. Ferdinand war zwar nicht mehr im zierlichen Kindesalter, ein erwachsener Mann hätte dennoch weniger Schwierigkeiten gehabt. Er verschloss die Luke wieder und kehrte zurück. Boris kühlte gerade das Eisen mit einem Lappen. Ferdinand hatte gelernt, dass man ein Eisen nur dann im Wasserbad aushärten sollte, wenn man es nicht mehr formen wollte.
    „Was wird geschmolzen?“, fragte der Junge.
    Der Schmied nickte zu einem wirren Haufen neben der Esse. „Hufeisen, Gerümpel, Erz.“
    Ferdinand fing an die Teile in die Schmelztiegel zu füllen. Manche Stücke mussten gebrochen werden, damit sie in die Behälter passten. Insgesamt acht Gefäße konnten in dem Ofen Platz finden.
    „Meister, kann ich ein paar gute Hufeisen behalten?“
    Boris runzelte die Stirn, während er den großen Blasebalg des Schmelzofens bediente.
    „Und für was für ‘n Pferd willst du die mitnehmen?“, fragte er.
    Seine tiefe Stimme klang eher teilnahmslos als neugierig. Ferdinand war schlau genug Boris gegenüber Respekt zu zollen, aber manchmal kam er einfach nicht aus seiner Haut.
    „Ach naja, da ist so ‘n Gaul in Eichenbruck.“ Seine gespielte Beiläufigkeit war besonders dick aufgetragen.
    Von wem?“, platze es aus Boris heraus.
    Der Schmied sah ihn groß an. Seit Jahren schon hatte es keine Pferde mehr im Talkessel gegeben. Sie waren allesamt gleich im ersten Winter auf den Tellern ihrer Besitzer geendet, als man sich noch nicht auf die Situation eingestellt hatte.
    „Jemand kam durch den Wald. Ein Soldat.“, sagte der Junge.
    Boris aufgeregte Stimmung war für Ferdinand ein absolutes Novum.
    Und?
    „Viel weiß ich auch nicht. Er ist wohl ein Bote und er hat eine Nachricht für den Lehnsmann.“
    Boris hielt in seiner Arbeit inne. Auch ein Novum. Er legte die schwere Lederschürze ab, wusch sich die Hände und verschwand durch eine Tür im Schuppen.
    Befüll den Ofen!“, rief er noch heraus.
    Ferdinand war mit seiner Aufgabe fast fertig, als Boris wieder aus seinem Haus kam. Mit eiligen Schritten stapfte er auf Ferdinand zu.
    „Bring das zu Quentin!“
    Er hielt ihm einen versiegelten Brief hin.
    „Jetzt?“
    Ja jetzt! Los, ich mach das hier.“
    Ferdinand stellte hastig den letzten Tiegel ab und nahm den Brief entgegen. Beim Gehen rief ihn Boris noch einmal.
    Fred!
    Er senkte den Kopf und seine buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen.
    „Kein Wort von dem Brief, an niemanden!“
    Er wedelte mit der Hand, um den Jungen fort zu scheuchen und Ferdinand eilte gleich wieder zurück nach Eichenbruck. Auf seiner Reise spielte er oft mit dem Gedanken das Siegel zu brechen, um nur einen kurzen Blick auf die Zeilen zu erhaschen, entschied sich aber stets dagegen. Quentin würde ihn wohl eh einweihen.


    III Das Lager der Banditen
    Im Jahre des Addo 389, Am Morgen des 13. September
    Erik & Frank
    Erik erwachte. Sein Instinkt befahl ihm, sich aufzurichten, doch sein geschundener Körper verbat es. Um ihn herum herrschte vollständige Dunkelheit. Es roch nach feuchter Erde. Beim Versuch sich aufzustemmen schoss ein stechender Schmerz durch sein rechtes Bein. Schwindel überkam ihn. Erik wollte husten, doch sein Hals war zu trocken und er sank wieder auf den Rücken. Eine Ahnung seiner körperlichen Qualen wanderte durch seinen Körper – als würde sein Geist sich weigern sich das Leid seines Fleisches einzugestehen. Der Schwindel nahm zu, die Welt drehte sich und er glitt wieder in dunklen Schlaf.

    „Du hast einen langen Tag vor dir!“
    Frank war kaum bei Sinnen, als die unverkennbare kehlige Stimme ihn weckte. Sie hatten ihn in eine Hütte gesteckt, nachdem er seine Prüfung bestanden hatte und ein kratziges Strohbett war immer noch besser als überhaupt keines. Eilig raffte er sich auf.
    „Los geht’s, du wirst erwartet!“
    Yorrick ließ die Tür wieder zufallen. Frank wollte seine Häscher nicht warten lassen, was wohl fürs Beste war. Seine Wunden quälten ihn zwar nach wie vor, er erinnerte sich aber daran, dass es gestern noch viel schlimmer gewesen war. Er stolperte durch die Tür ins Tageslicht.
    „Hier lang“
    Die Stimme kam von links, Frank versuchte sich gegen das Lichter der blendenden Morgensonne zu orientieren. Seine schäbige Hütte schien nicht die einzige zu sein. Zu beiden Seiten setzten sich diese Holzverschläge fort. Gegenüber war ebenso eine Reihe von einfachen Hütten, angebaut an eine Palisade samt Wehrgang. Frank drehte sich zu Yorrick, der ungeduldig an einem maroden Vordach lehnte. Der Banditenhauptmann hielt ihm einen Wasserschlauch hin.
    „Du wirst deine Stimme brauchen.“
    Frank nahm tiefe Züge aus dem Schlauch, das kühle Wasser war wie eine Erlösung und brachte ihm sofort neue Stärke.
    „Also, hör zu, Neuer! Man nennt mich Yorrick. Ich bin für die Neuen verantwortlich. Und für alles andere, was ein bisschen Grips benötigt.“ Er nahm Frank den Schlauch wieder ab. „Wie heißt du?“
    Frank nannte seinen Namen.
    „Gut, Frank. Dein Auftritt gestern war nicht schlecht. Ein paar von den Jungs hast du beeindruckt.“ Er schnalzte mit der Zunge. „Dumm nur, dass deren Stimme erst mal einen feuchten Dreck zählt. Ich bringe dich jetzt zu Leto, der entscheidet alles weitere. Folg mir.“
    Yorrick ging voran. Nicht nur die Behausungen rings um seine Hütte waren schäbig. Auch alle weiteren Bauwerke, wenn man sie so nennen mochte, waren aus einfachen Materialien zusammengeschustert. Nur die Palisaden machten einen stabilen Eindruck mit ihren dicken Verseilungen und ordentlich abgebeilten Spitzen. Zu seiner Linken schmiegte sich die Häuserzeile an eine steile Böschung an deren oberem Ende eine weitere Palisade errichtet worden war. Offenbar war das Lager in Ringen organisiert. Andere Menschen sah Frank nicht, außer einem Wachposten auf dem Wehrgang. Yorrick brachte ihn zu einem Vorplatz, links und rechts waren zwei hölzerne Tore. Das rechte schien das Außentor zu sein, denn dahinter waren die Kronen hoher Bäume zu erkennen. Yorrick führte ihn eine leichte Steigung hinauf durch das Linke. Nach ein paar Schritten fand sich Frank auf einem kreisrunden Platz wieder. In der Mitte die Grube der Arena, die Frank letzte Nacht noch von innen hatte betrachten dürfen. Ringsum Holzhütten, diesmal in etwas besserem Zustand, mit Strohdächern und Fensterverschlägen, und jenseits der Grube ein Haus, das sich deutlich vom Rest absetzte. Es war ein ordentliches Fachwerkhaus mit kleinem Vorbau, einigen Fenstern, einem steinernen Fundament und einem mit orangenen Schindeln gedecktem Dach.
    Als sie das Haus erreichten, hielt Yorrick inne und musterte Frank von oben bis unten. Er rieb sich zögernd die Narbe auf seinem Schädel und reichte Frank wieder den Schlauch.
    „Wasch dein Gesicht!“
    Frank sah ihn ungläubig an. Seit wann achteten Gesetzeslose auf ihre äußere Erscheinung?
    „Wasch dir deine dämliche Visage!“, blaffte Yorrick ihn an. „Du wirst mir noch danken.“, murmelte er etwas leiser.
    Frank tat wie ihm geheißen und gab den Schlauch zurück. Yorrick öffnete die Tür, trat sich die Schuhe auf einer kleinen Fußmatte ab und bedeutete Frank es ihm gleich zu tun. ‘Willkommen’, las Frank in schwarzen Lettern auf dem Fußabtreter, was ihm nicht wirklich half, sich tatsächlich willkommen zu fühlen. Mit sauberen Sohlen betrat Frank das Haus. Der Raum war leer und frisch gewischt. Die einzige Einrichtung waren ein paar Kleiderhaken an der Wand zu seiner Linken, an einem davon hing ein weiter Ledermantel, mehrere Schürzen und ein großes weißes Tuch. Es gab drei Türen, je eine auf jeder Seite und die Tür geradezu stand einen Spalt breit offen. Yorrick räusperte sich.
    Leto! Besuch!“, rief er.
    Nach einer Pause ertönte eine tiefe Stimme.
    „Schick ihn rein“
    Yorrick öffnete die angelehnte Tür und winkte Frank heran. Er ließ Frank zuerst hindurch, folgte ihm und schloss die Tür. Die Morgensonne schien durch ein Fenster und in ihrem Schein saß ein Mann auf einem Stuhl. Ein Mann stattlicher Ausmaße. Seine Augen waren geschlossen, die Hände gefaltet im Schoß, die Haltung gerade und stolz und die Füße ruhten in einer großen Schüssel mit dampfendem Wasser. In einer Ecke schrubbte eine Frau ein weißes Laken über einem Waschbottich. Sie war in ihre Arbeit vertieft.
    „Wie heißt unser Held denn?“, sagte Leto ruhig.
    Weder öffnete er die Augen, noch änderte er seine Haltung. Yorrick nickte Frank zu.
    „Frank“, antwortete dieser.
    Leto brummte. Ein Lächeln zeigte sich auf seinen kantigen Zügen. Er hob seine Füße aus der Schüssel und schnipste mit seiner rechten Pranke. Die Frau in der Ecke ließ alles stehen und liegen und eilte herbei. Sie legte ihm ein Tuch in die wartende Hand und zog die Schüssel weg. Immer noch ganz mit sich selbst beschäftigt trocknete der Hüne seine Füße. Es machte einen befremdlichen Eindruck, wie sich die Muskeln seiner breiten Schultern und dicken Arme im Sonnenschein bewegten, als er mit feinstem Fingerspitzengefühl die Zwischenräume seiner Zehen trocknete. Sein kahler Schädel glänzte in den Strahlen.
    „Schere“, sagte er.
    Wieder hielt er seine Hand offen hin. Die Frau kramte hastig in ihrer Schürze. Leto atmete genervt aus. Er schob seinen breiten Kiefer nach vorn, öffnete die Augen und blickte die Hausfrau kritisch an.
    „Herzchen. Die Schere“
    Mit zittrigen Händen holte sie den Gegenstand hervor und legte ihn in seine Pranke. Er entließ sie mit einer beiläufigen Handbewegung. Zum ersten Mal sah er Frank an.
    „Frank also. Und wo kommst du her?“
    „Von außerhalb“
    „Genau. Von außerhalb“ Leto dehnte die Worte lange aus.
    Eine unangenehme Pause entstand. Sie sahen sich einander an, Frank passiv, aber nicht unterwürfig, Leto ausdruckslos und schwer zu lesen.
    „Aus Middenheim“, sagte Frank schließlich.
    „Hm. Raues Pflaster. Wie war´s im Wald?“
    Leto brach den Blickkontakt und widmete sich seinen Fußnägeln.
    „Wir wurden von einer Bestie überfallen. Ich und die anderen beiden sind geflüchtet. Bis uns deine Männer aufgegabelt haben.“
    Leto brummte. Mit seinen großen Händen schnitt er bedächtig seine Nägel und reinigte die Unterseiten, obwohl sie schon weiß und sauber waren.
    „Einen von den beiden hast du ja ins Grab geschickt.“ Er schnipste einen Nagel durchs Fenster. „Mein Freund Yorrick hier hat mir erzählt, dass du versucht hast auszubüchsen. Willst du nicht bei uns bleiben?“
    Frank blickte zu Yorrick, doch der erwiderte seinen Blick nicht. Er lehnte neben der Tür und hatte die Arme verschränkt.
    „Die Schlösser eurer Zellen...“, sagte Frank vorsichtig, „…nun ja, sie waren eher ein Ansporn als ein Hindernis.“
    Es hatte keinen Sinn mit seinen Fähigkeiten hinterm Haus zu halten. Vielleicht würden sie ihm sogar zu seinem Vorteil gereichen. Leto sah ihn prüfend an. Frank dankte Yorrick im Stillen, dass er ihn sein Gesicht hatte waschen lassen. Reinlichkeit schien eine Priorität dieses Mannes zu sein. Letos hob seinen Blick und sah ihm unumwunden in die Augen: Entweder war Frank gerade zu weit gegangen, oder Leto erwog, ob er ihn anlog. Frank war sich sicher, dass Leto auch eine andere Seite hatte, die Frage war bloß, wie leicht er zu reizen war. Der Riese atmete tief ein und spielte mit der kleinen Schere in seiner Hand.
    „Yorrick, hol doch bitte unsere Beute vom letzten Ausflug.“
    Dieser verschwand mit einem Nicken. Leto ignorierte Frank wieder und widmete sich erneut seiner Fußpflege. Frank verschob unruhig sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und musterte unterdessen die Frau, die die Laken reinigte. Sie blickte kurz hoch, vertiefte sich aber gleich wieder in ihre Arbeit. Ihre Ängstlichkeit ließ Frank gewisse Vermutungen über Letos Umgang mit ihr anstellen. Als Yorrick wiederkam, hatte er zwei eisenbeschlagene Schatullen in den Händen. Das königliche Insigne, ein sich aufbäumendes Pferd vor einem Turm, zierte die Deckel. Sie sahen neuwertig und gut gearbeitet aus. Frank erkannte sie wieder: Es waren die Truhen vom Lastenpferd, die er im Wald vom Buckel des Gauls geschmissen hatte.
    Geld vom König, dachte Frank. Diese Männer machen keine Späßchen.
    „Hat uns ein paar gute Männer gekostet.“, sagte Yorrick. „Du hättest sie uns ruhig bringen können!“
    Mit einem Krachen landeten die Kisten auf dem Boden. Offenbar waren sie prall gefüllt. Frank zögerte nicht, denn ihm war klar, was man von ihm erwartete: Er zog seinen rechten Schuh aus und holte seine Dietriche aus den Geheimfächern. Leto unterbrach sein Tun und schwang sich mit einem lauten Lachen von seinem Stuhl hoch.
    „Ha! Hab ich´s mir doch gedacht! Hol doch bitte auch mein Werkzeug, Yorrick.“
    Yorrick verschwand erneut und kehrte mit einer mannshohen Axt wieder. Das riesige, doppelseitige Blatt war zweifach am Stiel befestigt: Zum einen verlief der Schaft durch breite Augen im stählernen Axtkopf, zum anderen waren Holz und Eisen mit derbem Leder umwickelt. Es war die Waffe eines stolzen Nordmarkriegers, so furchteinflößend wie schlagkräftig. Woher Leto sie hatte, war Frank ein Rätsel.
    „Also...“, sagte Leto und nahm die Streitaxt entgegen. „...ich kann fast jedes Schloss knacken. Und du auch, sagst du?“
    Er wog das mächtige Mordwerkzeug in seiner Hand.
    „Lass uns sehen wer zuerst fertig ist.“, sagte er und grinste Frank breit an.
    Urplötzlich ließ er die Waffe auf eine Truhe krachen. Der Boden zitterte und die Truhe knackte laut. Frank handelte schnell, kniete sich hin und schob zwei Stifte ins Schloss der anderen Schatulle. Wie zu erwarten war es kein einfaches Schloss, filigran gearbeitet und mit mehreren Stiften. Ein zweiter Hieb kam auf die Truhe hinab, dass der Boden erschütterte und Frank glitt ein Dietrich aus der Hand. Leto freute sich lautstark über seine Idee, eine Streitaxt gegen einen Dietrich ins Rennen zu schicken. Er brüllte vor Lachen.
    „Beide Methoden haben ihre Vorteile. Meine...“, er hielt die Axt hoch über seinem Kopf, „...macht eben mehr Spaß.“
    Zum dritten Mal sauste die Axt auf den eisenbeschlagenen Kasten nieder. Der Deckel barst, Splitter flogen und nur noch der Eisenbeschlag hielt das Holz in seiner Form. Mit seinem Fuß trat er die Kiste um und ein Schwall von Münzen ergoss sich auf den Boden.
    Fertig!“, dröhnte Leto.
    Frank fingerte panisch am Schlüsselloch. Er hatte keine Zeit die Mechanik zu ertasten, wie viele Stifte es genau waren, welchen Winkel er brauchte. Kalter Schweiß rann seine Schläfen hinab. Endlich! Es klackte, ein Riegel gab nach. Vielleicht waren es nur zwei?
    „Kommst du voran?“, spottete Leto.
    Er klopfte mit der Klinge auf seine Truhe.
    „Bald!“, presste Frank durch die Zähne.
    Fieberhaft suchte er nach dem nächsten Schritt.
    „Ich kann dir auch helfen, wenn du es nicht schaffst?“
    Letos Worte trieften vor falschem Mitleid. Er schulterte die Axt und legte seinen Kopf schief.
    „Na?“
    Er gab Frank einen leichten Tritt in die Seite. Unbeirrt konzentrierte dieser sich auf seine Aufgabe.
    „Einen Moment“, gab er gepresst zurück.
    Das Schloss klickte erneut. Die Truhe blieb zu. Leto sah zu Yorrick. Der lehnte weiterhin neben der Tür und hob gleichgültig die Augenbrauen. Leto zuckte mit den Schultern, nahm die Axt in die Hände.
    Nur einen Moment!“, flehte Frank.
    „Einen Moment, einen Moment.“, äffte Leto ihn nach. „Ich mag es nicht, wenn man mich anbettelt.“
    Leto legte das riesige Blatt auf Franks Schulter.
    „Mach nur.“
    „Einen Moment“ Seine Worte waren schwach.
    Frank biss sich auf die Lippen. Das verdammte Schloss verriet ihm nicht sein Geheimnis.
    „Das war lustig.“ Letos Stimme klang enttäuscht. „Reicht jetzt aber auch.“
    Er griff die Axt fester, hob sie, weit über den Kopf, und dann: Ein Klicken. Frank hielt den Atem an. Leto hielt inne. Der Deckel bewegte sich nicht. Frank brüllte vor Wut, dicke Adern traten an seinem Hals hervor.
    Ich brauche mehr Zeit!“, schrie er Leto ins Gesicht. „Ein Dietrich ist kein Brecheisen!“
    Er schlug mit der bloßen Faust gegen das Schloss.
    Scheiße!“, brüllte Frank, den Tod im Nacken, die Knöchel blutig, doch mit seinem Schlag klackte es ein letztes Mal: Der Deckel hob sich einen Spalt breit.
    „Muss wohl das Zauberwort gewesen sein.“, kommentierte Yorrick trocken.
    Leto brach in schallendes Gelächter aus und Frank sackte in sich zusammen. Die Anspannung wich von ihm, er spürte den Schmerz in seinen Knöcheln und mit seiner Linken klappte er den Deckel ganz auf. Die Kiste war randvoll mit silbernen Münzen. Münzen, für die er fast gestorben wäre.
    „Sehr gut, sehr gut!“, lachte Leto.
    Frank wurde fast umgestoßen, als Leto ihm auf den Rücken klopfte.
    „Nimm dir doch einen Stuhl. Hast du dir verdient.“ Leto wandte sich zur Frau. „Emma, würdest du bitte?“
    Auf sein Signal hin eilte die Frau aus dem Zimmer und brachte einen Schemel für Frank. Mit einem Seufzen setzte sich Leto, die Hand ruhte auf dem Schaft der Axt. Frank richtete sich auf, strich sich durch seine schweißnassen Haare und nahm ebenso Platz.
    „Es ist eine Weile her...“, sagte Leto schmunzelnd, „...dass mich jemand angeschrien hat.“
    Leto blickte zufrieden zu Yorrick.
    „Wo hast du das gelernt...“, fragte Yorrick. „...das Schlösserknacken?“
    Frank sammelte sich. Sein Herz raste noch immer.
    „In Middenheim. Ich bin ein Mann der Gelegenheit. Mit denen hier...“, er hielt seine Dietriche hoch, „...ergeben sich mehr Gelegenheiten.“
    Yorrick schnaubte belustigt, räusperte sich dann.
    „Und was sucht ein Mann der Gelegenheit im Talkessel?“, fragte er. „Die unschätzbaren Reichtümer, von denen man sich dort draußen bestimmt erzählt?“
    Yorricks spöttische Worte waren mehr als nur Spott, sondern vielmehr ein Test. Frank war hier um seinen Bruder zu eskortieren, für seine Sicherheit zu sorgen. Der Bruder, der in einer dunklen Zelle saß, abhängig von der Gnade seiner Häscher. Frank ließ sich nicht aus der Fassung bringen.
    „Nein“, antwortete Frank. „Sagen wir, ich musste für eine Weile verreisen. Die Wache von Stärrwegen hat...“, Frank kratzte sich am Kinn „...keine besonders faire Umgangsweise. Und leider ein gutes Gedächtnis.“
    Er sah Yorrick an und hielt seinem prüfenden Blick stand. Frank spielte die Karte des gesuchten Verbrechers. Stärrwegen war ein belebter Handelsknoten im Landesinnern. Wer in die tiefen Taschen der dortigen Pfandhäuser griff, der wurde im ganzen Königreich gesucht. Der Talkessel war somit tatsächlich ein guter Ort, um unterzutauchen. Yorrick zog die Mundwinkel herab und zuckte mit den Schultern.
    „Von mir aus“, sagte Yorrick und sah Leto fragend an.
    Der Hüne wiegte mit seinen Händen den Stiel der Schlachtaxt hin und her. Er sah Frank skeptisch an.
    „Er kommt mit raus, wenn wir die nächsten Rekruten holen. Wir wollen unseren nächsten Anwärter nicht warten lassen.“
    Yorrick nickte und bedeutete Frank aufzustehen.
    „Und lass ihn mit anpacken, wenn ihr da draußen seid!“
    Noch einmal nickte Yorrick und führte Frank hinaus.
    Geändert von GesustheG (16.03.2021 um 11:59 Uhr)

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    Teil 2

    IV Eine Frage der Treue
    Im Jahre des Addo 389, Am Vormittag des 13. September
    Hermann
    Es war ein lauer Nachmittag und Hermann pflegte sein Schwert. Mit einem öligen Tuch fuhr er die Klinge hoch und runter. Es war sein Zeitvertreib, wenn er nicht den Pflichten eines Hauptmanns nachkommen musste, aber Zeit hatte er mehr als genug in den letzten Jahren. So wie es weder Aufgaben noch Mission für die Soldaten gab, so hatten auch die alltägliche Disziplin, die Drills und die Moral gelitten. Hermann suchte in diesen Zeiten häufiger den Abstand zu seinen Männern. Er saß auf der Wendeltreppe auf der Innenseite eines Rundturms und ein paar Stufen höher endete der Aufgang, denn der Turm war teilweise eingestürzt. Unten waren die alten Gemäuer der Burgruine samt dem Zeltlager seiner Truppe. Im Norden erhob sich die mächtige Steilwand und die zerbröckelten Mauerreste erweckten den Eindruck, dass sich die Burg unter den glatten Felsen kauerte, wie ein Kind bei seinem Vater Schutz suchte. Strategisch war dieses Bauwerk natürlich ausgezeichnet situiert, denn es war nur durch einen einzelnen Aufweg zugänglich, der sich ein Stück entlang der Steilwand schlängelte, doch vor wem sollten sich die Soldaten im Talkessel verstecken? Kein Mensch der ganzen Garnison hatte einen blassen Schimmer, wer die einstigen Bewohner dieser Ruine gewesen waren, aber das spielte auch keine Rolle. Der Lehnsmann des Tals brauchte damals einen Ort, an dem er sich sicher fühlen konnte. Sicher vor den Nordmar, sicher vor der aufgebrachten Bevölkerung, die ihn endlich handeln sehen wollte und sicher vor den seltsamen Geschehnissen im Tal. Der Lehnsmann hatte die Hundertschaft damals kaum geführt, hatte nur mit dem Kommandanten gesprochen und einige der gelangweilten Soldaten hatten die Höfe überfallen. Man konnte meinen, dass der Lehnsmann in der Ruine auch Sicherheit vor seiner Verantwortung suchte. 76 Mann zählte die Garnison nur noch. Durch Kampfhandlungen war niemand gestorben, abgesehen von einer Anzahl von Vermissten, die im Matterforst verschwunden waren. Die restlichen, knapp zwanzig Mann waren desertiert. Einige von ihnen hatten sie aufgespürt und dann aufgehängt, auf Geheiß des Kommandanten und im Namen des Lehnsmanns. Das war, als sich Raik noch mit eiserner Faust gegen Aufbegehren und Rumoren in der Hundertschaft durchgesetzt hatte. Inzwischen standen die Dinge anders. Hermann kannte die Moral seiner Männer. Entweder sie waren unzufrieden und verlangten vergebens nach ihrem mageren Sold, oder sie waren gelangweilt, wussten nicht wohin mit Schwert und Hand. Die lahmende Wirtschaft der freien Stadt zu Neigenbau zu beuteln wäre nicht nur gegen die Gesetze des Königs, nein, der Stadtrat lehnte so oder so jegliche Verantwortung ab die Soldaten zu besolden; so waren die ungeschriebenen Gesetze von Geiz und Geld. Eine Mannschaft von dieser Größe dauerhaft zu unterhalten brauchte mehr als ein abgeschiedenes Tal ohne Anschluss zu den großen Märkten des Reiches. Unter den Soldaten gab es manche Stimmen, die das zwar erkannt hatten, doch ihre Lösungsvorschläge konnten kaum als solche bezeichnet werden: Man solle für Sicherheit in Neigenbau sorgen, die dortige Stadtwache sei schließlich überfordert, dann könnte man auch Lohn und Brot einfordern. Hermann wusste genau, dass das Desaster vorprogrammiert war, sollten sie sich darauf einlassen. Soldaten waren keine Stadtwachen, keine Streitschlichter, sondern Werkzeuge für den Krieg. Die Männer ohne Arbeit, die Obdachlosen und Armen in der Stadt hatten etwas Besseres verdient. Das Treffen mit den Nordmar hingegen machte ihm Hoffnung. Es könnte eine willkommene Gelegenheit sein etwas Bewegung ins Lager zu bringen.
    Hermann!“, schallte es von unten. „Raik will dich sprechen.“
    Im Turmeingang unter ihm stand Millen, Wachtmeister und bester Schütze der Truppe. Hermann steckte sein Schwert in die Scheide und schwang sich hoch.
    „Komme“, rief er. Eilig stieg er die Stufen hinab. „Hat er wenigstens gute Laune?“
    Millen war einer der wenigen Kameraden, denen Hermann bedingungslos vertraute. Beide stammten aus Frehnland, den südlichen Ebenen des Königreichs und beide hatten sie einen Sinn für pragmatische Lösungen. Und sie waren nicht grausam.
    „Kann ich nicht sagen.“, sagte Millen. „Er war kurz angebunden.“
    Millen machte deutlich, dass Eile geboten war und winkte ihn heran.
    „Na dann wollen wir den Herren Kommandanten nicht warten lassen!“, sagte Hermann.
    Gemeinsam gingen sie zu dem letzten vollständig erhaltenen Steinhaus der Ruine. Es war ein Anbau neben dem inneren Tor, neben der Tür steckte die Standarte des Königs. Der Stoff hatte unter den Jahren im Talkessel gelitten, der Saum war zerfetzt, güldenes Ross und Reiter schimmerten blass und das satte Rot war ausgeblichen oder fleckig. Hermann ließ Millen zurück und trat ein. Raik saß an seinem Schreibtisch, ihm Gegenüber ein Neues Gesicht. Den formellen Gruß für den Kommandanten konnte er sich sparen, die Männer kannten einander schon zu lange. Die Lederrüstung des Neuankömmlings war auffällig gut gepflegt, der rote Mantel und die Schärpe deuteten auf einen gehobeneren Rang hin.
    „Hauptmann, darf ich vorstellen: Gero, Königsbote.“, sagte Raik.
    Kommandant und Hauptmann wechselten einen vielsagenden Blick. Hermann grüßte eilig und setzte sich zu ihnen. Gero nickte ihm zu, der Bote machte einen ungeduldigen Eindruck. Raik legte seine Stiefel auf den Tisch.
    „Unser Herr Bote meint...“, sagte Raik und faltete die Hände über seinem Bauch, „...er müsse unbedingt mit dem Lehnsmann des Tals sprechen. In königlicher Mission!“
    „Das ist korrekt. Meine Botschaft ist nur für den Herren dieses Landes bestimmt!“, sagte Gero eilig.
    Hermann sah die beiden mit fragendem Blick an. Raik rieb sich den stoppeligen Bart und hielt eine kleine Rolle Pergament hoch.
    „Diese Botschaft.“, sagte er.
    „Ihr habt nicht die Befugnisse!“, protestierte Gero.
    „Als Befehlshabender dieser Hundertschaft habe ich mich dafür entschieden diesen Brief in Beschlag zu nehmen.“
    Der Kommandant gab sich gelassen. Er warf Hermann das Schriftstück zu.
    „Lest selbst“, sagte Raik.
    Hermann fing den Brief und hielt kurz inne. Er wusste um die Verdrossenheit seines Vorgesetzten, aber dieses Mal ignorierte er die Autorität des Lehnsmanns auf ganzer Linie. Raik gab ihm einen auffordernden Wink. Hermann öffnete langsam den Brief, woraufhin Gero scharf die Luft einsog. Sorgfältig las er die Worte. Das saubere Schriftbild, die Unterschrift des Reichskommandanten und das Siegel, alles solide Belege für die Echtheit des Schriftstücks. Die Anweisungen waren deutlich: Die Truppen sind abzuziehen. Man solle sich mit dem Heer vereinen, der König schätzt die Gefahr der Nordmar als hinfällig ein und die freie Stadt Neigenbau hätte für sich selbst Sorge zu tragen. Hermann blickte auf.
    „Das sollt ihr an den Lehnsmann des Tals geben?“, fragte er.
    Gero nickte trotzig.
    Raik nahm seine Füße vom Tisch und lehnte sich nach vorn.
    „Hör mal zu, Jungchen. Der Lehnsmann hat keine Lust dem König seinen gepuderten Arsch zu küssen. Ihr taucht hier mit leeren Taschen auf, was genau erwartest du?“
    Gero biss sich auf die Lippen und sagte nichts.
    „Er wartet seit drei Jahren auf seine Bezahlung...“, fuhr der Kommandant fort, „...meine Männer warten seit drei Jahren, ganz abgesehen von meiner Wenigkeit. Drei Jahre sind eine lange Zeit; drei Jahre ohne Zweck, ohne Ziel. Jeder hier sucht nur noch einen Schuldigen für diesen Stillstand. Die Bauern, die Bürger, auch meine Männer.“ Raiks Blick wanderte in weite Ferne. „Drei Jahre, von denen du kein einziges gesehen hast. Aber was soll man sagen, wenn man eine bewaffnete Truppe zu Hand hat, dann wird erwartet, dass man Hand anlegt. Also, wenn du mit dem Lehnsmann redest...“, er deutete mit dem Zeigefinger geradewegs in Geros Gesicht, „...dann sollte dir klar sein, dass du mit dem Mann redest, wegen dem wir hier zwischen diesen modrigen Gemäuern ausharren. Wenn du mit ihm redest, dann löst du nichts weniger als seinen Hochverrat aus.“ Raik warf hilflos die Hände in die Luft und ließ sie schlaff wieder herabfallen. „Was meine Männer dann tun werden, das wissen nur die sieben Wächter!“
    Gero fehlten die Worte, er legte nur die Stirn in Falten und schüttelte kaum merklich den Kopf. Befehle befolgen war einfach und er war schließlich nur der Überbringer einer Botschaft! Unruhig wippte er mit dem Bein.
    „Der Lehnsmann…“, sagte Hermann, sein Ton war ruhig und geduldig, „…er hat acht Mann in den Matterforst geschickt. Gute Männer, Späher und Kämpfer. Nur einer kehrte wieder zurück und der war feige geflohen. Kein Kampfeslärm, kein Lebenszeichen. Seitdem lebt unser werter Herr und Meister eher, wie soll ich sagen, zurückgezogen. Selten verlässt er den Bergfried.“
    Hermanns Blick ruhte auf dem Boten. Gero legte eine Hand auf sein Bein, es zitterte, also hielt er es still.
    „Angenommen…“, sagte der Bote vorsichtig „…ich gebe die Botschaft an den Lehnsmann des Tals, er würde den Befehl verweigern?“
    Raik gab ihm ein Schulterzucken, Hermann blieb stumm. Sie schwiegen eine Weile, bis Gero wieder das Wort erhob.
    „Was ist euer Befehl, Kommandant?“, sagte der Bote gefasst.
    Das letzte Wort hing schwer in der Luft, schwebte über ihnen wie eine dunkle Wolke. Raik rieb sich über die grauen Stoppeln seines kurzen Barts.
    „Ich brauche Befehle.“, sagte Raik. „Meine Jungs brauchen Befehle.“
    Er griff in seine Tasche und schmiss einen zweiten Brief auf den Tisch. Es war der Brief der Nordmar, den Hermann am Morgen übergeben hatte.
    „Was ist das?“, fragte Gero.
    „Eine Einladung der Nordmar.“, sagte Raik. „Wir nehmen sie an, dann sehen wir weiter. Ich kümmere mich um den Lehnsmann.“
    Er entließ Hauptmann und Boten und gab Anweisung einen Schlafplatz für Gero zu finden. Außerdem wies er den Boten an, sich bedeckt zu halten und seine Herkunft und Mission nicht mit den Männern zu besprechen. Es gab keinen Grund Unruhe unter seinen Männern zu stiften. Als sie fort waren, starrte Raik schweigend auf die beiden Briefe. Nüchternheit und Zweifel überschatteten seine harten, faltigen Züge. Er dachte an Geros Bericht vom Matterforst, der Bestie, ihrer seltsamen Magie und noch an finsterere Dinge. Er riss sich aus seinen Gedanken, nahm die Schriftstücke an sich und verließ das Haus. Durch den Torbogen ging er in den inneren Ring, zum Bergfried, wo die alten Gemächer der Befestigung waren. Eine Wache stand vor dem Eingang, nahm Haltung an und trat beiseite als der Kommandant nahte.
    „Mein Herr“, grüßte die Wache knapp.
    Raik betrat den Bergfried, nahm die Wendeltreppe, bog ab und blieb schließlich vor einer schweren Tür stehen. Die zwei Schriftstücke fest umklammert, klopfte er dreimal, mit heftigen Schlägen.
    „Mein Herr!“, entschuldigte er sein Eintreten.


    V Geheime Botschaften
    Im Jahre des Addo 389, Am Vormittag des 13. September
    Ferdinand
    Ferdinand war bei weitem kein Meister unter den Taschenspielern. Doch unter Quentins vielen Kontakten hatte er auch in dieser Profession einen Lehrer gefunden, auch wenn dies nicht ihr Spezialgebiet war. Nun erprobte er seine Fähigkeiten: Die Westentasche des beleibten Mannes schwankte nach links und nach rechts, wie sich der Ratsherr seinen Weg durch die Menge bahnte. Der Markt war wie so häufig überfüllt mit Menschen mit zu wenig Geld in den Taschen und noch weniger Nahrung im Bauch. Das Gedränge kam Ferdinand zugute: Ständig berührte man den anderen, streifte sich an der Schulter oder am Hosenbein. Da, eine Chance! Der Mann drehte seinen dicken Bauch seitwärts, als würde dies ihm helfen sich durch die Lücke im Gedränge hindurch zu quetschen und sein Kopf war nach vorn gerichtet, von Ferdinand weg. Blitzschnell und zielgenau ging Ferdinands Hand an die Westentasche, löste den Knopf, öffnete sie einen Spalt breit, glitt hinein und Ferdinand war fort.
    Sein Herz klopfte laut in seiner Brust. Freude und Aufregung wollten aus ihm heraussprudeln, aber der blonde Junge gönnte sich nur ein breites Grinsen, das er sich für eine Weile nicht mehr aus dem Gesicht wischen konnte. Im Grunde war sein Unterfangen vollkommen zwecklos gewesen. Er hätte die Nachricht auch einfach überreichen können, aber wo bliebe dann der Kitzel der Herausforderung? Er verließ den Markt, sein nächstes Ziel lag im oberen Viertel. Ferdinand trug zwar nicht die feinste Kleidung, es waren jedoch auch keine Lumpen. Mit etwas Glück würden die Wachen ihn passieren lassen. Er fingerte nervös mit dem anderen Behälter in seiner Tasche, während er das innere Tor durchquerte. Zu seinem Glück war der Wachposten allein und blickte gleichmütig drein. Im oberen Viertel, auf den sauberen Straßen zwischen feinen, mehrstöckigen Fachwerkhäusern, fand er den Schrein der sieben Wächter, ganz in der Nähe des Rathauses. Es war eine abgeschiedene Gasse. Efeu überwucherte den Schrein, jemand hatte die Blätter von den Figuren entfernt, sodass die Ranken einen Rahmen für die Aufreihung der heiligen Sieben bildeten. Ferdinand blickte sich um: Die Gasse war leer. Er trabte auf den Schrein zu, beschleunigte und mit einem Fuß auf dem Kopf des geringsten Wächters stieß er sich ab. Er bekam eine dicke Ranke zu fassen und stemmte sich gegen die Wand. Langsam, aber sicheren Tritts erklomm er das Fachwerk. Er erreichte ein Fenster, es kamen keine Geräusche von drinnen, also warf er einen Blick über die Kante. Das Schlafzimmer war leer, die Tür geschlossen. Er zog den Behälter aus seiner Tasche und platzierte ihn gut sichtbar auf dem Fenstersims. Ein kurzer Blick nach unten und er ließ sich fallen. Geschickt rollte er sich ab, sprang auf, klopfte den Dreck von der Hose und war hinfort.
    Wieder streifte er durch die Straßen Neigenbaus. Sein nächstes Ziel war die erste der drei Wassermühlen, die größte und die Einzige, die derzeit in Betrieb war. Er ging über den Markt, überquerte die Braubrücke, ein massives Bauwerk, gemacht für die Ewigkeit, und folgte der Neige entlang der Ostseite des Flusses. Sein Ziel kam in Sicht und es war so unübersehbar wie eindrucksvoll: Die Eisenmühle. Zwei Räder, die fast die ganze Breite des Stroms nutzten, wurden zugleich vom natürlichen Fluss der Neige als auch von zwei hochgestellten Rinnen angetrieben. Ihre Drehung wurde durch einen mächtigen Eichenstamm in das verschachtelte Hauptgebäude übertragen. Das Bauwerk sah aus wie mehrere, ineinander geschobene Häuser: Ein paar Schornsteine, unzählige Erker und Abzugsluken, Fenster, Türen und Laufgänge machten aus dem Dach ein unübersichtliches Wirrwarr verschiedenster Anbauten, die für den unwissenden Betrachter niemals einen handfesten Zweck haben konnten. Diese Erscheinung spiegelte die Geschichte des Gebäudes wider. Als einfache Wassermühle für den Weizen hatte es begonnen, irgendwann kam ein Sägewerk samt Holzwerkstatt hinzu. Schließlich hatte man einen Erzstampfer installiert, welchem die Mühle ihren aktuellen Namen verdankte. All diese Betriebe nutzten die Kraft des Wassers. Die hohe Lagerhalle, die an das Haupthaus anschloss, war zu keinem Teil eine Platzverschwendung; es war vielmehr eine notwendige Erweiterung für die Unmengen an Material, die tagtäglich eingingen, verarbeitet wurden und wieder ausgingen. Manche sagten, der Markt sei das Herz von Neigenbau, andere meinten das Rathaus im oberen Viertel, aber die Arbeiterschaft war sich sicher: Der Puls der Stadt schlägt in der Eisenmühle, ihrer verworrenen Mechanik und durch die unzähligen Zahnräder, und nirgendwo sonst. Derzeit aber lief nur eines der übergroßen Räder. Das andere hatte man ausgehängt und durch einen Keil gebremst, denn wenn die Wirtschaft lahmte, schlug das Herz ohne Kraft. Ferdinand ging zum Tor der Erzloren, wo gerade emsiges Treiben herrschte. Das Gestein wurde von Ochsenkarren auf die Loren verladen und diese dann ins Gebäude geschoben. Ohne zu zögern packte er mit an und stemmte sich mit zwei schwitzenden Arbeitern gegen eines der beladenen Gefährte. Das Eisen quietschte und die Lore kam langsam voran. Drinnen gab Ferdinand seine neue Anstellung genauso schnell auf, wie er sie aufgenommen hatte und schlüpfte durch eine niedrige Luke nahe den Gleisen. Er war schon oft in der Eisenmühle gewesen, denn Schmiedemeister Boris hatte ihn schon einige Male geschickt, um Kohle oder zermalmtes Roherz zu kaufen. Der Junge erklomm eine schmale Treppe und fand sich nach ein paar Stufen auf einem Laufgang wieder. Von hier aus konnte man das beeindruckende Getriebe sehen. Mächtige Zahnräder und dicke Achsen übertrugen die Kraft dorthin, wo man sie brauchte, und verschwanden hinter Holzverschlägen, betrieben dort verborgene Maschinen. Der große Blasebalg, der für die Luftzirkulation verantwortlich war, wurde von einem Gewicht betrieben, dass in regelmäßigen Abständen mittels Wasserkraft gehoben wurde. Der größte Teil des Getriebes war jedoch hölzern, Eiche und Immerlinde, also musste man unermüdlich dafür Sorge tragen, dass, so nah an der Neige, die Luft stetig ausgetauscht wurde, sodass kein Pilz und keine Würmer heimisch wurden. Ferdinand folgte dem Laufsteg, bis er zu einer Reihe von Zimmern kam. Er hielt bei einer Tür, auf der in großen Lettern 'I G – Vorarbeiter d. Eisenmühle' stand. Er kramte einen dritten Behälter aus seiner Tasche, warf ihn in den Türschlitz ein und ging wieder. Bevor er das Gebäude verließ schenkte er der mächtigen Apparatur noch einen Blick. Der größte Teil stand still. Zwei Männer hingen an Seilen von der Decke und machten sich an dem komplexen System in den oberen Stockwerken zu schaffen. Das regelmäßige Krachen des Stampfers verriet, dass die Kraft des Flusses zumindest nicht gänzlich verschwendet wurde.
    Tatsächlich wie ein Herzschlag, so dachte Ferdinand, wie er das sanfte Beben in den Brettern unter seinen Füßen spürte.
    Der Junge verließ die Mühle durch eine Hintertür und tat einen tiefen Atemzug. Erst hier draußen fiel ihm wieder auf, wie anders die Luft in der Mühle war; gesättigt mit Schmieröl, Holzgeruch und dem Staub zerspringenden Gesteins. Er tastete seine Tasche ab, zwei Behälter blieben ihm noch.
    Er ging flussabwärts. Sein Ziel lag im Armenviertel, von manchen auch liebevoll die Suppe genannt. Die Straßen dort bestanden entweder aus löchrigem Pflaster oder die Steine waren vollständig zum Häuserbau abgetragen. Was übrig blieb, war ein weicher Lehmboden, der bei jedem Regenfall nur noch schlammiger wurde. Man hatte Bretter ausgelegt, damit man überhaupt voran kam, ohne im nassen Dreck zu versinken, doch das Holz vermoderte ebenso schnell wie die Behausungen der Ärmsten der Armen, die dort wohnten. Ferdinand hatte jedoch Glück: Der Spätsommer hatte den braunen Schlamm austrocknen lassen. Bevor er in die am stärksten heruntergekommen Ecken des Viertels kam, nahm er einen Abzweig. Hier wand er sich durch eine enge Gasse, kaum breiter als die Schultern eines erwachsenen Mannes, erreichte ein paar Treppenstufen und dort, so wie immer, wurde er bereits erwartet.
    „Na, Junge, haste wieder was Neues für die Chefin?“
    Valentin strich sich durch den imposanten Schnurrbart und hob das Kinn. Der bauchige Türsteher hatte eine grobe Art sich auszudrücken, war jedoch stets elegant gekleidet, sein Bart getrimmt und die Harre gekämmt. Ferdinand reichte ihm einen Behälter, dankte und machte sofort kehrt, um schnell weiter zu kommen.
    „Schönen Tag auch!“, rief Valentin dem Jungen noch hinterher, sein Ton klang etwas eingeschnappt.
    Der Rausschmeißer freute sich immer über ein gewitztes Hin und Her zwischen ihm und dem Jungen, aber Ferdinand hatte dieses Mal keine Zeit dafür. Er ärgerte sich auf seinem Rückweg durch die Gasse: Noch nie hatte er es geschafft die Übergabe am Freudenhaus heimlich zu vollbringen. Es gab nur diesen einen Zugang und jedes Mal wurde er von Valentin aufgehalten. Er lief durch die Straßen, der braune Erdboden staubte unter seinen schnellen Schritten. Durch einen zerfallenen Zaun gelangte er in die Hinterhöfe der Hütten, wo die Leute ihren Abfall ließen und nicht zuletzt ihr Geschäft verrichteten. Der Geruch war nur auszuhalten, da Ferdinand wusste, dass er nicht lange bleiben würde. Er fand das Haus, das er suchte. Erst ging er zur Hinterwand und spähte durch einen Schlitz zwischen den Brettern. Draußen schien die Sonne, drinnen war es dunkel und so konnte er nichts erkennen. Er ging herum und versuchte durchs Fenster zu sehen, die Läden standen zur Hälfte offen. Er hörte jetzt regelmäßiges, zartes Schnarchen von drinnen. Er prüfte die Fensterangeln, sie waren gefettet, quietschten nicht, und öffnete langsam einen Laden. Vorsichtig stieg er ins Haus ein. Die Planken auf dem Boden lagen zu seinem Glück auf nacktem Dreck auf; Holz knarzte nämlich nur bei Reibung gegen anderes Holz. Er gab seinen Augen einen Moment sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Nun erkannte Ferdinand die Figur, die immer noch regelmäßig atmete. Langsam schlich er sich näher.
    „Nimm beim nächsten Mal den anderen Fensterladen.“, sagte eine Frauenstimme. Ihr südländischer Akzent war unüberhörbar. „Dann veränderst du das Raumlicht nicht. Und mit diesen Schuhen brauchst du hier gar nicht reinkommen. Sie riechen.“
    Ferdinand ließ enttäuscht seine Arme baumeln. Menschen vom Volk der Severim hatten einen ausgeprägten Sinn für Reinlichkeit und einige von ihnen dementsprechend scharfe Nasen. Diese Frau, Sadiye war ihr Name, hatte nicht bloß wachsam Sinne, nein, die Kunst der Heimlichkeit war ihr Geschäft.
    „Leg die Nachricht auf den Tisch, mein Lieber.“, sagte sie schläfrig.
    Er tat wie ihm geheißen und stieg wieder aus dem Fenster.

    Bei Boris angekommen fragte ihn der Schmied gleich nach den Neuigkeiten.
    „Nach Einbruch der Dunkelheit...“, sagte Ferdinand noch völlig außer Atem, „...treffen wir uns im Keller vom Wirtshaus Zum Straßendorn.“
    „Gut. Wissen alle Bescheid?“
    Ferdinand nickte. „Alle Botschaften sind verteilt. Du bist der Letzte auf meiner Liste.“
    „Sehr gut“ Boris deutete auf den Schmelzofen. „Wenn du mit dem Gießen fertig bist, kannst du gehen. Und vergiss deine Hufeisen diesmal nicht!“


    VI Die Gesetze des Lagers
    Im Jahre des Addo 389, Am Vormittag des 13. September
    Frank
    Frank folgte Yorrick zu seinem Haus. Es war eine der Blockhütten bei der Kampfgrube im oberen Ring. Der Banditenhauptmann machte es sich auf einer Bank neben seiner Tür bequem und ließ Frank davor stehen.
    „Willkommen im Lager.“, sagte Yorrick und machte eine ausladende Geste. „Jemand wie du sollte sich hier schnell zurechtfinden. Das hier ist nicht die Armee, aber das heißt nicht, dass es hier keine Ordnung gibt. Unsere Regeln sind hart, aber gerecht.“
    Yorrick kramte in seiner Hosentasche und holte einen roten Lumpen hervor, den er Frank zuwarf.
    „Bind das an deinem Oberarm!“
    Frank tat wie ihm geheißen.
    „Gut“, sagte Yorrick und gab ihm ein schiefes Grinsen „Du bist jetzt ganz offiziell einer von den Neulingen!“
    Er fuhr sich mit einer Hand über den kahlen Kopf, stützte sich mit der anderen aufs Knie auf und deutete mit dem Zeigefinger auf Frank.
    „Du machst, was man dir sagt. Du bleibst im Lager, du trägst keine Waffe, du handelst nicht auf dem Markt und du fängst keinen Streit an. Hast du das verstanden?“
    „Und wenn jemand Streit mit mir anfängt?“
    „Dann solltest du sicher gehen, dass du Zeugen hast.“
    Klingt eher nach hart und ungerecht, dachte Frank, doch ihm war klar, dass es hier nicht um Gerechtigkeit ging, sondern vielmehr um eine Hackordnung.
    „Habe ich mich klar ausgedrückt?“, bohrte Yorrick nach.
    Frank nickte. Yorrick hielt mit einer auffordernden Geste seine offene Hand vor ihn.
    „Deine Dietriche“
    Frank biss sich auf die Lippen. Widerwillig holte er die Werkzeuge hervor und übergab sie.
    „Wann kriege ich die wieder?“, sagte er, weder bettelnd und noch fordernd.
    Yorrick zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Mal sehen. Wenn ich einen Grund dafür sehe. Gut, das ist das eine. Hier.“
    Yorrick überreichte ihm ein kleines, blau bemaltes Holzstück.
    „Die kannst du dem Lagerkoch geben. Es gibt jeden Tag für jeden Mann eine Mahlzeit. Für den Rest musst du selber sorgen.“
    Der kleine Gegenstand hatte keine besondere Form, die blaue Farbe war vermutlich das Merkmal, das es einzigartig und schwer zu fälschen machte. Yorrick lehnte sich zurück und schlug die Hände hinter dem Kopf zusammen.
    „Das war´s fürs Erste. Du kannst dich gerne umsehen, aber halt dich an die Regeln. Wenn du doch auf die Idee kommst auszubüchsen, na ja, so groß ist der Kessel dann doch nicht und, denk dran, wir kennen dein Gesicht.“
    Er schenkte Frank einen vielsagenden Blick.
    „Oh, fast hätte ich es vergessen: Nimm deine Binde nicht ab. Nie. Verstanden?“
    Frank nickte wandte sich zum Gehen, als ihm noch eine letzte Frage einfiel:
    „Die Hütte, in die ihr mich gepackt habt, ist das jetzt meine?“
    „Warum nicht.“, sagte Yorrick und zuckte mit den Schultern. „Ganz in der Nähe wohnt Greg. Bleib auf Abstand.“
    Frank grüßte zum Abschied und ging. Offenbar hatte er eine neue Bleibe gefunden, wenn auch nicht aus freien Stücken. Wie heimisch er sich hier fühlen konnte, würde sich noch zeigen, zumindest nicht so sehr, solange er noch eine rote Binde am Arm tragen musste und solange sein Bruder im Kerker saß, dessen war sich Frank sicher. Er passierte die Kampfgrube und versuchte nicht an den Kampf von letzter Nacht zu denken. Die Gesichtszüge, das Geräusch der Klinge, wie sie durch Rippen und Fleisch getrieben wurde, geführt von seinen Händen, diese Eindrücke hafteten in seinem Gedächtnis. Erik stand dies noch bevor. Wie es ihm wohl ging? War er gesund, oder verletzt und in Schmerzen? Mit einem tiefen Atemzug hob er den Kopf und sah sich um. Letos Haus war dort, das höchste im Kreis um die Arena, auch wenn es etwas in die Jahre geraten war. Ein Gruppe Männer, ihrer Kleidung nach zu urteilen wohl Jäger, saß um eine kohlende Feuerstelle. Sie hatten mehrere aneinander genähte Tierhäute vor einem kleinen Lagerhaus aufgespannt und dösten in den Morgen. Hinter den Häusern ragten die Spitzen des oberen Palisadenrings und dahinter sah Frank hohe Baumkronen eines dichten Waldes, der zu allen Seiten das Lager einschloss. Er zog sich im Süden und Westen die Berghänge hinauf, in allen anderen Richtungen sah er nur den bewölkten Himmel über dem Laub der alten Bäume. Ohne diesen natürlichen Schutz vor neugierigen Augen wäre diese Zusammenrottung von Gesetzeslosen vermutlich nie zustande gekommen. Ungefähr konnte Frank nun abschätzen, wo er sich befand: Irgendwo am südwestlichen Rand des Kessels, nahe der Berggrenze.
    Frank verließ den oberen Ring und betrat den unteren; von rechts war er gekommen, wo seine Hütte war und vor ihm lag das Haupttor. Es war geschlossen. Zwei Wachen langweilten sich auf den Balustraden, ihre Ausrüstung war überraschend gut: Ein Schwert, gute Stiefel, verstärkte Bein- und Armschienen und eine Brustplatte, am Hals lugten Kettenhemden hervor. Frank konnte Teile vom Rüstzeug der Königsarmee wiedererkennen, aber man hatte den roten Stoff entfernt und andere Materialien hinzugefügt. Ob es sich um Deserteure oder um die Beute von Raubzügen handelte blieb Frank ein Rätsel. Über dem Tor war eine große Kettenwinde, mit deren Hilfe man das Tor aus massiven Holzpfähle nach oben kippen konnte. Eine schlaue Konstruktion, denn ein einfaches Flügeltor könnte man mit einem Rammbock öffnen, hier müsste man das dicke Stammholz zerbersten, oder man fand einen anderen Weg. Frank entschloss sich für die Straße zu seiner Linken.
    Auch hier im unteren Ring war der Weg begrenzt durch wacklige Bruchbuden, Lattenverschläge und vom Wetter zerfressenen Zeltplanen. Es war ruhig, wie Frank auffiel, obwohl die Sonne fast im Zenit stand. Die Straße ging etwas weiter abwärts und duckte sich tiefer unter den oberen Ring. Man hatte gespaltene Fichtenstämme quer in den Lehmboden gestampft und die Fahrrinne verriet, dass das Holz Halt für Karren und Wägen bieten sollte. Plötzlich taumelte ein Mann aus einer Behausung. Er torkelte ein paar Schritte und hielt sich an einem krummen Pfeiler fest. Ohne sich um Frank zu sorgen begann er sich zu erleichtern. Prompt kam ein Mann aus der betroffenen Hütte.
    He!“, rief er. „Halt deinen Lümmel gefälligst woanders hin!“
    Der Übeltäter ignorierte ihn, ob er es mit Absicht tat, oder ob der Rausch schuld war, war schwer zu sagen. Der Bewohner der Hütte ließ nicht mit sich spaßen. Er griff eine Latte vom Boden, machte zwei entschiedene Schritte und zog sie kurzerhand über den Rücken des Hausbeschmutzers. Der Betrunkene brach sofort zusammen und landete in seinem eigenen Urin, wo er sich nicht mehr regte. Der Mann bemerkte Frank.
    „Guten Morgen“, sagte er.
    Er schmiss die Überreste seiner Latte auf seinen bewusstlosen Gast und verschwand wieder in seiner Bude. So, oder so ähnlich, hatte Frank das Zusammenleben hier bereits erahnt.
    Die Straße verlief weiter im Bogen um die Steigung herum, bis sie schließlich in einen kleinen Marktplatz mündete. Auch hier war es ruhig, doch ein paar Menschen gab es. Eine Gruppe von Männern lungerte in einer Ecke, zwei Händler standen vor ihren gut bestückten Auslagen, die anderen Stände waren leer. Der eine verkaufte abgehangenes Trockenfleisch, der andere gegerbtes Leder und allerlei Tand. Vermutlich war es noch zu früh und für viele Bewohner galt die Mittagsstunde als die Morgenstunde. Es gab einen Höhleneingang auf der Hangseite des Markts, versperrt durch eine massive Tür. Langsam wurden Frank die Ausmaße des Lagers klar. Es musste sich um mindestens einhundert, vielleicht sogar zweihundert Mann handeln. Ungewöhnlich für ein Banditenlager, aber es erklärte die strengen Regeln. Frank wusste nicht so recht, wonach er suchte, also ging er zum Stand des Lederhändlers. Die Männergruppe beäugte ihn neugierig. Erst jetzt fiel ihm die Ähnlichkeit ihrer Bekleidung auf. Grober brauner Stoff, darüber verschiedene Tierfelle, die mit Lederriemen festgezurrt waren. Alle trugen den gleichen mit Nieten versehenen Waffengurt und alle hatten sie keine freundlichen Gesichtsausdrücke.
    Also doch Uniformen, dachte Frank.
    Frank wurde vom Lederhändler aufgehalten.
    „Warte mal, Freundchen. Was soll das denn werden?“
    „Ich schau mich nur um.“
    „Aber nicht hier!“
    Der Händler deutete auf seinen rechten Oberarm, an dem das Stück roter Stoff baumelte. Frank blieb stehen und überflog schnell das Angebot des Verkäufers. Neben den verschiedenen Ledersorten war ein unsortierter Haufen allerlei Gegenstände: Eisenschlösser, Kuhglocken, ein paar Pfeilspitzen, Brotmesser und Schüsseln, Seile und Stricke aus Hanf, ein paar Nieten und Hämmer mit eigenartigen Köpfen. Nichts davon weckte Franks Interesse und er durfte ohnehin nichts kaufen. Er holte das blaue Stück Holz hervor, dass er von Yorrick bekommen hatte.
    „Mit der Essensmarke musst du zu Olaf.“, sagte der Händler unwirsch.
    Er deutete auf die andere Seite des Platzes, wo sich die Straße fortsetzte.
    „Roter Kopf, runder Bauch, unübersehbar.“, sagte er mit einem breiten Grinsen.
    Frank dankte und ging weiter. Er kam an einer Gerberei vorbei, wo der Gestank von verwesendem Tier in der Luft hing und nur kaum vom Wind fortgetragen wurde. Die gereinigten Häute hatte man auf den Dächern aufgespannt, manche hingen an den dicken Pfählen der Palisade. Schließlich sah Frank einen bauchigen, schwarzen Kessel. Das Feuer darunter brannte nicht mehr und als Frank sich näherte, sah er, dass der Kessel leer war. Ein junger Mann döste auf einer Bank dahinter. Als er Frank bemerkte richtete er sich auf. Auch er trug eine rote Armbinde.
    „Du bist neu!“, sagte er überrascht und seine Augen leuchteten auf. „Warte kurz!“
    Der junge Mann verschwand eilig in einer gedrungenen Hütte und kam kurz darauf mit einer Schüssel in der Hand wieder.
    „Ist nicht mehr warm, aber Olafs Suppe schmeckt immer! Nimm!“
    Er hielt sie Frank hin und sie tauschten Marke gegen Essen.
    „Ich hab gestern das Gebrüll gehört. Hatte keine Ahnung, ob die Scavenger jemanden zerpflückt haben oder andersrum.“ Er schenkte ihm ein anerkennendes Lächeln. „Schätze jetzt weiß ich´s.“
    Gierig schob sich Frank einen Löffel Suppe in den Mund.
    „Schönen Dank!“, sagte der Bursche.
    „Danke wofür?“, antwortete Frank mit vollem Mund.
    „Wenn ich hier eins und eins zusammenzähle, dann hast du da gerade deinen Jagderfolg in der Suppe.“
    Er setzte sich wieder auf seine Bank und bot Frank einen Platz neben ihm an. Dankbar nahm Frank das Angebot an und entspannte seinen geplagten Körper.
    „Theo mein Name“ Der Bursche hielt ihm die Hand hin.
    „Frank“, sagt er mit vollem Mund und schüttelte sie.
    Die Suppe war zwar kalt, aber Kartoffeln und Scavenger waren einem Segen der Sieben gleich. Frank schaufelte die Suppe in sich hinein, und er bemerkte, wie ausgehungert er gewesen war. Ein paar Tage nichts zu essen war das eine, aber eine Zeit von großer Belastung ohne Nahrung durchzustehen eine völlig andere Geschichte. Er legte eine Pause ein, um seinen Magen nicht zu überfordern. Die freundliche Art von Theo war zwar nicht Franks gewohnter Umgangston, doch er wollte auch nicht eine helfende Hand ausschlagen. Besonders jetzt wo er noch an das untere Ende der Nahrungskette verdammt war.
    „Bist du der Kochgehilfe oder sowas?“, sagte Frank.
    „Ganz genau! Die haben mich vor ´ner Weile aufgegriffen. Ich hab aber eh nur beschissen bezahlte Feldarbeit gemacht. Letztendlich...“, er zuckte mit den Schultern „...ist das hier weniger Arbeit. Solange ich nicht mit Wasserholen gehen muss, ist alles gut. Weißt du schon was du machst?“
    Frank schüttelte den Kopf. „Morgen mache ich wohl einen Ausflug. Mit Yorrick.“
    Theo sah ihn mit großen Augen an.
    Wirklich? Das heißt, dass sie dich auf die Probe stellen! Was hast du bitte getan? Ich warte schon eine halbe Ewigkeit auf meinen Test!“
    Frank zuckte mit den Schultern. Schlösserknacken war vermutlich eine beliebte Fähigkeit. Vielleicht hatte auch seine Leistung in der Arena etwas beigetragen; die Art und Weise, wie er seinen Gegner getötet hatte. Wie viel Leto davon wusste, da konnte Frank nur raten. Yorrick hatte sicherlich einen gewissen Einfluss auf solche Dinge.
    „Nicht den blassesten Schimmer.“, log Frank und wechselte das Thema. „Sag mal, wie oft kriegt man die Marken?“
    „Eine am Tag!“, sagte Theo.
    „Und den Rest des Tages?“
    „Also, wenn du sonst noch Hunger hast, dann musst du dir was kaufen.“
    Frank sah ihn fragend an.
    Theo hob entschuldigend die Hände „Tja, solang du mit ´nem roten Bändchen unterwegs bist sieht´s nun mal dünn aus. Ich sitz hier direkt an der Quelle! Aber Wasser schleppen macht gar keinen Spaß, hoffe du kriegst was Besseres, vielleicht den Jägern helfen oder sowas.“
    „Verstehe“ Frank rieb sich am Kinn, zögerte kurz, fragte aber schließlich: „Die Gefangenen, kriegen die auch eine Ration?“
    Theo schüttelte den Kopf. Frank schlürfte den Rest aus der Schüssel und stand auf.
    „Ich sehe mir den Rest vom Lager an. Danke für die Suppe.“
    „Mach hier nur meine Pflicht!“, sagte Theo glücklich und winkte ab.
    Als Frank ging, war er in seinen Gedanken bei seinem Bruder. Keine Rationen für Erik. Kein Wasser. In einem Tag wäre er nur noch ein Häufchen Elend, in drei Tagen am Ende. Ganz zu schweigen von den möglichen Verletzungen, vom Sturz oder durch die Behandlung durch die Banditen. Irgendwie musste er an Erik rankommen. Er wusste, dass die Chancen auf eine Flucht schlecht aussahen. Sich durchzukämpfen kam für seinen Bruder nicht in Frage: Es fehlte ihm die Kraft und selbst im guten Zustand die Erfahrung. Heimlich davonzuschleichen war nur möglich, wenn Frank das Lager und die Höhlengänge kannte. Und wohin sollten sie fliehen? Frank fühlte sich rastlos. Er wusste jedoch genau, dass vorschnelles Handeln die Lage nur noch verschlimmern konnte. Seine Gedanken verloren sich in dichtem Nebel von Zweifel und Ratlosigkeit und sein Blick haftete auf dem Boden, als er weiter der Biegung des Weges folgte.
    Seine Erkundungstour kam zum Ende, als die Straße sich verengte und ein Tor ihm den Weg versperrte, kleiner als das Nordtor, ein Handkarren würde noch hindurch passen. Die Wache davor, bewaffnet mit einem Speer und gekleidet in mit Lederriemen gebundenen Tierfellen, döste vor sich hin. Es war die gleiche Ausrüstung wie die Männergruppe auf dem Markt. Frank kam näher und betrachtete die Befestigungen. Dieses Tor schwang zur Seite auf, wie eine gewöhnliche Tür. Frisches Schmieröl färbte die dicken Scharniere schwarz und man hatte einen breiten Eichenbalken eingehängt. Ansonsten schien es keine Verschlussmechanismen zu geben. Die Wache öffnete ein Auge und nahm seinen Speer in die Hand.
    „Wo soll´s denn hingehen?“
    „Bin neu hier“, antwortete Frank.
    „Das Jägertor bleibt für dich jedenfalls geschlossen, Neuling.“
    Er wiegte demonstrativ seinen Speer in seiner Hand.
    „Verstehe“
    Frank sah sich um. Rechts von ihm war die Palisade samt Wehrgang. Obenauf patrouillierte wieder einer der gepanzerten Wachen. Auf seiner linken Seite entdeckte Frank einen Tunnel, der in den Hügel hineinführte, auf dem der innere Ring errichtet war.
    „Kann ich da lang?“, fragte Frank.
    „Mach“, sagte die Wache, zuckte mit den Schultern und lehnte seinen Speer wieder an die Palisaden.
    Frank trat in die Dunkelheit des Tunnels. Seine Augen brauchten einen Moment sich an das spärliche Licht zu gewöhnen. Der Erdtunnel stieg langsam an und er musste sich immer wieder unter hölzernen Querstützen hindurch ducken. Vor ihm fiel Tageslicht in den Höhlengang, dort ging der festgetretene Lehm in einen Holzsteg über. Was Frank jetzt erblickte, hatte er nicht erwartet: Der Steg führte über einen Abgrund, gut zehn Meter tief. Der Abhang war steil und die Erde aufgewühlt. Ein paar Knochen und ein verwesender Tierkadaver lagen dort unten. Dies musste der Ort sein, an dem die Banditen ihre Bestien für die Arena fingen. Weiter den Steg entlang fand er Seile und lange Stangen mit Schlingen an den Enden. Stutzig wegen all der Mühen, die man auf sich genommen hatte, nur um die Kämpfe in der Arena zu ermöglichen, blickte er sich um. Jenseits des Abgrunds lag gleich der dichte Wald. Die Wurzeln alter Bäume ragten aus dem Hang und man hatte an der Kante loses Gestrüpp zwischen die Stämme geworfen, vermutlich um die ahnungslosen Tiere leichter in den Abgrund zu treiben. Als Fluchtweg käme es in Betracht, wenn man sechs Schritte tiefen Abgrund überwinden konnte. Ein Seil würde genügen. Und jemanden der es festband, auf der anderen Seite. Es würde genügen, gesetzt dem Fall, Erik wäre in der Verfassung.
    Frank folgte dem Steg, der wieder in das Innere des Hügels führte. Der Tunnel hier war etwas breiter, der Lehmboden gut festgetreten. Nach einer Biegung kam er zu einer Tür, die Links vom Gang wegführte. Frank dachte sich nicht viel dabei, doch als er näherkam, hielt er inne. Die Tür und der eiserne Rahmen waren übersät mit tiefen Kratzern. Auch das rostige Schloss hatte eine tiefe Scharte, in der das blanke Metall silbern blitzte. Franks Herz schlug höher, denn dies musste ein Zugang zur Arena sein. Die Spuren an der Tür stammten sicherlich von den scharfen Klauen verschiedenster Bestien und es bestand eine gute Chance, dass Eriks Zelle durch dieses Tunnelsystem zu finden war. Wenn er ihn finden konnte, war das ihr Fluchtweg. Dann könnten sie das Lager hinter sich lassen. Bloß wohin dann? Frank ging die Mahnung von Yorrick durch den Kopf: Solange man im Talkessel war, würde man sie finden. Wenigstens würde dann sein Bruder nicht mehr in Lebensgefahr schweben, wenigstens konnte er sich dann zwischen ihn und alles stellen was ihnen gefährlich werden konnte.
    Meine Dietriche!, schoss es Frank durch den Kopf.
    Yorrick hatte sie in seiner Tasche. Frank probierte die Türklinke: Wie zu erwarten, verschlossen! Er tat einen Schritt zurück und betrachtete ein letztes Mal Tür und Schloss. Seine Werkzeuge würden genügen, wenn er sie erst einmal hätte. Schließlich wandte er sich ab und folgte weiter dem sanften Anstieg des Tunnels. Er musste nicht weit laufen, bis er wieder unter freiem Himmel stand. Er sah sich um. Vor ihm wieder der Palisadenring, dieses Mal zu seiner Rechten, der Weg führte nach links und eine alleinstehende, bescheidene Hütte. Er blickte zur Sonne und wenn er sich nicht irrte, befand er sich jetzt im östlichen Teil, wo auch seine eigene Behausung zu finden war. Tatsächlich konnte man also den oberen Ring umrunden!
    „Na, verlaufen?“
    Frank schreckte hoch. Die knarzige Stimme stammte von einem greisen Mann. Er saß vor der kleinen Hütte und Frank hatte ihn unter dem Schatten des Vordachs nicht wahrgenommen.
    „Nicht wirklich.“, sagte Frank. „Ich sehe mich nur um.“
    „Hm, schade. Wenn du nämlich nach Orientierung suchst, dann bin ich dein Mann.“
    Er zeigte Frank ein zahnloses Lächeln. Er hielt ein Stück Pergament hoch, das gefüllt war mit unkenntlichem Gekrakel. Frank trat unter das niedrige Vordach. Er erkannte jetzt, was auf dem Pergament war: Es war eine Karte. Der Talkessel mit allen wichtigen Orten. Eichenbruck, Neigenbau, der Middenberg, der Pass der Nordmar. Der Wald am Pass war jedoch nicht eingezeichnet.
    „Warte mal, Jungchen. Bist du neu hier?“, brummelte er durch seinen Rauschebart.
    Er zog die Karte weg, rollte sie eilig zusammen und beäugte Franks Oberarm.
    „Ach, du bist ein Neuling! Na, dann kann ich dir die Karte nicht verkaufen.“
    Er schürzte die Lippen und verstaute sie unter seinem Hemd.
    „Hast du auch eine Karte von dem Lager hier?“, fragte Frank beiläufig und überspielte gekonnte seine Neugierde.
    „Wofür? Ist ja nicht so, als wäre das Lager wie ein Irrgarten aufgebaut.“
    Frank zuckte mit den Schultern. „In den Tunneln vielleicht.“, sagte er unschuldig.
    Der faltige Mann brummte in seinen Bart. „Die Männer, die in der Arena arbeiten, die kennen sich auch aus. Alle anderen brauchen auch keine Karte.“
    Er kniff die Augen zusammen und musterte Frank. Frank wägte kurz ab: Weiteres Nachbohren würde ihn sicherlich verraten. Was die Absichten, oder vielmehr der Grad der Loyalität des Kartenzeichners waren, das war ihm schleierhaft. Frank riskierte es trotzdem.
    „Tja, wenn man sich doch verläuft, dann schon. Das Tunnelnetzwerk ist sicherlich verzweigter als man meint.“
    Für einen Moment, einen Moment zu lang, sahen sie sich schweigend an.
    „Junge...“, sagte der Mann ernst, „...ich kann dir nichts verkaufen.“
    „Verstehe. Natürlich. Die Regeln.“, sagte Frank und kratzte sich am Kopf. „Und wenn ich kein Neuling wäre, wie viel würde es dich dann kosten, deine Feder zu schwingen? Nur für den Fall...“
    „Ha!“, lachte der Mann. „Meine Nase sagt mir, dass ich dir einen gepfefferten Preis machen kann, mein Junge. Aber dafür würde das dann auch unter uns bleiben, keine Sorge. Geschäfte sind schließlich Privatsache, nicht wahr?“
    Frank schmunzelte in sich hinein. Das einzige Gesetz unter Gesetzeslosen, war das Gesetz der Gelegenheit. Nutze jede Chance, die sich dir ergibt, so einfach lautet es. Der Kartenzeichner hielt sich daran.
    „Natürlich“, sagte Frank und nickte.
    Frank verabschiedete sich und ging. Die Ahnung eines Plans formierte sich in seinen Gedanken. Er folgte dem Weg in Richtung Haupttor. Das Lager zeigte sich wieder in seinem gewohnten, notdürftigen Bild, dieses Mal allerdings mit mehr Leben im äußeren Ring. Frank hatte gelernt zwischen den verschiedenen Rängen unterscheiden. Er sah ein paar Männer mit roter Binde und einfachen und verbrauchten Kleidern. Immer wieder sah man Männer, die mit breitem Kreuz und hohem Kinn durch die Straßen stapften. Diese Männer, sowie die Wachen auf den Wehrgängen, trugen stählerne Harnische und Stiefel aus geschwärztem Leder. Einige waren besser gerüstet als andere, vermutlich gab es auch unter ihnen eine Rangordnung. Und dann waren da noch die vielen Männer in Tierfellen, festgezurrt mit Lederriemen. Sie bildeten die große Mehrheit. Nach Frauen suchte man vergeblich, dies schien nur Letos Privileg zu sein. Das Lager insgesamt war viel militärischer geordnet als er zunächst gedacht hatte. Ein Haufen Gesetzesbrecher hatten für gewöhnlich kaum mehr Disziplin als eine Horde Goblins, doch Letos starke Hand und Yorrick an seiner Seite bestimmten die Regeln im Lager der Regelbrecher. Es gab einen festen Wachdienst, einen Jägertrupp und für Nahrung und Wasser wurde auch gesorgt. Frank ging zu seiner Hütte. Davor sah er ein bekanntes Gesicht. Kurz überlegte er, ob er umkehren sollte, doch da war es schon zu spät.
    „He, Frank.“, sagte eine schnarrige Stimme. „Komm mal rüber.“
    Greg winkte ihn herbei, eine Peitsche locker in der Hand haltend. Sein Lächeln war kaum als solches zu erkennen, denn er hatte stets den Unterkiefer vorgeschoben, was die Vielfalt seiner Gesichtsausdrücke begrenzte: Bitterkeit, Argwohn oder Boshaftigkeit; selbst bei einem Lächeln. Frank kam herüber.
    „Na, schon ´ne Arbeit gefunden?“
    Frank schüttelte den Kopf. Er wusste genauestens, dass es schlau war möglichst wenig Worte zu wechseln und seinen Stolz einfach zu schlucken. Jede kleinste Andeutung konnte als Provokation verstanden werden. Genauso wenig durfte man sich nicht zu sehr zum Untertan machen, sonst wird man nur zu einem Spielzeug seiner Peiniger.
    „Das ist in Ordnung, Arbeit macht ja meistens auch keinen Spaß.“, sagte Greg spöttisch. „Wie wär´s ich geb dir ´ne Aufgabe, ist auch ganz leicht. Na, wie wär´s?“
    Greg mahlte mit dem Kiefer, während er Frank erwartungsvoll anblickte.
    „Worum geht´s?“, sagte Frank.
    „Nun, weißt du, ich habe etwas Hunger. Gib mir doch einfach deine Marke und das Problem ist gelöst.“
    Na bitte, dachte sich Frank. So viel zu den Regeln!
    Er rieb sich an der Stirn, spielte den Schuldigen und betonte sein Bedauern.
    „Also, ich war schon beim Markt und da hab ich...“
    Greg sprang heran. „Ach!“, spie er aus.
    Kaum eine Haaresbreite trennte sie voneinander. Sein Schweißgeruch machte es Frank nicht leicht stehenzubleiben, aber er wich nicht zurück. Jedes bisschen Raum, das er aufgab, bedeutete eine Stufe niedriger auf der Nahrungskette. Greg lockerte seine Peitsche. Der Fakt, dass er sie natürlich parat hatte, bestätigte Franks Erwartungen über diese Person.
    „Wenn du so eine einfache Aufgabe schon nicht bewältigen kannst-“, sagte er und machte einen Schritt von Frank weg.
    Blitzartig schlug Greg zu. Die Peitsche wand sich um Franks Bein. Greg zerrte und Frank ging in die Knie.
    „Dann muss ich dir wohl ´ne andere besorgen!“
    Greg zerrte noch einmal, fluchend ging Frank zu Boden, sein Bein sandte heißen Schmerz. Er könnte seine Hand erheben, am Lederriemen zerren, dem Schwein die Peitsche aus der Hand reißen und ihm die Prügel seines Lebens verpassen. Doch Frank presste die Zähne zusammen.
    „Woran hast du denn gedacht?“, brachte er hervor.
    Greg leckte sich die Lippen. „Du stehst auf Schläge, hä?“
    Frank kannte das Prozedere. Nicht protestieren. Nicht aufbegehren.
    „Nicht wirklich“, sagte Frank neutral.
    Ach!? Also ein bisschen schon?“
    Die Peitsche ließ sein Bein frei. Ein zweiter Hieb. Über seine Schulter, den Rücken hinab. Tränen schossen Frank in die Augen. Ein unterdrückter Schrei kam tief aus seiner Kehle.
    „Auf geht´s, die Arbeit wartet!“
    Greg setzte einen Fuß auf Franks Schulter und stieß ihn zurück. Rücklings landete er im Dreck. Unter Gregs gehässigem Gelächter rafft er sich auf.
    „Wo lang?“, sagte Frank.
    Seine Bitterkeit war nur schwer zu unterdrücken. Greg legte Kopf schief, mahlte wieder mit dem Kiefer.
    Fast als würde er nachdenken., ging es Frank durch den Kopf.
    Sein Peiniger stopfte seine Peitsche hinter seinen Gürtel.
    „Da lang“, sagte er und setzte eine Grimasse auf, die entfernt an ein gewinnendes Lächeln erinnerte.
    Frank dankte mit einem Stoßgebet den sieben Wächtern. Zum Glück war der Kerl nur ein durchschnittliches Arschloch mit unterdurchschnittlicher Intelligenz, der mit der Illusion von Macht leicht zu besänftigen war. Es war schwer Schritt zu halten, denn sein Bein gehorchte seinem Willen nicht recht. Greg führte ihn zum Nordtor; Es stand offen. Draußen warteten zwei Männer in Tierfellen und Lederriemen. Einer hatte einen mit spitzen Nägeln gespickte Knüppel, der andere einen Speer. Neben ihnen stand eine kleine Gruppe von Männern mit roten Bändern.
    „Der sieht aber ganz schön verbraucht aus.“, sagte der Mann mit der Nagelkeule. „Ist das sein erster Tag? Du weißt doch, dass die Ersties dazu neigen die Fliege zu machen.“
    Greg zuckte mit den Schultern. „Der rennt nicht mehr.“
    Der Mann mit der Keule deutete auf Franks Bein. „Das heißt, er kann auch kein Wasser mehr tragen! Was soll ich mit so ´nem Waschlappen?“
    Greg sah nach links und rechts, juckte sich am Hals, schniefte ekelhaft. „Soll ich jetzt Leto sagen, dass du die Gefangenen schonst?“
    Sie starrten sich an. Greg war einer der Sorte Mensch, die die Anspannung einer Situation entweder konsequent ignorierten oder sie gar nicht erst begreifen konnte.
    „Könnte ich nämlich machen“, brach Greg das Wettstarren.
    Der Mann mit der Nagelkeule schüttelte den Kopf.
    „Ach halt dein Maul.“, sagte er und wandte sich Frank zu. „Na los, sieht so aus als hättest du die Ehre uns Gesellschaft zu leisten.“
    Greg verabschiedete sich, indem er Frank zu den anderen Neulingen schubste und mit breiten Schulte davon stakste. Auf ein Signal des Aufsehers machten sich die Männer daran sich jeder einen Eimer zu nehmen. Die Gruppe war eine seltsame Zusammenstellung, bestehend aus einem bärtigen alten Mann, ein paar Jungen, die kaum Männer waren, hagere Gestalten und ein, zwei kräftigere Figuren. Sie einte nur die rote Armbinde und ihr damit verbundener Status. Die Eimer wurden so aufgeteilt, dass die Schwächeren geschont wurden und Frank zählte als einer von ihnen.
    Auf geht´s Jungs!“, brüllte der Aufseher. „Ihr wisst wie´s läuft! Bis der Bottich voll ist!
    Die Gruppe setzte sich in Bewegung. Der Trampelpfad war feucht und rutschig. Es war dem mangelnden Enthusiasmus der Aufseher zu verdanken, dass ihre hölzernen Prügel nicht zum Einsatz kamen. Frank mutmaßte, dass dieser einer der besseren Tage sein musste, denn der Junge vor ihm hatte braune Streifen quer über seinem zerschlissenen Hemd: Es war die Farbe von getrocknetem Blut. So gut es ging versuchte Frank sein rechtes Bein zu entlasten. Irgendwann hielt der Trott, sie erreichten ein schmales Bächlein und als Frank schließlich an der Reihe war, wurde er schmerzlich an die Misshandlung durch Greg erinnert. Es war unmöglich beim Wasserschöpfen den dumpfen Schmerz im Oberschenkel zu umgehen, also biss er die Zähne zusammen und stemmte sich mit vollem Wassereimer und ohne Protest die schlammige Böschung empor, Schritt für schmerzhaften Schritt. Mordgedanken um seinen Peiniger kreisten in seinem Kopf. Der bärtige Alte klopfte ihm ermutigend auf den Rücken. Das schenkte Frank wenigstens einen Funken innere Ruhe. Sie gingen noch einmal, und noch einmal und wieder und wieder, bis der Bottich voll war.

    Als Frank gegen Abend zu seiner Hütte hinkte, sah er Theo, den Kochgehilfen, davor warten. Er saß auf der Bank neben der Tür, die Beine überkreuzt.
    „He, ich hab auf dich gewartet!“, sagte Theo freundlich.
    „Seh ich“
    Frank fiel mehr auf die Bank neben ihn, als dass er sich setzte. Seine Hände waren schwielig, aber die zwickende Haut war das geringste seiner Probleme.
    „Ich soll dir etwas ausrichten!“
    Theos Frohsinn war nicht zu trüben und Frank erwiderte dies mit einem müden Nicken und einer schlaffen Geste.
    „Bin schon ganz gespannt.“, ächzte er.
    „Solltest du sein! Yorrick, schickt mich. Ich soll dir sagen, dass ihr morgen gemeinsam raus geht!“
    Frank blickte ins Leere. Es entstand ein kurzes Schweigen.
    „Großartig“, murmelte er schließlich, raffte sich auf, ging in seine Hütte und ließ denk Kochgehilfen einfach sitzen.
    Ohne Umwege fiel er auf sein Strohbett. Kraftlos und abgespannt, wie er war, machte er sich nicht einmal die Mühe seine Sachen auszuziehen. Er spürte seine geplagten Glieder. Der Sturz vom Pferd, der Kampf, die Schläge, die Arbeit. Das Pulsieren und das Ziehen in Knochen und Muskeln ging langsam über in ein angenehmes Kribbeln, in das dumpfe Rauschen müder Nerven. Sanft glitt er in die Ruhe tiefen Schlafs.
    Geändert von GesustheG (16.03.2021 um 12:03 Uhr)

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    Teil 3

    VII Der geheime Zirkel
    Im Jahre des Addo 389, In der Nacht des 13. September
    Die Mitglieder des Zirkels
    Die Geräusche des späten Treibens in Neigenbau drangen bis hierher, zu den Ausläufern der Vorstadt. Man sah die dünnen Rauchfahnen gegen die in weiter Ferne liegenden grauen Bergflanken jenseits der Stadt, und gegen das diffuse Glimmen am Horizont darüber. Die Berge im Osten schienen in der Nacht sanft zu leuchten, wie sie den dunklen Wolkenschwaden einen bläulichen Schimmer gaben, doch Quentin hatte gesagt, es wäre der Mondschein, der von den kahlen Felsen zurückgeworfen wurde. Es war schon fast beruhigend, dass keine Magie im Spiel war, nur der Mond. Die Luft wurde kühler, die Tiere wurden in die Ställe getrieben, im Stadtinneren die Hof- und Haustüren geschlossen. Das Licht warmer Öfen drang aus den Fenstern. Nur die Einzelgänger, Tagelöhner oder reiche Bürger, hatten noch ein Ziel auf den Straßen: Eine Kneipe, um die schmerzenden Knochen zu betäuben oder den Verstand zu benebeln.
    Ferdinand saß in der Spitze eines dunklen Erkers, unter dem Dach der 'Scharfen Kante'. Es gab einen einfachen Weg von einem Fenster im Dachgeschoss; ein paar Klettergriffe und man befand sich auf einem hervorstehenden Balken. Ein Flaschenzug baumelte unter seinen Füßen. Der Mond erhellte das geschwärzte Holz vor ihm, der Giebel über ihm ließ ihn jedoch im Dunkel verschwinden. Der Name des Gasthauses stammte von der Gabelung der Pflasterstraße, die sich im spitzen Winkel teilte. Die Tür ging zu dieser Uhrzeit jede Minute. Quentin war schon im Keller, mit Boris. Fünf Teilnehmer erwarteten sie noch:
    Ignatius war vermutlich schon im Schankraum, Vorarbeiter für die Erzverarbeitung in der Eisenmühle. Über ihm standen die reichen Besitzer und unter ihm die Handwerker, Tüftler und Arbeiter. Jedes Problem landete auf seinem Tisch und seine Liebe zum Bier stieg immer im engen Verhältnis zum Stress seiner Arbeit.
    Sybille, Besitzerin des Freudenhauses, trug immer einen langen braunen Kapuzenmantel. Sie war zu bekannt, und wohl auch zu beliebt, als dass sie ihr Gesicht zeigen wollte. Sie war noch nicht gekommen.
    Moritz Fehdamm, so ehrgeizig wie hochnäsig wie auch reich, verkleidete sich nie. Ebenso wie sein guter Freund Benjamin Korn, der die Brosche des Stadtrats stets stolz auf der Brust trug. Nur war der beleibte Ratsherr Benjamin längst nicht so überheblich und unnahbar wie Moritz. Warum sie eine enge Freundschaft pflegten, war vielen ein Rätsel; wie Moritz überhaupt Freunde haben konnte umso mehr.
    Und dann war da noch Sadiye. Lange, schwarze Haare, ein strenges und zugleich elegantes Antlitz und eine tiefe Stimme. Sie klang sanft in Ferdinands Ohren, trotz ihres kantigen Akzentes. Eine Severim, wie sie im Buche steht, bloß, dass sie sich von keinem Mann sagen ließ, was sie zu tun oder zu lassen hatte. So verweigerte sie sich zum Beispiel dem tragen eines Kopftuchs, was den traditioneller Orientierten in ihrer Gemeinschaft durchaus aufstieß – nicht, dass sie das kümmerte. Sie war der eigentliche Grund für Ferdinands kleines Versteckspiel. Könnte er es sich aussuchen, bei welchem Meister er in die Lehre ginge, Sadiye wäre seine erste Wahl. Der Nervenkitzel, das Geschick, ihre atemberaubende Schnelligkeit. Eines Tages, so hatte er es sich vorgenommen, wollte er ihr auf Augenhöhe begegnen können. Doch ihre Überlegenheit war erdrückend: Er wartete an einer Ecke auf sie, aber sie stand auf einmal neben ihm, tippte ihm auf die Schulter. Dann versteckte er sich, lauerte ihr auf in dunklen Verstecken, aber sie grüßte ihn gelassen im Vorbeigehen. Sie wartete auf den Giebeln der Häuser, die er heimlich erklimmen wollte und beim Abstieg hängte sie ihn ab, mit verspielter Leichtigkeit und Eleganz. Früher, als Ferdinand ihrem Können gegenüber noch ehrgeiziger gewesen war, wollte er sie nur einmal überraschen, nur einmal unerwartet aus den Schatten treten. Inzwischen ging es jedoch nur noch um reine Wissbegierde. Wie sie sich bewegte, wenn sonst keiner sie sah. Sie zu studieren war genug.
    „Ferdinand“
    Dieses Mal war es ihm nicht vergönnt. Er wandte sich um.
    Wie? Wie hast du mich gefunden?“, sagte Ferdinand.
    Jetzt erblickte er die dunkle Silhouette, hinter ihm, am Ende des Balkens.
    „Dein Gesicht...“, sagte sie freundlich, „...verrät mir immer, wo du beim nächsten Mal sein wirst. Deine Züge sind so leicht zu lesen, mein Junge.“
    Ihr leichter Akzent, ihre fremde Melodie und Betonung, löste bei manchen Leuten Argwohn aus, bei Ferdinand nur ein Lächeln. Er versuchte ihren Rat zu beherzigen und sah mit steifer Miene ins Dunkel. Sadiye amüsiert sich.
    „Also zunächst einmal...“, sie zog einen schwarzen Handschuh von ihren Fingern und legte eine Hand an ihre Schläfe, „...ist mein Gesicht hier oben. Außerdem ist es ja kein Wettstreit.“
    Vor Ferdinands innerem Auge sah er, wie sie ihm zuzwinkerte. Ihre Haut- und Haarfarbe halfen ihr im Dunkeln verborgen zu bleiben. Abrupt ließ sie sich vom Balken fallen, hielt sich mit einer Hand am Holz, schwang herum und verschwand mit einem Satz durch das Fenster im Dachgeschoss. Das Geräusch eines Aufpralls blieb aus.
    Sadiye!“, zischte Ferdinand.
    Ihre Antwort war gelassen: „Komm schon. Du wartest noch auf die anderen? Moritz und Benjamin kommen gerade.“
    Tatsächlich, die beiden Männer kamen gerade die Straße herunter.
    „Und was ist mit-“
    „Sybille ist mit mir gekommen.“, unterbrach sie ihn. „Auf geht´s. Besonders die feinen Herren mögen es doch nicht, wenn man sie warten lässt.“
    Ferdinand kletterte hinterher, weniger elegant und weniger schnell.

    Ferdinand war auf einen Schrank geklettert, saß dort und hatte die beste Aussicht auf den gedrungenen Kellerraum. Benjamin, der Ratsherr, hatte die Hände über dem dicken Bauch gefaltet und blickte ernst. Er stand mit Quentin und Sadiye in einer Ecke, vertieft in ein scheinbar wichtiges Gespräch. Die anderen Teilnehmer waren in der Mitte des Raumes, verteilt um einen mächtigen runden Eichentisch, auf dem ein unübersichtlicher Haufen von Papieren, Briefen, Karten und Notizblättern lag. Abseits vom Tisch stand ein roter Ohrensessel, wo Sybille Platz genommen hatte. Sie pflegte gerade ihre Nägel.
    „Können wir?“, näselte Moritz und wippte ungeduldig mit dem Fuß.
    Der fein gekleidete Edelmann seufzte genervt und gab Quentin einen mahnenden Blick, als wäre Quentin ein ungehorsamer Diener und nicht der Mann, der diese Gruppe damals ins Leben gerufen hatte, die Pläne formulierte, die Treffen einberief und stets die Rolle des Streitschlichters übernahm. Moritz Fehdamm hatte seine Eigenheiten, aber er war gewitzt, gebildet und vor allem reich und mit gehörigem Einfluss unter Seinesgleichen gesegnet. Sie brauchten ihn.
    Quentin blickte auf.
    „Ja, wir können.“, sagte er, nickte dem Ratsherren und Sadiye zu und eilte herüber. „Eure Einladungen bitte.“
    Quentin ging herum und sammelte von jedem der Anwesenden einen der Behälter ein, die Ferdinand zuvor verteilt hatte. Er beendete seine Runde neben Boris, stemmte die Hände in die Hüften, lächelte breit und ließ seinen Blick über die Männer und Frauen seines geheimen Zirkels streifen.
    „Gut!“, sagte er. „Schön, dass ihr alle erschienen seid!“ Sein Lächeln verschwand und seine Stimme wurde nüchtern und ernst. „Ihr habt alle die Botschaft erhalten und ich bin sicher, dass einige von euch sich bereits eine Meinung gebildet haben. Aber ich möchte ein paar Worte äußern bevor wir uns in eine Diskussion stürzen. Jede Stimme soll gehört werden, doch bitte mit Bedacht und Respekt.“
    Quentin blickte fragend in die Runde. Die Männer und Frauen schwiegen. Boris brummte zustimmend und machte eine Geste, dass Quentin fortfahren sollte.
    „Gut“, sagte Quentin, nahm einen tiefen Atemzug und legte seine Hände flach auf den Tisch. „Es wäre ein Wagnis. Dies ist keine Frage. Vertrauen ist und bleibt ein rares Gut. Aber, wenn ich mich hier umsehe, dann sehe ich, dass wir breit aufgestellt sind. Wir haben Kontakte zu den Handwerkern und den Arbeitern, den Bürgern und den Händlern, zum Rat und zu den Edelmännern, zu den Severimfamilien und selbst zu den Banditen. Was fehlt, meine Damen und Herren, ist nur eines!
    Quentin hob bedeutsam den Zeigefinger.
    „Es sind die Soldaten!“
    Der Kaufmann strich sich durch seinen Schnurrbart und stemmte die Hände in die Hüfte. Unruhe machte sich sofort breit. Boris schüttelte nur bei der Erwähnung der Blutjacken schon den Kopf, während Moritz Fehdamm bei den Gesetzeslosen die Nase rümpfte. Ihr Kontakt zu den Banditen, ein Mann namens Raul, hatte leider schon eine ganze Weile nichts mehr von sich hören lassen, bald über ein Jahr. Moritz störte das ganz und gar nicht, im Gegenteil.
    „Sybille“, sagte Quentin laut in die Runde, „Erzähl uns von Hauptmann Hermann!“
    Alle drehten sich um, alle Augen lagen auf Sybille, die, mit überschlagenen Beinen und gehobenen Brauen, immer noch ihre Nägel inspizierte.
    „Von Hermann?“, flötete sie.
    Sie seufzte ausgedehnt, faltete die Hände zusammen und erzählte. Von Hermann, von seiner Erfahrung in den Diensten des Königs, von seiner Stellung unter den Soldaten und von seiner engen Beziehung zum Kommandanten. Nicht zuletzt auch von seiner Person selbst und seinem Auftreten im Sybilles Freudenhaus. Der Hauptmann wäre nicht jemand, der Konflikte mit dem Schwert befriedete, sondern vielmehr ein Mann, der die schwere Last eines so weit wie möglich reinen Gewissens auf seinen Schultern trug. Er war jemand, der nach einer Mission suchte, geradezu danach lechzte. Sybille schloss mit der Bemerkung, dass sie selbst zumindest einen gewissen Einfluss auf ihn hatte. Worin der genau bestand, ließ sie offen.
    „...denn ich habe was der Mann will.“, sagte sie nur, das Kinn hoch angehoben.
    Ihre Augen lagen wieder auf ihren Fingernägeln. Boris und Sadiye wechselten einen bedeutungsvollen Blick.
    „Einen Soldaten also.“, sagte Sadiye. Ihre Worte trieften vor Abscheu. „Du hattest schon bessere Ideen, Quentin.“
    Boris pflichtete ihr bei und was der Schmied sagte, galt meist auch für Ignatius. Sie äußerten ihre Bedenken und bald entbrannte eine heiße Diskussion. Schließlich war das Risiko, einen Vertreter der kampfstärksten Gruppierung des Kessels in ihre Kreise aufzunehmen, schier unmessbar. Die Stadtwache sah aus wie ein schlechter Witz gegen die fast achtzig gerüsteten und ausgebildeten Männer unter Raik. Wer konnte schon genau wissen, was der Kommandant für Absichten hegte? Oder wie genau die Stimmung in der Garnison war? Doch genau deswegen brauchten sie ihn. Vertrauen wurde selten geschenkt im Kessel; es wurde gekauft, umworben und letztlich doch selten gegeben. Nicht zuletzt war der Zirkel ohnehin schon ein durchmischter Haufen unwahrscheinlicher Verbündeter: Reibungen zwischen reich und arm, Frau und Mann oder fremd und heimisch waren Hürden, die es immer wieder zu überwinden galt. Würde nun auch noch ein Soldat beitreten, wie wäre es dann um die Stabilität ihrer Gruppe bestellt? Und konnte solch eine Gruppe noch ihrem eigentlichen Ziel gerecht werden? Es ging um Stabilität. Stabilität für den gesamten Kessel.
    Ferdinand beobachtete sie von seinem Posten aus. Er zählte die Stimmen derer, die dafür, dagegen oder unentschlossen waren. Quentin, Sybille, Moritz und Benjamin würden zustimmen. Boris, Ignatius und Sadiye dagegen. Zwei Drittel brauchte es für einen Beschluss, also Fünf von Sieben. Es würde nicht reichen. Der Schmied hatte eine tiefe Abneigung gegenüber den Soldaten, denn zu viele seiner Leidensgenossen waren Opfer der frühen Plünderungen geworden. Bis in die Siedlungen vor der Stadtmauer hatten sich die Soldaten damals gewagt, von den Bauernhöfen ganz zu schweigen. In ihrer Dreistigkeit hatten die Soldaten auch noch behauptet, es würde sich um Steuern handeln, um rechtmäßige Tyrannei im Namen der Krone. Dennoch, Boris war ein Mann der Vernunft. Während Sadiye ihrer sonst guten Freundin Sybille giftige Blicke zuwarf, strich sich Boris nachdenklich über den buschigen Bart.
    Quentin rief zur Abstimmung auf. Nach langen Momenten der Stille, sagte er:
    „Wer ist dafür?“
    Ferdinand, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, wartete nicht länger.
    Quentin!“, rief er.
    Mit einem Satz sprang er vom Schrank und schritt zum Eichentisch.
    „Ich denke, du hast noch etwas zu berichten für den Zirkel.“, sagte er bestimmt.
    Der Blondschopf stand dort, im Kreis der Erwachsenen, mit verschränkten Armen und stolzer Miene.
    „Du solltest deinen Jungen etwas strenger führen.“, brummte Boris und warf Quentin einen vorwurfsvollen Blick zu.
    „Erzähl ihnen von Gero!“, sagte Ferdinand unbeirrt.
    Das tat seine Wirkung. Nun lagen die Blicke auf Quentin, nicht länger auf seinem vorlauten Ziehsohn und Lehrling. Ein gespanntes Schweigen entstand und Quentin rückte seine Kleider zurecht, straffte die Brust und räusperte sich mit einem nervösen Blick in die Runde.
    „Nun gut. Jetzt, wo ihr alle so neugierig geworden seid...“, sagte er und durchbohrte seinen Zögling mit strengen Augen, „...unterbrechen wir die Wahl für einen Moment. Gero...“ Er blickte sich um. „...ist ein Bote. Sein Pferd, es ist derzeit in meiner Obhut.“
    Einigen stand der Mund offen. Jemand von Außerhalb. Ein Mensch hatte es durch den Matterforst geschafft. Das erste Mal seit drei Jahren! Die Unruhe, die entstand, war kaum zu bändigen. Ein Bote? Mit welcher Botschaft? Wo er herkam, welche Neuigkeiten er brachte, ob er allein gekommen war, wer alles davon wusste und noch viele weitere Fragen. Quentin bemühte sich nach bestem Wissen und Gewissen Antworten zu geben. Moritz fragte sogar, ob er Quentin das Pferd abkaufen könnte, es war schließlich das einzige im gesamten Kessel und für den Besitzer bedeutete dies ein gewisses Prestige. Es war die einzige Frage, die Quentin unbeantwortet ließ. Als wieder Ruhe einkehrte und sich das Verhör des Kaufmanns in Gespräche zwischen den Mitgliedern zerfaserte, erhob Ferdinand wieder das Wort:
    „Deshalb brauchen wir Hermann.“, sagte er. „Wir müssen herausfinden, was die Botschaft enthält.“
    Der blonde Junge, wohl wissend, dass er wieder einmal seinen Status im Zirkel vergaß, machte eine vornehme Verbeugung und zog sich zurück vom runden Tisch. Sein Einwand jedoch fand keine Widerworte.
    Quentin tat einen tiefen Atemzug. „Wohlan! Wollen wir abstimmen?“
    Niemand erhob Einwände.
    „Wer ist dafür?“, fragte Quentin.
    Der Kaufmann hob seine Hand. Sybille folgte, sowie Ratsherr Benjamin und Moritz Fehdamm. Vier von Sieben. Eine Stimme zu wenig. Boris, Ignatius und Sadiye regten sie nicht, die Arme verschränkt. Niemand sagte etwas.
    „Ich bin dafür.“, brach Sadiye die Stille. „Unter einer Bedingung! Wir machen es auf meine Weise.“
    Boris, erbost über Sadiyes Sinneswandel, hakte sofort nach: „Und was genau ist deine Weise?“
    „Wir sichern uns ab. Ich hole den Brief. Dann reden wir mit der Blutjacke.“
    Quentin sah sich um, suchte nach Einwänden unter den Teilnehmern. Die aufopfernde Haltung, das Wagnis, das Sadiye bereit war einzugehen, sich beim Lehnsmann, bei achtzig bewaffneten Männern ins Lager einzuschleichen, fand Respekt und Anerkennung. Selbst bei Moritz, der für gewöhnlich kein Blatt vor den Mund nahm, wenn es darum ging ihre Methoden geringzuschätzen.
    „Die Wahl gilt!“, sagte Quentin.

    Das Treffen dauerte noch eine Weile an. Sie besprachen das Übliche: Die Verfassung der Gemüter in Neigenbau, wie tief die Taschen der Geschäftsmänner noch waren, wie es um die Arbeiterschaft stand und um die Orte, an denen sie ihr Werk verrichteten. Die Ressourcen der Grube etwa, so nannte man den Abbau beim alten Flussbett der Neige, war bald erschöpft. Gut hundertfünfzig Mann waren dann wieder ohne Arbeit. Die Mine hätte zwar noch reichlich Erz, sie war aber inzwischen so tief, dass die Förderung bald mehr Aufwand bedeutete als das Schürfen im harten Fels. Man hatte dort vor einem Jahr eine Salzsole entdeckt, neben den rostbraunen Eisenadern im Gestein. Doch der Markt war gesättigt mit den Rohstoffen. Das sonst so wertvolle Bergsalz wurde für Spottpreise verscherbelt. Selbst die ärmsten Familien hatten einen Brocken in ihrem Heim. Die wenigsten schürften noch in der Mine im Osten und auf den Bauernhöfen kamen die Ernten dem Ende zu. Moritz berichtete davon, dass manche Bürger es bevorzugten mit den gravierten Wolfszähnen der Nordmar zu zahlen. Die Währung der Bergvölker hätte wenigstens stabile Preise, so rar die Zähne auch sein mochten. Die Kosten einer einfachen Mahlzeit schwankten im Kessel so stark wie die Gemüter der Arbeiterschaft. Das einzige Geschäft, dass sich in absehbarer Zeit anbot, war das Beschaffen von Holz für den Winter und das war ein mageres Geschäft. Es war kaum den Lohn wert – weder für Kaufmann noch Arbeiter und die örtlichen Holzfäller sahen es auch nicht gern, wenn man in ihren Wäldern fuhrwerkte. Die Gruppe im Keller hatte sich zusammengetan, um die Geschicke von Neigenbau zu lenken, um die Krisen im Talkessel zu überwinden, doch nun sah es so aus, als wäre jeder Weg eine Sackgasse. Die Abschottung war wie ein dicker Rauch, der ambitionierte Lebensgeister erstickte, und die um sich greifende Armut das schwelende Feuer darunter. Es war eine unausgesprochene Wahrheit: Man konnte die Flammen bekämpfen, doch nie den Brandherd löschen. Man einigte sich auf ein erneutes Zusammenkommen, sobald Sadiye Neuigkeiten brachte. Das Treffen wurde beendet.
    Nach und nach verließen die Teilnehmer den Keller. Jedes Mal, wenn die Tür am Ende der Treppe ging, schwappte der Lärm des Schankraums in das Gewölbe. Quentin blieb noch, sowie sein Lehrling und auch Sadiye.
    „Ferdinand“, sagte Quentin und legte eine Hand auf seine Schulter. „Du kommst heute nicht mit zurück nach Eichenbruck. Dein Arbeitstag ist leider noch nicht vorbei.“
    Sadiye gab ihm ein verschmitztes Lächeln.
    „Pass gut auf ihn auf.“, mahnte Quentin die Severim
    Sie nickte freundlich und zwinkerte dem etwas verdatterten Jungen zu.
    „Und du...“, der Kaufmann lehnte sich zu Ferdinand herab und hob einen mahnenden Zeigefinger, „...hör auf die Frau! Sie versteht was von ihrem Geschäft, verstanden?“
    Ferdinand, irritiert und unsicher, nickte eifrig. Es roch nach Abenteuer.
    „Was habt ihr vor?“, fragte Ferdinand.
    „Du und ich...“, sagte Sadiye, „...wir gehen ins obere Viertel.“


    VIII Das Handwerk der Severim
    Im Jahre des Addo 389, Zur Mitternachtsstunde am 13. September
    Sadiye & Ferdinand
    Das Klettern schien Sadiye keine Mühe zu machen. Die verschwenderischen Fassaden boten viele gute Griffe, trotzdem war Ferdinand immer ein bisschen hinterher. Zum einen fehlte ihm ihre Übung und ihr Training und zum anderen hatte er nicht die Reichweite eines Erwachsenen. Die schwarze Kapuze, die Ferdinands blonden Haare verbarg, behinderte seine Sicht und die Dunkelheit der Nacht machte es nicht leichter. Sadiye erreichte die Dachkante und beobachtete seinen Fortschritt.
    „Rechter Fuß auf das Sims.“, flüsterte sie und deutete auf ein Fenster. „Du brauchst ein bisschen Mut für den Tritt.“
    Ferdinand biss die Zähne zusammen und drückte sich ab. Er bekam einen Dachbalken zu fassen und landete mit seinem Fuß auf dem Sims. Als er herauf blickte, sah er Sadiyes freundliches Gesicht, die ihm einen stillen Applaus gab. Bei allen Schwierigkeiten, denen er von Sadiye ausgesetzt wurde, war sie immerhin gütig und wohlwollend, wenn er ihre akrobatischen Prüfungen meisterte. Als er sich anschickte die letzte Kante zu überwinden, um das Dach zu erreichen, da packte ihn Sadiye an der Schulter und zog ihn kurzerhand herauf. Ferdinand hatte schon immer geahnt, dass sich unter ihrer dunklen Lederkluft mehr Kraft verbarg, als es den Anschein machte, aber dass sie ihn so mühelos anheben konnte, damit hatte er nicht gerechnet. Noch bevor Ferdinand sich aufgerappelt hatte, war sie schon wieder in Bewegung. Er schloss schnell auf und sie bedeutete ihm im Schatten hinter einem Schornstein zu bleiben.
    „Hier sind wir.“, sagte sie mit gedämpfter Stimme.
    Ferdinand erkannte im Mondschein das großzügig angelegte Rathaus auf der anderen Straßenseite. Das obere Viertel, so sehr man das hochnäsige Bürgertum auch verachten mochte, hatte seine Reize. Das verspielte Fachwerk, die feinen Gärten, Balkone und Erker, Ziertürmchen und Wasserspeier. Dünne Rauchschwaden stiegen aus den unzähligen, manchmal mit Figürchen von Göttern oder Tierwesen geschmückten Schornsteinen empor. Der silberne Halbmond warf seinen fahlen Schein auf die verlassenen Straßen.
    „Und jetzt?“, fragte Ferdinand.
    Gut acht Schritte nacktes Pflaster und ein eiserner Zaun mit gezackten Spitzen trennten sie vom Ratshausgrundstück. Ferdinand sah beim besten Willen keinen Weg von hier oben aus.
    „Du kletterst wieder runter.“, sagte Sadiye.
    Sie hielt ihm eine Rolle von Papieren hin. Ferdinand hatte diese Dokumente schonmal gesehen: Im Keller der Scharfen Kante, als Ratsherr Benjamin, Sadiye und Quentin sich vor der Eröffnung des Runden Tischs unterhalten hatten. Hatte nicht Benjamin sie in seinen Händen gehalten?
    Ferdinand blickte sich irritiert um. „Und warum…“, zischte er, „…bin ich dann mit dir hier hochgeklettert?“
    Widerspenstig nahm er die Papiere entgegen. Sadiye machte eine beschwichtigende Geste.
    „Das hier ist dein Ausguck. Du wirst es alleine schaffen müssen hier wieder hoch zu kommen.“ Sie klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. „Bleib im Schatten vom Schornstein. Achte auf den Blickwinkel der Wachen, selbst wenn du im tiefsten Schatten bist, stechen deine Umrisse gegen den Himmel heraus, verstehst du?“
    Ferdinand nickte.
    „Gut.“ Sadiye senkte den Kopf, sah ihn eindringlich an. „Hier ist deine Aufgabe: Du kletterst herunter. Du gibst mir die Dokumente durch den Zaun und kletterst wieder hier hoch. Du wartest hier oben. Im Schatten vom Schornstein. Die Wachen beim Rathaus stehen inzwischen über sechs Stunden und wenn ihre Ablösung kommt...“, sie betonte jedes Wort, „...muss ich das wissen! Hast du verstanden?“ Sie blickte ihn prüfend an.
    „Verstanden.“, sagte Ferdinand.
    „Gut. Hast du noch Fragen?“
    Ferdinand ließ sich das nicht zweimal sagen.
    „Warum gehen wir nicht nach der Ablösung?“, fragte er.
    „Ich will keine Wachmänner mit wachen Augen.“
    „Wie soll ich dir Bescheid geben?“
    „Dir wird schon etwas einfallen. Ein Vogelruf, ein Pfiff.“
    „Warum nimmst du die Papiere nicht selbst? Warum muss ich sie dir übergeben?“
    „Die Dokumente dürfen nicht zerknittern, sonst merkt es noch der Sekretär.“ Sadiye wurde langsam ungeduldig. „Jetzt ab mit dir!“
    Ferdinand verstand zwar nicht genau, warum dies bedeutete, dass er die Dokumente durch den Zaun reichen sollte, fügte sich jedoch ihrem Plan. Sadiye wüsste, was sie tat, so waren Quentins Worte gewesen. Der Abstieg war einfach. Einmal erklommen, ist so manche Hauswand wie ein offenes Buch für das geschulte Auge. Er wartete unten am Zaun, die eisernen Spitzen glänzten gefährlich im Mondschein. Ungeduldig ging er auf und ab, fummelte an seiner Kapuze. Dann hörte er schnelle Schritte. Er sah hinauf. Ein schwarzer Schemen huschte über den Sternenhimmel. Ein Schweif von langen, dunklen Haaren, wie ein schwarzer Komet, folgte der Figur. Dann hörte er das dumpfe Geräusch eines Aufpralls. Verdattert starrte Ferdinand durch das Gitter der Umzäunung. Sie war gesprungen! Von einem mehrstöckigen Haus, über eine Straßenschlucht, über einen gespickten Eisenzaun! Voller Unglauben suchten seine Augen in den Schatten hinter dem Zaun. Entweder würde er bald ihr Wimmern hören, ihre beiden Beine mussten gebrochen sein, oder sie–
    „Die Papiere, Ferdinand.“
    Dort stand sie, direkt hinter dem Zaun. Ihre Silhouette war vor dem dunklen Rasen kaum sichtbar. Ferdinand überreichte die Papiere und sie verschwand. Ein paar Schritte eilte er über die Straße, bevor er innehielt. Er blickte vom Hausdach zu dem Rasen hinterm Zaun. Nie im Leben hätte er ihr so einen Sprung zugetraut. Sie war geschickt, schnell und wendig. Er hatte gedacht sie wäre dementsprechend filigran und zerbrechlich. Ein solcher Sturz jedoch? Sadiye blieb ihm ein Mysterium. Wie gern hätte er gesehen, wie sie sich abgerollt haben musste. Ferdinand löste sich aus seinem Staunen und machte sich daran das Haus erneut zu erklimmen. Es ärgerte ihn, wie lange er dafür brauchte und wie weit seine Fähigkeiten von denen Sadiyes entfernt waren. Immer wieder phantasierte er darüber ihre Fähigkeiten zu erlernen. Quentin musste es erahnt haben, sonst hätte er ihm nicht diese Gelegenheit beschert. Hier, auf den Dächern Neigenbaus, wurde ihm klar, dass es leider nicht mehr war als nur eine Fantasie. Wenn er genauer darüber nachdachte, fiel ihm auf, dass er kaum etwas über Sadiye wusste. Wie sie zu ihren Fähigkeiten gekommen war, wer sie ausgebildet hatte. Ihre Heimat lag in der Wüste jenseits der Sichelküste, jenseits der Salzstraße, weiter als er es sich ausmalen konnte. Hier lebte sie im Armenviertel in der kleinen Gemeinschaft der Severim. Abgesehen von ihren akrobatischen Talenten, war das schon alles, was er über sie wusste. Er beschloss Quentin einmal über sie auszufragen. Aus ihr selbst war vermutlich kein Wort herauszuholen – sie hütete wachsam über ihre Geheimnisse.
    Die Stadt war ruhig von seiner Warte aus. Gerade hier, im oberen Viertel, hielt sich das Nachtleben in Grenzen. Er hörte das Bellen eines Hundes, ein Ladenschild quietschte im Wind und in der Ferne rauschte die Neige. Zusammengekauert saß Ferdinand im Schatten des Schornsteins, den Blick auf das Pflaster geheftet. Die Kälte machte ihm nichts aus, das Warten schon. Er wusste, es war besser, wenn nichts passieren würde. Dennoch wünschte er sich, dass er mehr zum Gelingen der Mission beitragen konnte. Die Papiere hatte er übergeben, das war aber kaum der Rede wert, denn seine Komplizin hätte sicher auch allein einen Weg gefunden. Wenn Ferdinands Vermutungen stimmten, dann waren die Papiere zum einen ein gefälschter Vertrag und zum anderen ein Schuldbrief. Beides sollte in die Archive der Stadt eingeschleust werden. Es ging um die Ausstattung der Stadtwache, ein häufiges Thema im geheimen Zirkel. Die alte Ausrüstung war abgenutzt und untauglich und mit der nächsten monatlichen Ausrechnung würden neue Uniformen und polierte Prügel in Auftrag genommen werden. Die ganze Angelegenheit würde somit am Rat vorbei gehen, denn Ratsherr Benjamin sah die Ablehnung der Ratsversammlung voraus. Die Stadt war auf Sparkurs, also sprang Sadiye ein. Ferdinand kamen Zweifel auf, dass er tatsächlich gebraucht werden würde. Vielleicht wollte Quentin ihm nur einen Gefallen tun und ihm einen Ausflug mit der Meisterdiebin spendieren. Dieser Gedanke entwertete dieses Abenteuer. Aber dort saß er nun, auf seinem Posten in finsterer Nacht.
    Bestellt und nicht abgeholt, dachte er.
    Die Zeit verstrich schleppend. Ferdinand widmete sich aus Langeweile den Sternen, ging die Namen durch, die er kannte, zählte die heiligen Sieben – als er plötzlich etwas hörte. Männerstimmen, sie kamen von links! Er blickte auf die Straße. Eine Gruppe von vier Mann kam um die Ecke. Sie trugen Waffen am Gürtel, hatten Helme und schwere Stiefel. Es war die Ablösung! Ferdinand leckte sich über die Lippen. Dies war seine Gelegenheit: Ein Signal für Sadiye. In einem Moment tiefen Schreckens wurde ihm gewahr, dass er sich nicht überlegt hatte wie. Welches Signal? Hastig blickte er sich um, die Truppe kam näher. Ein Pfiff? Er konnte kaum pfeifen. Laut zu rufen war ungefähr das Dümmste, was er tun könnte. Die Männer waren fast auf gleicher Höhe. Er hatte eine Idee. Ferdinand schob sich nach vorn, bis zur Kante des Daches. Die Schindeln schabten unter seinem Gewicht aneinander, drohten ihn zu verraten. Doch die Männer passierten Ferdinands luftiges Versteck. Eilig schob er eine Hand unter einen Dachziegel, hob ihn an-
    „Moment mal, Jungs.“, schallte es herauf.
    Ferdinand erstarrte.
    „Was ist los?“, erklang eine zweite Stimme.
    „Will ´ne Stange Wasser abstellen, haltet mal kurz die Stellung.“
    Ein Mann blieb fast genau unter ihm stehen. Die anderen warteten ein paar Schritte entfernt. Langsam und mit steifen Armen, löste Ferdinand eine Schindel aus ihrer Halterung. Er spähte hinab und versicherte sich, dass er den Mann nicht treffen würde. Dann ließ er los. Der Dachziegel flog, kam auf und zerbarst in tausend Stücke. Die Wachmänner zogen ihre Waffen, ihr Kollege stürzte fast zu Boden, wie er mit offener Hose beiseite sprang.
    Was zum Henker?“, brüllte einer.
    „War nur ein Dachziegel.“, kam sogleich die Entwarnung.
    Der Mann, der sich gerade noch erleichtern wollte, hatte inzwischen seine Kleider wieder geordnet.
    „Was zum Henker war das denn?“, polterte er. „Bei den sieben Wächtern, die hätte mich glatt erwischen können.“
    Ferdinand presste sich flach auf das Dach.
    „Ist da irgendein Lümmel auf dem Haus und schmeißt mit Schindeln, oder wie?“, rief er erbost.
    Der Mann machte eine Pause, als wollte er Ferdinand Gelegenheit geben sich zu stellen. Dieser hielt den Atem an, die Glieder steif und angespannt.
    „Reg dich ab, Steffen.“, kommentierte ein anderer. „Nenn es Glück im Unglück. Dein Holzkopf ist intakt!“
    Die anderen lachten. Wachmann Steffen gab sich damit nicht zufrieden.
    „Leute, ich sage euch, ich hab was gehört, bevor das Ding runterkam.“
    „Ja, und zwar einen Ziegel, der sich gelöst hat. Bist du jetzt fertig?“
    Steffen grummelte etwas Unverständliches und schloss sich widerspenstig der Gruppe an. Ferdinand kroch ein Stück das Dach wieder hinauf. Er duckte sich in den Schatten und klammerte sich an den Schornstein. Langsam konnte er sich beruhigen. Er war solche Dinge ganz und gar nicht gewohnt. Eine Hand legte sich auf seine Schulter.
    „Alles gut?“
    Ferdinand fuhr zusammen. Die Stimme hatte einen unverkennbaren Akzent.
    „Gute Idee mit dem Ziegel.“, sagte sie.
    Sadiye zwinkerte ihm zu, aber Ferdinand erholte sich immer noch von Schock und Aufregung.
    „Nicht schlecht für einen Anfänger.“ Sie schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Lass uns nach Hause gehen.“


    IX Dunkle Erde
    Im Jahre des Addo 389, Irgendwann am 14. September
    Erik
    Der Versuch zu sprechen scheiterte kläglich. Seine Lippen bewegten sich, doch seine Stimme gehorchte nicht. Er wollte husten, aber auch dafür war sein Rachen zu trocken. Erik hatte schon zu lange in seiner Zelle gesessen, um zu wissen, ob es Tag oder Nacht war. Es war ihm inzwischen auch gleich. Ein Teil von ihm hatte sich in trotziger Bitterkeit mit seiner Machtlosigkeit abgefunden. Den Ablauf der Ereignisse, die ihn hierhin gebracht hatten, hatte er schon hundertfach durchgespielt. Das Gesicht des Mannes über ihm. Seine Worte – ‚Willkommen im Talkessel‘ – wie ein höhnisches Echo hallten sie in Eriks Gedanken wider, immer und immer wieder. Er schüttelte den Gedanken ab und richtete sich auf. Irgendetwas musste er tun. Er hatte gelesen, von Menschen in Gefangenschaft, wie sie wahnsinnig wurden, nicht wegen der Schmerzen und nicht wegen dem Hunger. Nicht wegen dem Leid, nein – wegen der Einsamkeit. Wegen der Ereignislosigkeit in einer dunklen, stummen Zelle. Man solle Gedichte aufsagen, Lieder singen, Erinnerungsspiele erdenken und zur Not mit sich selbst sprechen. Gerade letzteres erschien eigenartig, dass man mit sich selbst sprechen sollte, um dem Wahnsinn vorzubeugen. Erik konnte sich für nichts davon begeistern. Er gab sich einen Ruck und ging die Namen von bekannten Kräutern durch. Ogerblatt, Kronstöckel, Scherenschilf, Eisenhalm, Felsnessel, Königsdistel, Drachenwurz, Silberblatt, Immerlinde. Immerlinde. Er sah die Bäume, das Lindlebermoos und das blaue Glimmen. Er sah seinen Bruder, der ihn rief. Die Gruppe, die Männer, der Händler. Die Bestie. Die Flucht. Die Speerspitze, wie sie aus dem Pferdenacken trat.
    Willkommen im Talkessel, schallte es in seinem Kopf.


    X Eisenhalm, Kronstöckel, Drachenwurz
    Im Jahre des Addo 389, In der Nacht des 14. September
    Frank
    Mitten in der Nacht wachte er auf. Er benötigte die Ruhe dringend, denn sein Tageswerk, das Wasser für mehr als hundert Mann zu besorgen, zehrte an seinem Geist wie seinem Körper. Aber seitdem sie aufgebrochen waren, damals, weg von Heimat und Familie, schreckte Frank immer wieder aus seinem Schlaf. Es war einer gewissen Nervosität geschuldet; Sein Schutzauftrag gegenüber seinem kleinen Bruder, die langen Wochen der Wanderschaft in der Fremde und die strengen Weisungen seines Vaters, all dies hatten ihm eine niemals ruhende Wachsamkeit gelehrt. Dass er noch müde war, kaum bei Sinnen und erschöpft, hielt ihn nicht auf. Er hatte Dinge zu erledigen.
    Essen, Wasser und ein Schlüssel.
    Er trat aus seiner Hütte. Offenbar war es schon eine Weile nach Mitternacht und das nächtliche Treiben hatte sich gelegt. Der Mond schien gerade genug Licht auf das Lager, um sich orientieren zu können und ein paar der Fackeln brannten noch am Wegesrand, die meisten waren aber schon erloschen. Er folgte dem Weg, am Haupttor vorbei, vorbei an den müden Wachposten, bis er den Marktplatz erblickte. Im Schatten einer Holzhütte machte er halt, löste das rote Band von seinem Arm und stopfte es in seine Tasche. Er schloss die Augen und übte eine Stimme ein: Kratzig, alt und vor allem betrunken.
    „Entschuldigung.“, sagte er leise. Dann etwas fahriger: „Enschulijung!“
    Leicht schwankend ging er los. Die Stände waren, so wie auch zuletzt, bewacht und befüllt. Er steuerte auf den Händler mit allerlei Jagdbeute zu und wurde aufgehalten kurz bevor er ankam.
    „He, he! Wo soll´s denn lang gehen?“, sagte der Händler und kam hinter seinem Stand hervor.
    Frank ließ den Kopf hängen. Er durfte nicht erkannt werden.
    „Enschulijung!“, sagte Frank und verschliff dabei einige Laute dieses doch recht einfachen Wortes. „Ob ihr noch´n bisschen Schnaps habt, wollt isch wissen?“
    Seine Stimme funktionierte ausgezeichnet, was Frank daran maß, wie genervt der Händler reagierte.
    „Das ist der Markt, Kollege! Scharfen Stoff gibt´s hier nur tagsüber.“
    Frank stolperte einen Schritt zur Seite. Es war das Vorspiel für das, was gleich kommen würde.
    „Och, ne! Das ‘s nich fair...“, brummelte er.
    Langsam, ohne Rücksicht auf Verluste seinerseits oder seines Gegenübers, neigte er sich nach vorn, bis er das Gleichgewicht verlor; dann stürzte er. Erst gegen den Händler, dann gegen den Stand. Unter Stöhnen sackte er zusammen.
    „Wenn ich sage Schnaps...“, protestierte Frank laut, auf dem Boden liegend mit einem mahnenden Zeigefinger in die Höhe gestreckt, „...dann will ich SCHNAPS!
    Der Händler reagierte prompt: Wutentbrannt ballte er die Fäuste und gab Frank einen heftigen Tritt auf das Hinterteil.
    Verpiss dich!“, brüllte er.
    Frank rappelte sich auf, kroch sogar ein Stück.
    „Das ‘s nisch fair!“, quiekte Frank.
    Ein zweites Mal kam der Fuß des erzürnten Mannes. Dieses Mal sah ihn Frank kommen und rutschte rechtzeitig zur Seite. Gerade so entging er seiner unfreundlichen Verabschiedung.
    Hau bloß ab, Junge!“, rief der Händler ihm hinterher.
    Als Frank den Markt verlassen hatte, ging er wieder normal, knotete sich schnell die rote Binde an den Oberarm und rieb sich den schmerzenden Hintern. Aus seiner Hosentasche zog er sechs Streifen leckerstes Trockenfleisch. Zwei Arschtritte für eine kleine Mahlzeit: Ein Tausch, der es wert gewesen war, befand Frank. Einen schob er sich gleich in den Mund, die anderen verstaute er wieder.
    Wasser und Schlüssel, dachte er.
    Er folgte der Straße des Außenrings, an den Hütten und Bruchbuden vorbei. Bei fast jeder Tür hielt er inne und lauschte. Jedes Mal, wenn er lautes Schnarchen hörte, warf er einen Blick hinein. Schließlich wurde er fündig. Der Mondschein spendete gerade genug Licht, um die Gegenstände auf einem Tisch zu erkennen. Das Bett samt schlafendem Bewohner stand ein Stück entfernt in der gegenüberliegenden Ecke.
    Einfacher wird’s nicht, dachte Frank.
    Er duckte sich durch die niedrige Tür. Dann zwei langsame Schritte zum Tisch. Es roch nach Bier und moderndem Holz, das Schnarchen blieb gleichmäßig. Frank bewegte seine Hand langsam zum Tisch. Seine Finger berührten einen Trinkschlauch. Aus dem Dunkel, aus dem nichts, legte sich eine zweite Hand neben seine. Frank erstarrte. Jemand saß vor ihm, in den Schatten, am Tisch. Er begriff, nach einem schier endlosen Moment, dass der Mann, dessen Hand dort neben seiner lag, sich nicht bewusst so bewegt hatte. Nun hörte Frank auch ihn. Sein Atem ging leise, er schnarchte nicht. Frank strafte sich in seinen Gedanken: Er hatte seinen Augen nicht die Zeit gegeben sich ans Licht zu gewöhnen. Vorsichtig nahm er den Schlauch. Langsam drehte er sich um, setzte einen Fuß vor den anderen, duckte sich unter dem Tuch hindurch, ohne es zu berühren, und war im Freien. Eilig ging er fort.
    Er kannte das Gefühl nur zu gut, wenn er die angestaute Spannung einer heimlichen Unternehmung endlich abschütteln konnte. Er machte schnelle Schritte und entlud so seinen Körper. Einen kleinen Bissen vom Fleisch gönnte er sich noch. Auf direktem Weg ging er zum Wasserbottich, den er am Vortag unter Androhung von Peitschenhieben gefüllt hatte. Der klare Sternenhimmel spiegelte sich auf der glatten Oberfläche. Für einen Moment betrachtete er die silbernen Punkte, für einen Moment gönnte er sich Ruhe. Die kühle Waldluft wehte sanft in sein Gesicht und die Silhouetten der Baumwipfel hoben sich ringsum gegen den Himmel ab. Er schloss die Augen und tat einen tiefen Atemzug. Dann tunkte er den Schlauch ein, brachte Unruhe in den perfekten Spiegel. In tiefen Zügen trank er, füllte ihn wieder, nahm einen letzten Schluck und verkorkte das Mundstück.
    „Gut“, sagte er leise.
    Schlüssel, sagte er in seinen Gedanken.
    Sein eigenes Werkzeug von Yorrick wiederzuerlangen war zu riskant. Er würde es nicht einmal versuchen, denn je gehobener die Stellung, desto besser der Wachschutz, dies galt für brave Bürger wie für Gesetzesbrecher. Also blieb also nur der Schlüssel des Gefängniswärters. Bloß wo dieser zu finden war, wer er war, dies waren alles noch offene Fragen. Irgendwo musste er anfangen, also ging er den äußeren Ring weiter, an seiner Hütte vorbei, hin zu dem Tunnel, den er am Tag noch durchquert hatte. Er kam um die letzte Biegung. Dort war die Hütte des alten Mannes, des Kartenzeichners. Ein Streifen warmen Lichts fiel durch die Tür. Der Tunneleingang daneben war bloß ein schwarzes Loch im steilen Hang, Efeu rankte sich um den finsteren Schlund. Frank verharrte einen Moment. Wo war der Wärter? Vielleicht in den Tunneln, vor der Tür selbst? Vielleicht beim Tor? Vielleicht hatten sie die Schlüssel auch in einem sicheren Wachhaus verstaut. Oder hatte Yorrick sie? Frank blickte zum Feuerschein aus der Hütte. Schatten tanzten um den Türrahmen, als würde das Licht versuchen sich davon zu stehlen. Er brauchte Informationen und er hatte keine Wahl. Franks Hand glitt in seine Tasche. Fünf Streifen blieben ihm noch. Er roch an dem intensiv duftenden Fleisch, zerbrach einen und verstaute die anderen. Er strich sein schmutziges Hemd glatt, fasste sich ein Herz und ging zu der Hütte. Auf der Schwelle blieb er stehen, klopfte an den Rahmen und lugte hinein. Der warme Schein stammte von einer flackernden Öllampe. Der alte Mann saß auf einem Schemel und beugte sich über ein niedriges Pult.
    „Weißt du wie lange es her ist, dass jemand einmal bei mir geklopft hat, Jungchen?“, sagte er ohne Frank eines Blickes zu würdigen.
    „Vermutlich etwas länger.“, antwortete Frank und biss demonstrativ von seinem Fleisch ab.
    Er wartete, bis sich der Greis ihm widmete. Betont langsam legte dieser seinen Kohlestift auf sein Pult ab und dreht sich um. Sein langer weißer Bart zitterte, während er sprach.
    „Wenn ich mich recht erinnere, dann kann ich dir nach wie vor keine Karte anbieten.“ Er legte den Kopf schief. „Also, was führt dich so spät hier her?“
    „Ich wollte nach Feuer fragen. Es ist etwas kühl in meiner Hütte.“
    „Nein, mein Junge, wenn du Feuer willst, dann kannst du es dir von einer Fackel am Wegesrand holen. Du bist nicht wegen Feuer hier.“
    Frank antwortete nicht und kaute das Fleisch.
    „Hast du noch so einen Streifen Trockenfleisch dabei?“, fragte der Alte.
    Frank fragte sich, ob ein Happen Fleisch der Preis für das Vertrauen des Kartenzeichners war. Wortlos gab er ihm einen Streifen. Vier blieben ihm jetzt noch, minus den, den er gerade aß.
    „Will gar nicht wissen, wie du daran gekommen bist.“, murmelte der Zeichner.
    Er schmatzte genüsslich, lehnte sich an sein Pult und verschränkte die Arme. Seine ruhigen Augen lagen auf Frank. Der alte Kartenzeichner hatte ihn teilweise schon durchschaut und wusste, dass es nicht um Feuer oder andere Belanglosigkeiten ging. Frank könnte jetzt ein Spiel von Katz und Maus spielen, falsche Informationen geben, Lügengeschichten erfinden. Er entschied sich aber anders.
    „Erzähl mir etwas vom Lager.“, sagte Frank. „Wie lebt es sich hier?“
    „Nicht gut als Kartenzeichner.“, sagte er und fischte ein Papier von seinem Pult.
    Darauf war die Skizze einer Frau zu sehen, splitternackt und in aufreizender Pose.
    „Das hier ist eine Ware mit einem gewissen Wert. Ist nicht gerade meine Expertise, aber man wird besser mit der Übung.“ Er warf einen prüfenden Blick auf sein Werk. „Ich schätze man könnte es als Karte verstehen. Und ich bin sicher, dass einige Männer hier durch meine Arbeit doch ein bisschen an Orientierung gewinnen könnten. Wo man was finden kann und so weiter...“, der Mann schnaubte belustigt.
    „Warum kauft keiner deine Karten?“
    „Der Talkessel ist nicht so groß, mein Junge. Neigenbau, Eichenbruck, die Burgruine, das findet man schon, wenn man sucht. Einfach am hohlen Zahn orientieren! Dabei verändert sich ja neuerdings die Landkarte immer wieder: Hier ein Wald, dort ein Hügel, unser Lager hier, Eichenbruck ist abgebrannt… die Liste ist lang!“
    Frank nahm sich einen Schemel und machte es sich bequem.
    „Warum machst du dann keine neue Karte?“, fragte Frank. Ihm selbst fehlte es tatsächlich noch an Überblick über den Kessel. Wer wusste, wann er das Lager wirklich verlassen dürfte?
    „Wenn ich das dürfte...“, sagte der Mann und zog die Mundwinkel herab. „Yorrick hat mir einmal klar gemacht, dass ich hier zu bleiben habe.“
    Frank nickte langsam. Er fragte nicht warum, denn er konnte es sich denken: Die genaue Lage des Lagers zu kennen war gefährliches Wissen. Es auch noch präzise dokumentieren zu können, es wäre der halbe Schlachtplan für einen Feind angemessener Schlagkraft. Vielleicht, aber nur vielleicht bedeutete die Unfreiheit des Zeichners auch eine Abneigung gegenüber den Führern des Lagers. Frank behielt diese Information im Gedächtnis.
    „Seit wann bist du hier?“, fragte Frank, um das Thema zu wechseln, was seine Neugierde verschleiern sollte.
    „Von Anfang an!“ Stolz schürzte der Mann die Lippen. „Ich hab das hier alles mit aufgebaut. Damals gab es noch keine Palisaden, kein Haupttor, keine Arena, kein gar nichts! Nur das Haus auf dem Hügel. Alle Mann haben wir darin geschlafen, jetzt wohnt da nur noch Leto. Und seine Frau, das arme Ding.“
    Der Kartenzeichner schüttelte gedankenverloren den Kopf.
    „Was ist mit ihr?“, fragte Frank vorsichtig.
    „Sie trauert. Aber frag mich nicht.“, wich der Mann aus.
    Leto war schwer einzuschätzen. Ein Frauenschänder zu sein, Frank würde es ihm zumindest zutrauen und dass es zu gefährlich war über den Boss zu reden, das leuchtete ihm sofort ein.
    „Also“, sagte der Zeichner und legte die Hände zusammen. „Jetzt meine Fragen. Warum bist du hier?“
    „Hier im Kessel oder hier in deiner Hütte?“
    „Du kannst mir gerne auch erzählen, warum du im Kessel bist, aber eigentlich wollte ich letzteres wissen.“
    Frank gab ihm seine Antworten, aber zunächst nur auf die erste Frage. Dass er aufgebrochen war, um einen Lehrer für Erik zu finden. Auch das Erik sein Bruder war und dass sie fliehen mussten, vor König, Steuer und Wehrdienst. Der Zeichner und Frank tauschten einen bedeutungsvollen Blick, denn sie wussten: Hier im Lager waren familiäre Beziehungen gefährlich; sie machten einen verwundbar. Frank erzählte vom Königreich, in dem sich nicht viel tat. Frieden mit den Nordmar und den Handelsstädten der Sichelküste sorgten für eine ruhige Politik und das wiederum für ein ruhiges Leben der einfachen Leute. Schließlich, nach einem schnellen und letzten Abwägen, sagte Frank:
    „Ich bin hier wegen Informationen.“
    „Informationen über was?“
    „Über das Tunnelsystem.“, sagte Frank.
    Der Kartenzeichner zog scharf die Luft ein. „Du willst zu deinem Bruder?“, sagte er.
    Frank nickte.
    „Warum?“ Der alte Mann kniff die Augen zusammen.
    Frank zeigte ihm den Trinkschlauch und das Trockenfleisch. Der Kartenzeichner kratzte sich am Kinn, während er mit sich rang, wie er auf die Neugierde Franks reagieren sollte.
    „Die Tunnel sind alle vernetzt.“, sagte er schließlich. „Von der Arena, den Zellen, dem Bestienzwinger, bis zu der tiefen Grube, wo wir die Viecher einfangen. Du bist doch schon mal bei der Grube gewesen, oder?“
    Frank überlegte kurz und nickte. Bei der Umrundung des Lagers, im Tunnel zwischen diesem Ende und dem Südtor, auf dem hölzernen Steg.
    „Die Tür in diesem Tunnel ist der Zugang.“, sagte er alte Mann, jetzt etwas leiser. „Oder du gehst über die Arena, aber das wäre ein bisschen zu auffällig für deinen Geschmack, habe ich Recht?“
    Frank hatte keine Furcht mehr. „Welche Wache hat den Schlüssel?“, fragte er.
    „Den Schlüssel?“ Der alte Mann lachte. „Junge, du hast ja gar keine Scheu!“
    Er musterte Frank von oben bis unten.
    „Du brauchst keinen Schlüssel.“, sagte er. „Nicht jede Tür geht mit dem Schloss auf!“
    Der Kartenzeichner zeigte ihm ein gewinnendes Lächeln.
    „Wie dann?“, fragte Frank ungeduldig.
    Er war nervös, tappte mit dem Fuß. Er hatte dem Zeichner eine gewisse Macht über ihn gegeben, indem er seine Absichten ausgeplaudert hatte. Doch der alte Mann verriet ihm den Weg: Die Tür zu den Tunneln war zwar meistens verschlossen, doch es gab noch eine andere Methode. Man brauchte einen Eisenstab, oder ein solides Stück Holz. Dieses schob man dann zwischen Schwelle und Rahmen und hebelte die Tür aus den Angeln. Die massive Tür war zwar nicht gerade leicht, aber man dürfte bloß nicht aufgeben, erzählter der alte Mann.
    Frank bedankte sich. Dem Zeichner zu vertrauen hatte sich ausgezahlt, bisher. Er wusste nun zwar um Erik und Frank und um Franks heimlichen Ausflug zu den Zellen, aber schließlich fand der alte Mann selbst nur wenig Freude an Letos Herrschaft. Er würde ihn nicht verraten, so war zumindest Franks Hoffnung. Das musste genügen.

    Die Fackeln im Gang waren erloschen und Frank tastete sich an den Wänden entlang. Es gab kein Licht, also auch keine Wachen. Auf dem Weg nahm er zwei der kalten Fackelhölzer von den Wänden und erreichte die Tür. Er tastete über die tiefen Scharten im Eisenbeschlag. Die Schwelle unter der Tür war steinern, was gut war, aber die Ritze dazwischen gerade mal zwei Finger breit. Er legte den Trinkschlauch beiseite, lauschte ein letztes Mal in die dunkle Stille, ob auch niemand in der Nähe war und schob die Hölzer unter die Tür. Mit tiefen Atemzügen lockerte er seine Schultern, legte die Hände an die rußigen Fackeln, spreizte die Beine, den Rücken gerade, und zog. Mit aller Kraft zog er, Holz knarzte, seine Muskeln spannten, und Frank unterdrückte ein Ächzen, wie die unzähligen Blessuren der Vortage sich bemerkbar machten. Die Tür rückte hoch, ein kleines Stück, noch zu wenig, als eine Fackel knirschte, urplötzlich zerbrach und Frank zurückstolpern ließ. Keuchend sackte er auf den Erdboden. Die Tür hing wieder in den Angeln, schwer und unbeweglich. Frank strich sich den Schweiß von der Stirn und rappelte sich auf, als er Schritte hörte. Kein Fackelschein, nur Schritte. Eine dunkle Silhouette erschien im Gang, ein Mann mit einem langen Gegenstand in der rechten Hand.
    „Wo bist du, mein Junge?“, sagte eine Stimme. Der Kartenzeichner.
    „Hier.“
    „Na, dann komm! Wirst einen alten Mann wohl nicht warten lassen!“
    Der Zeichner ging zur Tür und klemmte das Ende des langen Gegenstandes, der sich nun als Rückehaken entpuppte, zwischen Rahmen und Schwelle. Das lange Holz diente dazu, um bei Fällarbeiten schwere Stämme zu bewegen, ein perfektes Werkzeug für ihre Zwecke. Frank eilte hinzu. Mit diesem Hebel war es ein Kinderspiel. Die Tür rutschte sauber aus den Angeln und Frank bugsierte sie zur Seite, lehnte sie an die Tunnelwand.
    „Bursche!“, zischte der Zeichner mit ernstem Blick. „Wenn ihr von hier abhaut, falls ihr von hier abhaut, gib doch bitte Bescheid, ja?“
    Frank erwiderte seinen Blick, er nickte und sie schlugen darauf ein. Eilig verschwand Frank in den Tunneln. Die Luft war hier stickig und es roch nach Erde und Tier. Der Gang führte leicht aufwärts, bis er sich in drei Richtungen teilte: Nach rechts, links und geradezu. Kein Luftzug, das half ihm nicht weiter. Er dachte zurück an die Situation in der Arena, seine Zelle und seinen Ausgang. Gegenüber von seinem Ausgang war noch eine Tür gewesen. Dort war sein Gegner herausgekommen, in der Mitte das Gatter für den Bestienzwinger. Doch er wusste nicht, wie die Gänge verbunden waren. Auf gut Glück wählte er den Gang geradeaus. Er erreichte ein Fallgatter, es war bis zum Anschlag hochgezogen und die Ketten verschwanden in der Decke. Fahles Mondlicht erhellte den großen Raum. Keine Frage, dies war der Bestienzwinger! Zu beiden Seiten reihten sich mehrere Gittertüren, allesamt verschlossen. Leise bewegte sich Frank zu den Zellen und spähte in die Finsternis hinter den Eisenstangen. In einer erkannte er dunkle Figuren in der Ecke. Drei kleine Gestalten, gerade mal so groß wie Kinder. Zusammengekauert, dicht gedrängt, ihre Körper bewegten sich im Rhythmus ihres gleichmäßigen Atems. Goblins. Frank ging weiter. Er horchte nur kurz. Das schnoddrige Schnarchen war leicht zu deuten. Molerats. Zwei Exemplare. Die fleischigen Allesfresser waren unverkennbar, auch durch ihren Geruch. Jetzt fand Frank seine Orientierung wieder: Wenn dies der Zugang für die Bestien war, dann war seine eigene Zelle zu seiner Linken und die anderen zu seiner Rechten. Er eilte zurück und nahm den rechten Gang, der ihn in weitem Bogen um die Arenagrube führte. Zwei Türen mit kleinen Gitterfenstern fand er dort. Vorfreude, Sorge und Furcht vermischten sich in seiner Brust. Er horchte an der einen. Dann an der anderen. Keine Geräusche, nichts. Sein Herz pochte schnell und kräftig. Lautlosigkeit war wichtig, aber sein Bruder könnte so nahe sein! Nur eine Tür trennte sie voneinander! Er entschied sich für eine.
    „Erik?“, flüsterte er.
    Keine Antwort.
    Dann noch einmal: „Erik!“
    Er presste den Namen hervor, wollte ihn eigentlich schreien, seinem Bruder einen heftigen Klaps auf den Hinterkopf geben und ihn drücken, dass es ihm die Luft raubte! Warum hatte er sich auch einfangen lassen?
    Er ging zur anderen Tür, probierte es wieder.
    Wieder nur Stille.
    Frank war den Tränen nahe. Was, wenn er schlief? Was, wenn er bereits verreckt war, verblutet oder vor Erschöpfung für immer eingeschlafen? Er ging wieder zur anderen Tür.
    Es blieb still.
    Wut und Trauer lagen für Frank stets nah beieinander. Es half ihm, nicht so widerlich hilflos zu sein, den Taten eines grausamen Mannes oder einem erdrückenden Umstand nicht ausgeliefert zu sein, es half ihm, seinen Trotz auszuleben! Hier half nichts.
    Erik!“, sagte er laut.
    Und noch einmal, durch die andere Tür.
    Schließlich, ihm rannen doch die Tränen seine Wangen herab, trat er rücksichtslos und voller Wut gegen die Tür. Das Holz zitterte. Heißer Schmerz schoss sein Bein herauf und Frank wimmerte, doch nicht der Schmerzen wegen.
    Dann, leise, ein Ächzen, aus der Zelle.
    Frank, das Gesicht gegen die Stäbe gepresst sagte den Namen seines Bruders. Wieder und wieder. Ein Krächzen kam aus einer dunklen Ecke.
    „Ich habe Wasser! Und etwas zu essen!“, drängte Frank.
    Er hörte das Schlurfen, wie sich jemand über den Boden zog, hin zur Tür. Eine blasse Hand ergriff die von Frank. Er erkannte sie: Sie gehörte Erik! Hastig entkorkte Frank den Trinkschlauch und nahm das Fleisch, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und presste Wasser und Nahrung in die bleiche Hand. Eriks Hand verschwand und Frank hörte, wie er in tiefen Zügen trank, dann durchatmete und wieder trank.

    Frank erblickte das rote Schimmern des Morgengrauens hinter den Berggipfeln im Osten. Der Kessel, auch wenn er sein Gefängnis war und schon so viel Leid für ihn und seinen Bruder bedeutet hatte, war ohne Zweifel eine Augenweide. Machtvolle Gipfel, atemberaubend und majestätisch, so nah zum grünen Tal, in dem der Weizen wuchs.
    Eisenhalm, Kronstöckel, Drachenwurz, dachte er.
    Er hatte einen Freund gewonnen diese Nacht, einen alten Mann. Und er hatte seinem Bruder geholfen. Und sie hatten einen Plan. Er würde die Arena überleben. Er würde es schaffen.
    Eisenhalm, Kronstöckel, Drachenwurz.
    Geändert von GesustheG (16.03.2021 um 12:05 Uhr)

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    Teil 4

    XI Begegnung am Middenberg
    Im Jahre des Addo 389, Am Morgen des 15. September
    Hermann & Raik
    Die Sonne berührte die Spitze des Bergmassivs. Finstere Löcher waren über die gesamte Bergflanke verstreut: Es waren Höhleneingänge, die zu den schier unendlich verzweigten Minen im Inneren führten. Als ein Mahnmal menschlicher Gier türmte der Berg sich dort auf und diese Erscheinung hatte ihm den Namen hohler Zahn beschert. Die Nordmar hingegen nannten den Fels immer noch bei seinem alten Namen: Den Middenberg.
    Eine kleine Gruppe von fünf Soldaten näherte sich dem Berg von Osten her, die aufgehende Sonne im Rücken. Die Gruppe um Raik, Hermann und Gero hatten die roten Teile ihrer Rüstung verborgen. Ihre königlichen Markierungen waren eher von Nachteil, wenn man auf einer Spähmission war und nicht entdeckt werden wollte. Sie hatten schon lange vor der Ost-West Straße, die Eichenbruck und Neigenbau verband, ihren Pfad verlassen und sich querfeldein durchgeschlagen. Entlang von Bachrinnen fand man gute Deckung durch die dichte Vegetation am Ufer. Die letzten Meter zum hohlen Zahn waren jedoch die schwierigsten: Das nackte Geröll, das sich durch den intensiven Bergbau angehäuft hatte, bot keine Deckung. Das Treffen mit den Nordmar fand erst in ein paar Tagen statt und die Wahrscheinlichkeit, dass sie die ersten waren, die den Ort auskundschafteten, war schwer abzuschätzen. Trotzdem beschlossen sie zu warten, bis die Sonne es über die Berge geschafft hatte, sodass sie ihnen Sichtschutz gegen die vielen Öffnungen im Felsmassiv gab.
    „Du hättest nicht mitkommen müssen.“, sagte Hermann. „Nicht als Befehlshaber.“
    Er sparte sich die förmliche Anrede, denn sie kannten einander schon zu lange. Sein Kommandant blickte konzentriert auf die Felswand.
    „Ich bin nicht hier, weil ich muss, sondern weil ich es will. Wachtmeister Millen hat die Männer im Griff.“, sagte Raik, ohne die Augen vom hohlen Zahn abzuwenden.
    Er studierte jeden Stein und jeden Busch, auf der Suche nach jemanden, der sie beobachteten konnte. Der Einzige, der nicht über die Abwechslung glücklich war, war Gero. Seitdem klar war, dass der Abzug der Truppen wohl nicht sehr bald geschehen würde, trug er seine mürrische Art zur Schau. Doch Raik wollte den Boten nicht bei seinen Männern lassen. Es könnte die Truppe auf falsche Gedanken und vor allem falsche Fragen bringen. So weit war die Botschaft noch ein Geheimnis, auch wenn Gero selbst sein Auftrag keineswegs gleichgültig war. Sein Glaube an Treue und Hörigkeit war jedoch größer und diese Treue galt für den Moment Kommandant Raik. Er erinnerte sich an Ferdinands Frage, ob er königstreu sei und musste sich trotzig eingestehen, dass wohl doch Loyalität ein Anker seines Lebens, ja, seiner ganzen Person war. Fast war er dankbar für den Kommandanten. Er schien kompetent und er hatte den Rang. Hermann hatte unterdessen ganz andere Gedanken. Der Hauptmann musste ein wenig schmunzeln, seinen Vorgesetzten so zu sehen. Die gemeinsamen Jahre im Dienst hatte sie nähergebracht und ebenso wie es ein Leid gewesen war den Kommandanten dahin siechen zu sehen, so war es nun eine Freude sein erneutes Erwachen zu bezeugen.
    „Ich denke die Luft ist rein.“, sagte Raik und leckte sich gespannt die Lippen.
    Die Sonne beschien nun den Großteil des Berges. Er löste seinen scharfen Blick von der Felswand.
    „Ihr zwei, Tellam, Goben! Voran!“ Raik winkte den beiden Soldaten, die den Schluss machten. „Haltet euch zwischen den Steinen. Wartet auf der anderen Seite des Geröllfelds. Los!
    Die beiden machten sich auf. Halb geduckt huschten sie über den kantigen Schutt. Sechs Augen blickten voller Erwartung auf die Felswand, doch nichts regte sich.
    „Vielleicht haben wir Glück. Keine Nordmar hier.“, sagte Hermann.
    Raik grunzte. „Ihr beiden seid dran.“
    Gero und Hermann liefen los. Die Steine gaben kaum Deckung gegen den Berg, zu oft musste man über offene Fläche steigen. Spuren von Spitzhacken und Feuer waren auf dem Geröll zu sehen, ein Zeugnis des Bergbaus im hohlen Zahn. Drüben angekommen mussten die Männer nicht lange warten, bis Raik zu ihnen aufschloss. Der Kommandant gab ein Handzeichen, dass die Luft rein war und bedeutete ihnen weiter zu gehen. Sie umrundeten den Berg ein Stück, bis sie zu einem Mineneingang kamen. Schienen führten in einen breiten dunklen Schacht, ringsum waren verlassene Hütten, eingestürzte Unterstände, überwucherte Feuerstellen und Loren aus morschem Holz und rostigem Eisen. Dies musste einer der Hauptzugänge gewesen sein. Links des Eingangs führte eine Straße den Hang hinauf. Sie war zwar schmal, aber breit genug, dass zwei Handkarren einander passieren könnten. Sie war direkt aus dem steilen Hang geschnitten und der Aufwand, den man unternommen haben musste, war immens: Überall an der Straße und am Mineneingang zeigten sich die Zeichen der Arbeit vieler starker Hände. Die Steinwände waren nicht glattgeschliffen vom Wind und Wetter der Äonen; scharfkantige Ecken ragten heraus und wo Metall auf Gestein geprallt war, durchschnitten weiße Streifen das ohnehin wirre Muster von Quarz und Erz und hartem Fels. Das abgetragene Gestein war zur Bergseite manchmal hüfthoch, mancherorts aber auch so hoch wie zwei Mann. Nun, wo alles verlassen worden war, schien die Mühe zwecklos. Nichts von all diesen Werken wurde genutzt, die Mine aufgegeben und all das Gerät einfach liegen gelassen. Die Natur hatte sich zurückgeholt, was man ihr genommen hatte. Raik gab den Befehl zum Aufbruch, als plötzlich eine niedrige Gestalt aus der schwarzen Höhle trat. Das Wesen schütze mit seinen dünnen Armen die Augen vor dem Tageslicht. Die Haut war grün und runzlig, der Körper krumm und mager. Die spitzen Ohren ließen keinen Zweifel zu.
    „Goblins!“, rief Raik.
    Sie zogen ihre Waffen. Soldat Tellam zog in geübten Bewegungen die Sehne auf seinen Bogen auf und legte einen Pfeil an. Der Goblin erschrak, die schwarzen Knopfaugen huschten umher, immer noch halb geblendet. Er erblickte die Gruppe und sofort fing er an zu knurren, zeigte seine spitzen Zähne und hämmerte mit der Faust auf den Boden. Die typischen Drohgebärden von Goblins.
    Drecksbiester“, fluchte Gero.
    Mit gezogenem Schwert näherte sich der Königsbote dem kleinen Wesen. Er überraschte seine Kameraden mit seinem Mut. Ein einzelner Goblin war keine Gefahr, doch begegnete man ihnen so gut wie nie allein und immerhin stand dieses Exemplar direkt vor einem großen, dunklen Minenschacht.
    „Wo ist der Rest der Meute?“ Raik sprach aus, was alle dachten.
    Der Kommandant bedeutete der Gruppe zu Gero aufzuschließen. Gemeinsam rückten sie vor, Schritt um Schritt. Der Goblin scharrte mit den Füßen, knurrte noch heftiger. Er grub seine Krallen in den Erdboden und warf Brocken von Lehm und Gras nach den nahenden Feinden. Dieses Gezeter hätte vielleicht ein harmloses Wildtier beeindruckt, jedoch nicht fünf gewappnete Soldaten. Nur ein paar Schritte trennte sie nun von dem Goblin. Nervös blickte er sich um, wich langsam zurück. Unvermittelt machte Gero einen Satz nach vorn, schlug nach dem Goblin. Dieser entging dem Hieb, stolperte nach hinten und hastete davon. Die Schatten der Mine verschluckten ihn so schnell, wie sie ihn Preis gegeben hatten. Man hörte seine Proteste leiser werden, als er sich von ihnen entfernte, tiefer in den Berg hinein. Sie senkten ihre Waffen.
    „Ungewöhnlich.“, sagte Hermann. „Ein einzelner Goblin.“
    Raik steckte sein Schwert wieder in die Scheide und bedeutete den anderen, es ihm gleich zu tun.
    „Wir gehen weiter.“, sagte er. „Kein Grund auf seine Wiederkehr zu warten.“
    Raik ging voran und sie folgten der Straße links der Mine. Wachsam und schweigend bestiegen sie den Berg. Besonders Gero sandte argwöhnische Blicke auf die Hänge und schloss immer wieder seine Hand um seinen Talisman des heiligen Addo. Auf der Straße offenbarten tiefe Fuhrrinnen, glatt geschliffen von hunderten von Handkarren, einen Einblick in das reichhaltige, von Farben und Mustern durchzogene Gestein des Middenbergs. Adern seltenen Gletscherquarzes stachen mit ihrem blauen Glimmen hervor, denn man fand es ungewöhnlich häufig in diesem Berg. Gero unterrichtete sie, dass die Nordmar dieses unheilige Gestein verehrten und dass man sich besser vor diesem Heidenfelsen, wie der Bote ihn nannte, in Acht nehmen sollte. Hermann und Raik tauschten einen bedeutungsvollen Blick. Der Weg wand sich den Berg hinauf, schwang herum und schlängelte sich in steilen Serpentinen. Sie waren bereits auf der Westseite, im Schatten der Vormittagssonne, und kamen an mehreren Zugängen der Mine vorbei, manche mehr, manche weniger ausgetreten. Die vielen Tunnel vermittelten eine Ahnung von den Ausmaßen der Ausschachtungen. Durch diese Tunnel zu reisen war leider unmöglich: Sie hätten keinerlei Orientierung und kein Licht im Inneren des Bergs gehabt. Minenpläne waren obsolet geworden oder vergessen in den Archiven der reichen Besitzer. Hinzu kam die Einsturzgefahr. Der Berg hatte damals viele Leben genommen, als er seine Eindringlinge vertrieben hatte und nun wollte kein Mann den scharfen Krallen und spitzen Zähnen der neuen Bewohner begegnen. Außerdem waren Goblinaugen besser angepasst an die dunklen Gänge der verschlungenen Mine, und wer konnte schon wissen, was sonst noch in der Finsternis des hohlen Zahns hauste? Also blieben sie auf der Straße an der Bergkante. Ihr Ziel: Raik wollte auf die Nordseite des Bergs gelangen, denn von dort aus konnte man den Treffpunkt einsehen; Den Wegestein der Nordmar, am Fuße des hohlen Zahns. Hermann schloss zu ihm auf.
    „Mein Herr“, sagte er.
    Raik hob die Brauen. „Wäre mir neu, dass du das nötig hast.“
    „Die Anrede?“, sagte Hermann. „Für gewöhnlich nicht. Aber ich weiß, dass du es nicht gerne hast die gleiche Frage zweimal zu beantworten.“
    Raiks Augen blieben auf dem Weg vor ihnen. „Warum ich hier bin, als einer der Kundschafter, möchtest du wissen?“
    Hermann überlegte sich seine Worte gut. „Ja“, sagte er vorsichtig. „Normalerweise... bisher zumindest, hast du eher deine Hand über die Soldaten im Lager gehalten – geschaut, dass niemand ausschert. Jetzt...“ Hermann hob seine Rechte und machte eine ausschweifende Geste über Berg und Tal. „...bist du hier.“
    „Du willst wissen, was mich dazu bewegt hat nicht mehr auf der faulen Haut zu liegen und in der Ruine vor sich hin zu siechen?“ Er warf einen Blick nach hinten zu seinem Hauptmann.
    Faule Haut sind deine Worte!“, bemerkte Hermann.
    „Auch wenn ich es nicht gerne allzu laut sage...“, sagte Raik und seufzte, „...aber unser Bote hier ist ein Geschenk der sieben Wächter. Der Lehnsmann hat schon viel zu lange diesen Stillstand toleriert. Wenn er ihn nicht sogar zu verantworten hat.“
    Er kratzte sich am Kinn. Er murmelte etwas, was sich verdächtig nach einer derben Beleidigung anhörte.
    „Hermann, weißt du, ohne Befehle sind Soldaten nutzlos, ohne Vorgesetzten gefährlich. Wenn wir nutzlos sind, sterben im Talkessel Menschen. Verstehst du?“
    Hermann nickte langsam. „Also macht ihr euch hier nützlich?“
    „Ach, nein! Ich genieße die frische Luft!“, sagte Raik mit einem breiten Grinsen.
    Hermann musste über seinen sonst so humorlosen Kommandanten schmunzeln. Einen Witz hatte er von Raik seit Äonen nicht mehr gehört.
    „Die Wahrheit ist, ich brauche einen klaren Kopf. Das Treffen muss gelingen.“, sagte Raik plötzlich sehr ernst. „Ich werde dich brauchen, Hauptmann. Niemand kennt die Nordmar besser.“
    „Du kannst auf mich zählen.“, sagte Hermann, ohne zu zögern.
    Inzwischen bot sich ihnen eine gute Sicht über den Kessel. Sie waren auf halber Strecke den Middenberg hinauf. Von hier aus konnten sie sowohl die nördliche Steilwand über ihrer Burgruine erspähen als auch den Bergfried von Eichenbruck. Links davon sogar noch den Sumpf, der in einen Wald im Südwesten überging, den die Menschen gemeinhin Tanneck nannten. Doch für die Aussicht waren sie nicht gekommen. Hermann ermahnte sich im Stillen selbst und blickte wieder auf den Weg, um sicheren Tritt zu wahren. Der Hang wurde steiler und bog in eine Schlucht hinein; Auf der anderen Seite konnten sie den Verlauf der Straße erkennen. Zwei weitere Tunneleingänge waren dort, die Straße wurde hier abwechselnd enger und breiter und sogleich erspähten sie auch den Grund dafür: Im Schoß der beiden Abhänge war ein Seilzug und eine hölzerne Schiene angebracht, die den Hang hinab das schwere Erz transportieren konnte. Die Schiene endete jedoch in einer zertrümmerten Plattform. Ein Steinschlag hatte sie zerstört und den unteren Teil der Konstruktion in den Abgrund geworfen. Als sie das obere Ende des Lastenzugs erreichten, sahen sie die Ausmaße des Schadens: Die mächtige Winde war aus ihren Ankern gerissen, die Eisenketten mit braunem Rost überzogen. Morsches Holz zerrte an alten Seilen. Mechanik, Stützkonstruktionen und Holzstege neigten sich in Richtung Abgrund. Geborstene Balken lagen kreuz und quer auf dem Weg. Als wäre das noch nicht genug, war in der Sohle der Schlucht ein kleines Rinnsal, das bei Regenfall sicherlich zu einem reißenden Gebirgsstrom anwachsen konnte und die Bretter, die einst den Übergang ermöglicht hatten, waren fortgespült. Ein Abgrund von gut drei Schritt hinderte sie am Weiterkommen.
    „Großartig“, kommentierte Gero. „Kommen wir da rüber?“
    „Wir werden es versuchen.“, sagte Hermann.
    Der Hauptmann inspizierte die Felskante vor ihnen. Sie schien stabil. Er ging in die Hocke, um den Abstand zu schätzen. Er sah zu Raik.
    „Ist machbar“, gab Hermann Meldung.
    Raik nickte ihm knapp zu.
    „Moment mal!“, sagte Gero. „Ihr wollt doch nicht etwa rüber springen?“
    Raik würdigte ihn keines Blickes. „Hatte schon ganz vergessen, dass unser Bote aus dem Flachland kommt.“, sagte er.
    „Nur weil ich keine Berge gewohnt bin, heißt das nicht, dass ich lebensmüde bin! Warum klettern wir nicht einfach drumherum?“ Er deutete auf das steile Flussbett unter ihnen.
    Hermann gab einen Seufzer von sich. „Du kannst gerne dort rein steigen und mit einer Gerölllawine wieder nach unten reisen.“
    Gero biss sich auf die Lippen.
    „Dachte ich mir.“, sagte Hermann. „Wer geht zuerst?“
    „Du bist Erster.“, sagte Raik zu seinem Hauptmann. „Dann werfen wir unsere Ausrüstung. Dann Goben und Tellam.“ Er bedeutete den anderen für Hermann Platz zu machen. Er zeigte streng auf Gero. „Dann du. Ich mache den Abschluss.“
    Gero wollte Einwände erheben, aber Raik kam ihm zuvor.
    Soldat!“, bellte er im Befehlston. „Wir springen!“
    Damit war die Sache geklärt. Hermann legte seinen Waffengurt ab und überreichte ihn seinen Kameraden. Er nahm Anlauf. Der Sprung war durchaus machbar, nur ob die Kante gegenüber hielt? Die Winde dieser luftigen Höhen zogen an seinen Kleidern. Hermann sammelte sich, atmete tief durch, und lief los. Er sprang. Er hatte den Sprung großzügig bemessen: Weit über die Kante hinaus landete er. Das lockere Geröll ließ ihn schlittern und stolpern, doch schließlich kam er zum Halten. Er blickte zurück.
    „Das war etwas weiter als nötig.“, rief er erleichtert und lachte auf, um seiner Aufregung Luft zu machen.
    Er klopfte seine Kleider ab, ging die Schritte wieder zurück zur Kante und trat ein paar Brocken Geröll beiseite. Hermann stampfte einmal auf, aber der Fels hielt. Er winkte Tellam, ihrem Schützen, der seine Waffen hielt und nach und nach warfen sie ihre Ausrüstung herüber. Es folgten Tellam und Goben, dann Gero. Dieser musste von Raik mit etwas Nachdruck behandelt werden und wurde einen Teil des Anlaufs geschoben, um dann mit einem lauten Angstschrei über den Abgrund zu springen. Drüben angekommen kniete sich Gero zum Gebet und dankte Addo für sein Leben, woraufhin Hermann die Augen verdrehte. Es blieb nur noch Raik. Letztendlich hatte doch er die größten Schwierigkeiten und sein schon höheres Alter machte sich bemerklich, aber er erreichte die andere Seite sicher. Sie machten sich wieder zurecht, legten ihr Waffen an und spannten das leichte Gepäck auf. Hermann bot Gero die Hand. Der Bote war immer noch auf den Knien. Er schlug sie beiseite und rappelte sich auf.
    „Nächstes Mal lasst ihr mich selbst den Zeitpunkt für meinen Sprung wählen!“, protestierte er.
    Raik gab ihm einen gefährlichen Blick.
    „Mein Herr.“, fügte Gero hinzu.
    Was dem Königsboten wohl an Erfahrung und Härte fehlte, machte er durch seine Treue wett. Sie gingen weiter. Die Straße auf dieser Seite der Schlucht war übersät mit kleineren Felsbrocken. Hier war seit dem Einsturz keine Menschenseele mehr gewesen. Die beiden Tunneleingänge, die sie von der anderen Seite gesehen hatten, lagen vor ihnen. Als sie den ersten passiert hatten krachte wie aus dem nichts, nur ein paar Schritte vor ihnen, ein Stein auf dem Weg. Mit einem lauten Knacken zerbarst er, die Splitter sprangen in alle Richtungen und die Reste fielen in den tiefen Abgrund. Hermann blickte sofort den Hang hinauf. Seine Augen huschten über die unzähligen Vorsprünge, Ritzen und Steinkanten.
    „Ich glaube...“, sagte er langsam, „...wir haben Glück. Keine Bewegungen, keine Anzeichen einer Lawine, keine-“, er hielt inne.
    Ein kleiner Kopf ragte zwischen den Steinen heraus, kaum sichtbar im Geröll. Der Kopf verschwand.
    Goblins!“, brüllte Hermann.
    Raik handelte schnell. „Mir nach!
    Ein Stück vor ihnen war die Kante des Weges mannshoch. Genug, um Deckung zu finden. Sie hasteten in die Schutzposition und pressten sich an die Wand. Tellam hatte seinen Bogen in der Hand.
    „Wo sind die Biester?“, zischte er.
    Er und Hermann spähten über die Kante. Dann, kaum sichtbar, erhaschte Tellam etwas.
    „Ist das-?“, flüsterte er.
    Der Schütze zeigte auf den Hang. Hermann sah es auch. Dort war ein Goblin, seine Haut war grau.
    Unmöglich“, sagte Hermann.
    Die kleine Gestalt hob sich aus der Deckung. Sofort erkannte man, es war größer als ein gewöhnliches Exemplar. Es hielt ein hölzernes Rad in seiner Linken und einen mit Stacheln gespickten Knüppel in der Rechten. Auch Tellam traute seinen Augen kaum. Goblins waren eine seltsame Spezies: In jungem Alter waren sie grün, färbten sich über die Jahre schwarz, wurden zäher, erfahrener und kletterten so in den Rängen ihrer Hackordnung hinauf. Es gab nicht viele schwarze, da Goblins aufgrund ihrer räuberischen und kampfsüchtigen Natur meist einen frühen Tod fanden. Sollte ein Goblin über Jahrzehnte überleben, über Jahrzehnte weder von seinen natürlichen Feinden noch von seinen Artgenossen geschlachtet und gefressen werden, so wird er grau. Graue Goblins und ihre gewaltsüchtigen Meuten waren der Stoff von Ammenmärchen. Dieser Goblin war jedoch sehr real.
    „Das Viech benutzt einen Schild!“, rief Tellam und zeigte auf das Wagenrad in seinen Händen. „Was bei den sieben Wächtern ist das für ein–?“
    Er wurde unterbrochen. Die Bestie grollte tief, spannte seinen sehnigen Nacken und hieb mit seiner Waffe wuchtig auf die Felsen. Das Krachen hallte von den Bergwänden wider. Dann, nach einem Moment der Stille, hörte sie es: Wie aus weiter Ferne erklang ein Knurren und ein Keifen. Es vermischte sich mit anderen Geräuschen. Das Trommeln von Holz auf nacktem Stein, ein Murren und ein Bellen, aus Kehlen, die nicht für eine Sprache gemacht waren. Und die Schritte vieler Füße.
    Tellam wartete nicht länger. Er legte an, spannte und ließ den Pfeil fliegen. Das Schild zuckte hoch, der Pfeil grub sich ins Holz und der graue Goblin zeterte und keifte. Tellam zog einen zweiten aus dem Köcher, doch sein Ziel war bereits in Deckung gesprungen. Dann flog der erste Stein. Knapp sauste er an ihm vorbei und zerbarst auf dem Felsboden. Tellam sah den Werfer. Ein schwarzer Goblin, der gerade den nächsten Stein griff. Er schoss und traf. Den Pfeil tief in der Brust kullerte das Wesen den Hang hinab. Doch jetzt tauchten immer mehr auf. Und sie alle warfen Steine herunter, oder versuchten sogar, unter den schmerzhaften Züchtigungen des grauen Goblins, größere Brocken aus dem Bergmassiv zu lösen. Hermann stieß Tellam zur Seite, ein Brocken verfehlte knapp seinen Schädel. Der Hauptmann hastete in Deckung, doch der Bogenschütze stolperte und fiel zu Boden. Dann traf ihn ein Stein und schmetterte auf seinen Fuß. Knochen zerbrachen. Tellam brüllte vor Schmerz, rollte sich auf den Rücken, griff nach seinen Beinen. Ein weiterer traf ihn an der Schulter. Seine Kameraden sahen machtlos zu, der Regen aus Steinen zwang sie in die Deckung. Tellam stöhnte kraftlos, machte sich daran sich aufzurichten, doch verstummte abrupt: Ein Brocken traf ihn in den Brustkorb, zerquetschte seine Rippen. Das Gewicht presste ihn auf den Boden. Das dröhnende Krachen der Steine übertönte alles. Raik sah zu, wie sein Soldat unter brutalen Schmerzen weiter und weiter zugerichtet wurde. Schließlich traf ihn einer am Kopf und sein Todeskampf endete. Der Beschuss nahm ab. Das hämische Gackern der Goblins wurde wieder hörbar. Sie verhöhnten ihre Opfer, hämmerten mit ihren kruden Waffen auf die Steine. Hämmerten und hämmerten. Raik schluckte seine Wut. Er sah zu Hermann und den anderen beiden. Geros Gesicht war tiefrot, er zitterte vor Zorn, das Schwert in der Hand. Goben war starr und bleich, sein Blick ging ins Leere.
    „Wir brauchen den Bogen.“, sagte Raik und deutete auf den Weg. Die Waffe lag noch neben Tellams Leichnam. Hermann war keine zwei Schritte davon entfernt.
    „Und Pfeile“, antwortete der Hauptmann und leckte sich angespannt über die Lippen.
    Plötzlich, ohne Vorwarnung, trat Gero aus der Deckung, schnappte den Bogen, zog ein Bündel Pfeile aus dem Köcher und warf sich zurück an die Felswand. Sein mutiger Ausfall wurde mit einem Hagel von Felsbrocken beantwortet. Goben kauerte sich weiter zusammen.
    „Wir müssen hier weg.“, wimmerte er. Er hatte Tellam am nächsten gestanden.
    „Warum greifen diese Biester nicht an? Die Drecksplage soll kommen!“, brüllte Gero.
    Der Königsbote hatte mehr Wut als Verstand, spähte unruhig und voll Kühnheit immer wieder über die Kante.
    Gero!“, rief Raik. „In Deckung!
    Gero brauchte einen Moment, riss sich aber zusammen. Der Kommandant kroch zu Goben herüber und packte ihn an der Schulter.
    „Wenn wir hier lebend raus wollen...“, sagte Raik über den Spott der Goblins hinweg, „...brauchen wir alle Hände! Alle Schwerter!“
    Der Soldat starrte mit glasigem Blick an ihm vorbei. Sein Gesicht war fahl, seine Knöchel weiß und die Hände fest um seine Beine geschlungen. Raik beugte sich über ihn.
    Bursche!“, brüllte er ihm ins Gesicht.
    Er rüttelte ihn. Als das nicht half, pfefferte er seinem Soldaten den Handrücken ins Gesicht.
    Bist du bei mir?“, brüllte Raik. Der Soldat sah ihn endlich an.
    „Lust ein paar Goblins aufzuschlitzen? Na?“ Raik packte ihn grob am Kiefer und schüttelte ihn unsanft, bis er sich wehrte.
    Gut! Waffe raus!“, bellte der Kommandant. „Gero! Schieß den Bastard ab!
    Einen Schritt tat Gero, entschlossen und furchtlos aus der Deckung heraus, erfasste sein Ziel. Und wie die Steine ihm entgegen flogen...
    Schneller Zug, Atem halten, dachte er.
    ...verließ sein Pfeil die Sehne. Ein Satz und Gero war wieder in Deckung und die Steine prasselten auf die Straße. Nach der ersten Welle wagte Hermann einen Blick. Ein zweiter Pfeil steckte im Schild des grauen Goblins. Der Hauptmann schüttelte verbittert den Kopf, sie hatten nicht getroffen. Sie hörten sein Zetern und Schimpfen, die brutalen Schläge, mit denen er nicht nur den Fels, sondern auch seine Artgenossen malträtierte. Gero hatte genug. Sein Training hatte ihn nicht auf den Rausch eines Kampfes vorbereitet. Er hob den Kopf über die Kante und brüllte hemmungslos. Eine Tirade der übelsten Wörter hallte von den Hängen wider. Worte, die selbst Raik in seiner langen Dienstzeit so noch nicht gehört hatte. Er wich einem Stein aus, aber schrie unbeirrt weiter.
    „Na kommt schon! Ihr Ranzlappen! Runzlige Kröten!“ Sein Kopf war puterrot. Er spuckte Speichel. „Ihr zarten Rehe, warum seid ihr denn so feige?! Holt euch eure Packung! Mein Stahl wartet!
    Raik zog ihn herunter. Trotz ihrer Lage, trotz der Übermacht, die ihren Tod und ihr Fleisch wollte, mussten sie lachen. Der treue Bote, Freund von Ordnung und Achtung, zeigte sein Potential. Doch der Plan, auch wenn es im Grunde keiner gewesen war, ging auf. Der Goblinanführer spie und grollte. Seine Meute lief heiß. Sie sprangen auf die Straße, verschwanden zwischen den Steinen und kamen jetzt aus den Höhleneingängen vor und hinter ihnen. Sie hielten Knüppel, Eisenstäbe und alte Werkzeuge. Die Straße ließ kaum Platz für mehr als drei nebeneinander. Die Masse an kleinen Leibern wurde immer größer, dicht gedrängt kamen sie näher, langsam und mit gefletschten Zähnen. Es gab keinen Weg heraus.
    „Na gut.“, sagte Gero und legte einen Pfeil auf die Sehne. „Wenn sie da so stehen bleiben wollen!“
    Er schoss den ersten Pfeil. Bei der dicht gedrängten Menge war es unmöglich zu verfehlen. Den Pfeil im Hals sackte sein erstes Opfer leblos zu Boden. Wie aus einer Kehle gaben sie ihren Drohruf: Ein Knurren, bei dem ihre kleinen Köpfe zitterten. Unbeeindruckt erschoss Gero einen Zweiten. Das brach ihre Disziplin! Einer stürmte heran, aber Hermann, bereit an Geros Seite, schlug dem Biest mit einem mächtigen Hieb seinen Knüppel beiseite und durchtrennte im gleichen Schwung seinen Arm. Schwarzes Blut sprühte auf den nackten Fels und jaulend stürzte der Goblin in den Abgrund. Sie kamen heran. Der Kampf begann.
    Weite Schläge!“, bellte Raik. „Macht euch den Platz, den ihr braucht! Und zusammen!

    Die Ersten erreichten sie. Sie waren unvorsichtig, voller manischem Eifer. Schnell fielen sie den Klingen der Soldaten zum Opfer. Doch die nächsten waren gleich dahinter. Raik und Goben standen zu einer Seite, Gero und Hermann zur anderen. Der schmale Weg gereichte ihnen zum Vorteil, denn Goblins schwärmten ihre Opfer zu allen Seiten. Hier war es Stirn an Stirn. Immer wieder stürzte ein unerfahrener grüner Goblin aus den Reihen, wurde schnell gefällt, doch andere drängten in die Bresche. Die Soldaten kassierten Treffer der Stumpfen Waffen an den Beinen und der Hüfte, doch sie hielten stand. Ihre Rüstungen waren nass vom Blut, ihre Schwerter trieften schwarzen Schleim. Doch so viele sie auch erschlugen, die geifernde Masse wurde aus den Tunneln schier endlos gespeist. Goblins kannten nur dann Angst, wenn ihre Wut und Bösartigkeit dafür Platz machte, verluste hin oder her. Raik machte einen ausladenden Hieb, trieb sie zurück und warf einen Blick über die Schulter. Die Erschöpfung stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Als sich Raik wieder umwand, sah er etwas im Augenwinkel.
    „Was zum-“, keuchte er.
    Der graue Goblin war wieder aufgetaucht, aber nicht an vorderster Front. Er stand wieder auf den Felsen oberhalb.
    „Das Drecksvieh ist wieder da!“, keuchte Raik.
    „Wo?“, rief Gero sofort.
    Sein Hass auf seine Feinde trieb ihn an.
    „Oben“, presste Raik durch zusammengebissene Zähne.
    Er war nicht mehr so jung wie seine Untergebenen, doch eine Pause war außer Frage.
    „Das Scheißviech soll mein Eisen spüren!“, brüllte Gero.
    Dann passierte es. In einem Moment der Unachtsamkeit sprang ein Goblin durch ihre Deckung. Es krallte sich in Geros Bein und biss kraftvoll zu. Mit einem Schrei ging dieser zu Boden. Hermann bot alle Kraft auf, die ihm noch blieb und hackte wie wild auf die Gegner ein, die gerade versuchten, ihre Chance zu nutzen. Gero packte seinen Angreifer am Genick drückte gnadenlos zu. Es knackte und der kleine Körper erschlaffte. Raik half Gero auf.
    „Ich brauche hier Hilfe!“, rief nun Goben.
    Das Chaos nahm überhand. Die Aufregung in der Meute stieg, der Druck erhöhte sich.
    Gero! Auf!“, schrie Raik.
    Doch der Kommandant bekam kaum noch Luft. Seine Bewegungen waren fahrig. Dem Schmerz zum Trotz rappelte Gero sich auf und warf sich wieder ins blutige Gefecht. Zorn entstellte den aufrichtigsten Mann und formte ihn zu einer furchteinflößenden Waffe. Er rammte einem Goblin das Schwert in die Schulter, trat den Körper zurück in die anderen Feinde und taumelte zurück. Blut quoll mit jedem Schritt aus seinem Bein.
    „Ich kann nicht-“, brachte er noch hervor.
    Dann stolperte er zu Seite und glitt auf die Knie, sein Atem rasselte. Sie verloren immer mehr Boden.
    Wir werden überwältigt, schoss es Raik durch den Kopf.
    Doch dann, sie konnten es erst nicht begreifen, kam Hilfe. Ein Mann, er trug graues Leder, lange Haare wehten im Wind, stürmte den Pfad hinab. Rundschild in der einen, Kampfbeil in der anderen Hand, gellte sein durchdringender Kampfschrei durchs Tal. Die Goblins schreckten auf. Wüst und ungebremst sprintete er in die Masse. Er hielt seinen Körper unten, drängte die Leiber beiseite, kassierte mehrere Hiebe, aber sandte sie in den Abgrund oder presste sie in ihre Mitstreiter. Er erreichte sie und streckte in schnellen Bewegungen drei Goblins nieder, und schon einen vierten. Hermann erkannte ihn. Es war Heffas! Der Seilmann von Skerta. Er drängte die Goblins zurück, übernahm allein eine Seite. Raik eilte zu Hermann und sie nutzten die Verschnaufpause, die ihnen die verängstigten Goblins schenkten. Hermann deutete auf den grauen Goblin.
    „Wenn wir den da nicht weg kriegen, sind wir trotzdem geliefert!“, sagte Hermann und schüttelte seinen schweren Schwertarm aus.
    Wir arbeiten dran!“, rief Heffas zwischen zwei Hieben.
    Tatsächlich, Raik sah hinauf und erspähte einen Mann, der sich von hinten an den Anführer der Meute anschlich. Mit dem Bogen bereit näherte er sich, lautlos und stetig. Raik blickte zu dem Goblin. Dieser starrte ihn an. Er hielt seinen Blick. Die animalischen Züge waren unlesbar für Raik, doch es lag eine boshafte Schläue und Gerissenheit hinter diesen Augen. Der Mann mit dem Bogen war nun nah genug, legte seinen Pfeil auf, doch der Goblin ließ sich von Raiks Blick nicht ablenken. Seine spitzen Ohren hörten gut, zu gut! Die Sehne knarzte, der Pfeil flog. Der Goblin wirbelte herum. Die Spitze bohrte sich in seinen Oberarm. Keifend stürzte er von seinem Felsen. Der Mann mit dem Bogen, es war Skerta, setzte nach, doch sofort sprangen Goblins zwischen den Felsen hervor und attackierten ihn. Der graue Goblin zeterte und schrie und tatsächlich ergriff er die Flucht. Ohne ihn verloren seine Artgenossen schnell den Mut: Der Ansturm auf die Soldaten stockte, die Goblins drängelten zurück in die Tunnel, rutschten aus auf dem Blut ihrer Artgenossen und stolperten über die Körper. Die letzten zerrten ein paar der Leichen in die dunklen Tunnel, als Mahl für die erschöpfte Meute. Dann war es still. Nur der kalte Wind pfiff.
    Die Szenerie war unwirklich: Alles hier war alt, die Felsen, die Flechten und das Moos, die Straßen und die Gerätschaften, lange verlassen und unberührt, außer von Wind und Wetter. Doch die Männer standen inmitten dieses Flecks, der getränkt war von frischem Blut und bedeckt mit unzähligen Körpern. Es floss die alten Fuhrrinnen herab und rot und schwarz vermengten sich in langen Schlieren. Tellam lag dort, beinahe zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Doch die anderen lebten. Hermann ging hinüber zu dem verwundeten Boten.
    „Verrate mir mal, Gero...“, sagte Hermann erschöpft, „...wo hast du eigentlich diese ganzen schönen Wörter her?“
    „Was soll ich sagen...“, antwortete er durch zusammengebissene Zähne. „Dornburg war eine gute Schule. Bin eben ein Kind aus der Hauptstadt.“
    Hermann sah, wie Gero mit seiner Beinverletzung rang und half ihm aus. Die scharfen Zähne des Goblins hatten eine tiefe Fleischwunde hinterlassen.
    „Gero muss zurück ins Lager!“, meldete Hermann seinem Kommandanten.
    Raik begrüßte in diesem Moment die Nordmar und Skerta war bereits den Hang hinuntergekommen. Typisch für einen Nordmar verlor er keine Zeit mit Förmlichkeiten.
    „Wir sollten verschwinden.“, sagte er bestimmt.
    Raik bot ihm die Hand an und stellte sich vor:
    „Kommandant Raik Ketter, ranghöchster Offizier der Hundertschaft im Talkessel.“
    Der Nordmar schlug nicht ein und zog stattdessen ernst die Brauen zusammen. Seine Kopftätowierungen warfen sich in Falten.
    „Nennt mich Skerta. Wir sollten verschwinden.“, wiederholte er eindringlich. „Es ist Eile geboten, Kommandant.“
    „Worauf warten wir dann noch?“, antwortete Raik.
    Skertas Leibwächter Heffas warf sich kurzerhand Tellams Leichnam über die Schulter, während Hermann den Boten stützte. Gemeinsam traten sie den Rückzug an.


    XII Franks Prüfung
    Im Jahre des Addo 389, Am Vormittag des 15. September
    Yorrick, Leto & Frank
    „Tor hoch!“, rief Leto.
    Auf dem Wehrgang setzten sich die beiden Wachen in Bewegungen und bedienten die schwere Winde. Armdicke Seile zogen die gebundenen Stämme hinauf und das Tor kippte hoch. Mit einem lauten Klacken rastete die Konstruktion in der Aufhängung ein. Leto legte Frank seine riesige Pranke auf den Rücken.
    „Bist du bereit für deinen ersten Raubzug?“, sagte er durch ein breites Grinsen.
    Frank zuckte mit dem Schultern und nickte zögerlich.
    „Großartig!“, rief er und gab Frank einen heftigen Klaps auf den Rücken.
    Leto, voller Energie und Vorfreude, schulterte seinen Streitaxt und brach auf. Die sechsköpfige Gruppe setzte sich in Bewegung. Leto, Yorrick, Frank und drei bis an die Zähne bewaffnete Männer mit verschlossenen Mienen. Als sie ein Stück in den Wald vorgedrungen waren, sprach Yorrick Frank an.
    „Du weißt was das bedeutet, wenn der Boss dabei ist?“ fragte er.
    „Ein Test?“, antwortete Frank knapp.
    Yorrick nickte. Er rieb sich die Narbe an seiner Stirn, was der Banditenhauptmann scheinbar immer tat, wenn er nervös war.
    „Du solltest wissen, dass Leto... er sucht nicht nach Arschkriechern. Er such nach Männern die etwas taugen.“
    Frank verscheuchte ein paar Mücken und dachte nach. Der Wald, durch den sie sich bewegten, war dicht und überwuchert und der Pfad zwischen den Bäumen schmal. Leto ging vorneweg und hatte seinen Spaß daran mit seiner Waffe sich einen Weg durch das Dickicht zu bahnen. Er pfiff eine fröhliche Melodie, während er den Stahl durch die Ranken sausen ließ.
    „Meiner Erfahrung nach…“, sagte Frank mit einem Blick auf den Hünen, „…produzieren brutale Führer immer jede Menge von Arschkriechern.“
    Yorrick lachte auf. „Davon haben wir gewiss auch einige. Aber solche Leute steigen nicht in unseren Rängen auf.“
    „Ihr seid also ein ganz prächtiger Haufen loyaler Gesetzesbrecher.“, bemerkte Frank trocken.
    Yorrick packte ihn am Arm und sie blieben stehen, während die anderen weitergingen. War Frank zu weit gegangen? Er hatte gedacht, er müsste dem Banditenhauptmann keinen Honig um den Mund schmieren. Yorrick räusperte sich und wählte seine Worte mit Bedacht.
    „Unsere Männer sind loyal. Aber nicht aus Furcht. Wir haben ein Ziel und wer bei uns mitmacht genießt gewisse Vorzüge.“
    „Vorzüge?“, sagte Frank ungläubig. „Und was genau habe ich davon mich mit einem Haufen Halsabschneider im Wald zu verstecken?“
    Yorrick schnalzte mit der Zunge. „Ein bisschen Freiheit. Essen im Magen, keine Steuern, ein Anteil der Beute.“
    Frank wiegte den Kopf hin und her. Dies waren zumindest bessere Verhältnisse als bei der Armee, soviel musste er ihnen zugestehen.
    „Und euer Ziel?“, fragte Frank „Braucht ihr dafür all die Männer?“
    Yorrick seufzte. „Weniger Fragen, Frank. Konzentriere dich auf deine Aufgabe! Versuch ihm zu zeigen, dass du zu was zu gebrauchen bist, dann reden wir mehr.“
    Der dichte Wald öffnete sich, als sie zu einem Fluss kamen. Er war breit, aber auch flach. Leto hatte sie zu einer Furt gebracht. Zu Franks Erstaunen übernahm er nicht länger die Führung, sondern winkte die drei Männer voran. Diese stiegen sogleich ins Wasser und stapelten Steine vom Grund des Stroms so auf, dass man auf ihnen entlanglaufen konnte.
    „Du darfst dich gerne beteiligen.“, sagte Leto.
    Yorrick gab Frank einen Wink und er folgte dem Beispiel der anderen, ohne die Miene zu verziehen. Die Strömung war sanft und das Wasser klar. Wie Frank durch die Fluten watete, spielte er mit dem Gedanken der Flucht. Er strafte sich im gleichen Moment, denn das hieße, seinen Bruder im Stich zu lassen. Sein Schicksal war an ihn gebunden. Das kühle Nass war angenehm, umspielte seine Glieder, während er Steine vom Grund hob und dabei darauf achtete, dass sie auch Letos Gewicht tragen könnten. Gedankenverloren ließ er seinen Blick schweifen. Die Furt war weit und offen, eine schmale Insel ragte aus der Mitte des Stroms. Jetzt erkannte er den Ort wieder, dies musste die obere Neige sein! Er hatte den Fluss bei einem Blick auf die Karte des Zeichners entdeckt. Flussaufwärts sah Frank ein Wesen. Dort stand ein Lurker, seine schwarzen Amphibienaugen auf ihn fixiert. Den Flusstieren war ein ausgeprägtes Territorialverhalten gegenüber ihren Artgenossen eigen. Fremde Wesen durften meist passieren, zumindest außerhalb eines gewissen Radius. Die Kreatur mit seinen langen, glatten Gliedmaßen war absolut reglos und durch seine grün-graue Färbung setzten sich ihre Umrisse kaum vom Flussufer ab. Keiner schien das Tier bemerkt zu haben. Es bewegte sich nun, tat zwei Schritte durchs Wasser und blickte wiederum hinüber. In den Augen lag Neugierde, die lange Schnauze öffnete und schloss sich. Reihen von spitzen Zähnen zeigten sich, wie die lange Zunge über die Augen der Amphibie leckte. Frank beschloss es seinen Weggefährten gleich zu tun und das Geschöpf zu ignorieren. Er gönnte sich ein paar Schluck des kühlen Wassers, während er weiter die Steine umwälzte. Yorrick und Leto unterhielten sich am Ufer, außer Hörweite. Ihre Blicke wanderten dabei immer wieder zu ihm. Auf der anderen Seite angekommen gaben sie das Signal, dass man bereit war. Trockenen Fußes erreichte Leto die Gruppe.
    „Was für ein Tag!“, sagte er mit einem breiten Lächeln. „Auf euch ist mal wieder voll und ganz Verlass, Jungs!“
    Er winkte Yorrick nach vorn und sie setzen sich wieder in Bewegung. Der Wald diesseits des Flusses war lichter. Frische Baumstümpfe zeugten davon, dass Forstwirtschaft betrieben wurde. Sie überkreuzten Trampelpfade, umrundeten eine Lichtung, auf der eine Wildsau ihre Ferkel hütete, bis Yorrick sie schließlich zu einer Böschung brachte und befahl zu halten. Mit gedämpfter Stimme sandte er zwei Männer fort, jeweils einen zu den Flanken, der Rest sollte ihm folgen. Leto blieb gelassen stehen und nutzte die Zeit, um mit einem weißen Tuch das Blatt seiner Axt zu polieren. Als sie die Böschung empor krochen, sah Frank den Grund für ihr vorsichtiges Vorgehen: Auf einer Lichtung, keine dreißig Schritte entfernt stand ein kleines Gehöft. Holz stapelte sich neben einem niedrigen Wohnhaus samt Viehstall. Ein Mann schwang seine Axt und spaltete Scheit um Scheit. Ein Junge kam aus dem Haus, brachte dem Mann einen Krug Wasser und verschwand wieder in der Tür. Yorrick deutete auf den Holzfäller.
    „Das ist der Hausherr.“, flüsterte er. „Sein Bruder karrt das Holz von hier aus zur Stadt.“ Er nickte zum Haus. „Drinnen sind seine Frau und ihr Bursche.“
    Frank dämmerte langsam, dass dies kein gewöhnlicher Raubzug war. Sich an einer Familie eines Holzfällers zu bereichern ergab wenig Sinn. Es ging hier nicht um Gold oder Ware. Es ging um Futter für die Arena, genau genommen: Einen Kontrahenten für Erik. Frank erstarrte für einen Augenblick. Ein kalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter, aber anstatt sich von seiner Angst und Sorge lähmen zu lassen, zwang er sich einen Verstand einzusetzen. Kühl, ohne Gefühl und Mitleid, fasste er einen Plan. Ein Bild schoss ihm ins Bewusstsein. Das Gesicht des Mannes in der Arena. Sein Opfer. Verwunderung, Wut und bodenlose Fassungslosigkeit hatten seine Züge geprägt, kurz bevor Frank weggesehen hatte.
    „Was machen wir jetzt?“, fragte Frank.
    „Letos Entscheidung“, antwortete Yorrick.
    Er bedeutete dem anderen Mann Leto zu berichten. Frank sah, was dieser Leto sagte. Ein Mann, eine Frau, ein Junge im Haus. Leto sah zu Boden, dann nach oben in das Blätterdach. Er wippte mit den Füßen, senkte seinen Kopf, sah schließlich zu Yorrick und fuhr sich mit dem Daumen über seinen Hals.
    „Es geht los“, sagte Yorrick.
    Während Leto seine Streitaxt hob und einfach los stapfte, nahm Yorrick seinen Bogen zur Hand. Mit einem Pfeil auf der Sehne erklomm er die Böschung. Der Mann stand mit dem Rücken zu ihnen. Er spaltete gerade das nächste Stück, als Yorrick aus der Deckung trat. Er zielte kurz und schoss. Der Mann stöhnte auf, knickte ein, den Pfeil im Oberschenkel. Er begriff nicht recht, was hier geschah. Noch nicht. Leto ging an Frank und Yorrick vorbei, hielt genau auf den Mann zu. Im letzten Moment wandte der Holzfäller sich um, bevor ihm die breite Klinge über die nackte Brust fuhr, Rippe um Rippe trennte, so als wären es dünne Zweige. Mit einem erstickten Schrei sackte er zu Boden. Leto ging, ohne inne zu halten zum Haus. In diesem Moment kam der Bursche aus der Tür. Seine Augen huschten über seinen aufgeschlitzten Vater, auf den Hünen mit der Streitaxt und auf das Blut auf der Klinge. Für einen Augenblick rührte er sich nicht, doch dann ging er auf Leto los, unbewaffnet wie er war, gerade mal ein Kind. Leto packte ihn lässig am Hals, warf ihn zu Boden und platzierte seinen Fuß auf der Brust des Jungen. Doch Frank kam dazu, griff den Jungen.
    „Den hab ich“, sagte er zu Leto.
    „Verlier ihn nicht!“, sagte Leto gefährlich.
    Seine Augen blitzten auf und er verschwand in der Tür. Frank hielt den Jungen fest gepackt an Kragen und Schulter. Sein Gesicht erinnerte ihn an Erik. Er sah die Panik in seinen jungen Augen. Sie zuckten hin und her, zu ihm, zum Körper des Holzfällers, zu den Männern hinter Frank. Doch er kämpfte nicht. Frank legte seine Hand um den Hals des Jungen. Seine Gedanken rasten, sein Verstand stand in Flammen. Frank drückte zu. Sofort wehrte sich der Junge. Aber Frank ballte seine Rechte, hörte auf mit der Linken zu würgen und schlug zu. Der Schädel des Jungen schnappte nach hinten. Erneut schlug Frank. Der Junge verlor die Kraft in den Beinen. Frank drückte ihn zu Boden. Er stand über ihm. Noch einmal sandte er seine Faust ins Gesicht seines Opfers. Diesmal wandte sich nicht ab, nicht wie in der Arena. Er prügelte ihn weiter, auf Brust und Arme, bis seine Knöchel offen waren. Franks Kopf war taub. Er keuchte. Der Bursche gurgelte Blut, es sickerte aus seinem Mundwinkel.
    He, He!“ Yorrick eilte an Franks Seite. „Was war das denn?“
    Frank wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er schüttelte sich und gab sich selbst eine Ohrfeige.
    „Musste sein. Hat sich gewehrt.“, sagte Frank, seine Stimme war erstickt.
    Yorrick war außer sich. „Du weißt schon...“, brüllte er, „...dass wir den Bengel brauchen? Er soll im Ring kämpfen!
    Frank stieß seinem Opfer mit dem Fuß in die Flanke.
    „Lebt doch noch.“, sagte er trocken. „Hab schon Schlimmeres gesehen.“
    Der Knabe keuchte nicht länger, sein Atem stockte, er zuckte und warf den Kopf hin und her. Frank verzog das Gesicht. Mit seinem Schuh drehte er ihn auf die Seite und der Junge hustete heftig roten Schleim aus, der seine Atemwege verstopft hatte. Frank löste sich endlich von dem Anblick, dem Erzeugnis seiner blinden Rage.
    „Die meisten Leute in Middenheim sterben so. Straßenschlägereien, Raubüberfälle.“, erzählte er.
    Er ging zu der Leiche des Holzfällers und wusch sich mit dem Wasser aus dem Krug Gesicht und Hände.
    „Dann liegen sie in der Gosse und krepieren.“, erzählte Frank weiter. „Dabei müssten sie eigentlich nur ein paar Zähne einbüßen.“
    Immer noch brannte es in seinem Kopf. Es stach und zerrte und pochte. Seine Finger schmerzten auch, denn die Haut hatte sich teilweise vom Fleisch geschält, doch dieser Schmerz war für ihn bedeutungslos. Frank fügte es der langen Liste von Verletzungen hinzu, die seinen Körper plagten.
    „Und jetzt?“, fragte Yorrick.
    Der Bandit hatte sich hingehockt und sah sich den Jungen näher an.
    „Jetzt läuft ihm die Suppe aus dem Mund.“ Frank machte eine beiläufige Geste. „Wirds schon schaffen.“
    Yorrick brummte überrascht. „Hätte dich anders eingeschätzt. Dir ist hoffentlich klar, dass wir den Bengel jetzt tragen müssen? Das darfst gerne du machen.“
    Leto kam in diesem Moment wieder aus dem Haus. Er sah sich in der Runde um. Frisches Blut befleckte sein weißes Hemd. Mit angewidertem Gesichtsausdruck strich er über die Flecken. Er gab seine Axt an einen seiner Männer, der sich gleich daran machte die Klinge zu reinigen.
    „Was ist mit ihm?“, sagte Leto und deutete auf den zugerichteten Jungen.
    „Nun ja...“, sagte Yorrick, „...Frank hat sich ein bisschen ausgelebt.“
    Leto war sichtlich überrascht. Wieder zeigte er sein breites Grinsen, von dem man nie wusste, ob Mordlust oder Freude dahintersteckte.
    „Am Ende findest du doch noch einen Platz bei uns!“, sagte er.
    „Und wer trägt den Hänfling jetzt?“, fragte der Mann, der gerade die Klinge putzte.
    „Jedenfalls nicht unser Held des Tages!“, verkündete Leto und lächelte Frank an, „Wie wäre es mit-“
    In diesem Moment wurde Leto unterbrochen. Die beiden Männer, die Yorrick zu Beginn fortgeschickt hatte kehrten zurück. Der eine führte einen Ochsen und der andere hielt einem Mann einen Dolch an die Kehle.
    „Was machen wir mit dem hier?“, fragte der Mann mit dem Messer.
    Leto schüttelte gleichgültig den Kopf.
    Yorrick kam zu Frank herüber und flüsterte ihm zu: „Das ist der Bruder des Holzfällers. Wenn wir seine Familie getötet haben, wird er uns nicht beitreten.“
    Frank nickte steif, während Yorricks prüfender Blick ihn durchbohrte. Wusste der Hauptmann etwas? Vermutlich hatte er bloß eine Ahnung. Vielleicht wusste er sogar, warum Frank den Burschen so sehr zugerichtet hatte.
    „Den Ochsen nehmen wir mit.“, rief Leto zu seinen Männern. „Packt den Jungen drauf. Scheint mir, dass wir heute Rind auf den Teller bekommen.“
    Mit kritischem Blick klopfte er seine Hose ab.
    „Ich brauche frische Kleider.“, seufzte Leto und sie gingen.


    XIII Am schiefen Baum
    Der Schmerz war schon lange verschwunden. Ebenso wie Furcht oder Freude. Er wusste nicht, was aus ihm wurde. Was würde das Ergebnis seines Wandels sein?
    ‚Bewegung!‘, sagte sein kühler Verstand das ein oder andere Mal.
    Er sagte es mit Kraft, aber nicht mit Eile. Dann ging er immer trinken am Bach. Oder er aß Früchte und Beeren, die ihren Geschmack verloren hatten. Hunger hatte er ohnehin keinen. Ihm war nicht gleichgültig, was aus ihm werden würde, nur machte seine Machtlosigkeit ihn seines Schicksals ergeben. Die alte Frau war ein Spiegel seines Wandels: Seine Wut auf sie, das Mitgefühl für ihre Einsamkeit und der Schrecken vor dieser Figur – alles was seine Gefühle und sein Handeln beeinflusst, ja, bestimmt hatte – all dies war hinweg gewaschen. Er sah sie und spürte nichts. Es hatte für eine rigide Orientierungslosigkeit Platz gemacht. Im Fortgang seiner Gedanken wie im Verlauf seiner Bewegungen. Nichts schien seinen alten Platz zu haben. Nur sie war dort. Sie war beständig. Sie bettete ihn jeden Abend, wenn er müde vom Tag war. Dort musste er hin, wollte er hin, zwischen die Wurzeln. Wenn er sich hinlegte und die Augen schloss, das Rauschen des Laubs vernahm, fiel eine Last von ihm ab. Dies fühlte er ganz deutlich, eine der wenigen spürbaren Dinge. Seine Taubheit wäre unerträglich, dessen war er sich sicher, wenn er sie wirklich spüren würde. Doch seine Gefühle waren wie die müden Nerven einer alten Wunde, es brannte nichts mehr in ihm. Graue Gleichgültigkeit bettete ihn ein in weichen Samt. Es wäre unerträglich. Er war sich dessen sicher!
    Die alte Frau betrachtete ihn oft, betastete seine Glieder, wenn er sich nicht regte. Er hatte aufgehört zu fragen, was diese Hautfarbe bedeutete, dieses Grün und Braun und Schwarz, was es war, das sich um seine Wirbel schlang und ihn unbeweglich machte. Sie hatte ihm nie eine Antwort gegeben, würde es wohl auch nie tun. Er könnte ihr Schmerzen zufügen, sie sicherlich zum Reden bringen. Bloß wofür? Er war in ihren Händen. Abhängig von ihrer Gnade und Grausamkeit. Ohne sie war er verloren und ein Gefühl der Verzweiflung, ein Anstoß zu Flucht und Ausweg, das fehlte ihm. Sie gab ihm die einzige Richtung, die er noch hatte, auch wenn er weder Weg noch Ziel kannte. Ohne sie würde er vergehen, denn sie kümmerte sich. Ohne Mutter und Henker wäre er einsam. Und zwecklos.
    Eines Tages versagte ihm sein rechter Arm. Erst dachte er, es wäre eine Frage des Willens, doch seine Muskeln spannten sich, seine Sehnen zogen immer mehr. Der Arm blieb aber angewinkelt in gefrorener Pose. Er betastete ihn und spürte einen festen Körper unter der Haut. Es begann am Ellenbogen und setzte sich bis zum Handrücken fort, schmerzen empfand er keine. Er ging zum Bach, um zu trinken. In tiefen Zügen sog er das kühle Nass in sich auf. Er bemerkte es erst jetzt, nachdem es geschehen war: Sein Arm war im Wasser, vollständig ausgestreckt, und er stützte sich mit ihm ab. Langsam beugte er seine Glieder. Der Arm war träge, wie gelähmt, doch er bewegte sich. Die Gelenke waren blockiert, wie durch ein Gift oder eine unüberwindbare Schwäche, bloß blieb das Leiden aus. An diesem Tag ruhte er gleich bei dem Bächlein. Die Stimme, die ihm Bewegung und Unruhe einflüsterte, war leiser geworden und so konnte er sich diese Stille gönnen. Das Rauschen der Blätter, das Plätschern des Flusses, die Geräusche wanderten durch seine Wahrnehmung. Er spürte die Form und Textur des Bodens und die des Grundes des Baches und die vielen kleinen Wesen darin, die ihn, als Fremdkörper in ihrem Reich, erkundeten. Die alte Frau kam einmal. Sie blickte hinüber und verschwand wieder. Schließlich erhob er sich. Er betastete seinen Arm, die Bewegungen waren nun frei und mühelos. Jedoch, als er seinen Arm ganz beugte, riss seine Haut. Er starrte auf die Wunde. Kein Blut trat aus. Fingerbreit hatte sich der Arm geöffnet. Seine Augen erblickten ein Stück frischer Rinde, feinste Fasern zogen längs ein Muster hindurch. Er blickte weiter darauf und noch etwas länger, so lange, bis er begriff, dass er nicht reagieren würde. Kein Schock, kein Schmerz oder Angst oder Wut. Er hatte gewartet, bis sein Körper ihm etwas sagen würde, aber er horchte bloß in eine tiefe Stille hinein. Er würde nichts tun. Er trabte zurück zu dem Baum und legte sich auf seinen Platz zwischen den Wurzeln. Die Frau kam. Er hob seinen Arm, legte eine Hand auf seine offene Haut und trennt den Riss weiter auf, die Elle hinab. Schmerzlos riss das Fleisch. Sie lächelte ihn an und nahm seine Hände in ihre. Behutsam legte sie seine Glieder an seine Seite. Er, mit einem Funken von Geborgenheit im Herzen, schloss die Augen und ruhte.
    Geändert von GesustheG (16.03.2021 um 12:07 Uhr)

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    Kapitel 4

    KAPITEL 4
    I Kletterrouten
    Im Jahre des Addo 389, Am Morgen des 16. September
    Sadiye
    Sadiye brach früh auf. Sie tat dies immer, wenn sie Neigenbau durchqueren musste, obwohl sie so manches Mal noch müde von ihren nächtlichen Geschäften war. Sie tat dies, damit sie sich nicht unter die anderen Frauen mischen musste, wenn sie sich zum Waschen zum Fluss begab. Sie konnte es nicht mitansehen, wie diese Haubenträgerinnen die Kleider ihrer Männer wuschen. Genauso, wie sie es nicht sehen konnte, wie man ihr hinterher starrte. Ihre langen, schwarzen Haare waren hier etwas Ungewöhnliches, so wie ihre Bekleidung, genauso wie ihre Hautfarbe. Nur eines hatte sie gemein mit den Waschfrauen von Neigenbau: Sie sorgte sich um ihre Familie. Bloß tat sie dies auf ihre eigene Weise. Unweit der Stadt, aber ungesehen in der Böschung wusch sie ihren Körper und ihre Kleider in den Wässern der Neige. Eilig schlüpfte sie wieder in die noch nasse Hose und machte sich auf. Sie folgte dem Fluss stromaufwärts, Richtung Norden. Bald gabelte sich der Strom. Das neue Flussbett war hier noch zu frisch und das Wasser hatte noch nicht genügend Zeit gehabt sich einen Weg auszuwaschen und zu formen. Sie erblickte die eigenartigen Erdhügel, wo nackter Lehm noch nicht von Kräutern und Gräsern bedeckt war, sondern von der Sonne gebacken wurde. Zum einen war der Hügel der Grund für den veränderten Flusslauf und zum anderen für den Abbau von Ton und Kies im alten Flussbett. Die Ursachen jedoch kannte keiner. Es galt als eines der merkwürdigen Ereignisse der letzten Jahre und wurde genauso wie die anderen behandelt: Sie wurden totgeschwiegen, ihrer unumgänglichen Präsenz zum Trotz. Sadiye passierte die verschiedenen Wasserläufe und den unnatürlichen Hügel, bis sie zu einem Wald gelangte. Sie hatte weder Lust noch die Ausrüstung, um sich mit den verschiedenen Bewohnern des Waldes herumzuschlagen, also folgte sie dem Waldrand gen Westen. Das Gebiet, das sie betrat, war unerschlossen. Gute Jagdgründe, jedoch ganz sicher kein Ort für Spaziergange. Mehrfach wich sie Gruppen von Blutfliegen und Scavengern aus und schließlich erblickte sie, jenseits der Baumwipfel, die beeindruckende nördliche Steilwand. Als hätte ein Riese einen Schnitt in die Berge gesetzt. Lang und hoch zog sie sich von dem dichten Wald, den man Lindeneck nannte, bis über die wogenden Wiesen im Westen des Talkessels. Ein bestimmter Ort im Schutz dieser Wand aus nacktem Stein war ihr Ziel: Die Burgruine. Sie folgte weiter dem Waldrand, stets auf der Hut vor Wildtieren, bis sie zu einem steilen Hang kam, der über ihr aufragte. Es war ein Ausläufer der viel höheren nördlichen Steilkante. Sie bog rechts ab, durch die dicken Stämme hoher Bäume. Der Wald war voller Leben. Vogelrufe füllten die Luft und im Unterholz tummelten sich das Gewürm. Spinnweben hingen zwischen den Zweigen, die von den Körpern größerer Insekten durchlöchert waren. Über ihr sprangen kleine Tiere, deren Namen Sadiye nicht kannte, von Baum zu Baum und wenn sie still war und lauschte, dann hörte sie das Summen von Insekten und von etwas weiter weg auch das Grunzen von Molerats. Doch die Vielfalt barg auch Gefahren. Sie hielt sich eng an der Felswand und zog vorsichtshalber ihren Dolch. Sollte sie in eine Gruppe Goblins oder Schlimmeres hineinstolpern, war Geschwindigkeit und Überraschungsmoment ihr einziger Freund. Offene Konfrontation hatte sie schon immer gemieden. Die Felswand wurde höher und höher, bis sie schließlich an der viel größeren Steilwand endete, die den Talkessel begrenzte. Sadiye war an ihrem Ziel angekommen. Sie suchte nach einem großen Baum in der Nähe, fand eine alte Eiche und machte sich daran ihn zu erklimmen. Sie hing noch am niedrigsten Ast, als sie ein tiefes Summen hörte. Es kam schnell näher. Sie ließ sich ins Moos fallen. Hastig zog sie ihre Stiefel aus, schleuderte sie fort und eilte zur Felswand. Mit zwei schwungvollen Sprüngen war sie auf einem Felsvorsprung und ging dort in die Hocke. Dann sah sie die Blutfliegen. Sie umkreisten die Eiche einige Male, bis sie sich darauf niederließen. Es waren ausgewachsene, fleischige Exemplare. Ihre Stacheln waren so dick wie Finger und ihre Giftsäcke prall gefüllt. Sie hoben ihre Geruchsantennen und ließen sie im Wind zittern. Weitere Fliegen kamen hinzu und setzten sich auf den Stamm. Die zwei Größten erhoben sich, kreisten einmal um den Stamm und flogen dann – zielsicher geleitet von ihren scharfen Geruchsorganen – zu den Stiefeln von Sadiye. Ihr fiel ein Stein vom Herzen, als sie sah, dass die anderen Fliegen den Älteren folgten. Ein Schwarm Blutfliegen hätte sie kaum im Alleingang bezwingen können und ihr lähmendes Gift versprach einen langsamen, qualvollen Tod. Sie pumpten ihre Opfer damit voll, tranken ihr Blut, legten ihre Eier unter die Haut und ließen den hilflosen Körper einfach zurück. Ihre Opfer lebten oft noch lange, gelahmt von der schieren Menge des Giftes, bis sie einen qualvollen Hunger- oder Erschöpfungstod starben. Die Eier hatten so genügend Zeit, um zu schlüpfen und sich am frischen Fleisch zu nähren. Ein einsamer Wanderer oder ein verirrtes Schaf waren das perfekte Opfer. Doch dieses Schicksal blieb Sadiye erspart, denn der Schwarm hatte ihre Schuhe eingehend untersucht und zog schließlich erfolglos ab. Sadiye sprang hinab und holte sich ihre Stiefel wieder. Skeptisch roch sie an ihren Schuhen. So streng war der Geruch gar nicht. Für feinfühlige Insektenantennen hatte es gereicht, den sieben Wächtern sei Dank. Nachdem sie ihre Stiefel angezogen und geschnürt hatte, bestieg sie schnell den Baum. Die tiefen Furchen der Rinde gaben guten Halt, wenn gerade keine Äste und Zweige erreichbar waren. Bis zur Krone kletterte sie empor und von dort hangelte sie sich zu einem guten Ast, der aus dem Blätterdach herausragte. Vor Sadiye, vom tiefen Erdboden bis über die Baumwipfel hinaus, erhob sich die Felswand. Ungleich der nördlichen Steilwand, an die sie sich lehnte wie ein Kind an seinen starken Vater, hatte sie keinen Überhang, sondern eine leichte Neigung. Das würde das Klettern leichter machen. Vereinzelt krallten sich Birken und Sträucher an den Abhang und ließen ihre Wurzeln in die Tiefe Baumeln. Oben auf erhob sich ein alter Burgturm. Ihm fehlte die Spitze und Moos sprießte aus allen Fugen. Mauern in ähnlichem marodem Zustand schlossen zu beiden Seiten des Turms an. Es war die Ostseite der Ruine. Sadiye rückte sich auf ihrem hohen Sitz zurecht und betrachtete die Felswand. Sie verbrachte dort einige Stunden und verzehrte ihren kleinen Proviant; zwei Eier, ein Bröckchen Salz und einen Kanten Brot. In dieser Zeit studierte sie die Felsen. Genauestens prägte sie sich Griffe und mögliche Routen ein, denn dies war das letzte Mal, dass sie diesen Anblick bei Tageslicht erblicken würde. Sie fixierte ihre Vorstellungen in ihrem Kopf, machte eine Liste von Ausrüstungsgegenständen und als sie fertig war durchlief sie ihre Pläne ein letztes Mal. Sadiye nickte zufrieden und machte sich an den Abstieg. Es machte sie glücklich diese gedanklichen Merkaufgaben zu exerzieren und erinnerte sie an einstudierte Choreographien und famose Auftritte aus einem früheren Leben. Der Nachmittag war inzwischen hereingebrochen und schnellen Schrittes verließ sie den Wald. Sie genoss die Luft fernab der Stadt. Gerade im unteren Viertel, in der Suppe, wo sie und ihre Familie wohnten, waren die Gerüche alles andere als angenehm. Sie nahm den Weg, den sie gekommen war, mit Ausnahme des Flusses, wo nun die Frauen von Neigenbau die Kleider ihrer Männer wuschen.


    II Beförderung
    Im Jahre des Addo 389, Am Morgen des 16. September
    Frank
    Yorrick hatte ihm seine rote Armbinde abgenommen, doch nicht ohne ihm eine weitere Predigt betreffend des Lagers aufzutischen. Unter anderem sprach Yorrick eine klare Drohung aus, den Ort, die Größe oder die Beschaffenheit des Lagers an Außenseiter Preis zu geben. Die Regeln, so wie Frank schon vermutet hatte, offenbarten ihm die stramme Struktur und Organisation der Banditen: So hatte Frank nun gewisse Freiheit, konnte das Lager verlassen, sich den Jägern anschließen und seine eigenen Unternehmungen wagen, jedoch nur innerhalb des Tanneck Waldes. Die Grenze, die ihm gesetzt wurde, war die obere Neige und der einzig sichere Weg sie zu überqueren war die Furt. Yorrick warnte, die Furt sei bewacht. Der Fakt, dass Frank dort keine Wachposten gesehen hatte, warf zwar Fragen auf, doch ein geheimes Lager hatte sicherlich unsichtbare Grenzen und unsichtbare Wächter.
    Mehr Militär als Räuberbande, dachte sich Frank.
    Auch gab es klare Hierarchien: Er war nun frei und somit über den Zwangsarbeitern mit ihren roten Binden, jedoch unter den Männern, die Yorrick als Riemen und Stiefel bezeichnete. Sie bildeten das Rückgrat von Letos Bande. Die Riemen erfüllten wichtige Funktionen, als Händler oder Köche, Ledergerber, Jäger und Wachmänner. Fetzen von Tierfellen, festgezurrt und vernietet mit Lederriemen, zeichneten sie aus. Über ihnen standen die Stiefel. Schwer bewaffnete Krieger in guter Rüstung und ordentlicher Kleidung, die nur Leto selbst und Yorrick, seiner rechten Hand, unterstanden. Frank hatte sie auf den Wehrgängen und an den Toren gesehen. Speer und Schwert, Armbrust und Langmesser zeichneten sie aus, dies und ihre breitkrempigen Stiefel, die sie ab und an zur Streitschlichtung einsetzten. Wenn die Riemen der lange Arm von Letos Bande waren, dann waren die Stiefel seine geballte Faust. Yorrick deutete auch an, dass für Frank der Weg zum Rang des Riemens nicht sehr weit wäre. Seine Talente wären von Nutzen und seine Taten sprächen für sich. Auch seinen Besitz erhielt Frank wieder: Seine Reisetasche, seinen Dolch und sogar sein Diebeswerkzeug, bloß Geld und Proviant fehlten. Eine letzte Frage stellte Frank an Yorrick noch:
    „Wann findet der nächste Kampf statt?“
    „Diesen Abend. Geld verleihen ist verboten. Falls du vor hast zu wetten, dann aus deiner Tasche.“, sagte Yorrick bestimmt. „Zu viel Betrug, zu viele Probleme.“
    „Verstehe“, antwortete Frank.
    Er wusste alles, was er wissen musste. Es juckte ihn in den Fingern, seine neu gewonnen Freiheit auszukosten, bedankte und verabschiedete sich, schulterte seinen Rucksack und machte sich auf. Er ging zum Jägertor, dem kleineren der beiden an der Rückseite des Lagers, trat vor die Palisaden und tat einen tiefen Atemzug. Die feuchte, satte Waldluft füllte seine Lungen.
    Eisenhalm, Kronstöckel, Drachenwurz, dachte er und streckte die Glieder.
    Er wollt aufbrechen, doch dort stand ein Mann, gleich beim Tor. Sein rechter Arm lehnte auf einem mannshohen Langbogen und Frank fiel gleich auf: Ihm fehlte die Hand. Sein Gesicht war zerfurcht von tiefen Narben, die seine Züge entstellten. Wange, Stirn und das eine Auge waren verstümmelt. Er grüßte Frank mit der einen Hand, die ihm noch blieb und sagte kein Wort. Frank, irritiert und überrascht, grüßte zurück.
    „Du gehst auf die Jagd?“, fragte Frank.
    Der Mann blieb stumm und schüttelte bloß den Kopf. Frank nickte zum Abschied und ging.
    Eisenhalm, Kronstöckel, Drachenwurz, wiederholte er im Stillen.


    III Andere Sitten
    Im Jahre des Addo 389, Am Morgen des 16. September
    Hermann & Raik
    Raik hatte seine mürrische Stimmung wiederentdeckt. Es war nicht das erste Mal, dass er einen Mann verloren hatte, doch dies war keine Erfahrung, die mit dem nächsten Mal leichter wurde. Ganz im Gegenteil; Mit verschlossener Miene schritt er voran und schüttelte immer wieder den Kopf.
    „Wenn bei diesem verdammten Treffen nichts rauskommt-“, sagte Raik über die Schulter und ließ den Rest des Satzes offen.
    Hermann folgte hinterdrein. Sie liefen den überwucherten Aufgang der Ruine herunter. Gerade hatten sie Gero in ihr Lager gebracht, im Eilschritt waren sie gereist, hatten die Nacht über immer wieder den Träger gewechselt, aber mit der Unterstützung der Nordmar war es letztlich ein überwindbares Unterfangen gewesen. In der Obhut ihres Feldarztes war Gero gut aufgehoben. Der Mann hatte alles andere als eine wohlwollende Art, doch er verstand sein Fach und hatte ihnen versichert, dass Gero seine Verletzung überstehen würde.
    „Skerta ist einer der drei Ersten.“, sagte Hermann schließlich. „Eine gute Beziehung zu ihm kann die Verhandlungen erleichtern.“
    Raik schüttelte wieder den Kopf. „Wenn auch nur die Hälfte von dem stimmt, was man sich so erzählt, dann geben die Nordmar einen feuchten Dreck auf Diplomatie.“
    Der Kommandant hatte seinen Kopf in eine finstere Wolke voll schlechter Erwartungen und Schwarzseherei gesteckt, so wie in den Monaten zuvor. Hermann, der schon mehr Erfahrungen mit den Bergclans gesammelt hatte, wägte jedoch mit kühlem Kopf ihre Chancen ab.
    „Immerhin haben wir gemeinsam eine gewaltige Horde von Goblins geschlagen.“, sagte der Hauptmann. „Wenn sie einmal eine Not erkannt haben, dann kommen sie auch an den Verhandlungstisch. Zumindest habe ich-“
    Not macht keine Freunde!“, schnitt ihm Raik das Wort ab. „Sieh dich einmal um im Talkessel! Der Stadtrat verweigert sich uns zu unterstützen! Meine Männer sind desertiert, sie scheißen auf Eid und Pflicht! Ein gemeinsames Ziel macht Freunde! Oder ein gemeinsamer Feind. Finden wir keins, finden wir keine Freundschaft.“
    Mit seinem letzten Satz verflüchtigte sich seine Wut und wandelte sich in Trotz und Frustration. Er war angespannter, als Hermann vermutet hatte und es lag sicher nicht nur an der rastlosen Nacht. Hatte der Kommandant etwas zu verbergen? Erneut schüttelte Raik den Kopf, fuhr sich durch die Haare und Hermann schwieg. Sie waren beinahe am Ende des Aufgangs angekommen, wo Heffas und Skerta auf sie warteten.
    „Muss ich noch etwas wissen?“, fragte Raik eilig.
    „Ja“, sagte Hermann. „Sie werden mit dem Lehnsmann des Tals sprechen wollen.“
    Raik schnaubte. Hermann wusste, was er von ihrer Obrigkeit hielt. Es lief nicht gerade rosig zwischen den Beiden. Als sie die Nordmar erreichten, standen sie mit verschränkten Armen und gesenkten Köpfen da. Sie lockerten ihre Haltung, als sie sich näherten.
    „Erster Jäger“, grüßte Raik.
    Skerta neigte sein Haupt. „Hauptmann Raik. Euer Kampfbruder, wird er wieder die Waffe heben können?“
    Raik nickte. „Der Soldat wird leben. Was sind eure nächsten Schritte?“, sagte er.
    Hermann zog die Brauen hoch. Raik achtete darauf keine Zeit mit Nebensächlichkeiten zu verschwenden, was gut war. Skerta rieb sich an der Schläfe, überlegte für einen Moment.
    „Es sind noch drei Tage bis zur Ankunft meiner Stammesbrüder.“, sagte er.
    Seine stahlblauen Augen huschten umher, als er überlegte. Die Falten seines wettergegerbten Gesichts ließen ihn älter erscheinen.
    „Unser bisheriger Treffpunkt scheint nicht sicher zu sein. Wir werden ihnen entgegeneilen und sie auf halber Strecke treffen. Sagt, Kommandant, können wir unser Zusammentreffen in eurer Befestigung abhalten?“
    Raik war sichtlich überrascht durch den Vorschlag und gab sich keine Mühe dies zu verbergen. Das Vertrauen, dass sie sich ihnen derartig ausliefern würden, hatte er nicht erwartet. Nicht vor dem Hintergrund der historischen Spannungen zwischen König und Clans. Skerta unterstrich seinen Vorschlag, bevor Raik reagieren konnte:
    „Wir haben gemeinsam gekämpft.“, sagte er mit gehobenem Kinn und ernstem Blick. „Lasst dies einen Anfang unserer Gemeinschaft sein!“
    Der Nordmar bot ihm seine Hand. Raik schlug er ein. Hermann zog scharf die Luft an, als Raik begann die Hand des Nordmar zu schütteln und Skerta sah Raik vollkommen verdattert an. Der Nordmar ließ seine Hand kraftlos und erwiderte den Druck nicht. Hermann machte einen entschiedenen Schritt nach vorn, bot seine eigene Hand an und jetzt war es Raik, der verwirrt dreinblickte, als Skerta eilig den Handschlag auflöste und sich Hermann zuwandte. Die beiden Männer blickten sich in die Augen, packten einander an den Unterarmen und lösten den Griff wieder.
    „Wir sehen uns in drei Tagen.“, sagte Skerta und wandte sich schon zum Gehen.
    „Einen sicheren Tritt!“, rief Hermann ihnen hinterher.
    Heffas, wie gewohnt im Hintergrund, gab Raik einen abschätzigen Blick und folgte dann seinem Seilmann. Sie verschwanden hinter der ersten Wegbiegung und Raik und Hermann standen für einen Moment stumm da.
    „Was ist gerade passiert?“, fragte Raik schließlich.
    „Man packt sich am Unterarm.“, bemerkte Hermann trocken.
    „Klingt nach etwas, dass ich hätte wissen müssen.“, grummelte Raik.
    „Ich hätte nicht gedacht, dass es so weit kommt. Wusste ja nicht, dass ihr ein so guter Diplomat seid, Herr Kommandant.“
    Hermann bemühte sich mit aller Kraft sein Lächeln zu verbergen. Raik war ganz und gar nicht in der Stimmung für Späße.
    „Du kannst dir deinen Spott sparen.“, sagte er. „Erklär mir lieber was genau gerade passiert ist!“
    Hermann räusperte sich vornehm.
    „Die Nordmar, und das zieht sich durch alle Clans, grüßen einander, indem sie sich Halt bieten. Sie greifen sich an den Unterarmen. Nimmt man nur ihre Hand, dann werden böse Absichten unterstellt, als wollte man jemanden den Hang hinunterwerfen.“ Er atmete tief durch und sagte: „Das ist gerade passiert.“
    „Und ihre Haltung zu Beginn? Die sahen so aus, als hätten wir sie zu lange warten lassen.“
    „Oh, das!“ Hermann lachte auf. „Ja, das ist ihre gewöhnliche Haltung. Kinn auf der Brust und die Arme am Körper, es liegt an der Kälte. Das darf man nicht überbewerten.“
    Hermann lächelte in sich hinein. Raik wandte sich zum Gehen.
    „Es gibt allerdings noch eine gute Seite!“, fügte Hermann hinzu.
    „Und die wäre?“
    „Obrigkeit und Ansehen...“, erklärte er, „...sind für sie gleichwertig. Sie wählen ihre Führer selbst. Allein die Vorstellung sich einer Adelsfamilie zu unterwerfen ist ihnen fremd. Damit hatten schon einige Herrscher zu kämpfen.“ Er schnalzte mit der Zunge. „Für sie ist vermutlich Kommandant Raik der erste Mann im Talkessel.“
    Raik war stumm für einen Moment. Die Hände in die Hüften gestemmt ließ er den Blick in die Ferne schweifen.
    „Großartig“, seufzte sein Vorgesetzter schließlich. „Die Welt war einfacher, als man Befehle befolgen konnte.“


    IV Der zu kleine Teich
    Im Jahre des Addo 389, Am Nachmittag des 16. September
    Ferdinand & Quentin
    Auf dem lauschigen Balkon der Burg von Eichenbruck kämpften Ferdinand und Quentin wieder einmal den Kampf der Wörter und wieder schien es zwischen ihnen keinen Sieger zu geben.
    „Der Erfolg einer Gruppe…“, leierte Ferdinand herunter, „…hängt von ihrer Fähigkeit ab, ihre Stärken zu nutzen.“
    Quentin hatte ihm ein Lehrbuch mit dem Titel Ars Oeconomicus, der Kunst des Wirtschaftens, als Pflichtlektüre ausgehändigt und Ferdinand betrachtete die vermeintlichen Weisheiten darin eher als Küchenphilosophie, denn als letzte Erkenntnis der Wissenschaft über Menschen und Märkte. Mit dem Schnitzmesser in der Hand bearbeitete der Junge ruppig einen langen Weidenstab, während Quentin behutsam seinen Bart pflegte. Ein Fläschchen Öl und ein Handspiegel standen auf einem Tischchen, während der Kaufmann vorsichtig mit einer kleinen Schere Haar um Haar stutzte.
    „Stimmen sie sich nicht ab...“, fuhr Ferdinand fort, „...dann sind ihre Bemühungen nutzlos, da die Reibungen innerhalb einer Gruppe ihre Erfolge zunichte macht. Dann ist die Gruppe gerademal so stark, wie jeder Einzelne für sich.“
    Ferdinand war bereits etwas genervt durch den Lehrmeisterlichen Frageton.
    „Sehr gut“, sagte Quentin und durchtrennte ein einzelnes Haar. „Und die Grundvoraussetzung für diese Zusammenarbeit?“
    Ferdinand rollte mit den Augen und unterbrach seine Tätigkeit.
    „Vertrauen“, sagte er und wiegte albern den Kopf hin und her, während er den Lehrbuchtext herunterträllerte. „Vertrauen ist das Fundament für jede Zusammenarbeit. Gibt es dieses Vertrauen sind Gruppen in der Lage ein Problem unter minimalen Abstimmungskosten gemeinsam zu lösen. Jedes Mitglied benötigt Verständnis und Einsicht über besagtes Problem. Doch dann wird es lösbar, welcher Natur das Problem auch sein möchte.“
    Energisch bearbeitete er den Stock, schälte Stück für Stück die Rinde vom Holz. Quentin lächelte mit Genugtuung.
    „Gut. Sehr gut. Vertrauen ist die Voraussetzung. Und was ist die Voraussetzung von Vertrauen?“
    Ferdinand schenkte ihm einen giftigen Blick. Zu oft hatten sie dieses Spiel gespielt.
    „Na?“, bohrte Quentin nach.
    „Zu einfach“, sagte Ferdinand zähneknirschend. „Sicherheit.“
    Exakt!“ Quentin klatschte erfreut in die Hände. „Sicherheit! Ohne die Sicherheit, dass dein Vertrauen nicht missbraucht wird, wirst du es niemanden schenken. Und wie entsteht Sicherheit?“
    „Durch Beziehungen“, sagte Ferdinand gelangweilt. „Durch viele kleine Prüfungen in Wort und Tat, die Menschen sich gegenseitig unterziehen. Worauf willst du hinaus?“
    „Was geschieht, wenn du keine Beziehung zu den Menschen hast, denen du Vertrauen musst? Wenn die Gruppe zu groß ist, die Menschen zu weit weg, oder die Leute sich zu fremd? Wer garantiert dann die Sicherheit und das Vertrauen?“
    „Du weißt...,“ sagte Ferdinand und schnitt ein grobes Stück vom Weidenstab ab, „...dass du mir auch einfach sagen kannst, worauf du hinaus willst, ohne mir ständig diese Fragen zu stellen, oder?“
    Quentin seufzte. „Was wäre ich denn dann für ein lausiger Lehrer, mein Junge?“
    „Sag´s mir einfach. Was schafft das Vertrauen zwischen fremden Menschen?“
    „Der Markt“, sagte Quentin triumphierend.
    „Der Markt?“ Ferdinand war nicht überzeugt.
    „Ganz genau, der Markt. Zwei Gruppen, die sich fremd sind, teilen einen Markt. Ihre jeweilige Strategie, mit der sie die größten Erfolge erzielen können, liegt in optimaler Zusammenarbeit, in Vertrauen und Sicherheit. Haben die Gruppen Vertrauen zueinander, wird ihr Erfolg umso größer.“
    Ferdinand ließ die Hände sinken, den Blick schweifen und überlegte. Es vergingen ein paar stille Momente.
    „Was ist mit den Bauern und dem Adel?“, sagte Ferdinand dann. „Es ist ja nicht so, als wäre hier Vertrauen das Problem! Viel eher die Tyrannei und die Steuern.“
    „Nun ja…“, sagte Quentin ausweichend, „…vielleicht sollte ich sagen, man bräuchte einen fairen Markt.“
    „Vergessen wir mal den Adel. Was ist...“, sagte Ferdinand, „...wenn eine Gruppe verliert? Wenn eine Gruppe vom Markt verdrängt wird, sodass ihre Sicherheit nicht mehr garantiert ist? Und das, obwohl sie frei sind! Einfach nur weil der eine Zimmermann die besseren Häuser baut, obwohl der Markt fair ist. Was dann? Die Menschen werden arm, das Essen wird knapp, ihre Häuser gehen zu Bruch...“
    Jetzt überlegte Quentin länger. Er legte die Schere beiseite.
    „Dann brauchen wir mehr Gruppen.“, sagte er schließlich. „Mehr Gruppen, denen die Menschen sich anschließen können. Gibt es im Meer nur Haie, brauchen die Fische einen neuen Teich.“, sagte Quentin und zuckte mit den Schultern.
    Ferdinand legte die Stirn in Falten. Ihm gefielen die Ausführungen Quentins immer noch nicht.
    „Heißt das nicht, dass Vertrauen aus einer Not entsteht? Ist das nicht unglaublich... traurig?“
    „Ferdinand...“, sagte Quentin zupfte an seinem Bart, „...ich bin Kaufmann, kein Priester. Vergiss das nicht.“
    „Der Markt soll für Sicherheit sorgen.“, sagte Ferdinand nachdenklich und schüttelte den Kopf. „Warum funktioniert es dann hier nicht? Warum haben wir Banditen in den Wäldern und Hungernde in den Straßen?“
    „Für den Kessel kann ich dir eine Antwort geben, für den Rest der Königreiche nicht.“
    „Und die wäre?“
    „Der Kessel ist zu klein.“, sagte Quentin und hob hilflos Hände. „Wir sind abgeschottet und alle Fische schwimmen im gleichen Teich. Einfach gesagt: Den Menschen fehlt die Gelegenheit etwas anderes zu tun.“
    „Oder...“, sagte Ferdinand und nahm wieder Schnitzmesser und Weidenstock zur Hand, „...wir brauchen neue Gesetze. Gesetze, die dafür sorgen, dass den verlierenden Gruppen geholfen wird. Dass die Erfolgreichen und Gutbetuchten etwas abzugeben zu haben.“
    „Nun ja. Der König macht die Gesetze.“, sagte Quentin entschuldigend.
    „Das tut er wohl.“, brummte Ferdinand. „Aber nicht mehr hier im Kessel. Wir sind auf uns selbst angewiesen.“
    Quentin seufzte lang. „Wir geben unser Bestes, Ferdinand.“
    Quentin meinte den geheimen Zirkel. Nur selten hatte eine Diskussion in beidseitigem Schweigen geendet. Dieses Mal schon. Der leere Raum der Stille wurde ausgefüllt durch das Rauschen der oberen Neige. Die Sonne stand schon tief, so tief, dass keine Strahlen mehr in die kleine Schlucht des Stroms fielen. Das rötliche Licht gab dem Bergfried von Eichenbruck eine drohende Erscheinung. Ein wenig Licht wurde von der Befestigung zurückgeworfen und erreichte sie auf ihrem Balkon.
    Plötzlich, wie aus dem nichts, legte sich eine Hand auf das Geländer. Quentin sprang auf. Ferdinand umklammerte Stock und Messer. Eine zweite Hand zeigte sich, dann erschien ein Kopf.
    „Warum so schreckhaft?“, sagte eine Frauenstimme mit leichtem Akzent.
    Mit einem lauten Seufzen von tiefer Erleichterung ließ Quentin den Stuhl sinken, mit dem er sich bewaffnet hatte.
    Sadiye!“, protestierte Ferdinand „Warum, bei den sieben Wächtern, nimmst du nicht die verdammte Tür?“
    „Ferdinand...“, sagte sie und schwang sich über die Balustrade, „...du weißt, ich nehme nie den Haupteingang.“
    Quentin schüttelte verständnislos den Kopf. „Bei aller Liebe, mir ist fast das Herz stehen geblieben!“
    „Keine Sorge“ Sadiye zeigte sich höchst amüsiert. „Ich bin gleich wieder weg. Ich brauche nur ein wenig Ausrüstung, euer Pferd und deinen Jungen.“
    Sie zwinkerte Ferdinand zu, der sie zugleich überrascht und voller Vorfreude anstarrte.
    „Wenn´s mehr nicht ist!“, sagte Quentin empört und wischte seine langen Haare über die Schulter. „Was für Ausrüstung?“


    V Kräutersuche
    Im Jahre des Addo 389, Am Nachmittag des 16. September
    Frank
    Den Eisenhalm hatte er schnell gefunden. Der rostbraune Stiel war nicht zu übersehen und das Kraut wuchs ohnehin überall; an Waldrändern, sonnigen Lichtungen, an sumpfigen Flussufern. Wie viel Erik brauchen würde wusste er nicht, also hatte Frank drei ganze Stängel samt den fleischigen Blättern in seinen Rucksack gestopft. Die anderen beiden Kräuter zu finden war ein schwierigeres Unterfangen. Kronstöckel war selten. Es wuchs auf den sonnigen Kuppeln von freistehenden Hügeln, wo der Wind die winzigen Samen davontragen konnte. Die Wurzeln benötigten lockeren Boden, durch den das Regenwasser immer wieder abfließen konnte; Staunässe mochte Kronstöckel ganz und gar nicht. Drachenwurz war auch nicht leicht zu finden. Es handelte sich um eine unscheinbare, gelbe Gebirgsblume. Diese zu erspähen war der einfachere Teil, doch er brauchte ihre Wurzeln, speziell die Wurzeln, die sich über dem Erdboden auf dem nackten Stein rankten, auf der Suche nach neuen Ritzen und neuen Wasserquellen. Nur diese schuppigen, von der Sonne gebackenen Wurzeln enthielten die Inhaltsstoffe, die Drachenwurz so besonders machten. Nicht jede Blume hatte solche Wurzeln. Erik hatte es ihm alles noch einmal eingebläut und dieses Mal, obwohl es um Kräuter ging, hatte Frank genauestens zugehört. Also ging er Richtung Süden, wo der Wald ins Gebirge überging, wo er fündig werden könnte.
    Frank hatte Glück. Wälder waren immer gefährlich, auch Tagsüber, doch er begegnete keinem gefährlichen Wild, bloß kleinerem Getier und einer Wildschweinrotte, doch der Keiler behandelte Frank mit geringer Neugierde, während seine Schützlinge im Waldboden wühlten. Die nächste Goblingrube, der nächste Moleratbau war nie weit in einem solchen Wald, doch Frank stolperte nur über ihre Fährten. Langsam ging es bergauf, der Wald wurde lichter und moosüberzogene Steine lagen zwischen dicht stehenden Fichtenstämmen. Er bahnte sich seinen Weg zwischen den hausgroßen Findlingen und kletterte Geröllfelder empor und bevor er es sich versah, stand er vor einem mannshohen Gewächs: Ein breiter Stiel, samtene Blätter, und eine ausladende Blüte mit violettem Ansatz und scharlachroten Blütenblättern. Kronstöckel. Frank benötigte den Saft der Pflanze. Den Stiel zu kappen war zwecklos, da der innere Druck die Flüssigkeit herauspressen würde und er nichts bei sich hatte, um den Saft aufzufangen. Also nahm er seinen Dolch zur Hand und schnitt fünf der breiten Blätter ab und verstaute sie in seinem Rucksack. Getaner Arbeit sah er sich um. Er bemerkte erst jetzt, dass er hier, an den Hängen im Südwesten, zum ersten Mal den Ausblick auf den gesamten Kessel genoss. Der hohle Zahn mit seinen schwarzen Punkten stand dort in der Mitte. Neigenbau konnte er klar erkennen, und den Fluss, der sich in einen klaren, blauen See ergoss. Dichtes Schilf und winzige Fischerhütten säumten sein Ufer. Im fernen Norden türmte sich eine Steilwand auf, endete rechts in einem dichten Wald und wurde links von einem weiteren Fluss durchtrennt. Dort war Eichenbruck, die Zollburg. Sie sah seltsam verlassen aus. Irgendwo im Kessel musste Quentin sein, der große Alchemist, der Grund für ihre Reise und angeblich würde man ihn dort finden. Frank suchte das Banditenlager, schließlich lag es in dem Wald direkt unter ihm, doch er suchte vergeblich. Überall wogten die Baumwipfel im Wind, doch nirgends erblickte er auch nur ein Stück des Palisadenwalls. Dann, gemessen an ungefährer Richtung und grob geschätzter Entfernung, sah er den Platz, aber es war nicht mehr als eine größere Lichtung, wo die Baumkronen fehlten. Die hohen Bäume versteckten das Lager perfekt.
    Frank ging weiter, die Steigung entlang. Er suchte das letzte Kraut, fand ein paar Mal die gelben Blumen, doch nie die Wurzeln dazu. Die Sonne senkte sich schon gen Horizont, doch Frank hatte kein Glück. Er schlug einen Bogen, ging den Hang etwas hinauf und suchte auch dort die Gegend ab. Hier war das Kraut noch seltener, doch vielleicht auch das Wasser für diese Pflanze und dann würde er finden, was er suchte. Endlich, als er schon fast aufgegeben hatte, als sich die Sonne rot färbte und nur noch knapp über den Gipfeln stand, fand er den Drachenwurz. Ein paar wenige Blüten zierten den kahlen Fels und schuppiges Wurzelholz klammerte sich an die umliegenden Steine. Er schnitt in das zähe Kraut und rupfte einen Teil heraus, ohne dabei die Pflanze zu töten. Gelber Saft rann über seine Finger. Zu seiner Verwunderung war dort auch ein leichter Blaustich, den Erik nicht erwähnt hatte. Als er aufsah, die Augen der Sonne wegen zusammengekniffen, bemerkte er eine schlanke Silhouette. Ihm gefror sein Herz. Er blickte auf die tödliche Fratze eines Snappers. Die Echse war vollkommen starr, keine zehn Schritt von ihm entfernt. Seine gelben Augen fixiert auf Frank, hob es langsam einen der zwei Läufer, setzte ihn katzengleich auf und näherte sich. Frank zog seinen Dolch, klammerte den Griff so fest, dass seine Knöchel weiß wurden. Eine lange Zunge leckte über die Nüstern und die Bestie zeigte eine Reihe von spitzen Fangzähnen, ergänzt von Reißzähnen an den Seiten. Frank wusste um seine Chancen. Doch so schlecht sie auch waren, das Tier war allein. Er baute sich groß auf, hob bedrohlich die Arme und brüllte, schrie so laut er konnte, schrie, dass es ihm in der Kehle schmerzte. Die Berge erwiderten sein Echo und das Tier stockte, zuckte mit seinem knochigen Schädel vor und zurück, musterte seinen Gegner, erwiderte Franks Gebrüll mit einem Zischen und Fauchen und setzte dann, unbeirrt und zielstrebig, eine Krallenfuß vor den anderen. Frank machte sich bereit. Bald würde es ihn anspringen. Mit seinen scharfen Klauen und seinen spitzen Zähnen voran. Er hatte nur den Dolch. Es tat noch einen Schritt, duckte sich zum Sprung, und dann, aus dem nichts, traf ein Pfeil seinen schlanken Hals und schoss geradewegs hindurch. Das Tier stockte, begriff noch nicht Recht, ebenso wenig wie Frank, und ein zweiter Pfeil traf. Dieses Mal in den schmalen Brustkorb, blieb stecken und bohrte sich tief hinein in die Eingeweide. Die Echse strauchelte, schnappte mit ihren scharfen Zähnen nach dem Pfeilschaft, fauchte und keuchte, bis es fiel und zuckend liegen blieb.
    Ein Mann trat zwischen den Felsen hervor. Ihm fehlte eine Hand. Er ging zu dem Tier, legte seinen Langbogen ab, kniete sich nieder und beendete den Todeskampf des Snappers, indem er dem Tier ein Messer zwischen die Nackenwirbel rammte. Frank löste sich aus seiner Schockstarre. Er erkannte den Mann, denn es war der Gleiche, den er am Tor getroffen hatte. Wieder blieb der Jäger wortlos, wie er die Sehne seines Bogens löste und seine Beute schulterte. Er sah Frank an, ausdruckslos mit seinem von Narben entstelltem Gesicht. Schließlich winkte er ihm, bedeutete ihm zu folgen. Schweigend kehrten sie zum Lager zurück. Gleich hinter dem Tor trennten sich ihre Wege. Der Jäger brummte nur, wie Frank sich bei ihm bedankte und in den Tunnel zu seiner Rechten abbog. Frank folgte dem dunklen Gang, bis er die Tür erreichte, die er schon einmal mit der Unterstützung des Kartenzeichners geöffnet hatte. Mit seinen Dietrichen war es ihm diesmal ein Leichtes, denn das Schloss war grob und simpel. Eilig durchquerte er die dunklen Gänge des Tunnelsystems. Die Türen zu den Zellen waren zwar ebenso verschlossen und die Schlösser etwas besser, doch Franks geübter Umgang mit dem Diebeswerkzeug machte sich bezahlt.
    „Erik.“, flüsterte er, voller Aufregung.
    „Ich bin hier“, antwortete sein Bruder.
    Frank schloss ihn behutsam in die Arme. Er wusste nicht welche Verletzungen Erik erduldet hatte und gab sich Mühe seine Freude zu zügeln. Erik konnte wieder sprechen; Wasser und Nahrung hatten zumindest ein wenig geholfen. Frank erzählte seinem Bruder von dem Lager, von seinen Erfahrungen hier, von den Gesetzen und Regeln unter den Banditen. Er erzählte ihm auch von der Arena und was ihm bevorstand. Der Kampf gegen die Bestien und gegen seinen Kontrahenten. Erik fragte nach den Kräutern und Frank öffnete seinen Rucksack und breitete die Inhalte aus. Nach einer kurzen Begutachtung brummte Erik zufrieden und riss einzelne Teile ab.
    „Würdest du bitte?“, fragte er.
    Erik hielt seinem Bruder eine Handvoll mit matschigen Pflanzenstücken hin. Frank guckte verwundert. Die Kräuter waren doch für seinen Bruder gedacht.
    „Du musst es vorkauen.“, sagte Erik.
    „Ich muss was?“
    „Der Geschmack ist zu herb und die Kräuter müssen sich vermischen. Ich glaube mir fehlt die Spucke dafür.“ Erik blickte ihn erwartungsvoll an. „Na los!“
    Frank zögerte. „Du willst mich auf den Arm nehmen, oder?“
    „Ich habe Schmerzen am ganzen Körper, mein Fuß ist angeschwollen wie ein Kuheuter und ich hab seit Ewigkeiten kein Tageslicht mehr gesehen. Und du glaubst ich bin in der Stimmung für Scherze?“
    Langsam, mit genau gewählten Worten sagte Frank: „Beim letzten Mal… als ich etwas vorkauen sollte-“
    „Oh, Ja!“ Erik nickte verständnisvoll. „Bitterspalt hieß das Zeug.“ Er hob entschuldigend die Hand. „Na ja, du hast mir halt auch alles geglaubt damals.“
    „Ich wollte unsere Kuh retten!“, protestierte Frank. „Du sagst vorkauen und ich kaue vor!“
    Frank betastete misstrauisch die Pflanzen in Eriks Händen. Erik seufzte vernehmlich.
    „Na gut. Ich mach´s selbst.“, sagte er.
    „Nein. Nein, nein, nein! Wenn du da raus musst, kau ich den Mist durch.“
    „Meinetwegen“ Erik hob unschuldig die Schultern. „Es schmeckt aber grauenhaft, ich sag ja nur. Zwischendurch ausspucken nicht vergessen.“
    Frank zupfte noch ein paar Fasern aus dem Knäuel und schob sich dann den matschigen Klumpen zwischen die Zähne. Schon beim ersten Bissen zog er eine angewiderte Grimasse. Der bittere Saft füllte sofort seine gesamte Mundhöhle. Er quälte sich durch die zähe Masse, stütze die Hände auf die Knie und ließ den Speichel aus seinem Mund rinnen. Erik bremste ihn schließlich.
    „Ich glaub das reicht.“
    Frank spuckte einen grünen Klumpen in Eriks Hände.
    „Der Geschmack wurde gerade erträglich.“, sagte Frank mit zerknautschter Miene und spie noch einmal aus.
    Erik wrang den Klumpen ein wenig aus. „Danke. Esse ich, wenn es so weit ist.“
    Frank nickte zufrieden. Er war etwas verlegen.
    „Erik“, sagte er und senkte die Stimme. „Hör zu! Du kannst das schaffen. Das ist dein erster Kampf, dein erster richtiger Kampf. Geht es einmal los, heißt es du oder er. Aber du kannst das schaffen!“
    Franks Worte klangen manchmal wie ein Flehen und manchmal nach echtem Mut. Erik zuckte erschlagen mit den Schultern.
    „Muss ich wohl.“
    „Ganz genau, du musst!“ Frank gab ihm einen Klaps auf die Schulter. „Ich muss wieder weg, kleiner Bruder. Eine Sache noch: Ich hab noch einen Zaubertrank für dich. Gut gegen Angst.“
    Er reichte seinem kleinen Bruder seinen ersten Schnaps.
    „Echtes Middenheimer Gossenwasser. Ich hab´s für einen besonderen Moment aufgehoben.“
    Erik legte die Stirn in Falten.
    „Das, zusammen mit den Kräutern...“, sagte Erik, „...das wird sicherlich spannend!“
    Er gab seinem großen Bruder ein schiefes Lächeln. Sie umarmten sich in letztes Mal.
    „Leg sie um!“, sagte Frank gepresst.
    Er spürte auf seiner Schulter die Nässe von Tränen und schweren Herzens löste sich Frank von ihm und verschwand.

    Als Frank gegangen war, kehrte die Stille zurück. Erik war wieder mit seinen Gedanken allein. Er entkorkte das kleine Tongefäß und roch daran. Obstbrand; es roch nach süßer Pflaume. Er dachte an seinen Vater und an den Zweck seiner Reise. Es war absurd. Er sollte in Lehre gehen, mehr über Kräuter und deren Nutzen lernen. Jetzt saß er hier und wartete auf seinen ersten Kampf, sein erstes Mal eine Waffe zu schwingen und, wenn alles gut ging, so makaber das auch klang, sein erstes Mal, dass er ein Leben nahm. Noch dazu ein Menschenleben. Tränen traten wieder in seine Augen und er vergrub den Kopf in den Händen. Auf der Suche nach Erlösung nahm er einen kleinen Schluck aus der Flasche. Es half die Verzweiflung zu verdrängen. Der Schnaps brannte scharf im Rachen, doch das störte ihn nicht. Im Gegenteil, er genoss die Ablenkung vom dauerhaften, pressenden Schmerz seines Fußes. Sein Vater hatte ihn gelehrt, dass wie bei einer Pflanze der Körper von Säften durchsetzt war. Kann ein Teil der Pflanze nicht mehr versorgt werden, stirbt er ab. Er blickte von den Füßen auf seine Hände. Im Dunkel der Zelle erkannte er gerade so das grüne Schimmern der Kräuter. Er probierte einen Bissen. Wieder brannte es auf seiner Zunge. Erik hatte keinen blassen Schimmer, welche Dosierung die richtige war, denn sein Vater hatte ihm nur die Arten, Namen und Merkmale der Pflanzenwelt gelehrt. Über die Zubereitung und Einnahme wusste er eher wenig und seine Schätzungen beruhten schlicht auf Augenmaß und Handgewicht. Nur zu gut erinnerte Erik sich daran, wie sein Vater auf die Leute schimpfte, die nicht zwischen Alchemie und Kräuterkunde unterscheiden konnten. Im Kopf wiederholte er sein spärliches Wissen:
    Eisenhalm – regt den Blutfluss an, wirkt anregend.
    Drachenwurz – schaltet auch die letzten Reserven frei, hemmt Schmerzempfindung, verdrängt Müdigkeit.
    Kronstöckel – beeinflusst die Wirkung vieler Kräuter, die Pflanze kann aus harmlosen Küchengewürzen eine starke Droge machen.
    „Ich kann das schaffen.“, sagte er sich, alleine, im Dunkeln.


    VI Im Schatten alter Zinnen
    Im Jahre des Addo 389, Am Abend des 16. September
    Sadiye & Ferdinand
    Sadiye führte sie zu einer alten Esche und band ihr Pferd dort fest. Der Baum stand allein, inmitten der sanft wogenden Wiesen des nördlichen Talkessels und das Abendlicht tauchte die hohe Baumkrone in ein sattes Rot.
    „Glaubst du, du kannst das schaffen?“, sagte sie.
    Ferdinand blickte hinauf in das dichte Geäst.
    „Denke schon.“, antwortete Ferdinand.
    Die fortgeschrittene Dämmerung machte es schwer, einen Kletterpfad durch die Äste auszumachen. Sadiye bereitete alles vor. Sie löste die Packriemen und legte das schwere Bündel Eisenstäbe ins Gras. Ursprünglich handelte es sich um Rohlinge fürs Schmieden, bald würden sie als Kletterhilfe dienen, doch dies war nur der Probelauf. Sie band das eine Ende des Seils um die Stäbe und legte sich das andere um die Hüfte.
    „Bleib einfach hinter mir.“, sagte sie mit einem Lächeln.
    Dann, unvermittelt und fast mühelos, sprang sie an den ersten Ast und schwang sich empor.
    „Großartig.“, murmelte Ferdinand.
    Er gab sein Bestes sich nicht vor ihr zu blamieren. Die Esche bot viele Griffe und Tritte, die Abstände zwischen den Ästen waren gut, sodass es nicht zu lange dauerte, bis auch Ferdinand die Krone erreichte. Sadiye war bereit für ihn. Sie hatte das Seil zu einer Schlinge gebunden und hielt es Ferdinand hin.
    „Dein Auftritt. Gut festhalten!“
    Mit einem besorgten Seufzen tat Ferdinand wie ihm geheißen. Er legte sich die Schlinge um die Hüfte und ließ sich vorsichtig mit dem Seil hinab. Wenig später baumelte er am Ast unter Sadiye, beide Hände fest um das Seil geklammert.
    „Und jetzt?“, fragte Ferdinand mit leicht zittriger Stimme. „Ich hab´s nicht wirklich eilig, musst du wissen.“
    Sadiye lachte auf. „Jetzt...“, sagte sie und schnappte sich das Seil, „...gehts mit dir wieder runter.“
    Sie zog kräftig, das Seil schabte über die Rinde und während Ferdinand hinab sank hob sich das schwere Bündel Eisenstäbe. Wieder und wieder zerrte Sadiye, bis Ferdinands Füße wieder auf festem Boden waren.
    „Ferdinand!“, kam es aus dem Wipfel herunter.
    „Ja?“ Sehen konnte er sie nicht.
    „Ich brauche das Seil.“
    „Oh. Ja, natürlich!“
    Eilig löste Ferdinand die Schlinge von seinem Fuß und sah zu, wie das Seil zwischen den Zweigen verschwand. Geduldig wartete Ferdinand am Stamm des Baumes. Er ging zum Pferd hinüber und legte eine Hand auf die Flanke des Tiers. Früher war ein solches Wesen noch alltäglich gewesen, als der Handel den Talkessel geprägt hatte. Jetzt war es drei Jahre her, seitdem er ein Pferd berührt hatte. Die Größe von Muskeln und Gliedern blieb stets beeindruckend. Warum sich diese Tiere nicht einfach gegen ihre Meister auflehnten und sie unter ihren Hufen zermalmten? Diese Frage gab ihm mehr Rätsel auf als das eigenartige Verhalten mancher Menschen, für die es fast immer irgendeine verquere Erklärung gab. Hinter ihm plumpste das Bündel ins Gras und hinterdrein kam gleich Sadiye.
    „Gut.“, sagte sie. „Das war nicht schlecht.“
    Sie machten sich daran das Seil aufzurollen und hievten gemeinsam die Rohlinge wieder auf den Pferderücken.
    „Wenn wir einmal dort sind...“, sagte Sadiye mit erhobenem Zeigefinger, „...kann ich aber nicht mehr rufen! Dann musst du dich selbst aus der Schlinge befreien, verstanden?“
    Ferdinand nickte gehorsam. Sie brachen auf und Sadiye führte sie weiter in Richtung Osten. Abseits der Straße machte das spärliche Licht ihr Vorankommen langsamer, doch Sadiye bestand darauf nicht auf den Wegen zu reisen. Schließlich, in den sanften Hügeln nahe Neigenbaus schlugen sie nach Norden ein. Geradewegs hielten sie auf die Steilwand zu, entlang der Baumgrenze von Lindeneck. Die Sonne war schon hinter den Bergen und die Steilwand war nunmehr eine schwarze, formlose Mauer. Nur an einer Stelle war noch Licht: In der Burgruine, in der die Soldaten des Talkessels ausharrten. Roter Schein, von Fackeln und Lagerfeuern, flackerte über die Felsen. Sie kamen der Steilwand stetig näher, bis schließlich auch die Lichter der Ruine von Baumwipfeln verdeckt wurden. Ferdinand hatte seine Vermutungen angestellt, doch nun wurden ihm die Pläne seiner Begleiterin in ihrer Gänze gewahr.
    „Moment. Einen Moment, Sadiye!“ Er blieb wie angewurzelt stehen. „Mir ist schon klar, dass du nicht einfach durchs Haupttor kannst, aber du willst doch nicht wirklich dort rein?!“
    Er deutete mit ausgestrecktem Arm auf den pechschwarzen Wald. Sadiye hob entschuldigend die Hände.
    „Das gehört leider dazu. Wir gehen nicht weit. Und nicht sehr lange.“
    Sie wollte weitergehen, doch Ferdinand bewegte sich nicht vom Fleck.
    „Hör mal, die ganzen Viecher da drin freuen sich bestimmt auf unseren Besuch! Nur teile ich ihre Freude nicht, verstehst du?“
    Sadiye lenkte ein, die Bedenken von Ferdinand waren schließlich nicht grundlos.
    „Ferdinand...“, sagte sie und trat an ihn heran, „...wir machen es wie beim Probelauf. Wir gehen schnell rein, klettern hoch und du seilst dich ab. Mit dem Pferd bist du sofort wieder weg, in Ordnung?“
    Ferdinand schüttelte bloß den Kopf. „Du bist wirklich ganz und gar ein Stadtmensch, oder? Warst du schon einmal in so einem Wald? In der Nacht? Wölfe, Goblins, Blutfliegen!“
    Sadiye atmete tief durch und sammelte sich. Mit beschwichtigender Geste wählte sie sorgfältig ihre Worte.
    „Ich kenne deine Bedenken. Und ich verstehe sie. Aber du musst ein paar Dinge verstehen: Ich gehe blind in die Ruine. Keine Karte, keine Kontakte. Das macht man in meinem Geschäft nicht. Hinzu kommt, dass das Gemäuer voll ist mit Soldaten, jeder einzelne von ihnen gerüstet und ausgebildet. Und letztlich: Ich weiß nicht einmal, wonach genau ich suche! Herausfinden, was die Armee vorhat, was auch immer das sein möge!“ Sie sah Ferdinand tief in die Augen. „Ich will das nicht, ich muss das tun. Dieser Einstieg, über die Steilwand, aus diesem Wald, ist unsere Beste Chance. Für meine eigene Sicherheit. Wirst du mir helfen?“
    Ferdinand sah zu Boden, biss die Zähne zusammen und nickte zuletzt. Er ließ seinen Mund geschlossen, griff die Zügel des Pferdes und sie setzten ihren Weg fort. Die Finsternis des Waldes schluckte sie sogleich. Das Pferd wurde unruhig, aber es gehorchte, noch. Glühwürmchen, sichtbar als kleine blaue und gelbe Punkte, tanzten über ihren Köpfen. Etwas tiefer im Wald zu ihrer Rechten leuchtete blaues Lindlebermoos zwischen schwarzen Stämmen und den Schatten niedriger Büsche, doch sie hielten nicht an und blieben dicht an der Felswand. Es dauerte nicht lange und sie kamen zu der Stelle, die Sadiye zuvor ausgekundschaftet hatte. Weit über ihnen, auf der windigen Kante einer hohen Klippe standen die alten Mauern der Ruine. Sadiye prüfte noch einmal ihre Ausrüstung, ihre Taschen, ihre Gurte und die schwarze Lederbekleidung, die sie eins mit der Dunkelheit werden ließ und zuletzt auch das Seil und die Eisenstäbe. Zufrieden wandte sie sich an Ferdinand. Seine blonden Haare leuchteten im Mondschein.
    „Bereit?“
    Ferdinand nickte gefasst.
    „Dann los!“, sagte Sadiye. „Dicht hinter mir bleiben.“
    Mit dem Seil um die Hüfte schwang sie sich die Äste hinauf. Ferdinand hinterdrein, Tritt um Tritt. Die Eiche war alt, die Rinde hatte tiefe Furchen. In die Wipfel zu steigen war befreiend. Voller Eifer stieg er empor, dem weißen Mondschein entgegen. Dann, in der Baumkrone angekommen, holte er tief Luft und badete in der Ehrfurcht vor dem atemberaubenden Ausblick. Der Wald erstreckte sich von hier, bis zu den Bergen im Osten, die Blätter wogten im Wind, ihre Tönung reichte von tiefem Schwarz vereinzelter Blutbuchen bis zu fahlem knochenweiß von Birken und Erlen, alles Grün getüncht in silbrigem Mondesschein. Die mächtige Steilwand begrenzte im Norden den Wald mit einem klaren Schnitt, wohingegen im Nordosten der Wald in die immer steileren Hänge auslief. Wasserfälle aus hohen Gebirgsseen sandten von dort ihre Nebel über den Wald und im Tal waren die Flussläufe verborgen durch die dichten Stämme. Ferdinand entdeckte einen Hügel inmitten des Waldes. Er war kahl, bis auf die merkwürdigen Umrisse eines schiefen Baumes.
    „Ferdinand! Augen auf.“
    Sadiye ließ die Schlinge vor seinem Gesicht baumeln.
    „Konzentriere dich, Junge! Los!“, zischte sie erbost.
    Ferdinand schluckte seinen Trotz herunter so angegangen zu werden und stieg in die Schlinge.
    „Bereit“, sagte er gedämpft, das Seil fest umklammert.
    Sadiye begann zu ziehen. Die ersten Meter verliefen problemlos, doch als das Bündel Eisen ihn passierte, setzte bei Ferdinand die Angst ein. Den Wald und seine Geheimnisse, die Geräusche und die Schatten wurden gefüllt mit seinen schrecklichsten Vorstellungen. Stück für Stück sank er hinab, aus der Sicherheit der hohen Äste nieder. Dunkelheit in der Stadt war das eine, in der Wildnis etwas vollkommen anderes. Die Augen zu schließen oder sie offen zu halten brachte keinen Unterschied, als er nach unten starrte. Zu tief war die Finsternis. Er zuckte zusammen, als seine Füße auf den Boden trafen und hörte das Pferd unruhig schnauben. Endlich von dem Seil befreit, löste er sich aus seiner Schreckensstarre. Er eilte zum Pferd, schwang sich auf den Rücken und trieb es an. Die dichten Bäume und tiefhängenden Zweige erlaubten keine hohe Geschwindigkeit. Als er den Waldrand sehen konnte wo sich die Bäume lichteten, stieß Ferdinand dem Tier seine Hacken in die Seite und trieb es an. Das Pferd beschleunigte, das Licht lockte auch das Tier ins Freie. Zweige peitschten Ferdinand ins Gesicht, er spürte, wie Blut über seine Wange rann, doch schließlich und mit einem befreienden Satz stießen sie durch die Böschung und waren hinaus aus dem Wald. Das Pferd schnaubte und schüttelte die Mähne. Es trabte ein wenig weiter, genoss die offenen Wiesen und peitschte mit seinem Schwanz. Ferdinand nahm tiefe Atemzüge und ließ die Anspannung von sich fahren. Er lenkte das Pferd nach links, doch es gehorchte nicht. Wieder versuchte er es, zog sanft an der Mähne, doch es rührte sich kein Stück. Dann sah er es. Vor ihm, stand eine dunkle Gestalt, die Zügel in den Händen.
    „Na, Kleiner?“ Die Stimme triefte vor genüsslicher Überheblichkeit. „Ist so ein Pferd nicht ein bisschen zu groß für dich?“
    Aus dem Nichts, aus der tiefen Finsternis der Nacht, packte eine Hand seinen Knöchel. Ferdinand überlegte nicht, krallte beide Hände in die Mähne des Tiers und zog mit aller Kraft. Das Pferd bäumte sich auf, wieherte und traf mit seinen Hufen der Gestalt auf die Brust. Die Hand an Ferdinands Bein glitt ab, doch der Junge stürzte. Das weiche Gras fing seinen Fall ab, aber er überschlug sich, rollte einen Hang herunter. Voller Panik rappelte er sich auf. Dunkle Umrisse von drei, nein, vier Gestalten näherten sich ihm. Einer weiterer bändigte das Pferd. Ferdinand zögerte nicht. Er rannte, mitten in die Finsternis, ohne Ziel, nur weg!

    Sadiye horchte auf, als sie in der Ferne ein Wiehern hörte. Sie blieb regungslos für eine kurze Zeit, setzt dann jedoch ihren Aufstieg fort. Der Gedanke, dass sie Ferdinand in Gefahr gebracht hatte, nagte an ihr, doch sie konnte ihm jetzt kaum helfen.
    Das kam nicht aus dem Wald. Er wird es geschafft haben, sagte sie sich und konzentrierte sich wieder.
    Das Gewicht des Eisens zehrte an ihren Kräften. Sie versuchte einen der Stäbe in einen Felsspalt zu klemmen, endlich schien er zu sitzen. Sie hing erst einen Teil ihres Gewichtes daran, dann den ganzen Körper. Das Metall hielt. Sie packte einen jungen Baum, der sich an die Steilwand klammerte, dann das Eisen, holte Schwung und zog sich hoch, bis sie mit beiden Beinen auf der Stange stand. Erschöpft schüttelte sie ihre Arme aus. Seitdem sie über das Seil den Abgrund zwischen Felswand und Eichenbaum überwunden hatte, waren ihre Arme stets unter Spannung gewesen. Jetzt genoss sie ihre erste Pause. Sechs Stäbe hatte sie noch und sie zog den nächsten aus dem Bündel und schob ihn in die Felsspalte. Wieder zog sie sich hoch, langsam kam sie voran. Sadiye wiederholte diesen Prozess, bis ihr noch zwei Eisen blieben. Sie schloss die Augen. Sie hatte sich die Felswand genauestens eingeprägt, die Höhe und die Beschaffenheit der verschiedenen Abschnitte. Vor ihrem inneren Auge rief sie die alten Bilder wach. Dann holte sie aus einer Tasche an ihrem Oberschenkel zwei Handschuhe hervor. Das raue, schwarze Leder saß gut und hatte griffige Innenflächen. Ein schwieriger Abschnitt wartete auf sie, mit kantigen Felsen und glattem Granit, dann wieder eine Felsspalte und dann neigte sich bereits die Felskante und das Klettern würde leichter werden. Sadiye zurrte die Eisenstäbe auf ihrem Rücken noch einmal fest. Sie dehnte die Unterarme, blickte empor und kletterte weiter. Jeder Stein konnte locker sein, jede Oberfläche spröde und bröselig. Sie prägte sich jeden einzelnen Schritt ein, denn irgendwann später müsste sie den gleichen Weg zurück. Zweimal brach ein Stein ab, doch sie fing sich, prüfte jeden Tritt, nahm sich noch mehr Zeit und verließ sich auf ihr Können, ihr Geschick und ihre Erfahrung. Ihr Herz schlug dennoch schneller. Sie schob den letzten Stab in eine Felsspalte, prüfte den Halt und schwang sich auf. Es war geschafft! Über ihr ein sanfter Hang und dann die Mauer. Für einen Moment saß sie dort, blickte in den dunklen Abgrund. Am Tage würde sie dort sicherlich weichen Waldboden sehen können, doch jetzt war dort bloß tiefes, schwarzes Nichts. Der Ausblick in die Ferne war verlockend, doch es galt nun keine Zeit mehr zu verlieren.
    Klettern war nun einfach, schnell und vor allem sicher und sie trug zudem nicht länger das zusätzliche Gewicht der Eisenstäbe. Endlich erreichte sie die Burgmauer und sie konnte sich ein breites Lächeln wegen ihrem kleinen Triumph nicht verkneifen. Die Mauer schloss an die Steilwand an und machte einen Bogen entlang der niedrigeren Klippe. Die alte Mauer zu besteigen war gut möglich, denn die Fugen waren ausgewaschen und tief, doch es blieb ein Glücksspiel: Jederzeit könnte ein Stein nachgeben und sie in den Abgrund stürzen lassen. Sadiye folgte dem Verlauf der Mauer. Sie fand einen Durchbruch, nicht breiter als zwei Ellen. Die Form der Steine verriet, dass sich hier das Wasser seinen Weg gesucht hatte und die Mauer ausgespült hatte. Sie spähte hindurch, dahinter war es dunkel, dann ging sie in die Knie und schlüpfte ohne große Schwierigkeiten hindurch. Sie war in der Burg. Es war ein Innenhof, verlassen und heruntergekommen. Es roch nach Urin. Ein breiter Bogengang zu ihrer Linken war der einzige Zugang. Ringsum waren verschiedene Gebäude mit eingestürzten Dächern, bröckelnden Wänden und vermoderten Türen. Sadiye pirschte schnell zum Durchgang voran und spähte hindurch. Der Anblick, der sich ihr bot, war ernüchternd, denn dort lag der Hof des äußeren der zwei Ringe. Zelte säumten die Ränder, Planen waren aufgespannt, Fackeln auf langen Stangen beleuchteten das Pflaster. Soldaten saßen vor ihren zerfledderten Behausungen, aßen ihr Nachtmahl oder brieten sich Fleisch über Lagerfeuern. Die Gebäude auf diesem Platz waren zwar halb zerfallen, aber dennoch bewohnt. Die Standarte des Königs steckte neben der Tür eines noch intakten Steinhauses. Dies musste der Sitz des Befehlshabers sein. Daneben lag das Tor durch den inneren Ring. Da musste sie hindurch. Ihr Ziel konnte sie geradeso erspähen: Der hohe Bergfried ragte über den Mauern empor. Dort mussten die Gemächer liegen, dort könnte sie Antworten finden, doch zwischen ihr und diesem Ort lagen der Platz vor ihr, das Tor zum inneren Ring und letztlich der Vorhof des Bergfrieds selbst.
    Die Lage war also schwierig. Den Platz direkt zu überqueren war ausgeschlossen, zu viele Augen aus zu vielen Richtungen. Sie würde einen anderen Weg finden müssen. Die Trümmer am Rand des Platzes boten gute Deckung, doch sie waren nicht durchgehend verteilt, immer wieder würde Sadiye durch helllichten Fackelschein huschen müssen. Mit Glück könnte es klappen, doch Glück ist kein treues Werkzeug wusste Sadiye, Glück war nur ein schöneres Wort für Risiko. Dann bemerkte sie den Wehrgang. Es handelte sich um einen modrigen Holzkonstruktion am oberen Ende der Mauer. Teilweise eingestürzt, teilweise bedrohlich herabhängend, machte er keinen soliden Eindruck, doch er führte einmal ringsherum um den Platz, bis über das Dach des Kommandantenhauses. Dort war auch das innere Tor. Ein Aufgang war nirgends zu finden und es lag nahe, dass man beim äußeren Tor, dem Haupteingang der Burgruine, heraufkam. In ihrem Kopf durchlief sie noch einmal die verschiedenen Möglichkeiten: Einfach alle Mauern bis zum Bergfried zu erklimmen war schlichtweg halsbrecherisch. Durch die Trümmer am Rand des Platzes zu huschen bedeutete durch den Schein heller Fackeln zu müssen.
    Zu viele Blutjacken, dachte sie.
    Sie entschied sich für die letzte Möglichkeit: Den Wehrgang. Sadiye kehrte in den Innenhof zurück. Aus einem eingefallenen Haus ragte ein morscher Balken heraus und lehnte gegen die Mauer. Vorsichtig ging sie hinauf, erreichte die Mauersteine, auch hier waren die Fugen alt und ausgewaschen, aber sie wagte den Aufstieg. Sie fand ein Weg, denn ihre Handschuhe boten guten Halt. Mal zur Seite, mal gerade hinauf, kam sie voran. Als sie das Ende der Mauer erreichte, spähte sie hinüber. Der Platz war größer, als es den Anschein gehabt hatte. Es gab tatsächlich einen Aufgang beim Außentor, er war erneuert und offenbar in Gebrauch, aber der Wehrgang war noch maroder als es den Anschein gehabt hatte. Gegenüber, wo der Platz an die Steilwand anschloss, ragten lediglich Überreste von Stützbalken aus den Felsen. Sie dienten einmal als Verankerung, doch waren nun nicht vielmehr als ein Erinnerungsstück einer ehemals stattlichen Befestigung. Sadiye atmete tief durch und beschloss es trotz allen Widrigkeiten zu probieren.
    Besser morsche Bretter in den Schatten als fester Boden und viele Augen., bekräftigte sie ihre Entscheidung im Stillen.
    Geschickt schwang sie sich auf die Steine empor. Langsam balancierte sie die Mauer entlang, bis sie einen geeigneten Ort erreicht hatte. Solch hohe Sprünge hatte sie schon oft gemacht, doch nicht auf unsicheren Boden. Sie ging in die Hocke, machte eine Stelle aus, die vielversprechend aussah, und stieß sich ab. Der Flug war kurz, der Aufprall dumpf, Holz knackte, aber Sadiye federte den Fall mit den Händen ab und der Balken hielt. Sie blieb unbemerkt. Jetzt sah sie die grüne Verfärbung des Holzes, das Moos, das sich in Spalten bildete und die Pilze, die die Fasern zerfraßen. Der Wehrgang hatte streckenweise eine Überdachung, dort war das Holz intakt. Aber ohne diesen Schutz war der Wehrgang dem Wetter der Jahrzehnte ausgesetzt gewesen.
    Das sah von oben alles viel einfacher aus., dachte sie.
    Sadiye erinnerte sich an eine Geschichte, eine Geschichte von Kersim, ihrem Onkel in Neigenbau. Ihre Vorfahren stammten aus einem Land, in dem es keinen Winter gab, kein Eis und keinen Schnee, doch Kersim hatte einmal erzählt von den Eisjägern aus dem fernen Norden. Männer, die auf besonderen Schuhen über gefrorene Seen gleiten. Mit unglaublicher Geschwindigkeit und bewaffnet mit leichten Wurfspeeren jagten und töteten sie ihre Beute. Würden sie auf dem Eis stehen, nicht in Bewegung, sondern an einem Fleck, dann würden sie einbrechen und ertrinken, nach Kersims Erzählung. Doch sie sind zu schnell, so schnell, dass das dünne Eis nicht merken kann, dass es eigentlich zu schwach ist. Ohne zu lange zu hadern entstand so Sadiyes Plan: Sie machte die Tritte aus, die sicher schienen. Der Abstand der dicken Stützbalken war gleichmäßig, alle zehn Fuß einer. Zwölf Balken zählte sie, von hier bis zu einer stabileren Passage, teilweise bedeckt mit morschen Brettern, die wohl eher von den Wurzeln des Mooses gehalten wurden. Tief sog sie die Luft ein; drei Mal, tief und mit messerscharfer Konzentration. Dann preschte sie los.
    Sie stieß sich ab, nutzte ihr Momentum, sprang von Balken zu Balken, doch jetzt sah sie die letzten zwei Hölzer. Sie waren zu morsch, zu alt und zu zerfressen. Aber sie konnte nicht bremsen, nicht mehr. Noch einen Sprung und noch einen näherte sie sich. Adrenalin flutete ihren Körper, blitzschnell änderte sie den Plan, sprang mit dem nächsten Schritt weiter nach außen, von der Mauer weg. Noch zwei Balken: Ein Abgrund von neun Schritten. Ein letztes Mal stieß sie sich ab, jetzt gegen die Mauer, drückte ihre Schuhe gegen die Wand, überwand Schwerkraft und Furcht, lief sie entlang, gewann an Höhe, bis sie sich wieder abstieß und in einem gewaltigen Satz Sicherheit und festen Boden erreichte, sich abrollte und zum Halten kam. Ihr Aufprall verursachte kaum ein Geräusch. Ihr Herz pochte laut. Ein Blick auf den Platz verriet ihr, dass sie unentdeckt geblieben war.
    Niemals blind! Niemals, niemals blind einen Einbruch wagen. Sadiye, verdammt! Eine Karte, ein Informant, irgendetwas!, strafte sie sich im Stillen.
    Nachdem sie sich ein paar Momente für ihren inneren Frieden gegönnt hatte, zog sie ihre Handschuhe aus und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der Schatten des Überdachs bot ihr guten Sichtschutz und sie hörte, wie die Gespräche der Soldaten sich ungestört fortsetzten. Sadiye schlich weiter. Ohne Zwischenfälle erreichte sie das Außentor. Dort brannte Licht! An die Mauer gepresst kam sie näher, bis sie Stimmen hörte. Zwei Männer. Die Stimmen drangen aus dem Torhaus, die Tür stand offen und Fackelschein fiel auf den Wehrgang. Sie musste vorbei, bloß wie?
    „Wir warten und warten und warten.“, beschwerte sich jemand. Der Soldat klang genervt. „Glaub mir, ich bin der letzte, der sich über ein wenig Auszeit beschweren würde, aber hier passiert gar nichts! Seit ganzen drei Jahren!“
    Der andere Mann brummte zustimmend, schwieg jedoch.
    „Ich meine, schau dich einmal um!“, fuhr der Erste fort. „Diese bröckelnde Ruine hier... hätten wir wirklich vorgehabt, hier zu bleiben, drei lange Jahre, dann hätten wir das Ding auf Vordermann gebracht!“
    „Was soll ich dir sagen? Solange der Lehnsmann sagt stillhalten, halten wir still.“
    Pah! Also wirklich, Millen! Du kannst doch unmöglich damit einverstanden sein!“
    Sadiye sah sich nach Möglichkeiten um, das Sichtfeld der Soldaten zu umgehen, durch den Fackelschein hindurch war nämlich ausgeschlossen. Eventuell konnte sie über das Dach, oder außen am Wehrgang entlang klettern. Doch dort wäre sie vom Hof her sichtbar.
    „Hast du Verbesserungsvorschläge?“, fragte Millen.
    „Was weiß ich?“, antwortete der andere. „In die Stadt gehen, dann müssen wir nicht mehr in unseren vergammelten Zelten hocken. Da haben wir ein Dach über den Kopf. Ordentliches Essen! Ein verdammtes Freudenhaus gibt´s dort!“
    „Und mit welchem Lohn willst du die Frauen bezahlen?“
    „Meine Worte, Millen, meine Worte! Drei Jahre, keine Unze!
    Ein Schatten schob sich vor die Fackel. Sadiye eilte zurück, machte sich klein.
    Millen seufzte. „Ich hau mich in die Federn. Halt die Augen offen! Jetzt wo die Nordmar im Tal sind, dürfen wir uns keine Fehler erlauben.“
    Der andere Soldat war damit nicht zufrieden.
    „Millen, warte mal.“
    Der Schatten hielt inne.
    „Ich bin nicht der Einzige, der das so sieht. Die Jungs... sie reden, weißt du?“
    „Was soll das denn heißen?“ Millens Ton war mehr als skeptisch.
    „Millen, hör zu. Du kennst den Hauptmann.“ Sadiye horchte auf. „Hermann kennt Raik. Red mit ihm! Wir wissen ja noch nicht mal, was der Bote hier will! Die Jungs wollen was tun! Wir sind Soldaten, verdammt nochmal, wir haben Schwerter, starke Arme, wir sind gute Männer!“
    Sadiye hörte, wie der Soldat seinem Kameraden Millen heftig auf die Schulter klopfte.
    Millen schwieg. Schließlich sagte er: „Ich kann dir nicht helfen.“
    Ohne sich zu verabschieden, wandte sich Millen zum Gehen. Er schritt in den Wehrgang und, zu Sadiyes Erleichterung, wandte er sich weg von ihr und verließ den Wehrgang über eine Holzleiter.
    Die Nordmar sind im Tal?, fragte sich Sadiye und machte eine mentale Notiz davon.
    Eine Information hatte sie bereits eingeholt, doch dies war nichts Handfestes, nur ein paar überhörte Gesprächsbrocken. Sie beschloss die Mission fortzusetzen. Vorsichtig näherte sie sich dem Eingang, griff in eine Tasche am Oberschenkel und holte ein poliertes Stück Metall hervor. Es war dünn, kreisrund und spiegelglatt. Mit aller Vorsichtig hielt sie es in den Fackelschein und spähte durch den kleinen Spiegel um die Ecke. Der Soldat stand dort, im Torraum, beide Hände auf ein Fenstersims gestützt, in nachdenklicher Pose. Er starrte nach draußen in die dunkle Nacht – mit dem Rücken zu ihr. Sie huschte durch den Lichtkegel. Weiter folgte sie dem Gang. Katzengleich überwand sie die nächsten Hindernisse, hangelte sich am Dach entlang und bewegte sich auf alle Vieren über morsche Bretter. Die Steilwand schützte immerhin teilweise die hölzernen Konstruktion vor Wind und Wetter. Sie hatte mehr als die Hälfte des Platzes umrundet, als sie auf die nächste Schwierigkeit traf: Der Wehrgang hing durch, neigte sich hinunter zum Pflaster.
    Wird es mein Gewicht halten?
    Sie wagte die ersten Schritte. Ihre Schuhe und Hände versanken im alten Holz, es wurde zusammengedrückt wie ein nasser Schwamm. Sie hielt sich nah an den Felsen, um die Hebelwirkung ihres Körpergewichts gering zu halten. Es gab hier keine Kontrolle über ihre Sicherheit. Mit tiefen Atemzügen beruhigte sie ihre Sinne. Das längste Stück hatte sie hinter sich. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Ihre Freude erstarb schlagartig, als ein dumpfes Knacken ertönte. Sie, und das gesamte Konstrukt mit ihr, sackte einen Fuß tiefer. Sie rührte sich kein bisschen. Vielleicht hatte sich der Gang stabilisiert. Dann spürte sie die langsame, gleichmäßige Bewegung. Der Gang kippte. Sadiye sprang auf, stieß sich mit Händen und Füßen ab, sprintete los. Ihre Schritte waren laut auf dem Holz. Ein Stützbalken gab nach. Mehrfach sandte sie die Bretter, auf die sie trat, hinab auf den Platz, doch es scherte sie kaum. Es ging nicht um Heimlichkeit, es ging um ihr Leben. Der Wehrgang stürzte ab, sie machte einen Hechtsprung, flog und landete bäuchlings auf sicheren Planken und unten, auf dem Pflaster des Platzes, zerbarst das alte Holz in tausend Stücke. In einer Kaskade der Zerstörung flogen weiter Teile des Wehrgangs hinab und der ohrenbetäubende Lärm füllte den Platz. Eine Wolke aus Holzstaub und altem Dreck stieg auf. Jeder Soldat, der bereits geschlafen hatte, war jetzt auf den Beinen.
    Weg vom Tatort.
    Jetzt war Eile geboten. Der Wehrgang führte zu dem Hausdach neben dem Tor. Sie setzte alles auf eine Karte, darauf, dass alle Augen auf dem Trümmerfeld lagen und machte einen gewagten Sprung. Sicher landete sie auf den Schindeln. Eine Traube hatte sich um den eingestürzten Wehrgang gebildet. Sie sah vom Dach hinab, dort war das innere Tor.
    Jetzt oder nie.
    Sadiye schwang herum, hing von der Dachkante und ließ sich fallen. Es schmerzte an den Sohlen, sie rollte sich ab und kam schwungvoll auf die Beine. Sofort ging sie weiter, durch das Tor, doch da hörte sie schnelle Schritte. Zwei paar Füße zählte sie. Sie kamen um die Ecke, Fackeln in den Händen, und passierten das Tor. Aber Sadiye stand schon in einer Nische, die für das Fallgatter gedacht war. Ihre schwarzen Haare verdeckten ihr Gesicht und sie regte sich nicht. Gesichter ziehen Blicke an, wusste sie. Sie horchte in die Nacht, die Luft war rein und Sie schlüpfte aus ihrem Versteck. Endlich hatte sie einmal Glück: Der innerste Ring der Burg war leer. Die zwei Soldaten mussten die letzten Wachen gewesen sein. Der Bergfried, mit seinen vielen Fenstern und hohen Zinnen, war finster, kein Licht brannte und kein Geräusch war zu hören. Der Lehnsmann musste den Einsturz wohl verschlafen haben. Sadiye eilte zu der massiven Doppeltür und zu ihrer großen Überraschung war sie nicht abgeschlossen. Schnell huschte sie hindurch. Mit dem Schließen der Tür erstarben die Geräusche der aufgebrachten Soldaten. Hier war es totenstill und stockfinster. Sadiye betastete die Mauer, bis sie eine Laterne fand. Sie kramte in ihren Taschen, schlug mit einem Eisen auf Feuerstein und beim dritten Versuch entzündete sich der Docht. Ein brennendes Licht war der natürliche Feind eines jeden Einbrechers, doch Sadiye hatte Grund zur Annahme, dass der Bergfried leer war, alle Soldaten auf dem großen Platz und hier kein Mensch, bis auf den Lehnsmann. Denn würde hier jemand sein, dann würde hier Licht brennen. Der Gang führte sie tiefer ins Gebäude. Zu beiden Seiten lagen Türen. Nur auf einer war keine Staubschicht auf der Klinke. Sie riskierte einen Blick: Es war nur eine Rumpelkammer. Alte Möbel, modrige Wandteppiche. Sie wollte gerade gehen, als ihr etwas ins Auge sprang. Ihr Herz schlug höher, als sie ihre Hände um ein gut gedrehtes, solides Seil schloss. Ein Haken war daran befestigt, es war offenbar für einen Seilzug verwendet worden. Ihr Gewicht würde es halten. Dieses Seil einem Geschenk der Götter gleich, da ihr Fluchtweg ein anderer als ihr Zugang sein müsste. Eilig rollte sie es zusammen, legte es sich über die Schulter und setzte ihre Suche fort. Der Gang gabelte sich zu beiden Seiten und geradezu lag eine Wendeltreppe. Sie wollte gerade einen der Gänge untersuchen, als ihr ein Geruch in die Nase stieg. Er war süßlich und schwer. Er kam von der Treppe. Sie folgte dem Geruch die Stufen hinauf. Er wurde nur noch intensiver. Sie kam in einen großen Saal, ausgestattet mit einem riesigen Teppich, teuren, gepolsterten Möbeln und einer hohen Decke. Jetzt erkannte sie den Geruch. Manchmal konnte man ihn in den Gossen von Neigenbau riechen. Hier gab es nur wenige Türen und nur eine einzige Klinke spiegelte das flackernde Licht ihrer Laterne. Sie holte ein schwarzes Tuch hervor, band es sich vor das Gesicht, holte noch einmal tief Luft und öffnete die Tür. Der Gestank schlug ihr entgegen. Fliegen schwirrten an ihr vorbei. Sie betrat den Raum und der schwache Kerzenschein fiel auf die teure Einrichtung. Wandteppiche voller Stickereien, ein Schreibpult, ein breiter Sessel und ein ausladendes Eichenbett. Unter der Decke lag jemand. Sadiye kam näher. Es erschreckte sie nicht. Ein Kopf ragte hervor, der Mund weit geöffnet, die Augenhöhlen schwarz und die Wangen eingefallen. Die Verwesung hatte bereits eingesetzt. Der Lehnsmann des Tals lag schon Tage, vielleicht sogar Wochen in seinem Bett und verbreitete den widerwärtigen Gestank des Todes. Ein Schlitz in der Decke über seiner Brust und ein brauner Fleck drumherum verrieten die Umstände seines Ablebens. Sadiye sah sich um, der Geruch machte ihr zu schaffen. Das Schreibpult hatte ein Werk oben aufliegen. ‚Die Wichtigkeit der Obrigkeit‘, so stand dort ihn dicken, schwarzen Lettern. Sie überflog die Zeilen, das meiste war selbsterhöhendes Geschwafel. Das Schriftstück war nicht vollendet. Sie sah eine Truhe. Geradezu aus einem Reflex heraus wollte sie sich daran zu schaffen machen, als sie etwas zu Füßen des Lehnsmanns bemerkte. Zwei Schriftrollen lagen dort. Beide waren geöffnet. Eines trug das königliche Siegel. Das andere war schlicht gehalten, bis auf einen Wolfszahn am Ende der Bundschnur.
    Vielen Dank für euer Entgegenkommen, mein Herr!, bedankte sie sich im Stillen.
    Sie warf einen Blick auf die Schriftstücke, lächelte verstohlen und verstaute sie sicher. Ihr Blick fiel auf die Truhe.
    Wasser ist nass, der Himmel ist blau und Diebe klauen dein Zeug.
    Sie brauchte den Schlüssel, denn Schlösserknacken beherrschte sie nicht. Unterm Kopfkissen, an der Hand, auf der Brust oder irgendwo versteckt. Sie wusste, was sie unter der Decke erwartete und hoffte inständig auf das Kopfkissen. Sie hob es leicht an und schob die Hand darunter. Der Schädel legte sich zur Seite und ein Schwall von feuchten Maden ergoss sich auf das Kissen. Ihr Atem stockte und ihr Magen krampfte. Mit Mühe beherrschte sie ihren Drang sich zu entleeren, doch ihre Mühen wurden entlohnt und sie zog den Schlüssel unter dem Kissen hervor. Behutsam senkte sie es wieder und es knackte leise. Der Schädel hatte sich vom Hals getrennt und lag etwas schief. Mit der Fingerspitze und einer gehörigen Portion qualvoller Überwindungskraft justierte Sadiye den Kopf wieder in seine natürliche Position. Sie hatte endgültig genug. Eilig öffnete sie die Truhe. Enthalten waren ein Stapel von unbenutztem Pergament, einige Dokumente und ein paar Jagdtrophäen. Sie fand zwei Goldmünzen und fünf Kupferstücke. Sie hatte sich mehr erhofft, gerade vom Lehnsmann höchstpersönlich, doch die Goldmünzen genügten ihr als ein Trostpreis. Sie schloss die Truhe wieder, schob den Schlüssel zurück und brach auf. Eilig verließ sie das Zimmer, weg von dem unerträglichen Gestank. Sie orientierte sich schnell und probierte die Zimmer an der Ostseite. Schließlich fand sie was sie suchte: Ein Fenster an der Außenseite, wo unter der hohen Steinwand sich der Wald unter ihr ausbreitete. Die Luft war herrlich. Sie nahm das Seil von der Schulter, klemmte den Haken an das steinernen Sims und ließ es hinab. Sie blies die Kerze aus, versteckte die Laterne zwischen ein paar Kisten und lehnte sich aus dem Fenster. Liese fluchte sie, denn Höhen war sie gewöhnt, aber dies war selbst für sie etwas extrem und die Flucht war immer ein besonderer Teil eines Einbruchs: All die Anspannung wollte entweichen, aber noch war es nicht so weit. Noch einmal prüfte sie den Haken und schwang sich dann hinab. Ihr Herz pumpte in kräftigen Schlägen das Blut durch ihre Adern, sie war wie im Rausch. Schritt im Schritt kam sie herab, bis ihre Füße auf festen Boden trafen. Sie blickte die Mauer hinauf und schlug das Seil einmal. Eine Welle reiste durch das Seil herauf und der Haken sprang aus dem Fenster. Mit einem Lächeln beobachtete sie, wie er in den Abgrund flog und zwischen den Baumwipfeln verschwand. Das Seil ließ sie durch ihre Finger gleiten. Gelösten Schrittes ging sie die Mauer entlang, genoss noch einmal die Aussicht über Lindeneck und erreichte schließlich die Stelle ihres Aufstiegs.
    Keine Spuren. Keine Zeugen., dachte sie.

    Stunden später, die Sonne schickte sich gerade an ihre ersten Strahlen über die Gipfel zu senden, klopfte es an Quentins Gemach. Im Nachtrock schlurfte er zur Tür.
    „Quentin.“, sagte sie erschöpft.
    Sadiye ließ das Bündel Eisenstäbe zu Boden krachen. Sie war schweißgebadet.
    „Ist Ferdinand hier?“


    VII Eriks Prüfung
    Im Jahre des Addo 389, In der Nacht des 16. September
    Erik & Frank
    Erik hörte Schritte. Sie kamen den Gang hinauf. Eilig stopfte er sich den Kräuterballen in den Mund und kaute intensiv. In groben Stücken würgte er die Pflanzenteile hinab. Die Schritte waren an der Tür. Er leerte die Flasche, spülte den Rest Kräuter herunter und unterdrückte den starken Drang sich zu übergeben. Sein leerer Magen würde die Wirkstoffe schnell absorbieren. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss und die Tür schwang auf. Ein Mann stand darin, einen Knüppel in der Rechten.
    „Auf geht´s Bursche!“, sagte er. „Dein Auftritt.“
    Unwirsch griff er Erik unter die Schulter und zog ihn aus der Zelle. So gut es ging hielt Erik sich auf den Füßen. Der Wärter schlug die Zellentür zu und deutete mit seinem Prügel den Gang hinauf.
    „Hier lang.“
    Er hatte zwar gesehen, dass Erik jämmerlich hinkte, aber es schien ihm herzlich egal zu sein. Mehrfach stieß er Erik seinen Prügel in den Rücken, wenn es ihm nicht schnell genug ging. Sie kamen zu einer Tür. Der Wärter wies Erik einen Platz an der irdenen Tunnelwand, drehte sich von ihm weg und horchte an der Tür. Jetzt hörte Erik es auch. Stimmen aus vielen Kehlen vermengten sich zu einem rauen Chor. Man schrie und brüllte, die Worte waren unverständlich. Eriks Herz pochte schneller, er spürte kalten Schweiß seinen Nacken herunterrinnen und langsam aber stetig verengte sich sein Blickfeld. Der Schmerz in seinem Knöchel wurde taub, die Dunkelheit wich zurück, wurde heller und farbloser.
    Wirkt es schon? Wirkt es so?, dachte er.
    Dann, als lauter Jubel in den Tunnel drang, stieß der Mann die Tür auf. Licht und Lärm schlugen Erik entgegen. Schlagartig waren seine Sinne überfordert. Es war Nacht. Ein Ring von Fackeln tanzte über ihm und blendete seine empfindlichen Augen. Der Wärter trieb ihn rücksichtslos voran. Endlich ließ er von ihm ab. Erik schirmte mit seinen zittrigen Händen seine Augen ab und versuchte seine Umgebung zu erfassen. Er erkannte, dass er in einer breiten Grube war. Oberhalb, hinter dem Ring von Fackeln, standen dunkle Schemen. Nun sah er auch eine Figur vor sich. Es war ein Junge, der über einem kleinen, leblosen Körper stand, eine Waffe in der Rechten. Er sah ihn an.
    Dann geschah es. Die Welt wandelte sich. Das Licht biss nicht länger in seinen Augen. Die Schatten wurden ausgeglichen. Die gewohnten Bilder, die seine Augen ihm vermittelten, hatten nun vielmehr die bleiche Sättigung einer Zeichnung und Tiefen und Entfernungen waren sonderbar scharf abgesetzt. Er sah die Züge des Bauernjungen und sein zugerichtetes Gesicht, er hörte ihn atmen, obwohl er mehr als sechs Schritt von ihm entfernt war. Der Körper auf dem Boden war der eines Goblins, frisches Blut sickerte aus seinen Wunden. Er verstand nun die Stimmen und sah die Männer, von denen sie kamen. Ihre Augen, manche ernst, andere voll höhnischer Vorfreude, waren auf ihn gerichtet. Der Geruch von Schweiß, Blut und Erde war nahezu greifbar. Der Mann, der ihn aus der Zelle gezerrt hatte, drückte ihm einen Knüppel in die Hände. Krumme Nägel ragten aus der Spitze.
    „Viel Glück, Kleiner.“, sagte er und verließ die Arena.
    Frank hatte ihn gewarnt. Der andere Junge stand immer noch über dem Goblin. Ihre Blicke trafen sich, nur einen Moment, denn Erik wich ihm aus. Er wusste was ihnen bevorstand. Ein kahler Mann mit kehliger Stimme erhob das Wort. Eine Narbe zog sich vom Kinn bis über seine Stirn, was er sagte ging an Erik vorbei, denn er versank in seinen Gedanken, lauschte den Fetzen von Gesprächen anderer Männer. Sie schätzen seine Kampfkraft, seine Wunden, loteten seine Chancen aus und schlossen Wetten ab. Er sah ihre grimmigen Mienen hinter Reihen von Holzspießen, die den Rand der Arena markierten. Neben dem Mann, der das Wort hatte, sah er Frank. Auch er zeigte nur ein grimmiges Gesicht, doch seine Augen verrieten, dass noch andere Gefühle in ihm brodelten. Der kahle Mann schien zum Ende gekommen zu sein. Neben ihn trat noch eine andere Figur. Tiefliegende Augen, die unruhig hin und her zuckten. Sein vorgeschobener Kiefer mahlte. Mit seiner Rechten rammte er ein Bündel Pfeile in den Grund, mit der Linken lehnt er sich auf einen Bogen.
    „Der Sieger kriegt die Freiheit!“, rief der kahle Mann und die Masse antwortete ihm mit lautem Jubel.
    Eriks und Franks Blicke trafen sich noch einmal. Frank nickte ihm zu. Erik wandte sich ab. Er sah seinen Kontrahenten an, doch wie Erik sich bereit machte, spürte er plötzlich ein Stechen. Sein Magen krampfte schmerzhaft und er krümmte sich. Sein Herz pochte schneller, er schnappte nach Atem, die Muskeln krampften. Erik fing sich wieder, errang die Kontrolle über seinen Körper, jetzt mit mehr Kraft und mehr Fokus, den er voll und ganz auf seinen Kontrahenten konzentrierte. Jedes Detail erkannte Erik im Gesicht des Jungen. Es war wie in einen Spiegel zu blicken. Er sah die gleiche Verzweiflung und auch den gleichen Versuch es mit Gleichgültigkeit zu bekämpfen, einen erfolglosen Versuch. Wie bei ihm selbst hatten Tränen den Dreck von seinen Wangen gewaschen. Doch Erik sah auch die Schwellungen, die Blutergüsse, die gebrochene Nase. Seine Stirn war aufgeplatzt und trockenes Blut klebte an seinem Hals. Sein Mund stand offen, da er sonst wohl keine Luft bekam, mehrere Zähne fehlten ihm. Stumm sahen sie sich an. Plötzlich bohrte sich ein Pfeil zwischen ihnen in den Dreck. Der Mann mit dem markanten Unterkiefer wackelte tadelnd mit dem Zeigefinger. Frank hatte es eindeutig erklärt; Erik hatte keine Wahl. Unvermittelt schritt Erik auf seinen Gegner zu. Sein gebrochener Knöchel war ihm egal. Der Junge hob seine Waffe zum Schutz. Erik attackierte von der Seite, doch sein Gegner wich zurück.
    Komm schon!“, brüllte Erik, mit der Stimme eines verzweifelten Jungen, der versuchte ein brutaler Mann zu sein.
    Die Menge feierte ihn. Nach einem Moment des Zögerns griff der Bauernjunge an. Mit einem Wutschrei hieb er wild nach Erik, doch der sah es kommen. Die Hölzer krachten aufeinander. Beide waren ungeübte Kämpfer und sie verloren durch den Aufprall die Kontrolle über ihre Waffen. Doch Erik ließ sich nicht bremsen. Seine Sinne arbeiteten schnell. Blitzartig schlug er dem Jungen den Handrücken ins Gesicht. Alte Wunden öffneten sich, frisches Blut schoss aus seiner Nase und besudelte sein Hemd. Der Junge taumelte nach hinten, doch die Fußverletzung hielt Erik davon ab ihm nachzusetzen. Mit quälend langsamen Schritten und unter dem Hohn der Menschenmenge drängte Erik nach vorn. Erneut griff er an. Die Waffen trafen aufeinander, doch anstatt aneinander abzugleiten, verhakten sich Holz und Eisen. Mit einer Kraft, von der Erik nicht wusste, dass er sie hatte, drückte er die Knüppel zur Seite und mit einem Schmatzen versanken die Waffen tief im nassen Dreck. Gleich darauf, und ohne Rücksicht auf seine Verletzung, hob Erik das Bein und trat dem Jungen in die Bauchgrube. Sein Gegner erschlaffte und fiel nach hinten. Doch Erik zahlte den Preis für seinen Angriff: Der angebrochene Knöchel gab nach, rutschte aus seiner Position und weißer Knochen stach aus dem roten Fleisch. Mit einem herzzerreißenden Schrei stürzte Erik zu Boden. Wasser schoss in seine Augen, der Schmerz übermannte ihn. Er grub seine Finger in den Dreck und gab ein ersticktes Ächzen von sich. Doch der Schmerz verflog, Kälte zog sich sein Bein hinauf. Hastig und unbeholfen wischte er sich die Tränen aus den Augen, stützte sich auf. Er sah auf sein Bein. Er spürte es zwar nicht mehr, doch es war dort. Blut quoll im Rhythmus seines Herzschlags aus der Wunde.
    Was sind das für Kräuter?
    Er sah zu dem Jungen. Er stand wieder, gerade hatte er seine Waffe aufgenommen. Schweren Schrittes kam er heran. Erik umklammerte den Nagelknüppel und kam auf die Knie. Der Junge hob seine Waffe, hoch über seinen Kopf. Mit voller Kraft riss er seinen Knüppel nach unten, doch Erik warf sich nach vorn, in seinen Angreifer hinein. Er entging der Attacke und sie stürzten wieder zu Boden. Sein Gegner landete auf dem Rücken und Erik auf ihm. Ihm fehlte die Luft zum Atmen. Schlamm besudelte ihre Kleider, ihre Hände und Gesichter. Erik sah auf. Die Schreie von den Rängen pressten sich schmerzhaft in seine Ohren. Er blickte zu Frank. Sein Bruder, die Hände zu Fäusten geballt und die Augen geweitet voller Angst, nickte ihm zu. Er sollte es tun, sagte sein Blick. Also hob Erik den Knüppel, tausend Gefühle benebelten seinen Verstand, er schloss die Augen und sandte seine Waffe hinab. Fantasien blutiger Bilder hafteten in seinem Verstand, bis sich in ihm tiefe, schwarze Dunkelheit ausbreitete. Sein müder Körper sank auf den Jungen nieder. Ohnmacht übermannte ihn.

    Es war tiefste Nacht. Erik erwachte durch die sanfte Stimme seines Bruders. Er war auf Stroh gebettet und zu schwach sich zu regen oder auch nur seine Augen zu öffnen. Die Kräuter hatten all seine Reserven aktiviert, jetzt waren diese aufgebraucht und der Schmerz war zurück.
    „Ich habe dir deine Tagesration gebracht.“, sagte Frank.
    Frank schwieg eine Weile. Er stellte die Schüssel auf der Bettkante ab, rieb sich das Gesicht und seufzte.
    „Du musst essen, Erik.“
    Er entkorkte einen Trinkschlauch, hielt ihn an seine Lippen und ließ das Wasser seine Kehle herabrinnen. Langsam schluckte Erik. Frank zerkleinerte Fleisch und Wurzeln im Eintopf, fütterte ihn, legte seine Arme zur Seite, wusch ihm den Schlamm aus dem Gesicht. Erik war blass und seine Wangen eingefallen. Frank strich ihm die Haare aus der Stirn.
    „Du bist sehr stark gewesen.“ Frank schluckte, seine Kehle war trocken. „Ich hab gewusst, dass du das schaffst. Aber etwas kämpfen musst du noch, hörst du?“
    Erik wollte antworten, aber sparte sich seine Kräfte, brummte nur leise.
    „Ich hoffe du hast den Obstbrand genossen!“, scherzte Frank.
    Erik blieb stumm. Lächeln konnte er gerade nicht.
    „Wir haben Glück, Erik. Der Anführer hier findet irgendetwas an mir. Ich kann ihn um ein paar Gefallen bitten. Du wirst wieder gesund, hörst du?“
    Wieder schwieg Erik, doch er bewegte seine Hand und Frank ergriff sie, drückte sie fest.
    „Alles wird gut.“, sagte er. „Du wirst wieder gesund. Ich bin gleich wieder da.“
    Frank verschwand und kam bald wieder zurück, mit einer Flasche in der einen und einem Holzeimer in der anderen Hand. Hinter ihm stand ein Mann. Es war ein Fleischer. Die Flecken auf seiner Schürze zeugten von seiner Arbeit. Sein Beil war sauber und frisch poliert. Ein Gehilfe betrat die Hütte, ein muskulöser Bursche mit roter Armbinde. Der Gehilfe schlug die Decke über Eriks Fuß zurück und Frank drängte ihn von der Flasche zu trinken.
    „Du wirst wieder gesund. Alles wird gut.“, sagte Frank.
    Im Nebel von Angst und Erschöpfung tat Erik wie ihm geheißen und trank in tiefen Schlucken.
    Geändert von GesustheG (16.03.2021 um 12:11 Uhr)

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    Kapitel 4, #2

    VIII Hermanns neue Freunde
    Im Jahre des Addo 389, Am Morgen des 17. September
    Hermann
    Hermann fühlte sich an diesem Morgen frisch und lebendig. Er hatte seine Markierungen abgelegt, trug ein einfaches Leinenhemd, denn der rote Überwurf, der Lederharnisch, seine Waffen, all dies würde ihn als Soldat ausweisen und ihm nur ungewollte Aufmerksamkeit einbringen. Er war auf dem Weg nach Neigenbau. Jetzt, da Raik sein Trübsal abgeschüttelt hatte und wieder das Heft der Führung an sich genommen hatte, brauchte Hermann einen triftigen Grund, um in die Stadt zu gehen. Dieser Grund war, dass er heilende Salbe für seinen Kameraden Gero besorgen wollte, doch seine wirklichen Gründe, das waren ganz andere. Er passierte die stadtnahen Höfe, die Ausläufer der Stadt, die Umschlagplätze und die Stadtmauer. Stetiger Verkehr zog durch das Haupttor. Wägen, gezogen von Ochsen und Männer mit Handkarren. Sie brachten Ton und Kies, der in der Grube abgebaut wurde und von anderswo Holzkohle, Ernteerträge und Korn und Vieh. Es war Wochenmarkt in Neigenbau und Hermann wollte in der Menge untertauchen. Ohne Schwierigkeiten gelangte er in die Stadt. Gleich hinter dem Haupttor bog er ab, verließ die breite Straße, schlängelte sich durch enge Gässchen und erreichte schließlich sein erstes Ziel. Unter dem Schatten des Vordachs sprühten Funken im Takt eines klirrenden Schmiedehammers.
    Boris!“, rief er.
    „Wer da?“
    Der Schmied hielt inne, kniff die Augen zusammen. Hermann betrat die Werkstatt und hob die Hand zum Gruß. Boris brummte, gab ihm ein knappes Nicken und widmete sich wieder seinem Eisen. Der Rohling glühte kirschrot. Hermann verschränkte die Arme hinter dem Rücken und geduldete sich, bis der Schmied von seiner Arbeit absah und sich ihm widmete. Boris legte den Hammer auf den Amboss, schob mit einer Zange das Eisen wieder ins Feuer und trat zweimal auf den Blasebalg.
    „Wie läuft das Geschäft?“, fragte Hermann über das Fauchen der Esse.
    Der Schmied wandte sich ihm kurz zu. „Gut.“
    Boris strich sich durch seinen langen Bart. Funken hatten winzige Löcher in die schwarze Haarpracht gebrannt.
    „Ich habe eine Bitte an dich.“, sagte Hermann vorsichtig.
    „Worum geht es?“ Er betätigte den Blasebalg erneut.
    „Der Gerber“, sagte Hermann. „Ich habe ihm einen Auftrag gegeben und ich bin mir nicht sicher, ob er ihn ausführt.“
    Boris zuckte mit den Schultern. „Er ist zuverlässig.“
    „Ich glaube er hat spitzgekriegt, dass ich Soldat bin.“
    Hermann suchte den Blick des Schmieds, doch der schürte nur die Esse und wendete den Rohling.
    „Kannst du ein gutes Wort für mich einlegen?“, sagte Hermann laut über die fauchende Glut.
    Boris zog das Eisen heraus, platzierte es auf dem Amboss und hob den Hammer.
    „Hermann...“, sagte er zwischen den Schlägen, „...sag mir, wofür brauchst du das Rüstzeug?“
    Der Hauptmann, immer noch mit den Händen hinterm Rücken, trat zur Seite, um dem Funkenflug zu entgehen.
    „Ich bin nicht gerne unvorbereitet. Nur für alle Fälle.“
    Der Stahl verlor seine helle Farbe. Boris hielt inne und sah Hermann ins Gesicht.
    „Und welcher Fall wäre das, in welchem du eine verstärkte Rüstung brauchst?“
    Hermann hielt seinem Blick stand. „Warum schmiedest du ein Schwert?“, antwortete er.
    Boris zuckte mit den Schultern, wandte sich ab und legte das Eisen wieder in die Glut.
    „Wer weiß?“, sagte der Schmied über die Schulter. „Vielleicht werden ich es noch brauchen.“
    „Wer weiß“, antwortete Hermann und starrte ins Leere.
    Boris hielt inne, was ungewöhnlich für ihn war. Nichts konnte ihn von seiner Arbeit abhalten, doch nun stand er da, regungslos. Mit einer schnellen Bewegung drehte er den Rohling ein letztes Mal in der Esse, legte Zange und Hammer ab und kam zu Hauptmann herüber.
    „Hör zu.“ Seine Stimme war gedämpft und klang verschwörerisch. „Ich lege ein Wort für dich ein. Ich rede mit dem Gerber.“
    Hermann deutete gerade eine Verbeugung an, als Boris den Zeigefinger hob.
    „Moment, nicht ganz so einfach. Du musst etwas für mich tun.“ Er kam näher, senkte den Kopf. „Du gehst noch heute zu Sybille ins Freudenhaus. Du redest mit ihr und du hörst dir an, was sie dir zu sagen hat. Und tu nicht so überrascht! Ich weiß, dass ihr einander kennt.“
    Hermann blinzelte mehrmals. „Warum... Was hast du mit Sybille zu tun?“
    „Ist das ein Ja?“
    „In Ordnung, Ja.“
    Hermann war völlig verdattert. Was hatte die Herrin des Freudenhauses mit dem angesehenen Schmiedemeister zu tun? Nicht zuletzt lag ihr Haus jenseits der Neige, am anderen Ende der Stadt. Boris musterte ihn mit prüfendem Blick. Er brummte schließlich, ging wieder zur Esse und fachte das Feuer an. Der Soldat wandte sich zum Gehen.
    Hermann!“, rief Boris ihm hinterher. Drohend deutete mit seiner Zange auf ihn. „Enttäusche mich nicht!“
    Hermann überlegte kurz, ob er fragen sollte, worum es denn ginge, wie er ihn überhaupt enttäuschen könnte, entschied sich dann aber dagegen. Die Aussichten auf eine schlüssige Antwort waren eher gering. Er verließ die Werkstatt. Den Kopf voller Fragen folgte er dem Verlauf verwinkelter Gassen. Er fand seinen Weg zur Neige. Vorbei an Mühlen, Wehrtürmen und Wohnhäusern folgte er dem Flussufer bis zu einem Steg. Er war ursprünglich erbaut wurden, um eines der vielen Wasserräder an der Neige zu warten, doch man hatte ihn kurzerhand erweitert, sodass man ihn als Überweg nutzen konnte. Die schmale Brücke war zwar eine Lücke im Verteidigungsring der Stadt, doch in Friedenszeiten waren Mauern kaum mehr als eine Haufen Steine, die den Rädern der Wirtschaft im Wege waren. An der Grenze zum Armenviertel bog er in einen schmalen Weg ein. Entlang hinter einfachen Häusern und zerbrechlichen Verschlägen erreichte er schließlich den lauschigen Innenhof, auf dem das schmucke Holzhaus stand. Schlingpflanzen umrahmten die Veranda, Efeu bedeckte die Flanken des Hofs.
    „Herr Hauptmann.“, sagte eine Stimme.
    Er fuhr herum und sah das immer breite Grinsen von Valentin, dem Rausschmeißer. Sein fein gepflegter Schnauzer täuschte über die grobe Natur seiner Arbeit hinweg.
    „Valentin! Kannst du nicht einmal vor der Tür stehen? So, wie normale Türsteher?“
    „Ein bisschen Furcht lockert die Geldbörse, musst du wissen.“
    Valentin verschränkte die dicken Arme und zwinkerte ihm zu.
    „Ob da was dran ist?“, sagte Hermann. „Ist Sybille im Haus?“
    Valentin nickte und machte eine einladende Geste. Hermann nahm die Stufen der Veranda und als er in die Schatten des Vordachs trat schwang auch schon die Tür auf.
    „Da bist du ja wieder.“, sagte Sybille, freundlich und gönnerhaft. „So früh hätte ich dich nicht wieder erwartet. Hat man etwa deinen Sold erhöht?“
    Sybille lehnte sich in den Türrahmen. Sie trug ausnahmsweise mal einfache Kleider; ein braunes Hemd und Hosen.
    „Welcher Sold?“, sagte Hermann und grinste schelmisch. „Ich bin tatsächlich nicht wegen deiner Mädchen hier.“
    „Bist du nicht?“
    Sybille zog eine Braue hoch. Es sah aus, wie bei einem ausgebildeten Bühnenkünstler, der ohne Worte und allein mit der Stärke seines Ausdrucks das Publikum verzaubern konnte. Ihr Unglauben stand ihr ins Gesicht geschrieben.
    „Nein. Nicht deshalb.“, sagte Hermann. „Ich brauche Heilsalbe, wir haben einen Verletzten im Lager.“
    Er hob die Hand, bevor sie antworten konnte, sah ihr in die Augen und sprach mit gedämpfter Stimme:
    „Und Boris schickt mich. Ich soll mit dir reden. Frag mich nicht, was das bedeutet, aber-“
    „Komm mit“, sagte sie schnell.
    Sie nahm ihn an der Hand und zog ihn ins Gebäude. Vorbei an der Empfangsdame, die ihnen erst einen fragenden Blick schenkte und dann ganz eindeutig mit sich selbst beschäftigt war, durch den Hauptraum, eine Treppe hinauf, und letztlich in ein leeres Zimmer. Nur ein Bett, ein Tischlein und ein Stuhl standen darin. Sybille schloss eilig die Fensterläden und setzte sich auf die Bettkante. Erwartungsvoll sah sie ihn an. Hermann rührte sich jedoch nicht von der Stelle.
    „Meine liebe Güte, Hermann! Du sollst dich setzten!“ Sie nickte zum Stuhl.
    „Natürlich“, brummte er.
    Etwas steif nahm er Platz. Sie rollte mit den Augen.
    „Du hast doch gerade nicht wirklich gedacht, dass wir...“ Hermann wich Sybilles suchenden Blick aus, worauf sie einen lauten Seufzer von sich gab, in dem auch eine Spur Belustigung herauszuhören war. „Nun gut, wie auch immer! Boris schickt dich, sagst du?“
    Hermann nickte mit bemühter Ernsthaftigkeit.
    „Was hat er zu dir gesagt? Außer, dass du zu mir kommen sollst?“
    „Ich solle ihn nicht enttäuschen.“
    Hermann zuckte mit den Schultern und sah sie fragend an. Sie lehnte sich zurück, überschlug die Beine und rieb sich die Stirn.
    „Wo fang ich an?“, sagte sie gedankenverloren.
    Sie legte die Hände in den Schoß und blickte aus dem Fenster. Ein Streifen Licht fiel hindurch und trennte den Raum zwischen Sybille und Hermann. Er wartete geduldig.
    „Drei Jahre...“, sagte sie schließlich, „...ist eine lange Zeit.“
    Sie räusperte sich und erzählte dann:
    „Vor drei Jahren habe ich selbst hier noch gearbeitet, wenn man es Arbeit nennen möchte. Der Besitzer war ein brutaler Halsabschneider, die Art, die Frauen schlägt. Weißt du, wer das geändert hat?“
    Hermann schüttelte den Kopf.
    „Quentin. Der Kaufmann in Eichenbruck. Er hat kurzerhand das Haus gekauft und das gesamte Geschäft dazu. Und dann hat er es mir übertragen.“ Sie schüttelte den Kopf und legte die Hände in den Schoß, bevor sie fortfuhr. „Quentin hatte damals einen Blick für das große Ganze, für all die Problemchen hier und dort. In den ersten Monaten lag hier alles brach. Keine Kunden und kein Geld. Alle dachten, sie würden diesen Ort verlassen und irgendwo im Königreich Arbeit und Heim finden, doch sie dachten falsch. Der Matterforst war wie ein eisernes Schloss vor dem Tor zum Kessel. Quentin kam zu mir und sagte, er wird das Haus kaufen, der Preis wäre spottbillig, und ich soll mich um die Mädchen kümmern. Hauptsache der Laden läuft, sagte er.“ Sie blickte gedankenverloren aus dem Fenster. „Ihr Soldaten habt es nicht bemerkt, in eurer Burg am anderen Ende des Kessels, aber in Neigenbau war die Hölle los. Als klar wurde, dass man nicht mehr fortgehen konnte, wurden die Menschen rastlos. Wir hungerten im Winter, wir schlachteten die Ochsen, dann die Pferde, die Esel. Sogar Katzen und Hunde irgendwann. Bis dann endlich neue Aufträge kamen. Die Mine im Osten wurde wieder geöffnet. Die Stadtwache heuerte an. Neue Felder wurden erschlossen und die Stadt genehmigte die Jagd für jedermann. Die Brücken über die Neige wurden erneuert, Lagerhallen wurden gebaut. In der Nähe der Steinmühle steht jetzt eine Börse, wo Bauern aus dem Umland Männer für die Feldarbeit finden können. Man fand sich damit ab, man vergaß die Gitter des eigenen Gefängnisses. Man vergisst sogar die eigenartigen Umstände, warum wir überhaupt im Gefängnis sitzen, als wäre all dies normal. Doch Quentin weiß, dass vergessen allein nicht reicht. Jede Hand braucht etwas zu tun, oder noch besser, man hat ein echtes Ziel! Ich weiß nicht, wie tief er seine Finger im Spiel hat, doch er hat hier einiges bewirkt, da bin ich mir sicher. Manche halten ihn für verrückt, weil er die Burg von Eichenbruck gekauft hat, nachdem dort alles niedergebrannt ist. Andere haben den größten Respekt vor ihm. Er ist... ein interessanter Mann. Quentin...“, sie seufzte und lehnte sich zurück, „...ist auch der Grund, warum du heute hier bist.“
    Hermann rieb sich die Schläfe. Bisher hatte er auf seine Fragen noch keine Antworten bekommen. Sie rückte näher und senkte ihre Stimme. Dann, im Flüsterton, erzählte sie vom geheimen Zirkel. Von ihrem Ziel den Kessel zu stabilisieren, bis die Krise überstanden ist. Sybille stützte den Ellenbogen auf ihr Knie und deutete mit ihrem Zeigefinger auf seine Brust.
    „Du solltest dazu gehören.“, sagte sie.
    Hermann wich zurück. „Warum ich?“
    „Du bist Soldat“
    Beide hielten sie dem Blick des anderen gefangen.
    „Wer ist noch dabei?“, fragte er.
    Sybille war es, die den Augenkontakt brach. Sie lächelte verlegen.
    „Das kann ich dir kaum verraten, Hermann. Solang du noch nicht...“
    „Sybille“, unterbrach er sie. „Ich steige nicht ein, wenn ich nicht weiß mit wem.“
    Sie schwiegen.
    „Wer?“, fragte er dann.
    „Vielleicht war es ein Fehler.“, sagte sie und strich die Falten ihrer Hose glatt. „Du bist immer noch ein Diener des Königs. Deine Loyalität bedeutet dir dein Leben, du solltest...“
    Sybille!
    Hermanns Hand war auf ihrem Knie, gerade als sie sich anschickte aufzustehen.
    „Ich bereite mich schon seit Monaten vor.“, sagte Hermann. „Darauf, dass hier irgendetwas schiefläuft. Ein Aufstand, eine weitere Welle von Desertionen oder wieder irgendein dämliches Ereignis, bei dem der gesamte Talkessel nichts Besseres zu tun hat, als sich ratlos am Hintern zu jucken. Auf keinen Fall plündere ich dann mit meinen Blutjacken die Häuser von Neigenbau! Wenn du denkst meine Loyalität ist dann der entscheidende Faktor… ich spiele schon seit einer Weile mit dem Gedanken mich abzusetzen, ich treffe schon Vorbereitungen und besorge mir Ausrüstung.“
    Er hob seine Hand von ihrem Bein.
    „Ich mache bei euch mit.“, sagte er. „Wenn ich weiß, wer das ist.“
    Sie sah ihn streng an. Hermann wurde gewahr, dass sie seine übergriffige Berührung mehr als unangenehm empfand. Verlegen rutschte er auf seinem Stuhl zurück, legte die Hände in seinen Schoß.
    „Ich“, sagte sie dann. „Ich, Quentin und Boris. Wir waren die ersten Mitglieder.“
    Sie seufzte und fuhr sich durch ihre langen Haare. Dann erzählte Sybille von den anderen. Von Benjamin Ohnsorg, ihrem Kontaktmann im Stadtrat und von Moritz Fehdamm, Sohn des reichsten Mannes im Talkessel. Einfluss und Reichtum machten ihn zugleich unbeliebt und unentbehrlich.
    „Wenn du wüsstest wie viel Geld ich inzwischen an den Stadtrat und die Edelmänner verliehen habe! Man fragt sich, wozu wir diesen reichen Schnösel noch brauchen.“
    Sie sprach über Ignatius von der Verwaltung der Steinmühle, über Quentin und Ferdinand, seinen Zögling, Lehrling und Laufburschen. Letztlich auch von Sadiye.
    „Sie hat gewisse Begabungen, die sie zu einem wertvollen Mitglied machen. Die Severim in Neigenbau halten sich unter sich, aber es ist wichtig auch sie ins Boot zu holen. Sie halten mehr Macht in den Händen als man meint. Aber nimm dich vor Sadiye in Acht, sie hat nicht viel für Soldaten übrig!“ Nachdenklich blickte sie auf ihre Fingernägel. „Verrate mir, Hermann, was wissen die Soldaten über die Banditen im Talkessel?“
    „Welche Banditen?“, sagte er und hob die Brauen.
    Sybille faltete die Hände, blickte ihn lange an.
    „Ich fürchte...“, sagte sie ernst, „...ich kann dir nicht von allen Mitgliedern erzählen. Noch nicht.“
    Hermann nickte langsam.
    „Ein bunter Haufen.“, sagte er schließlich anerkennend.
    „Das kann man wohl sagen. Wir haben alle unsere Eigenarten, aber wir ziehen an einem Strang, wenn es hart auf hart kommt.“ Sie lachte auf. „Ferdinand wirst du schnell kennenlernen. Er ist zwar nur ein Junge und hat noch kein Stimmrecht, aber reden kann er wie Wasserfall. Ein schlauer Kopf, wenn du mich fragst. Es kann schon mal vorkommen, dass er dir erzählt, was du gedacht hast, ohne es selbst zu wissen.“
    Sie musste ein wenig schmunzeln und legte den Kopf schief.
    „Und dann wärst da noch du, Herr Hauptmann.“
    Hermann sammelte sich. Er kannte sie als eine Frau mit viel Verantwortung auf ihren Schultern, mit viel Geduld und großer Kraft. Aber diese neuen Informationen, die Tragweite dieser Kontakte im ganzen Kessel, ließen ihn verstummen. Ihre ernsten Augen ruhten auf ihm. Er erkannte Sorge, aber auch eine nüchterne Abgeklärtheit in ihren Zügen.
    „Wenn euer Zirkel auch nur die Hälfte von dem tut...“, sagt er und senkte die Stirn, „...dann könnte ihr auf mich zählen.“
    Sie lächelte ihn wohlwollend an. „Sadiye wird mich hassen. Und dich auch.“, sagte sie, wieder mit diesem nüchternen Blick.
    „Wie geht es jetzt weiter?“, fragte Hermann.
    „Du wirst uns morgen Nacht in der Scharfen Kante treffen. Kennst du das Gasthaus?“
    Hermann nickte. Es lag an einer markanten Weggabelung diesseits der Neige, entlang der Straße zu den Höfen im südöstlichen Hinterland. Er stand auf und richtete seine Kleider.
    „Danke für dein Vertrauen.“, sagte er.
    Ohne erkenntlichen Anlass lachte Sibylle laut auf. Hermann hielt verdutzt inne.
    „Weißt du...“, sagte sie, „...die Wände in diesem Haus sind leider viel zu dünn.“
    Sie warf sich aufs Bett, dass das Holz knarzte. Sie kicherte, als sie Hermanns verdattertes Gesicht sah.
    „Dass wir über den Zirkel geredet haben hat sicher keiner gehört, aber was ist denn dann sonst hier passiert? Was sollen denn meine Mädchen von mir denken?“ Sie setze einen Ausdruck von gnadenloser Unschuld auf und Hermann stiegt die Röte ins Gesicht, während sie sich köstlich amüsierte. Hermanns Geschick im Umgang mit Frauen beschränkte sich auf darauf die Bundschnur seines Geldbeutels zu lockern. Dies nahm ihm seine Verlegenheit und schenkte ihm die Geborgenheit der Pragmatik. Jetzt räkelte Sybille sich im Bettlaken, raufte sich die Haare und gab gedehnte, fast leidende Geräusche von sich, dass es Hermann einen Schauer über den Rücken sandte. Er räusperte sich und rieb sich am Hals.
    „Ich bleibe dann hier stehen, ja?“, sagte er, wurde jedoch von Sybilles Tönen unterbrochen.
    „Gut, gut.“, sagte er kleinlaut, blickte zu Boden, betrachtete seine Stiefel.
    „Soll ich auch etwas sagen? Oder-“, fragte er unsicher, doch Sybille winkte ab.
    „Nicht nötig. Es ist besser, wenn du ruhig bleibst. Manche Männer glauben, dass unterm Laken die Fragestunde beginnt.“
    Sie rollte mit den Augen und ließ wieder ein lautes und viel, viel zu glaubwürdiges Stöhnen von sich. Hermann presste die Lippen aufeinander. In gerader Haltung mit verschränkten Armen hinter dem Rücken stand er da. Sie hingegen setzte sich nun auf, wippte mit dem Fuß und gab ihm ein geduldiges Lächeln. Ein paar weitere scheinbar ewige Momente vergingen, während Hermanns Verlegenheit und Anspannung bis ins Unermessliche stiegen, aber schließlich gab sie ihm einen Wink und Hermann spürte eine tiefe Erleichterung, wie er sie noch nie, bei keinem militärischem Drill, in keiner Gefahrensituation gekannt hatte. Ihr Wink war für ihn die Hand des Königs, die für den Missetäter das erlösende Urteil der Gnade sprach.
    „Dein rotes Gesicht macht die Vorstellung nur noch besser.“, sagte sie.
    Sie wackelte mit den Brauen und legte den Kopf schief. Er brummte etwas Unverständliches, klopfte unnötigerweise seine Hose ab, gab ihr ein kurzes Nicken und verließ den Raum. Im Gang hielt er inne. Drei Frauen, ganz plötzlich in die Pflege ihrer Fingernägel vertieft, lungerten dort herum. Mit schnellen Schritten passierte er sie, verließ das Haus und überquerte auf kürzestem Wege den kleinen Vorhof. Er grüßte Valentin knapp und wortlos und verschwand den Pfad hinunter. Er brauchte einen kühlen Kopf. Zeit zum Denken. Er war noch nicht weit gekommen, als er abrupt stehen blieb. Mit einem lauten Ächzen schlug er die Hände über dem Kopf zusammen. Dem Soldaten graute vor seinem schweren Schicksal, denn Hermann hatte im Freudenhaus die Heilsalbe vergessen.


    IX Des Bruders Pflicht
    Im Jahre des Addo 389, Am Vormittag des 17. September
    Erik & Frank
    Erik lag dort, stumm und ganz still, und Frank prüfte immer wieder seinen Puls und seinen Atem.
    „Kannst du mich hören?“
    Erik antwortete nicht und Frank seufzte schwer. Es barg ein gewisses Risiko seinen Bruder in seiner eigenen Hütte unterzubringen, man würde reden, man würde schnell erraten, dass sie Geschwister waren. Unter Wölfen bedeutete Freundschaft auch Verwundbarkeit. Eine echte Wahl hatte Frank leider nicht und da dies bis vor kurzem die einzige freie Hütte gewesen war, würde man die Hinweise auf ihre Verwandtschaft vielleicht übersehen. Frank hatte sich tatsächlich die Mühe gemacht seine kleine Hütte aufzuräumen, den Dreck herausgekehrt und die Spinnweben entfernt. Jetzt saß er wieder da und fühlte sich nutzlos. Immerhin gönnte ihnen der Lagerkoch nun zwei Tagesrationen. Man hatte Erik ein rotes Armband angebunden und es würde nicht lange dauern, bis die Geduld Letos erschöpft war und man Erik, so geschwächt er auch sein möge, ins Haupthaus zerren würde.
    „Sag ihnen, dass du ein Alchemist bist.“, sagte Frank und nickte, mehr für sich selbst. „Sag ihm, du kannst Zeug zusammenbrauen, was aus dem zartesten Fohlen den kräftigsten Ochsen macht! Aber sag nicht viel, rede nur, wenn du gefragt wirst.“ Frank legte einen Zettel auf die Bettkante. „Ich habe es dir aufgeschrieben. Nur für alle Fälle.“
    Frank beugte sich über ihn. Eriks Atem war ruhig, die Augen waren geschlossen, er schlief und Frank sank wieder auf den Schemel beim Bett. Unruhig knetete er seine Hände.
    „Eigentlich hast du Glück.“ Franks Stimme war voller Bitterkeit. „Sonst, wirklich jederzeit, würde ich dich wecken, indem ich dir eine ordentliche Ohrfeige verpasse. Doch ich glaube das kannst du gerade nicht gebrauchen, habe ich Recht?“
    Er drückte seine Hand, ließ dann aber die Arme sinken, als Erik den Druck nicht erwiderte und kramte in seinen Taschen. Er holte ein Messer und ein Stück Holz hervor.
    „Immerlinde“, sagte er und präsentierte das Hölzchen.
    Späne segelte herunter, als er zu schnitzen begann.
    „Tut mir leid wegen deinem Fuß.“, sagte er mit trockener Kehle. „Du wirst eine Weile noch denken, er wäre noch dran. Du wirst ihn sogar noch spüren können, aber das Gefühl wird verschwinden mit der Zeit. Man kann sich an alles gewöhnen.“
    Er drehte das Stöckchen hin und her. Er hatte einen falschen Schnitt gemacht und schnaubte frustriert.
    „Erik... du kennst die Welt nicht, nicht so wie ich sie kenne.“ Sein Ton war plötzlich kühl, sein Ausdruck leer. „Die Jungs, die in der Gosse krepieren, weil man sie nach einer Schlägerei einfach hat liegen lassen. Die Typen, die dir für einen Kupfertaler ein Messer in den Bauch rammen. Genug Leute sind verreckt, weil keiner einen feuchten Dreck gibt! Dein Fuß...“, er deutete mit seinem Messer auf die Decke, „... dein Fuß hätte dich das Leben gekostet.“
    Er fing sich wieder, atmete tief durch und setzte seine Arbeit am Holz fort.
    „Bist du wach? Hörst du mich überhaupt?“
    Erik blieb stumm, nur sein Brustkorb hob und senkte sich.
    „Vater hat gesagt, ich soll auf dich aufpassen. Ich gebe mein Bestes. Es spielt keine Rolle, was es kostet, es spielt keine Rolle, ob es weh tut. Hauptsache du bist sicher.“
    Späne um Späne landete im Dreck. Langsam nahm das kleine Holzstück Form an. Frank drehte das Messer in der Hand, setzte es in steilem Winkel auf und ritzte vorsichtig Rillen in das Material.
    „Denk bloß nicht, dass du den Burschen in der Arena auf dem Gewissen hast. Ich hab ihn zugerichtet, hab ihm die Augen blutig geschlagen, hab seine Rippen gebrochen. Ich hab ihn getötet, du hast bloß den Gnadenstoß getan. Ich habe ihn getötet und du hast dich bewiesen. Ich dachte, ich würde dich verlieren, aber du hast dich bewiesen.“
    Er biss die Zähne zusammen, während er ganz genau arbeitete. Wieder begutachtete er das Holz in seiner Hand. Er drehte es und bearbeitete die Rückseite.
    „Hätte ich gewusst, dass so was in dir steckt, dann hätten wir vielleicht gar nicht weg gehen müssen, den weiten Weg in den Talkessel. Vielleicht hätten wir uns durchschlagen können. Hörst du, Erik?“
    Erik schlief. Frank seufzte.
    „Wir sind hier, weil du in die Lehre gehen sollst, haben wir dir gesagt. Weißt du noch? Das ist nur die halbe Wahrheit. Es ist ja nicht so, als könnten wir jetzt noch zurück, also kann ich es dir erzählen.“
    Seine Stirn lag in Falten und er musste heftig blinzeln, um Tränen zu vermeiden.
    „Unser Vater war pleite. Als Lehrer kann man nichts zurücklegen, dafür ist die feine Elternschaft zu geizig. Irgendeinem feinen Pinkel muss er auf die Zehen getreten haben. Er war seine Arbeit los und konnte das Land nicht mehr bezahlen.“ Frank holte tief Luft. „Das Land gehörte der Stadt und die Stadt dem Reich und das Reich dem König. Du weißt, was passiert, wenn man seine Schuld am König nicht bezahlt? Die Söhne gehen ins Heer, die Töchter werden Hofmägde. Du selbst gehst in den Kerker. Es sei denn, du bist nützlich. Ich hoffe, er darf irgendeinem verwöhnten adligen Scheißer das Schreiben beibringen, aber vielleicht ist eine dunkle Zelle da doch besser. Ach, wer weiß...“
    Franks Schnitzerei war fast vollendet. Es fehlte nur noch ein wenig Feinarbeit.
    „Wir, Erik, sind auf der Flucht. Vater will nicht, dass du in die Armee gehst. Es wäre eine Verschwendung deines Intellekts, sagte er zu mir. Ich selbst... nun ja, ich selbst bin auch nicht scharf drauf mir den roten Mantel überzuwerfen und madiges Brot zu fressen. Zudem hatte Vater gesagt...“
    Frank leckte sich über die Lippen, wie er den letzten Schnitt am Holz machte.
    „...dass er Krieg am Horizont sieht. Er hat schon viele gesehen, weißt du?“
    Frank hatte das Holz überschätzt. Das Material war zu weich und die Klinge ritzte eine tiefe Scharte, schnitt ihm in den Finger und rotes Blut tränkte die hellen Späne zu seinen Füßen. Scharf zog er Luft an. Er saugte am Finger und unterdrückte ein Fluchen. Frustriert warf Frank seine Schnitzerei zu den Spänen und stand auf.
    „Wir sind nicht hier, weil wir wollen, Erik.“, sagte er erbost. „Wir sind hier, weil wir müssen. Weil wir Sicherheit suchen.“ Er schnaubte abfällig. „Bei diesem Haufen von Halsabschneidern!“
    Er verstaute sein Messer und stemmte die Hände in die Hüfte.
    „Deswegen müssen wir hier auch weg, irgendwo anders unterkommen. Aber ich muss los, ruh dich so lange aus.“
    Er schwieg einen Moment und sagte dann: „Tut mir leid wegen dem Fuß, kleiner Bruder.“
    Als Frank fort war, schlug Erik die Augen auf. Er nahm den Zettel von der Bettkante und schob ihn unter die Decke. Die beschädigte Schnitzerei seines Bruders lag dort. Er wandte die Kraft auf, nach ihr zu greifen, nahm sie und drehte sie zwischen seinen Fingern. Es stellte einen kleinen Stock dar, ein Stock mit einem einzelnen Blatt daran. Die Rinde und die feinen Adern des Blattes waren minutiös nachempfunden. Franks Blut hatte einen roten Flecken auf dem kleinen Kunstwerk hinterlassen.


    X Regen am Horizont
    Im Jahre des Addo 389, Am Nachmittag 17. September
    Sadiye
    Sadiye rannte. Sie quälte sich mit Seitenstechen herum, Schweiß tränkte ihre Kleider und sie war übermüdet von der Nacht, aber trotzdem rannte sie. Ihre Ausrüstung hatte sie in Eichenbruck gelassen, sie war frei von Lasten, doch ihre Beine waren unendlich schwer. Sie suchte Ferdinand. Am Waldrand hatte sie keine Spur von ihm gefunden. Bei Quentin wollten sie sich im Notfall treffen, aber dort war er auch nicht gewesen. Sein Wohlsein war ihre Verantwortung! Es war ihre Mission gewesen und der Junge hatte weder Vater noch Mutter, also wer sorgte sich sonst um ihn? Sie streifte durch die Hügel nördlich des hohlen Zahns, im Eilschritt und noch schneller, bis schließlich Neigenbau in Sicht kam. Wolken verdunkelten den Himmel, es sah nach Regen aus. Keuchend erreichte sie das Stadttor, doch noch gönnte sie sich keine Rast. Das Schmiedehaus war von hier aus am nächsten. Sie folgte den Gassen, während erste Regentropfen das Pflaster rutschig machten. Als sie Boris Haus erreichte, stand er gerade auf einer Leiter und deckte den Schornstein seines Schmelzofens ab. Die Hände auf den Beinen rang sie nach Luft.
    „Sadiye! Was machst du hier?“, rief Boris von seiner Leiter hinab.
    Sie konnte kaum sprechen, brachte die Worte nur zwischen schweren Atemzügen heraus.
    „Ferdinand... ist er bei dir?“
    Boris verneinte. „Er hätte aber hier sein sollen. Vor zwei Stunden!“, sagte der Schmied erbost.
    Sadiye biss die Zähne zusammen und rannte weiter. Boris rief ihr etwas hinterher, doch sie verstand es nicht. Mittlerweile war der Regen stärker. Dicke Tropfen klatschten auf das Pflaster und den Dreck und es fing an von den Dächern zu rinnen. Frauen hängten eilig ihre Wäsche ab, holten die Kinder ins Haus. Man räumte Stände ab, schloss die Fensterläden. Sadiye jedoch musste weiter. Sie näherte sich dem unteren Viertel und schließlich stand sie vor Sybilles Haus. Valentin saß im Trockenen auf den Stufen der Veranda. Sadiye blieb vor ihm im Regen stehen.
    „Ferdinand“, brachte sie hervor und winkte zum Haus.
    Valentin schüttelte überrascht den Kopf. Sadiye legte den Kopf in den Nacken und ächzte. Dicke Regentropfen klatschten ihr ins Gesicht, wie sie ihrer Verzweiflung Luft verschaffte. Sie ging weiter, stolperte nun immer wieder und schlitterte durch den Schlamm. Ihre Beine waren schwach, ihre Lunge pfiff mit jedem Atemzug. Es goss mittlerweile in Strömen. Ihre gebundenen Haare hatten sich geöffnet und die triefenden, schwarzen Strähnen klebten ihr an den Wangen und auf den Schultern. Sie ging durch die Straßen des Armenviertels. Hier konnte sie nicht mehr rennen. Der Untergrund war matschig, aufgeweicht durch den Regen. Immer wieder zog sie ihre Schuhe aus tiefem Schlamm. Modrige Holzplanken machten das Vorankommen mancherorts leichter, doch selbst diese sanken in den Boden ein. Sie hörte über das laute Prasseln des Regens ihren eigenen Atem nicht mehr. Vorbei an wackeligen Bruchbuden und knietiefen Schlammpfützen erreichte sie endlich ihr Haus. Sadiye stieß die Tür auf, doch es war leer. Sie klammerte sich an den Türrahmen. Wasser rann ihr ins Gesicht und in die Augen. Tiefe Sorgen machte sich breit, wo war der Junge? Doch sie ging weiter. Sie war voller Dreck, kein Zentimeter ihres Körpers war nunmehr trocken. Sie machte eine letzte Pause, gegenüber stand ein Laden. Er war in besserem Zustand, als die umgebenen Häuser und geschwungene Lettern in Arbu, ihrer Heimatsprache, prangten über der Tür. Sie raffte sich auf, sammelte ihre Kräfte ein letztes Mal und trat in den Regen. Knietiefer Schlamm und Fuhrrinnen randvoll mit braunem Wasser, trennte sie von der anderen Straßenseite. Auf Händen und Füßen kam sie voran. Der Dreck kümmerte sie nicht. Es tat keinen Unterschied. Sie erreichte die Ladentür und sie stürzte hindurch, hielt sich am Knauf oben.
    „Sadiye!“
    Ein Mann kam heran, kniete sich neben sie. Er schob einen Arm unter ihre Schulter und stützte sie.
    Sherin!“, rief der Mann über die Schulter.
    Ein Mädchen eilte in den Raum, die braunen Augen weit geöffnet.
    Kersim sprach in Arbu. „Hol frische Kleider, Sherin! Und eine Decke! Und mach einen Tee!“
    Das Mädchen verschwand sogleich und Sadiye hustete und wischte sich die nassen Haare aus dem Gesicht.
    „Ich muss wissen...“, sagte sie schwach, „...ob Ferdinand hier ist!“
    „Meine Liebe, du brauchst etwas Warmes und einen Ort zum Ruhen.“
    Kersim! Ist Ferdinand in der Stadt?“
    Der Mann half ihr auf.
    „Ich werde es herausfinden, Sadiye.“, versprach er ihr.
    Kersim stützte sie und führte sie zu einer Tür hinter der Ladentheke. Sadiye jedoch wurde schwarz vor Augen. Die schlaflose Nacht, die Anstrengungen der Mission, ihr unterkühlter Körper und der Weg einmal quer durch den Talkessel, ihre gesamte rastlose Suche, es war zu viel. Selbst für ihren zähen Geist und Körper. Kersim fing sie auf.


    XI Kontakte in Neigenbau
    Im Jahre des Addo 389, Am Vormittag des 18. September
    Frank
    Es regnete nun schon den zweiten Tag. Ein wenig hatte es abgenommen, doch es blieb feucht und ungemütlich. Der Himmel verschwand in tristem Grau und das Wetter drängte die Bewohner des Kessels in ihre Behausungen, auch im Lager der Banditen. Frank hatte sich jedoch zu der Jägergruppe im oberen Ring gesellt. Sie saßen unter einer großen Lederplane, gespannt an langen Stöcken, wärmten sich an einem Lagerfeuer und brieten kleine Stückchen leckeren Fleischs. Einige von ihnen trugen die Lederriemen, die sie als Letos Handlanger auswiesen, andere waren freie Jäger. Es waren Männer unterschiedlichen Alters. Der Älteste hatte einen grauen Rauschebart, aus dem eine lange Pfeife herausragte. Einen kannte Frank bereits: Den Mann mit nur einer Hand und den tiefen Narben im Gesicht.
    Wie kann er so noch jagen?, fragte sich Frank im Stillen.
    Die Pfeile im Snapper hatte er mit eigenen Augen gesehen, aber nicht, wie er sie abgeschossen hatte. Er war so stumm, wie auch schon zuvor im Wald. Er schnitzte gerade Pfeile zurecht, andere fügten Federn an die Schäfte, einer zwirbelte eine Sehne aus zähem Ziegendarm. Würde der Regen enden, würden sie sofort aufbrechen. Denn wenn das Wasser versiegt, dann kommen auch die Tiere aus dem Trockenen, um Würmer und Käfer von der Oberfläche zu klauben. Frank musterte den Mann mit den Narben. Er kniff immer wieder die Augen zusammen, wenn er einen Pfeil zum Auge hob und prüfte, ob das Holz tatsächlich gerade war. Es war, als würde nur ein Teil seiner Züge lebendig und ein anderer eingefroren. Die tiefen Schnitte im Gesicht mussten einige Muskeln lahm gemacht haben. Die Art, wie er mit seinem Stumpf den Pfeil beim Schnitzen gegen den Körper drückte, war eigenartig, aber effektiv. Der Mann sah auf, direkt in Franks Augen und Frank wandte sich eilig ab. Er hörte, wie der kahle Narbenmann belustigt schnaubte. Franks Blick wanderte über den Platz. Das Wasser rann von allen Seiten in die Arenagrube. Es musste unglaublich schlammig sein dort unten und würde wohl auch für Tage so bleiben. Er fragte sich, wie es jetzt wohl in den Zellen aussah. Zum Glück war Erik nicht mehr dort unten. Schließlich blickte er auf das Haus von Leto: Die Fensterläden waren geschlossen, die Tür ebenso. Es war das einzige Gebäude, was der dauerhaften Nässe wirklich strotzte. Im Gegensatz zu den Bruchbuden und Bretterverschlägen war es dort drinnen sicherlich warm und trocken.
    „Bursche!“
    Frank schreckte aus seinen Gedanken hoch. Der Mann mit Rauschebart und Pfeife blickte ihn an.
    „Bist du denn auch Jäger, oder was machst du hier?“ Sein Bart zitterte, wenn er sprach.
    „Ich kann zumindest einen ausgewachsenen Scavenger im Nahkampf erlegen.“, sagte Frank und zuckte mit den Schultern.
    Er erntete dafür etwas Gelächter.
    „Ha!“, sagte der alte Mann und deutet mit seiner Pfeife auf Frank, bevor er wieder daran zog. „Das haben wir alle gesehen! Bloß, kannst du auch jagen?“
    „Ich habe schon ein paar Tiere erlegt.“, sagte Frank. „Weniger Großwild. Aber ich kann mit dem Bogen umgehen.“
    Der vernarbte Mann warf ihm einen Blick zu und senkte wortlos wieder seinen Kopf, konzentriert auf seine Arbeit.
    „Was hast du denn erlegt?“, fragte der Bärtige. „Scavenger, Rehe?“
    Frank nickte. „Scavenger. Hasen. Und fette Molerats, aber die nicht mit einem Bogen, mit dem Spieß. Einmal habe ich versucht ein Wildschwein zu erlegen.“ Frank schüttelte den Kopf. „Ich fand mich dann auf einem Baum wieder und musste warten, bis sich das Tier beruhigt hatte. Die Viecher sind zäh!“
    Der Mann nickte anerkennend. Er paffte ein paar Mal und machte dann eine Kreisbewegung mit seiner Pfeife.
    „Und du bist hier weil...?“
    „Ich schulde dem Fleischer einen Gefallen. Das heißt, einen großen Batzen Fleisch, vermute ich.“
    „Verstehe.“
    Der Mann mit dem Bart klopfte seine Pfeife aus und überlegte einen Moment. Dickere Tropfen kamen wieder herab und das Trommeln auf der Plane nahm zu.
    „Schnitzer, kannst du den Jungen gebrauchen?“, sagte der Alte und blickte zu dem einhändigen Jäger mit dem Narbengesicht.
    Dieser zog einen Mundwinkel herab und zuckte mit den Schultern. Sein Gesicht verzerrte sich eigenartig, denn seine rechte Wange blieb starr und folgte nicht der Bewegung seiner Lippen.
    „Darf ich vorstellen...“, sagte der Bärtige, „...das ist Raul. Wir nennen ihn auch Schnitzer. Nicht weil er gerne schnitzt...“, sein Bart zitterte wieder, als er leise Lachte. „...sondern weil er so aussieht, wie er aussieht.“
    Kurz blickte Raul auf, seine stahlblauen Augen durchbohrten Frank. Er deutete mit seinem Messer auf seine Narben.
    „Snapperklauen“, sagte er.
    Er hob den Arm, an dem die Hand fehlte.
    „Snapperzähne“, sagte er, verstummte wieder und widmete sich seinen Pfeilen.
    Seine Stimme war eigentümlich klar, als würde er auf jedes Wort besonders achten. Ein anderer Jäger aus der Runde meldete sich zu Wort.
    „Ein Glück, dass es diese Viecher im Talkessel nicht gibt.“
    „Natürlich gibt’s die! Schau mal in den Norden, bei den Geröllfeldern.“, sagte ein anderer.
    Der erste Jäger begann an den Händen abzuzählen: „Also ich habe hier Wildschwein, Rehwild, Lurker, Scavenger, Wolf und Molerat gesehen, aber noch nie nicht einmal so n' Snappervieh!“
    Bevor er es sich versah, fand sich Frank in einer Diskussion über den Jagdbestand des Talkessels wieder und alle waren in ihrem Element. Nur Frank und Schnitzer blieben stumm.
    „Seit wann trägst du diese Narben?“, fragte Frank.
    Schnitzer sah ihn kurz an, dann auf seinen Stumpf.
    „Dreizehn.“, sagte er. „Seit dreizehn Jahren.“
    Sein Blick ging an Frank vorbei. Raul erhob sich auf einmal, die Augen weit geöffnet. Frank folgte seinem Blick, wandte sich um und was er sah verschlug ihm die Sprache. Dort war eine Gruppe von Männern, einer führte ein Pferd. Frank erkannte es: Es war das Pferd von Gero, dem Boten. Auf dem Sattel lag ein blonder Junge, gefesselt und geknebelt. Sie führten das Tier geradewegs zu Letos Haus. Die Jägersmänner verstummten, ihre Köpfe folgten dem Pferd. Die neu angekommene Gruppe, es waren ausnahmslos Stiefel oder Riemen, passierte die Jäger bei ihrem Feuer, einer schulterte den Jungen und sie betraten Letos Haus. Frank spürte, wie sein Magen sich umdrehte, als der Junge durch die Haustür gebracht wurde und musste unweigerlich an Erik denken.
    „Also Pferde haben wir wirklich nicht im Talkessel.“, grummelte der alte Mann durch seinen Bart.
    Seine Pfeife wippte, während er daran zog.
    „Die haben wir alle gegessen. Muss mit den Typen von draußen gekommen sein.“
    Mit verschränkten Armen saß er da. Sein Blick ruhte auf Frank.
    „Wie heißt du eigentlich, Junge?“
    „Frank.“
    „Und wo kommst du her, Frank?“
    Er zögerte, sah in die anderen Gesichter, die nun alle auf ihn gerichtet waren.
    „Nicht von hier“, sagte er.
    „A-ha!“, sagte der alte Jäger und hob die Brauen.
    Es herrschte Stille. Die Männer schwiegen, geduldig, aber wissbegierig, erwarteten sie seine Worte. Frank nutzte die Chance. Er redete vom Königreich, vom relativen Frieden in den Ländern, von seiner Reise und von seinen Begleitern. Erik ließ er natürlich aus. Sie hatten viele Fragen und Frank stand ihnen Rede und Antwort.
    „Wie habt ihr es aus dem Wald geschafft?“, fragte der Alte schließlich.
    „Wir sind geflüchtet. Auf einem Pferd.“, sagte Frank.
    „Geflüchtet? Vor wem?“
    Frank holte tief Luft. Es war eine Weile her, seitdem sie den Matterforst durchquert hatten und viel war passiert in der Zwischenzeit.
    „Wir wurden angegriffen. Von...“, Frank rieb sich die Stirn. „...einer Bestie. Es hat einen Ochsen gerissen, in einem großen Satz, und dann von der Straße gezerrt als wäre es ein Hühnchen.“
    „Was für eine Bestie?“, sagte Schnitzer.
    Sein Blick war starr und ernst. Frank dachte angestrengt nach, rief die Bilder wieder hervor.
    „Wir hörten ein Knurren, eher ein Grollen. Es hatte schwarzes Fell. Weiße Klauen... riesige Fangzähne... und... und ein Horn?“
    „Weiter“, sagte Schnitzer.
    „Es war schnell. Unglaublich schnell. Wenn es nicht angriff, verschwand es in den Schatten. Es war, als ob die Dunkelheit ihm folgen würde, als würde ihm die Finsternis anhaften.“
    „Pah! Blödsinn!“, rief der bärtige Mann. „Du warst in Panik. Es gibt keine Magie in den Wäldern! Ammenmärchen für kleine Kinder, damit sie nicht zu weit weglaufen.“
    „Schattenläufer“, sagte Schnitzer.
    Die Jäger waren stumm. Alle wussten, die Bestien waren ausgestorben. Schon vor langer Zeit, als Batan I das Königreich gegründet hatte. Legenden rankten sich um die Taten des Urgroßvaters des Königs und dem Gründungsmythos, dem zufolge die Königsjäger mit ihren stolzen Rössern und blitzenden Lanzen auch die letzten Schattenläufer ausgemerzt hatten und die Wälder von Lund befriedeten. An ihrer Spitze ihr größter Jäger, Batan I..
    „Die Viecher gibt es nicht mehr!“, polterte der alte Mann. „Und sie sind schon gar nicht magisch! Schatten, die ihnen folgen, Geister, die sie vorm Licht schützen, diesen Spuk haben schon damals die Königsjäger entlarvt. Alles Humbug, Geschichten von dummen Bauern sind das!“
    Wieder entbrannte eine hitzige Diskussion unter den Männern. Jeder von ihnen glaubte mit seinem Jagdwissen den anderen übertreffen zu können. So blieb Frank, auch wenn er der einzige Augenzeuge der Bestie im Matterforst war, außen vor. Er genoss es, Zuschauer sein zu dürfen, es war schließlich das erste Mal, dass Frank sich wirklich mit den Menschen im Lager auseinandersetzen konnte. Zumindest die Jägertruppe schien gar kein so schlechter Haufen zu sein. Franks Gedanken wanderten zu seiner Jugend in Middenheim und zu den Menschen, mit denen er sich dort umgetrieben hatte. Es waren teilweise viel unangenehmere Charaktere gewesen als die, in deren Gesellschaft er jetzt war. Damals war er immer auf der Suche nach einer Gelegenheit gewesen, einer Möglichkeit auf leichtem Wege ein paar Münzen zu verdienen, auch wenn verdienen wohl kaum das richtige Wort war. Es fiel Frank damals jedoch nicht schwer seine Einbrüche, seine Raubzüge, die Erpressungen und die Schlägereien zwischen den Banden als gut und rechtens einzuschätzen. Es ging um seine Familie. Immer. Man wird nicht reich auf den Straßen, man findet gerade genug. Und die Männer, die sie ihres Eigentums entledigten hatten, hatten selbst zu viel, fast immer.
    „Frank!“
    Ein Mann duckte sich unter das Holzdach. Er trug Riemen über der Brust.
    „Yorrick will dich sprechen. Jetzt.“, sagte er.
    Sein Gesicht war ernst. Das Gespräch der Jäger war abrupt erstorben, man tauschte vielsagende Blicke aus. Frank ließ es sich nicht zwei Mal sagen und stand auf.
    „Viel Spaß!“, rief ihm der alte Jäger hinterher.
    Frank eilte durch den strömenden Regen und vor der Tür bestand der Mann darauf, dass Frank sich die Zeit nahm die Füße abzutreten. Im Haus war es warm und trocken. Der Riemen reichte ihm ein Tuch, bedeutete ihm seine Kleider zu trocknen. Danach deutete er auf seine Schuhe.
    „Wirklich?“, fragte Frank.
    Der Riemen stemmte die Hände in die Hüften.
    „Du kannst es gerne Leto erklären. Er kann Ausreden wirklich gut leiden, musst du wissen.“
    Mit einem Seufzen gab sich Frank geschlagen und zog die Schuhe aus. Er gab sich bewusst widerspenstig, um sich selbst aufzubauen. Das mulmige Gefühl im Magen und das Wissen, gleich auf Yorrick und Leto zu treffen, war jedoch nur schwer wegzudenken. Vielleicht war auch Erik dort.
    „Zufrieden?“, fragte Frank.
    Der Mann führte ihn zu einer Tür. Es war das gleiche Zimmer, in dem Frank schon seine eigene Feuertaufe bestanden hatte. Der Riemen öffnete die Tür, schob ihn hindurch und schloss sie wieder hinter ihm. Leto saß in der Mitte des Raumes, den Oberkörper frei, seine gewaltigen Muskeln sichtbar. Quer über seinen Schoß lag ein Stock, armlang, die Hände hatte er hinter dem Kopf zusammengeschlagen. Yorrick stand in einer Ecke und Erik saß, kauerte vielmehr, auf einem Stuhl Leto gegenüber. In seiner Hand klammerte er die kleine Schnitzerei von Frank, sein rechtes Bein endete in einem dicken Verband und er zitterte kaum merklich. Es kostete Frank all seine Kraft Leto ins Gesicht zu blicken, die Fassung zu wahren und seine Worte zu hören.
    „Hast du gewusst...“, sagte Leto bedächtig, „...dass der Bursche ein Alchemist ist?“
    Frank zuckte mit den Schultern.
    „Mit diesem zarten Alter, ein Alchemist, der die Wunder der Essenzen kennt!“
    Leto seufzte und legte seine Pranke auf den Stock.
    „Frank, du weißt ja selbst, wie sehr ich es verabscheue, wenn man mich anlügt. Ich habe einfach eine Liebe zur Wahrheit!“
    Er hob entschuldigend die Hände. Dieses Bild, von diesem muskelbepackten Mann, der sein Bedauern beteuerte und Unschuld vorgaukelte, es passte so gar nicht. Yorrick betrachtete Frank unterdessen mit prüfendem Blick. Frank konnte sich nicht helfen, als die Rechte zu einer Faust zu ballen, zu groß war seine Anspannung.
    „Weißt du, warum du hier bist?“, fragte Yorrick plötzlich.
    Frank zuckte mit den Schultern und gab sich gleichgültig. Yorrick kam aus der Ecke und trat neben Leto.
    „Dein Mitreisender – er ist doch dein Reisegefährte, nicht wahr? Er sagt, er wollte hier im Kessel in die Lehre gehen. Hat er davon erzählt?“
    Leto war nicht begeistert, dass Yorrick seinen Monolog unterbrochen hatte und gab seinem Untergeben einen kritischen Blick. Jeder andere hätte vermutlich seinen Kopf verloren, Leto so zu unterbrechen.
    „Da nun eh die Katze aus dem Sack ist...“, sagte Leto. „...ich mag es nicht, unnütze Mäuler zu stopfen und ich werde das Gefühl nicht los, dass hier jemand ganz besonders nützlich sein will! Wenigstens konnten wir uns darauf einigen, dass er kein Alchemist ist, nur ein Lehrling.“
    Er klopfte zwei Mal mit dem Stock gegen sein Stuhlbein. Holz traf auf Holz und Erik zuckte. Franks Miene wurde zu Stein, er spürte Druck und Hitze in seiner Brust aufwallen.
    „Kinder und ihre Lügen, nicht wahr?“, sagte Leto gedankenversunken.
    Sein Blick ging durch Erik hindurch doch seltsamerweise ohne drohend oder feindselig zu sein.
    „Er kann Seife herstellen!“, sagte Leto dann mit plötzlicher Begeisterung.
    Der Hüne stand auf, den Schlagstock in der Hand. Franks Herz ging schnell, er beugte die Beine, bereit einzugreifen. Leto wandte sich um und ging nicht zu Erik, er ging zu einem Fenster und öffnete es. Das Prasseln des Regens erfüllte den Raum. Frank löste sich aus seiner gespannten Haltung und atmete tief durch. Yorrick sah Frank lange an, mit ausdruckslosem Blick und Frank, er hatte es nicht einmal gemerkt, senkte seine Hand wieder, die er gerade an den Griff seines Dolches gelegt hatte. Leto winkte Frank heran, er lehnte am Fenstersims und hatte die Arme verschränkt. Frank gab sich einen Ruck und ging herüber. Er stand einen Schritt von ihm entfernt, doch Leto winkte ihn noch näher heran. Er stand jetzt neben dem Mann. Der Mann, der gerade noch seinen Bruder geschlagen hatte. Eine Handbreit dünne Luft trennte sie voneinander. Frank konnte ihn riechen. Lavendel und Süßdistel.
    „Unser Alchemist hier hat eine Liste geschrieben.“
    Letos Stimme war flach und kaum zu verstehen über das Rauschen des Regens.
    „Ich will dir eine Gelegenheit bieten, dich zu beweisen. Du wirst nach Neigenbau gehen. Wir brauchen ein neues Gesicht, jemanden, den die Wachen nicht kennen. Alles weitere sagt dir Yorrick.“
    Frank nickte steif.
    „Du riechst nach Schweiß.“, sagte Leto und rümpfte die Nase.
    Er wedelte mit der Hand und eilig trat Frank beiseite. Es kratzte ein wenig an Franks Stolz, wie er sich vor dem Banditenführer so unterwürfig gab, doch er unterdrückte jeden aufmüpfigen Gedanken. Ohne seinem Bruder einen Blick schenken zu können, folgte er Yorrick. Vor der Tür wartete der Riemen, der ihn hergeführt hatte und die Frau, die Frank schon beim letzten Mal gesehen hatte. Ihr Kopf war gesenkt, sie hielt einen Bottich, einen Waschlappen und dreckige Kleider in den Händen. Hinter der Frau stand der blonde Junge, den sie ins Haus gebracht hatten. Er war fast nackt und frisch gewaschen. Seine wachen Augen huschten umher. Yorrick wies den Mann an, Erik auf ein Zimmer zu bringen und dann den blonden Jungen zu Leto. Dann führte er Frank in ein Nebenzimmer. Es war leer. Bretterboden, kahle Wände und ein Fenster. Urplötzlich packte Yorrick Frank am Kragen und presste ihn gegen die Wand. Frank wehrte sich und war kurz davor Yorrick seine Faust ins Gesicht zu schleudern.
    Halt still!“, zischte der Banditenhauptmann. „Erik ist dein Bruder. Ich weiß es.“
    Frank erstarrte, doch seine Augen blitzten gefährlich.
    „Er ist dein Bruder und das ist ein Problem.“ Yorrick sprach mit eindringlichem Ton. „Leto hat es nicht gerne, wenn man weitere Allianzen neben ihm hat. Verstehst du das?“
    Frank biss die Zähne zusammen und nickte. Yorrick ließ ihn los, machte ein paar Schritte, schüttelte aufgewühlt den Kopf und rieb sich die Narbe auf seinem kahlen Schädel.
    „Wir können dich gut gebrauchen, Frank. Deine Fähigkeiten könnten sehr wichtig sein für das Lager.“
    Frank schnaubte abfällig. Sein Zorn war kaum mehr zu bändigen, Stolz und Trotz wühlten ihn auf. Sie hatten seine Familie angegriffen, geschlagen und geschunden.
    „Ihr könnt mich gebrauchen?“, sagte Frank und seine Stimme war voller Gift. „Ich soll nützlich sein, wie dieser fette Haufen Scheiße es da drinnen gesagt hat?“
    „Wir haben deinen Bruder.“
    Yorricks Augen waren nicht bösartig, nur kalt.
    „Es weiß nicht jeder.“, sagte er. „Es muss auch nicht jeder wissen. Leto selbst zum Beispiel. Oder Greg.“
    Frank starrte ihn an. Sein Mund wurde zu einem dünnen Strich.
    „Wenn es nach mir geht, dann bleibt das unter uns.“, sagte Yorrick. „Du machst deine Arbeit, die Arbeit, die wir dir geben. Du machst keinen Ärger und ich mache dir keinen.“
    Yorrick bot ihm die Hand. Frank sah auf sie hinab und gab dann seinem Gegenüber einen eindringlichen, misstrauischen Blick.
    „Ehre unter Dieben, was?“, spottete Frank.
    Yorrick zuckte mit den Schultern. „Besser eine Hand geschüttelt -“
    „-als Spucke im Gesicht. Ich kenne das Sprichwort.“, unterbrach ihn Frank.
    Also schlug Frank ein.
    „Du könntest gut ins Lager passen, Frank. Zugegeben, der Umgang ist rau, aber es gibt einige vernünftige Männer hier. Mit deinen Fähigkeiten könntest du schnell aufsteigen.“
    Frank schüttelte den Kopf. „Solange ich meine Ruhe habe bin ich glücklich.“
    Yorrick öffnete ihm die Tür.
    „Jeder Mann will etwas.“, sagte Yorrick. „Ruhm oder Reichtum oder Frauen, die meisten sind bloß zu feige.“
    Er führte ihn zur Tür, wo Frank sich wieder die Schuhe anzog.
    „Lieber feige als tot.“, brummte Frank mehr für sich selbst.
    „Ha! Das sollte eigentlich mein Leitspruch sein!“
    Yorricks kehlige Stimme hatte das erste Mal einen freudigen Anklang.
    „Wieso das?“, sagte Frank.
    „Ein andermal, Frank, wir haben alle unsere eigene Geschichte hier im Kessel. Geh zum Haupttor. Ihr brecht auf, sobald der Regen abnimmt.“
    „Ihr?“, sagte Frank verwundert.
    „Du kriegst einen Führer. Hier.“
    Yorrick reichte ihm einen Zettel, es war eine Liste, eindeutig aus der Handschrift seines Bruders und dazu einen dicken ledernen Kapuzenmantel.
    „Das ist gegen den Regen. Behalte ihn, sieh es als kleinen Vorschuss für deine Arbeit. Wir bezahlen unsere Männer, immer im Maß zu ihren Leistungen. Bring alles mit, was auf der Liste steht. Alles, verstanden?“
    Frank würdigte ihn keines Blickes und trat ohne Verabschiedung hinaus in den Regen. Er streifte den Kapuzenmantel über und stapfte durch den Schlamm, vorbei an den Jägern, die ihn neugierig beäugten. Frank sah die Kampfgrube, wo das Wasser knietief stand und durch die verschiedenen Gänge ablief. Er verließ den oberen Ring, dort unten war der Boden nur noch schlimmer. Zuweilen sank Frank bis zu den Knöcheln in den Matsch ein. Er kam zum Haupttor, wo ein paar Männer im Trockenen unter dem Wehrgang standen. Zwei von ihnen kannte Frank. Theo, der Laufbursche des Lagerkochs und Greg, der Schläger. Er verrenkte seinen schiefen Kiefer zu einem hämischen Grinsen.
    „Ah, unser berühmter Aufsteiger! Na, genießt du deine neue Stellung bei uns?“
    Frank bemerkte, dass Greg Lederriemen trug und ein paar Fetzen Tierfelle auf den Schultern festgemacht hatte. Bisher hatte er darauf verzichtet die Statussymbole zur Schau zu tragen.
    „Was macht das Bein?“, fragte er und legte seine Hand auf die Peitsche, die in seinem Gürtel steckte.
    Frank nickte ihm zu, als hätte Greg ihn lediglich gegrüßt.
    „Ich soll mich am Haupttor melden. Es geht nach Neigenbau, sagt Yorrick.“
    Greg starrte ihn wild an. „Du sollst nach Neigenbau?“
    Er schrie beinahe. Sein Kiefer mahlte schon wieder und Frank musste sich krampfhaft das Grinsen verkneifen. Er versuchte seine Freude mit einem ratlosen Nicken zu verbergen. Die anderen drei Männer, ihrer Ausrüstung nach zu urteilen Stiefel, sahen keine Not einzugreifen.
    Du gehst ganz sicher nicht nach Neigenbau!“, zeterte Greg. „Du bist doch nicht mal einer von uns!“
    Die Stiefel ignorierten Greg weiterhin, während einer zu Theo und Frank herüberkam. Doch Greg war noch nicht fertig.
    Die Beiden?“, geiferte er. „Nicht mit mir!“
    Er zog seine Peitsche und entrollte sie mit einer geschwungenen Bewegung.
    Greg!“, brüllte einer der Stiefel. „Letos Befehle! Die beiden gehen. Such dir ein anderes Opfer!“
    Der Stiefel und der Riemen stierten sich an. Gregs Kiefer mahlte, während er vor Wut schnaufend seine Peitsche wieder aufrollte.
    „Wir haben noch ein Wörtchen miteinander zu reden!“, spie Greg Frank an. „Ich freu mich drauf, wenn du erst zurückkommst.“
    Und ich mich erst, sagte Frank im Stillen.
    „Ach verpiss dich einfach, Greg!“, sagte einer der Stiefel und rollte genervt die Augen.
    Der Prügelknabe hat also auch seine Gegner im Lager, dachte Frank.
    Hätte Frank selbst einen gewissen Status, könnte er ihm jetzt die Stirn bieten. Nicht nur das, er könnte es ihm sogar heimzahlen. Der Stiefel schickte sie fort. Theo ging sofort los, duckte sich an Greg vorbei und Frank verabschiedete sich von dem unbeliebten Schläger mit einem freundlichen, verständnisvollen Lächeln, als wären sie beste Freunde. Er würde später einen Preis dafür bezahlen müssen, da war er sich sicher, doch er genoss es zu sehr, wie die fadenscheinige Macht von Letos Bluthund sich nun in Luft auflöste. Theo, der Laufbursche, führte Frank den unteren Ring entlang, vorbei an den maroden Hütten. Einige der Behausungen waren eingefallen, denn der Regen hatte den Erdboden aufgeweicht und zugleich das Holz niedergedrückt. Sie kamen zum Marktplatz und dort, unter dem großen Überdach, lungerte ein großer Teil des Lagers. Die Konstruktion war sicher zwischen dem Erdwall des oberen Ringes und der äußeren Palisade verankert und hielt so dem tagelangen Regen stand. All die Männer ohne Dach über dem Kopf hatten hier einen Unterschlupf gefunden und es waren nicht gerade wenig. An einer Feuerstelle drehte sich ein Schwein an einem Spieß, man spielte Würfelspiele und ein alter Mann hatte ein kleines Publikum um sich versammelt. Er erzählte Geschichten. Frank schnappte die Namen von Sorszu und Nafeley auf; es war die Geschichte eines Liebespaars, zwei Gesetzeslose. Vom gemeinen Volk zu Helden erhoben und von den Herrschenden verteufelt, hatten sie zu zweit die Ordnung und Macht der Kaufmannsgilden an der Sichelküste erzittern lassen. Doch ihre Geschichten lagen in ferner Vergangenheit und ihr Wahrheitsgehalt war zweifelhaft, gefärbt durch die Träume des kleinen Mannes nach Freiheit und Gerechtigkeit. In manchen Versionen war Nafeley eine Severim und Sorszu ein Nordmar, in manchen nicht, abhängig vom Erzähler. Doch letztlich endete der Pfad der Liebenden, wie der eines jeden Aufwieglers: Am Ende eines Stricks. Doch die Sagen und ihre Verheißungen blieben und hier im Lager fanden sie nahrhaften Boden. Theo führte sie zu einem gedrungenen Lagerhaus und klopfte vorsichtig an der Tür. Eine unwirsche Stimme befahl ihnen einzutreten. Das Haus war gefüllt bis zum Rand, Kisten und Fässer stapelten sich bis zur Decke und zu seiner Linken saß ein Mann an einem Schreibtisch. Er hatte die Hände zusammengefaltet und sah Frank über seine spitze Nase mit durchdringendem Blick an.
    „Na, was wollt ihr?“ Sein Ton war überheblich und näselnd. „Mal gucken, was ihr mitnehmen könnt?“
    „Ich soll nach Neigenbau. Yorrick schickt mich.“, sagte Frank.
    Der Mann hob die Brauen und kramte Feder, Tintenfass und eine dicke Rolle Papier aus dem Schreibtisch hervor. Er wickelte die Bundschnur auf, entrollte das Papier und kritzelte etwas am unteren Ende einer langen Liste.
    „Name?“
    „Frank“
    „Rang?“
    „Bin neu hier“
    „Freier Mann heißt das hier. Warum muss ich das für euch immer übersetzten, hm?“
    Sein kritischer Blick ruhte auf Frank, der keine Antwort auf diese Frage wusste und bloß ratlos den Kopf schüttelte.
    „Ungebildete...“, murmelte der Mann und kritzelte noch etwas.
    Er verstaute das Dokument in einer Schublade, faltete die Hände und fuhr in bester schulmeisterlicher Manier fort:
    „Du bist freier Mann. Du wirst mit zwei Prozent, das heißt einem von fünfzig Teilen, an der überbrachten Ware beteiligt. Der Schätzungswert der Lieferung beträgt...“, der Mann schlug ein Buch auf und fuhr mit dem Finger die Zeilen herunter, „...vierzehn Taler und fünf Groschen. Dein Anteil beträgt drei Groschen. Bringst du zu wenig zurück...“, er klappte das Buch zu, dass es knallte, „...gibt´s auf die Finger! Gesetzt dem Fall man hackt sie dir nicht ab. Verstanden?“
    Frank nickte gehorsam.
    „Wie viel bringst du zurück?“, näselte der Sekretär.
    „Vierzehn Taler und zwei Groschen?“, fragte Frank vorsichtig.
    „Guter Junge!“, sagte der Schreiberling und schenkte ihm ein unechtes Lächeln.
    Frank war erstaunt von der geordneten und genauen Abwicklung der Geschäfte. Dieses Lager war tatsächlich alles andere als ein loser Haufen Pferdediebe. Der Mann hob die Hand und deutete auf eine Tür. Wortlos widmete er sich wieder seinen Schriften. Frank folgte seinen Anweisungen, durchquerte das Lager, Theo hinterdrein und sie betraten einen kleinen Schuppen. Ein Karren stand dort, und ein junger Kerl lud gerade pralle Säcke auf. Man hatte ein Maultier eingespannt. Frank bemerkte das rote Band am Arm des Mannes. Er war barfuß und trug auch sonst nur zerschlissene Kleider. Er lud den letzten Sack auf und reichte Theo eine Rute.
    „Wer von euch geht in die Stadt?“, fragte der Mann.
    Theo deutete auf Frank, worauf der Packer ihn kritisch beäugte, zur Wand hinter dem kleinen Wagen ging und aus einer Reihe verschiedener Hüte einen auswählte. Es war ein breiter, etwas zerfranster Strohhut.
    „Du bist jetzt ein Bauer.“, sagte er und warf Frank den Hut hinüber.
    Frank betrachtete argwöhnisch die Kopfbedeckung zwischen seinen Händen.
    „Und das soll die Stadtwache überzeugen?“, fragte Frank.
    „Nun ja, wenn du den Kopf etwas hängen lässt, genauso wie die Mundwinkel...“
    Der Mann nahm eine Lederplane von der Wand und breitete sie über die Säcke aus. Danach nahm er ein Seil und begann die Ware festzuzurren. Als er damit fertig war, stütze er sich aufs Wagenrad und sah Frank ernst an.
    „Ich hab dich hier noch nie gesehen. Ist es dein erstes Mal nach Neigenbau?“
    Frank nickte.
    „Ich nehme mal an, keiner von den Waschlappen hat dir geschildert, wie das Ding abläuft?“
    „Nein“
    „Großartig. Sauhaufen. Wollen dich testen!“
    Er wedelte drohend mit dem Zeigefinger. Frank setzte den Hut auf und der Mann grinste ihn breit an.
    „Ha! Als würdest du gerade vom Acker kommen! Warte hier, bin gleich wieder da.“
    Er öffnete das Tor zum Markt und verschwand. Frank umrundete den Wagen schob einen Vorhang unter den Hüten beiseite und blickte auf das, was man wohl die Umkleide des Banditenlagers nennen konnte: Eine Reihe von Umhängen und Übermänteln, verschiedene Schuhe, eine schwarze Hose, zwei Gehstöcke und nicht zuletzt die Auswahl von Kopfbedeckungen. Frank hängte seinen Strohhut wieder auf und entschied sich für eine einfache Lederkappe. Sie passte gut zu seinem Ledermantel und er schnappte sich noch den schlichteren der beiden Gehstöcke. Es dauerte nicht lange und der Mann kehrte mit einem weiteren Sack auf dem Rücken. Dieser war schwerer und praller als die restlichen paar. Keuchend hievte er ihn auf den Wagen und klemmte ihn unter die Lederplane.
    „Das...“, sagte er zwischen angestrengten Atemzügen, „...sind die Rüben. Wenn man dich fragt, zeigst du ihnen diesen Sack. Ganz simpel!“ Er musterte Frank von oben bis unten. „Du hast dir andere Sachen angezogen?“
    „Kein Bauer geht mit Strohhut in den Regen. Nach dem ersten Schauer hängt das Ding runter wie ein Lappen. Ein Strohhut es ist ein Sonnenhut.“
    „Ha! Wie ich sehe, habe ich es mit einem erfahrenen Betrüger zu tun!“, sagte der Mann und winkte Theo herbei. „Nur zu.“
    Frank richtete seine Kappe und sie verließen das Lagerhaus. Das Tor stand offen, die mächtigen Stämme waren hochgezogen und die Stiefel warteten wachsam auf ihre Abreise. Theo und Frank brachen auf nach Neigenbau.

    Der Regen hielt an. Die Straßen hier waren nicht gepflastert und der Morast haftete mit jedem Schritt etwas dicker an ihren Schuhen. Frank hatte zunächst die Hoffnung gehabt, dass der Wald und die Furt die größten Hindernisse sein würden, doch da hatte er sich gründlich geirrt. Immer wieder stemmten sich Theo und Frank gegen den Wagen, immer wieder zogen sie ihre Füße aus dem tiefen Matsch und das Maultier mit ihnen zog und zog. Immerhin hatte Theo ein Händchen für den Esel und er bockte fast nie. Einen Vorteil hatten die Mühen schließlich trotzdem: Frank hatte nun einen groben Überblick über die Lage, die obere Neige und Tanneck. Der Pfad war gut getarnt und die Büsche, Kräuter und Farne, die über ihm hingen, hatte man nicht abgeschlagen. An der Furt hatte sie eine Gruppe von Stiefeln kontrolliert und Frank hatte nun zumindest eine grobe Ahnung, wo der Außenposten des Lagers zu finden war. So einfach würde niemand die Banditen überraschen können. Als der Wald sich schließlich lichtete, erklommen sie eine Hügelkuppe. Die Aussicht war ernüchternd grau, diesig und verregnet.
    „Wie weit noch, sagtest du?“, rief Frank gegen das Trommeln des Regens.
    „Dieser Hügel noch.“, entgegnete Theo. „Dann sind wir bei einer Köhlerei.“
    Theo kämpfte mit seinem Mantel und der Wind presste ihm den nassen Stoff ins Gesicht. Von der Kuppe hinab war es leichter voranzukommen, doch bald kämpften sie wieder mit der schlechten Straße. Sie nahmen inzwischen keine Rücksicht mehr auf ihre Kleider. Der Dreck war überall und das Regenwasser wusch wenigstens das Gröbste weg. Es war kalt, den feuchten Stoff auf der Haut zu spüren, doch solange sie weiterkamen, solange sie sich abmühten blieben sie warm. Der Feldweg beschrieb eine Biegung. Eine Reihe großer Eichen stand am Wegesrand und der Boden wurde fester. Dann sahen sie die schemenhaften Umrisse eines breiten Hauses. Sie passierten mehrere, kreisrunde Kohlemeiler, wo schwarzes Brackwasser aus den Öffnungen der gedrungen Steinmauern sickerte. Theo ging voran. Er deutete auf ein großes Vordach. Gelber Schein drang darunter hervor. Der Bursche trieb den Esel schneller an und sie machten endlich den letzten Schritt ins Trockene. Die Erleichterung war großartig und sie ächzten und stöhnten, wie sie ihre Kleider abstreiften, den Stoff auswrangen und die schweren Mäntel zum Trocknen aufhängten. Sie banden den Esel an einen Stützbalken, schoben den Karren in eine Ecke des Schuppens und sahen sich um. Überall war schwarze Staub von Holzkohle zu sehen, an den Balken, den Wänden und auf dem Boden. Frank bemerkte die drei Männer, die auf einer Bank vor einer Hauswand saßen. Ausdruckslos blickten sie zu ihnen herüber. Alle drei hatten sie eine Pfeife im Mund, pafften dicken Rauch. Sie waren unterschiedlichen Alters und als Frank sie grüßte, nickten sie zurück, perfekt gleichzeitig, wie abgestimmt, und verloren auch schon das Interesse.
    „Wir sollten hier nicht lange bleiben.“, murmelte Theo mit einem misstrauischen Blick zu den drei Köhlern.
    Frank fröstelte. Die Kälte kroch ihm in die Knochen, jetzt, wo sie nicht mehr mit Karren und Maultier rangen. Er ignorierte Theo und ging zu den Männern hinüber.
    „Mir klappern die Zähne, können wir ein Feuer machen?“, fragte er sie.
    Sie sahen ihn an und schüttelten wie auf Kommando gleichzeitig den Kopf. Der Mann in der Mitte gab dem jüngsten der Drei einen Stoß in die Rippen. Er nickte zur Tür. Der Jüngste reichte seine Pfeife an seinen Nachbarn, verschwand im Haus und erschien wieder mit einer grob geflochtenen Decke. Er reichte Frank den dreckigen Stoff, murmelte unverständliche Worte, seine Stimme klang rau und verbraucht, und setzte sich wieder. Der Mann erhielt seine Pfeife zurück. Wieder in eigenartigem Einklang nickten die Drei Frank zu. Frank nickte etwas verstört zurück, gesellte sich wieder zu Theo und sie setzten sich auf die Kante des Karrens. Die Decke reichte für sie beide. Wasser trommelte auf das Dach, plätscherte hinab vereinte sich in kleinen Strömen. Es war ein angenehmes Geräusch, solange man selbst trocken und sicher war.
    „Köhler“, sagte Theo mit einem verstohlenen Lächeln. Er redete leise. „Eigenartige Menschen. Verbringen ihren Lebtag damit in den giftigen Schwefeldämpfen auf ihren Meilern herum zu klettern. Schüren die Glut, ersticken sie oder schälen die Erde von ihrer Ware und werden dabei jede weitere Stunde ein bisschen mehr...“ Theo kratzte sich am Kopf. „Ein bisschen dümmer ist falsch. Sie werden anders, irgendwie... sagen wir seltsam! Das ist das richtige Wort!“
    Frank hatte es der beschwerlichen Reise wegen vergessen, dass Theo ein so redseliger Geselle war.
    „Einmal traf ich einen, der langsamer, als die langsamste Schnecke geredet hat. Ein anderer hat nur einzelne Wörter gesagt! Der hat auch ständig geblinzelt, mit seinem unruhigen Blick und ständig flatterten seine Augenlider! Seltsame Menschen.“
    Sie sahen hinüber zu den Männern. Sie hatten die Arme verschränkt. Die Pfeifen waren verbraucht, doch sie steckten trotzdem noch in ihren ausdruckslosen Mündern. Frank sah zu seinem Begleiter.
    „Theo“, sagte Frank.
    Mit wachem Blick sah Theo ihn an.
    „Ja?“
    „Du bist ein Neuling, richtig?“
    Theo nickte.
    „Warum darfst du dann das Lager verlassen?“
    Theo grinste wieder. „Weil ich schon lange dabei bin.“, sagte er stolz. „Noch bevor sie die Arena hatten. Seit zwei Jahren, immer beim Koch. Ab und an als Botenjunge, wie du siehst.“
    „Du bist seit zwei Jahren dabei und du trägst noch immer die rote Binde?“, sagte Frank überrascht.
    Theo schüttelte den Kopf. „Wie mein Meister sagt: Der Kochlöffel ist der längste Hebel im Lager! Außerdem will Leto, dass der Laden läuft. Wir stehen nämlich unter seinem Schutz!“ Theo senkte den Kopf. „Ehrlich gesagt, ich will gar nicht mitmischen. Mit den Ellenbogen nach oben drängeln... Da kriegt man nur aufs Maul, bis man wieder unten ist oder man schafft´s bis an die Spitze, aber dann hat man ganz sicher schon Blut an den Händen. Nein, danke! Ich krieg mein Essen, ich mach meine Arbeit und lass es mir gut gehen!“
    Frank nickte verständnisvoll. Es wäre nicht seine Wahl, aber es war gut nachzuvollziehen. Dennoch, es gab auch noch andere Mittel als rohe Gewalt, um sich nach oben zu kämpfen.
    „Zwei Jahre sind eine lange Zeit.“, sagte Frank.
    Theo nickte eifrig. „Damals war das Lager noch vollkommen anders. Das Haus von Leto – das war schon davor da. Der ganze Rest – Leto und ein paar Jungs haben es aufgebaut. Haben den Wald abgeholzt, die Palisaden gebaut, das Tor, der große Wasserbottich, der das ganze Lager versorgt. Alles Leto und seine Jungs! Die meisten sind jetzt Stiefel, allesamt harte Burschen. Leto hatte schon damals einen Plan.“
    Theo schürzte die Lippen und schwieg. Frank nutzte Theos redselige Art vollkommen aus, er war sich dessen bewusst. Direkt nach Letos Absichten zu fragen war jedoch zu riskant.
    „Warum bist du dazu gekommen?“, fragte Frank.
    „Die haben mich verschleppt. Sie bräuchten mehr helfende Hände, haben sie gesagt. Natürlich haben sie mir gedroht, aber wenn man seine Arbeit macht, dann wird man in Ruhe gelassen. Damals waren es noch nicht so viele. Höchsten fünfzig Mann. Es gab auch noch keine Ränge, nur die roten Bänder für die Neulinge.“
    „Wann kamen die Ränge?“
    „Das war Yorricks Idee, im vorletzten Winter. Das gab ganz schön Ärger, als das anfing! Alle wollten sie Stiefel sein, die guten Schuhe, die Waffen und die Rüstung und keiner wollte unten sein. Aber Leto und Yorrick haben gut gewählt, wenn du mich fragst. Das Lagerhaus, die Wachposten, die Arena, der Jagdtrupp, die Küche...“, Theo wackelte mit den Augenbrauen, „...alles läuft wie am Schnürchen. Weil Leto und Yorrick das im Griff haben!“
    Frank sah seine Gelegenheit. „Warum der ganze Aufwand?“, fragte er nachdenklich.
    Theo knetete die Hände und schüttelte den Kopf. „Ein bisschen Ordnung muss sein...“ Theo haderte mit sich. „Leto hat das Lager aufgebaut, weil er keine Lust mehr hatte den Rücken krumm zu machen. Nicht für einen mageren Happen Trockenbrot, nicht für irgendeinen reichen Geldsack, nicht für irgendwen. Er hatte in den Kohleminen im hohlen Zahn geschuftet, musst du wissen. Bis zum Einsturz, dann hatte er genug. Jetzt macht er sein eigenes Ding!“
    Frank öffnete den Mund, wurde aber von Theo unterbrochen.
    „Vergiss es, ich will keine Probleme! Ich weiß von nichts und hab dir auch nichts erzählt!“
    Frank blickte Theo auffordernd an. Theo war viel zu leicht kleinzukriegen.
    „Sagen wir einfach, Leto hat mit den reichen Säcken in Neigenbau abgeschlossen! Mehr kriegst du aus mir nicht raus, verstanden?“
    Theo wandte sich ab und es machte ein wenig den Eindruck eines trotzigen Kindes. Der Regen hatte etwas abgenommen, das Trommeln der Tropfen wurde etwas leiser.
    Frank seufzte. „In Ordnung. Ist vergessen. War nur neugierig.“
    „Wir sollten gehen“, sagte Theo.
    „Sollten wir“, sagt Frank und stand auf.
    Frank brachte die Decke zu den drei Männern, die sich gerade gleichzeitig neue Pfeifen stopften. Der Jüngste deutete auf einen Nagel an der Hauswand und Frank hängte die Decke auf, bedankte sich und wandte sich zum Gehen, bevor er wieder die Männer mit ihren unheimlichen gemeinsamen Bewegungen beobachten musste.
    Als wären sie eine Person, dachte Frank.
    „Der Herbst kommt“, sagte einer plötzlich.
    Seine Stimme war kratzig bis zur Unkenntlichkeit. Frank drehte sich um und lächelte schief.
    „Gut anziehen!“, sagte ein anderer.
    „Regnet jetzt öfter“, sagte der Letzte.
    Sie nickten im Einklang.
    „Ja“, sagte Frank, seine eigene Stimme war plötzlich auch ganz trocken. „Keine Zeit“, sagte er und eilte zum Karren.
    Theo hatte den Esel schon vorgespannt und stand bereit. Die Lebhaftigkeit des Kochgehilfen war durch Franks Nachfragen nun etwas erstickt, also setzten sie stumm ihre Reise fort, dieses Mal jedoch zumindest auf einer Pflasterstraße. Der Regen nahm weiter ab. Dicken Tropfen blieben aus und ein beständiger Nieselregen gewährte ihnen zumindest eine gewisse Aussicht, bevor die grauen Schwaden den Horizont verschleierten. Sie kamen gut voran und es dauerte nicht lange bis Häuser zu beiden Seiten den Weg säumten. Gärten, Beete und kleine Viehställe schlossen an die gedrungenen Behausungen an. Dann, unerwartet und plötzlich, erhob sich zu ihrer Rechten eine steinerne Mauer aus dem grauen Dunst. Die Straße führte sie nach links und die Fachwerkhäuser wurden dichter. Sie kamen an kleinen Geschäften und Handwerksläden vorbei. Schreiner, Weber, Schuhmacher und Fassbinder. Die Straße war jedoch nahezu menschenleer. Nur gelber Kerzenschein durch Spalten geschlossener Fensterläden deutete auf das Leben in den Häusern hin.
    „Das ist Neigenbau?“, fragte Frank.
    Theo nickte und deutete auf die Mauer. „Dahinter.“
    Sie gingen ein Stück und schwiegen, bis Theo sagte:
    „Geht mich ja nichts an, aber was ist eigentlich in dem Umschlag?“
    Frank winkte ihn hinüber und führte sie ins Trockene eines Hauseingangs. Er holte den Lederumschlag hervor. Auch der war nicht vom Wasser verschont geblieben. Behutsam öffnete er einen Knopf und schlug er das Leder auf. Zwei gefaltete und zu seiner großen Erleichterung noch trockene Papiere waren darin. Auf dem einen war die Liste von Erik, auf dem anderen eine Karte. Neigenbau prangte es in großen Lettern darauf, die Zeichnung war erstaunlich detailreich. Das Straßennetz, die Stadtmauer und das nochmals ummauerte obere Viertel, verschiedene Mühlen an der Neige, die Anwesen außerhalb der Stadtgrenze, alles war mit äußerst spitzer Feder abgebildet worden. Theo machte große Augen und zog sich den Überwurf vom Kopf.
    „Sie ist wunderschön! Kann ich sehen?“, fragte er.
    Frank übergab ihm das grobe Papier.
    „Sebastian gibt seine Werke nicht so einfach aus der Hand!“, sagte Theo ehrfürchtig.
    „Wer?“
    Theo zeigte auf die untere Ecke der Karte. ‚Sebastian Wegeweh, Kartenzeicher‘, las Frank dort.
    „Irgendjemand...“, sagte Theo und sah Frank neugierig an, „...will, dass du das nicht vermasselst.“
    Frank zuckte bloß mit den Schultern.
    „Gib mir mal die Liste!“ Theo studierte sie und legte die Stirn in Falten. „Du musst zu einem Kesselflicker, davon gibt es genug in der Stadt. Und du musst zum Glasbläser, da gibt es nur einen, in der Handgasse, und der ist teuer.“ Theo rieb sich das Kinn. „Hier drüben ist unser Hehler, er nimmt dir deine Ladung ab. Er hat seinen Laden in der Suppe, so nennen sie das Armenviertel.“
    Er suchte mit dem Finger im wirren Netz der Straßen.
    „Hier, nicht weit von der Wächterkirche! Das Gebäude ist nicht auf der Karte eingezeichnet, aber er hat einen Schriftzug in Arbu über der Ladentür, du wirst es erkennen.“
    Arbu war die Sprache der Severim, er hatte es also mit einem Mann des Südens zu tun. Frank nahm Karte und Liste wieder an sich.
    „Dann los.“, sagte er. „Bringen wir es hinter uns.“
    Theo schüttelte den Kopf. „Du bringst es hinter dich. Ich kehre hier um.“, sagte er.
    „Ich dachte du zeigst mir den Weg?“, sagte Frank.
    Doch Theo schüttelte wieder den Kopf.
    „Du hast ja die Karte. Außerdem, mich könnte man erkennen – dich nicht.“
    Frank nickte langsam und Theo lächelte ihm aufmunternd zu.
    „Wir sehen uns im Lager.“, sagte Theo mit einem freudigen Grinsen. „Viel Glück!“
    Schon wandte er sich um, zog seine Kapuze hoch und verschwand die Straße hinunter. Also ging Frank alleine los, die Mauer entlang. Rumpelnd fuhr der Karren an. Das Wetter besserte sich, bis es lediglich ein leichter Sprühregen war, der sein Gesicht benetzte. Die Zinnen der Stadtmauer waren nun gegen den gräulichen Himmel erkennbar. Fahler Sonnenschein schien vereinzelt durch Lücken in der Wolkendecke und schließlich erreichte Frank das Stadttor. Links davon erhob sich die Mauer, massiver und mächtiger als bisher. Dort war die Silberfeste, wie sie auf der Karte betitelt war. Ein Wasserspeier neigte seine Fratze in die Tiefe und leitete den Regen in eine große Pfütze neben dem Weg. Rechts des Tors stand ein Gebäude. ‚Zollhaus‘ hieß es schmucklosen Buchstaben über dem Eingang, doch Türen wie Fenster waren mit groben Planken verrammelt. Das Stadttor selbst war verschlossen, ein Sehschlitz war die einzige Öffnung. Die Fahrrinnen, von abertausenden Wagenrädern abgeschliffene Steine, zeugten vom regen Verkehr, der hier sonst von statten gehen musste, bloß blieb er an Tagen wie diesen aus. Frank trat vor den Schlitz und benutzte den eisernen Türklopfer mehrfach. Er wartete, betrachtete er das abgenutzte Metall. Es stellte einen Eber dar, sein Nasenring diente zum Klopfen und das abgenutzte Messing glänzte gülden.
    „Wer da?“, ertönte es unwirsch hinter dem dicken Holz.
    Zwei Augen unter buschigen Brauen erschienen im Schlitz.
    „Sören. Von Onars Hof.“
    „Wer?“, verlangte der Mann barsch.
    „Onars Hof? Sören.“
    „Nie gehört.“
    Frank schnappte sich eine Rübe vom Karren und hielt sie vor den Schlitz.
    „Kennt ihr jeden Bauer im ganzen Tal?“, sagte er. „Ich soll meine Rüben verkaufen. Kann ich jetzt durch?“
    Der Mann grummelte, schloss den Sehschlitz und Frank hörte, wie er das Tor entsperrte. Langsam schwang ein Flügel auf. Frank ließ nicht auf sich warten und führte den Esel hindurch. Der Gang durch das Torhaus war breiter und länger, als Frank vermutet hatte. Die Stadt war reich, oder es zumindest einmal gewesen.
    „Bei dem Wetter bist du unterwegs, um Rüben zu verkaufen?“
    Der Wachmann gab Frank einen fragenden Blick und schob hinter ihm das Tor zu. Frank hob entschuldigend die Arme.
    „Wenn´s nach mir ginge, dann säße ich vor einem warmen Feuer. Aber wenn der Bauer sagt ‚hüpf‘, dann hüpft man eben.“
    Rumpelnd fiel das Tor zu.
    „Ja ja, Arbeit ist knapp.“, pflichtete der Wachmann bei. „Eigentlich sind hier zwei Wachposten. Aber die Stadt hat kein Geld. Was soll man machen?“
    Er schob die dicken Riegel wieder vor die Torflügel und nickte Frank zu.
    „Na dann, ein gutes Geschäft wünsche ich, Sören.“
    Frank verabschiedete sich. Er verließ den Durchgang und betrat sein erstes Mal die Stadt Neigenbau. Der Geruch erinnerte ihn sogleich an seine Heimat. Ein starker Regenguss war ein Segen für eine Stadt, denn der Abfall von Mensch und Tier wurde hinfort gewaschen und der Wind trug den abgestanden Dunst hinfort. Was blieb waren die üblichen Düfte des Stadtlebens. Schlachter, Bäcker und Gemüseläden. Die Häuser, die Tiere und Menschen, das Essen auf den Herden, Holz, Kohle und Eisen in den Werkstätten. Nicht zuletzt auch Schweiß, Blut und Tod. Alles fand man hier oder dort und es vermengte sich, wie die Menschenmassen auf dem Wochenmarkt. Franks Geister erwachten zu neuem Leben. Er fühlte sich aufgeweckt, erfrischt, irgendwie Zuhause, wie er sich in engen Gassen nach zwielichtigen Gestalten umschaute. Er genoss die Vorstellung nur einer von vielen zu sein, ungesehen und unauffindbar in der Menschenmenge. Er war, im Gegensatz zu seinem Bruder, bis aufs Blut ein Stadtmensch. Er fühlte sich von ihr angezogen, um darin unterzutauchen, sich in der Vielfalt einzufinden und so, ungesehen, aber mit offenen Augen, seine Freiheit zu genießen. Eine Welt, in der dich niemand kennt, ist eine Welt ohne Zwang und Erwartungen. Schon in Middenheim war diese Vorstellung voller Verlockung für Frank gewesen und mit Mühe löste er sich aus seinem Schwelgen, es blieb jedoch ein stilles Lächeln. Er orientierte sich mithilfe der Karte und ging weiter, jetzt beschwingteren Schrittes. Er passierte die vielen Wohnhäuser, den Marktplatz und die Handelsbörse, überquerte die Brücke über die Neige. Das klare Gebirgswasser vermengte sich mit dem dreckigen Regen und schoss mit roher Gewalt unter ihm vorbei. Frank sah die Mühlräder, die man hochgestellt hatte, sodass die Kräfte der Neige keinen Schaden tun konnten. Nie hatte er so viele Räder auf einmal gesehen und der Anblick machte ihn stutzig, obwohl er auf der Karte bereits die Andeutungen gesehen hatte. Er erreichte die Grenzen des Armenviertels. Die Suppe machte ihrem Namen alle Ehre. Es war schwer zu sagen, an welchen Stellen es noch eine Pfütze war, oder doch eher ein kleiner, dreckiger Teich. Er nahm sich die Zeit noch einmal die Karte zu studieren, machte den kürzesten Weg aus und stellte sich der letzten Etappe. Er kam keine Zehn Schritte. Der Esel stand bis zum Bauch im Matsch und der Wagen neigte sich, wollte dem Tier in den tiefen Morast folgen. Der Esel begann zu schreien, wehrte sich gegen sein Zaumzeug. Frank bemühte sich zu seinem Lasttier zu kommen, auch er selbst hatte mit dem weichen Untergrund zu kämpfen. Doch er schaffte es und löste das Geschirr, verhinderte, dass der Karren weiter hineingezogen wurde. Der Esel war frei, steckte jedoch immer noch fest und schrie wie am Spieß. Frank versuchte mit aller Kraft den Wagen zurück zu schieben, doch der zähe Matsch hielt sie gefangen. Ein Junge kam herbei, dann ein Gruppe Männer. Ungefragt packten sie an, stemmten sich gegen die Räder und zogen an Seilen. Gemeinsam befreiten sie die Karren. Frank stand vor seinem Wagen und die Runde sah ihn erwartungsvoll an. Die Leute trugen abgenutzte Kleider, ihre Haare waren zerzaust und ihre Hosen besudelt vom Schlamm.
    „Gibt´s hier irgendwo einen Stall?“, fragte Frank.
    Einer der Männer deutete auf einen niedrigen Schuppen ganz in der Nähe. Frank war ein wenig verblüfft der unverhofften Hilfe wegen. Er kannte so etwas nicht von den Menschen aus Middenheim. Im Armenviertel hielt man zwar zusammen, doch nicht zu irgendwelchen dahergelaufenen Fremden. Schon waren die Männer dabei den Esel zu befreien. Das Tier war wieder in Panik und schrie wie am Spieß, doch die Leute warfen sich ohne Rücksicht auf ihre Kleider in den Schlamm und zogen und drückten das Tier mit ihren Leibern aus dem Matsch. Endlich war es befreit. Es schlug gefährlich aus, wollte davonrennen, doch Frank hielt es im Zaum und beruhigte es. Man brachte den Karren und das Tier im Schuppen unter. Wieder standen die Männer da, wortlos und mit großen erwartungsvollen Augen. Frank ließ sich nicht lumpen und machte einen Vorschlag:
    „Meine Sachen...“, er winkte zur Ladung des Karrens, „...müssen zu einem Laden in der Suppe. Ich überlasse euch meine Kohlrüben, ein prall gefüllter Sack, wenn ihr mir helft. Einverstanden?“
    Einer der Männer, ein kräftiger großgewachsener Typ, trat voran, nahm den Sack mit Rüben vom Wagen, stellte ihn zur Seite, schwang sich einen der anderen Säcke auf den Rücken und nickte Frank zu. Auf einen Wink des Mannes hin folgten andere seinem Beispiel. Bevor Frank es sich versah war für ihn selbst keine Ware mehr übrig, also ging er voran und sechs Männer folgten ihm den Rand der Straße entlang. Hier waren Planken ausgelegt, die verhinderten, dass man einsank. Nach einer Weile kam sein Ziel in Sicht. Es war leicht zu erkennen, ein Schriftzug in Arbu prangte über dem Eingang und es war das einzige mehrstöckige Haus zwischen den Ruinen, Bruchbuden und schiefen Hütten. Ein Hehler hatte schließlich das Geld. Sie mussten jetzt nur noch die Straße überqueren, um das Haus zu erreichen. Die Männer gingen voran. Mit den Säcken über den Köpfen bildeten sie eine Schlange, gaben die Ladung weiter und stapelten sie neben dem Hauseingang auf der anderen Seite. Frank bedankte sich, einer der Männer grüßte ihn und die Gruppe zog ab. Mit einem Sack auf dem Rücken stieß Frank die Tür auf und betrat das Haus. Eine Glocke klingelte hell, als ein metallener Stab am Türrahmen gegen das Metall schlug. Frank stellte den Sack ab und wollte gerade den nächsten holen, als jemand den Raum betrat.
    „Mein Herr, mein Herr, nicht so stürmisch!“, sagte er.
    Er hatte einen starken Akzent, südländischer Herkunft. Seine langen, wehenden Gewänder folgten ihm, während er hinübereilte.
    „Darf ich mich vorstellen – Kersim mein Name, zu ihren Diensten.“
    Frank musterte ihn knapp, wie er mit gefalteten Händen und seinen aufwendig bestickten Kleidern vor ihm stand. Sein Hautton war bräunlich, seine Haare schwarz, alles wies auf einen Mann der Wüste, einen Severim hin.
    „Halt die Tür“, sagte Frank.
    Einen Sack nach dem anderen brachte er ins Haus.
    „Kann es sein, dass wir einen gemeinsamen Freund haben?“, sagte Kersim argwöhnisch.
    „Wer? Leto?“
    Hütet eure Zunge!“, zischte er. „Natürlich Leto, wer denn sonst? Habt ihr denn gar kein Feingefühl für die Erzeugnisse eures Mundes?“
    Nervös blickte er aus der Tür. Frank stellte den letzten Sack ab.
    „Dann haben wir tatsächlich einen gemeinsamen Freund.“, sagte er.
    „Dann tretet ein, ich kann euch-“
    „Ich habe es eilig“, unterbrach ihn Frank und hielt die Tür offen. „Ich habe meinen Esel in einem Stall gelassen, also entschuldigt mich.“
    Noch bevor Frank über die Schwelle war, hielt Kersim ihn auf.
    „Einen Stall. Wo? Hier? In der Suppe?“
    Frank nickte knapp und eilte schon hinaus.
    „Dann könnte ihr euch die Mühe sparen!“, rief Kersim gegen Wind und Wetter.
    Frank stand draußen im Regen. Eine finstere Vorahnung dämmerte ihm nun.
    „Es gibt keine Ställe in diesem Viertel?“, fragte er.
    Frank biss sich auf die Lippe und sein Herz sank ihm in die Hose, als er sah, wie Kersim den Kopf schüttelte.
    „Entweder euer Esel ist in jemand anderes Hände…“, sagte der Severim, „…oder, und das wäre nicht auszuschließen, bereits in seinem Magen.“
    Frank riss sich die Lederkappe vom Kopf und fuhr sich durch die Haare. Er hatte sich blenden lassen, von der Euphorie, endlich wieder ins Stadtleben eintauchen zu können. Er hatte das Misstrauen und die stete Wachsamkeit vergessen, die einem an diesen Orten immer die besten Ratgeber waren. Kersim machte eine einladende Geste.
    „Tretet ein! Ihr seid gekommen, um Geschäfte zu machen, nicht um euch den Tag von ein paar Pferdedieben verderben zu lassen!“
    Widerwillig stapfte Frank wieder über die Schwelle, sein Mantel tropfte und seine Schuhe schmatzen mit jedem Schritt. Kersim verschloss die Tür hinter ihm und sperrte das schlechte Wetter aus.
    „Wenn ihr euch eurer...“, er wedelte mit den Händen und deutete zu einem Kleiderständer, „...edlen Kleider entledigen würdet. Ich habe hinter der Ladentheke einen Ofen und einen Sessel mit eurem Namen darauf. Dieser lautet wie?“
    „Was?“
    „Euer Name?“
    „Oh.“ Frank schälte sich gerade aus seinem klitschnassen Mantel. „Frank.“, sagte er.
    „Frank also. Der Freie, so die Bedeutung, falls ihr es nicht wusstet.“ Kersim lächelte verschmitzt und deutete eine Verbeugung an. „Ich erwarte euch im Geschäftsraum.“
    Mit eleganter Drehung und wehenden Gewändern verschwand er. Nicht nur Franks Mantel und Schuhwerk waren durchgeweicht, auch seine übrige Kleidung klebte nass an seinem Körper. Er hängte den Mantel an den Ständer und wurde zum ersten Mal der Einrichtung gewahr. Die Ladentheke war leer, doch zu beiden Seiten waren die Wände verborgen hinter vollgestapelten Auslagen und Regalen. Es war eine unübersichtliche Auswahl. Besen, einfache Möbelstücke, Pferdedecken, Töpfe und Geschirr, ein Köcher mit Pfeilen, eine Ansammlung hölzernen Bestecks samt Bechern und Schalen. Eine wirre Ansammlung von Tand und Franks Einschätzung nach die wahllos zusammengestellte Tarnung für das wahre Geschäft des Hauses. Wieder ging die Tür hinter der Theke. Ein Mädchen trat ein, Hautton und Haarfarbe glichen der von Kersim. Sie eilte herbei, stellte einen Schemel ab und legte ein schwarzes Hemd nebst schwarzer Hose darauf ab. Sie machte einen Knicks, mied Franks Blick und verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Frank war etwas verblüfft von der zuvorkommenden Behandlung, aber es schien zu stimmen, was man über die Gastfreundschaft der Severim erzählte. Er schlüpfte in die neuen Kleider. Sie saßen gut und der Stoff war weich. Er entschied sich lieber barfuß zu bleiben, als den Dreck ins Haus zu tragen. Die Severim waren schließlich ein reinliches Volk. Nachdem er seinen Kragen gerichtet hatte, folgte er dem Mädchen. Frank fand sich in einem Flur wieder. Eine Tür stand offen und er konnte in einen kargen Lagerraum voll mit Kisten, Fässern und Säcken hineinspähen. Der Flur führte ihn weiter zu einer Treppe ins Obergeschoss und dort sah er warmes Licht aus einem Türspalt fallen.
    „Nur hinein, mein Herr, nur hinein.“, tönte Kersims Stimme es aus dem Raum.
    Als Frank über die Schwelle trat, war es, als wäre er in ein anderes Gebäude eingetreten. Kerzen leuchteten den Raum aus. Wandteppiche in dunklem Karmesinrot und detailreichen Motiven zierten alle Seiten des Raumes. Ein zentraler Kamin, rund und ausladend mit Heizplatten für süßen Tee, spendete Wärme in alle Richtungen. Es gab dem hohen Zimmer einen wohlplatzierten Mittelpunkt, umrundet von Kissen und Polstern. Sein Gastgeber stand neben einem Sessel, der Feuerschein flackerte über sein langes Gewand. Er wies Frank einen Platz am Kaminfeuer. Frank setzte sich in den ledernen Ohrensessel, legte die Beine auf eine Fußbank und wärmte sich die Füße am Feuer.
    „Womit hab ich diese Behandlung verdient?“, fragte Frank.
    Kersim grinste und machte eine großzügige Geste.
    „Wer das Geschäft nicht heiligt, so sagt man in meiner Heimat, der wird bald nur Sand im Speicher haben.“
    Sein Akzent war zwar unverkennbar, aber seine Wortgewandtheit und klare Aussprache ein Zeugnis von Übung und Begabung. Frank vermutete, dass, sollte er nicht von dieser Seite der Salzstraße stammen, er die Sprache wohl in einer Schule gelernt haben musste. Die Kaufmannsschulen von Katto Baas, der größten Stadt des fernen Südens, waren berüchtigt für ihre hohen Ansprüche und rigorose Lehrweise. Franks Neugierde war geweckt.
    „Was bringt jemanden wie euch in den Talkessel?“, fragte er. „Gibt es nicht mehr Waren, mehr Handel in den Hafenstädten?“
    Kersim gab seinem Gast einen kritischen Blick.
    „Es gibt mehr Handel in jeder Stadt der Severim, jeder Stadt an der Sichelküste und sogar das gottlose Kernland des Königreichs hat mehr Leben auf den Straßen als dieses modrige Bollwerk des Stillstands, das sich Talkessel nennt!“
    In seiner Aufregung kam sein Zungenschlag deutlicher zum Vorschein.
    „Entschuldigt. Es ist dieses traurige Wetter, es verdirbt das Gemüt. Meine Beweggründe hierher zu kommen sind die gleichen, die die Küstenstädte der Severim zum Leben befähigt: Geld, Verrat und Familie.“
    Er gab Frank einen mysteriösen Augenaufschlag und blickte für einen Moment nachdenklich in die Flammen.
    „Aber genug zu mir. Ich will nicht unhöflich sein, was führt euch hier her?“
    Frank hob zögerlich die Schultern.
    „Unser gemeinsamer Freund, würde ich meinen.“, sagte er.
    Kersim blickte ihn mit einer Mischung von Enttäuschung und Erwartung an.
    „Warum ich im Talkessel bin?“, sagte Frank. „Das gleiche, was das Königreich zum Leben befähigt: Steuern und Soldaten.“
    „Ha! Willkommen in meinem Haus, Sohn der gleichen Mutter.“ Kersim zeigte voller Freude seine weißen Zähne. „Wir sind alle Sklaven unserer Umstände, nicht wahr? Wenn wir schon dabei sind, was ist der Preis, den man für deine Lieferung angeschlagen hat?“
    Frank nannte ihn. Kersim stieß empört die Luft aus.
    „Wucher!“, entrüstete er sich.
    Er setzte einen Frank unbekannten Fluch auf Arbu nach. Frank wartete auf Kersims Ansichten zum Preis, doch der schwieg und starrte in die Flammen. Nach einer Weile sah er Frank an, musterte ihn von Kopf bis Fuß.
    „Was tust du für Leto?“, fragte er.
    „Ich mache den Botenjungen. Fürs Erste.“, sagte Frank.
    Kersim kniff die Augen zusammen. „Du bist weder Riemen noch Stiefel. Man hat mir noch nie einen freien Mann geschickt, Frank, der Freie. Was tust du genau für Leto?“
    Frank seufzte. Ihm war nicht wohl dabei, jemanden mit engen Verbindungen mit dem Banditenlager seine Geheimnisse auszuplaudern.
    „Ich bin neu. Ich glaube sie wollen mich rekrutieren, sie halten mich für nützlich. Ich kann Schlösser knacken.“
    Frank zuckte mit den Schultern, aber Kersim sprang beinahe aus dem Sessel.
    Nützlich?“, sagte er entrüstet. „Deine Talente sind Gold wert! Bei Afthab und Mahy, Gold und Edelsteine! Ha! Ganz sicher wollen sie dich rekrutieren. Was haben sie dir angeboten?“
    Frank beantwortete die Frage mit einem Kopfschütteln.
    „Den Beitritt ins Lager.“, sagte Frank und es klang mehr wie eine Frage als eine Feststellung.
    Kersim schnaubte empört.
    „Leto strapaziert gerne die Grenzen der Höflichkeit. Die Art und Weise, wie er verhandelt, es ist...“ Er schüttelte den Kopf und sagte dann mit einem Nasenrümpfen: „...unziemlich. Äußerst unziemlich.“
    Der Severim räusperte sich, lehnte sich zu Frank hinüber und neigte verschwörerisch den Kopf.
    „Ich hingegen schätze den Wert eines Mannes reich an Talenten.“
    Frank kannte diesen Spruch. Er hatte ihn schon damals in Middenheim gehört, von weitaus zwielichtigeren Figuren als Kersim.
    „Du hast mein Ohr.“, antwortete Frank lässig.
    „Hört, hört, ein Mann des Geschäfts! Ich dachte etwa an euren verloren gegangenen Esel?“
    Kersim gab ihm ein gewinnendes Grinsen. Frank rieb sich die Schläfe. Er hatte tatsächlich ein paar Probleme, die einer Lösung bedurften und ein Auftrag von Kersim könnte diese Lösung sein.
    „Für welchen Preis?“, fragte Frank.
    „Ich bin auf der Suche nach einem Gegenstand. Einen, der derzeit nicht in meinem Besitz ist.“
    „Verstehe. Wie heißt der Besitzer?“
    „Eins nach dem anderen, mein Herr. Darf ich euch zunächst euren Partner vorstellen? Anaia! Komm doch bitte.“, rief er über die Schulter.
    Frank hörte gedämpft durch die Zimmerwand einen Satz auf Arbu. Es war eine Frauenstimme. Anaia, so wusste es Frank, hieß Schwester. Man hörte es ständig unter den Severim, ohne dass dafür notwendigerweise eine Verwandtschaft bestehen musste. Kersim seufzte laut.
    „Wir werden uns wohl gedulden müssen. Sie hat ihren eigenen Willen.“ Er machte eine entschuldigende Geste. „Aber, wenn ihr schon vom Lager kommt... Es gibt eine Sache, die mich interessieren würde, wenn ihr meine Neugierde entschuldigt.“
    „Nur zu“, sagte Frank.
    „Ich habe Gerüchte gehört, von einem Pferd, das den Talkessel erreicht haben soll? Ich kenne einige mögliche Käufer...“, sagte er und hob den Zeigefinger, „...Käufer mit vollen Taschen wohlgemerkt. Ihr wisst nicht zufällig etwas davon?“
    Frank nickte. „Das Pferd ist im Lager.“, sagte er. „Es ist heute erst ange-“
    Wuchtig schlug eine Tür auf. Eine Frau stürmte herein. Sie trug schwarzes Leder, ihre langen schwarzen Haare waren offen und sie wallten im Luftzug, als sie entschieden auf Frank zuging.
    „Sadiye!“, protestierte Kersim. „Etwas mehr Anstand, wenn ich-“
    Sie brachte ihn mit einer harschen Geste zum Schweigen.
    „Das Pferd ist bei den Banditen?“, sagte sie.
    Ihr Ton war herrisch, ihre Augen streng.
    „Ja“, sagte Frank verunsichert.
    „Hast du einen Jungen gesehen? Gerade fünfzehn Jahre alt, blonde Haare.“
    Frank sah sie verwundert an. Angestrengt dachte er nach, doch er hatte keine Erinnerung an so einen Jungen, bis – doch! Diesen Morgen, beim Aufbruch, in Letos Haus. Der nackte Junge hinter der Waschfrau. Wache Augen, blonde Haare.
    „Ja“, sagte Frank überrascht. „Ja, ein blonder Junge. Seine Hände waren gefesselt.“
    Die Frau stampfte auf. Sie fuhr sich durch die langen Haare und sagte:
    „Sie haben Ferdinand.“


    XII Unter Letos Fittichen
    Im Jahre des Addo 389, Am Nachmittag des 18. September
    Ferdinand & Erik
    „In diesem Haus hast du sauber zu sein.“, sagte sie streng, während sie ihn ankleidete.
    Ferdinand blieb von ihren Tadeln unbeeindruckt. Sie versuchte einen herrischen, ernsten Ton aufzusetzen, doch die Zartheit in ihrer Stimme verriet sie. Sie war liebenswürdig und vermutlich auch kraftlos in ihrer Liebenswürdigkeit.
    „Du trägst bitte Schuhe und du spuckst nicht, hörst du?“
    Ferdinand nickte, denn es schien der einfachste Weg zu sein mit dieser seltsamen Situation umzugehen. Ferdinand war ein Waisenkind gewesen, bevor Quentin ihn bei sich aufgenommen hatte und dementsprechend war ihm das mütterliche Verhalten dieser Frau äußerst fremd. Er kannte aus dieser Zeit seiner Kindheit nur den Stock der Nonnen aus der Kirche der sieben Wächter. Nichtsdestotrotz war er ihr auch zu Dank verpflichtet. Sie hatte Leto zurückgehalten. Diesen monströsen Hünen, dem sonst kein Mann im Wege stehen konnte, sie, diese unschuldige, zarte Gestalt, hatte mit nur einem Blick den Banditenführer in seine Schranken verwiesen, Ferdinand entschieden am Arm gepackt und in dieses Zimmer geführt. Natürlich war Ferdinand eingeschüchtert. Er war im Banditenlager, unter Mördern und Gesetzesbrechern, aber seine Neugierde war stärker denn je. Kaum einer wusste etwas von den Banditen. Er aber war hier an der Quelle. Was Hatten die Banditen vor? Wer ist Leto, was ist sein Ziel? Wer ist ihr Kontakt, der Mann, der dem geheimen Zirkel Briefe und Notizen hatte zukommen lassen? War Raul sein Name? Und wer ist diese Frau?
    „Du wirst hier etwas Arbeit bekommen. Die Neuankömmlinge müssen hier für gewöhnlich erst einmal ganz andere Sachen durchmachen, da hast du es gut, hörst du?“, sagte sie.
    Sie zupfte seine Kleider zurecht, betrachtete das Ergebnis.
    „Was soll ich tun?“, fragte Ferdinand.
    „Du wirst dem Alchemisten helfen.“
    Wieder diese Bestimmtheit, eingefärbt durch ihr sanftes Wesen.
    „Und Leto? Wird er etwas dagegen haben?“, fragte er.
    Ferdinand hütete wieder einmal nicht seine Zunge, doch von ihr hatte er nichts zu befürchten. Sie seufzte bloß und gab ihm einen traurigen Blick. Wieder dieser Blick einer besorgten Mutter.
    „Mach dich nützlich, Junge, hörst du?“
    Wieder nickte Ferdinand und senkte demütig den Kopf.
    Arme Frau, dachte er.
    „Jetzt auf!“, sagte sie und strich sich ihre Schürze glatt. „Ich bringe dich zum Alchemisten.“
    Sie eilte voran, hielt ihm die Tür auf und er folgte. Sie gingen ins obere Stockwerk: Überall war es reinlich und gepflegt, sie zeigte ihm sein Schlafzimmer und das Wohnzimmer, sogar eine kleine Bücherei gab es hier oben, und zu guter Letzt führte sie ihn in ein Zimmer am Ende des Flurs. Es war auch ein Schlafzimmer, genau wie seines, weiße Laken, ein Stuhl, ein Tisch, ein Fenster und dort, auf dem Bett, saß ein Junge. Ihm fehlte ein Fuß.
    „Du wirst für ihn arbeiten.“ Sie schenkte ihnen beiden ein Lächeln. „Aber lernt euch doch erst einmal kennen.“
    Sie lächelte wieder, wohlwollend und voller Güte, und verschwand. Nach einem Moment unbequemer Stille stellte Erik sich vor und Ferdinand tat es ihm gleich. Etwas verhalten nahm Ferdinand auf dem Stuhl Platz. Der Ausdruck in den Augen von Erik war leer und er machte einen ausgemergelten und müden Eindruck. Er starrte auf einen kleinen Gegenstand, ein kleines Stück fein geschnitztes Holz: Es stellte ein Blatt an einem kurzen Stückchen Ast dar, ein brauner Fleck war darauf.
    „Du bist gerade angekommen?“, fragte Erik.
    Ferdinand nickte.
    „Hat mich wohl etwas mehr gekostet als dich, in dieses Haus zu dürfen.“, sagte Erik und hob sein Bein, der Stumpf eingewickelt in dicke Verbände.
    Er schenkte den blonden Jungen ein gequältes Lächeln, ächzte sogleich und ein Zucken huschte über seine Miene. Ferdinand schwieg. Dem geschundenen Erik zu helfen, das musste ihm keiner befehlen. Er würde ihm so oder so zur Hand gehen, wo er auch nur konnte.
    „Du bist der Alchemist?“
    Erik schüttelte den Kopf. „Ich kenne mich mit Kräutern aus, nicht mit Tränken.“, sagte er und schob die kleine Schnitzerei unter sein Kopfkissen.
    „Wo liegt der Unterschied?“
    Erik überlegte kurz. „Der Unterschied ist der gleiche wie der zwischen einem Jäger und einem Gerber, oder einem Schürfer und einem Schmied.“
    „Verstehe“, sagte Ferdinand und nickte.
    Es war ein guter Vergleich, wie er befand: Das Suchen, Finden und Erkennen von Stoffen war nicht unbedingt das gleiche Handwerk wie die Weiterverarbeitung. Ferdinand probierte den niedergeschlagenen Jungen etwas aufzumuntern.
    „Es gibt hier Bücher.“, sagte er.
    Erik warf ihm nur einen knappen Blick zu.
    „Vielleicht könntest du etwas lernen.“, sagte Ferdinand.
    „Ich soll hier Seife kochen. Mein Bruder holt die Zutaten.“
    Sein Ton war nüchtern und emotionslos, seine Augen hafteten für einen Moment an der Wand, dann ließ er sich aufs Bett fallen und schloss die Lider.
    „Tu mir einen Gefallen.“, sagte er. „Versuch nicht zu fliehen.“
    Ferdinand sah auf den bandagierten Stumpf am rechten Bein seines Gegenübers.
    „Hast du deswegen... dein Bein...“, fragte Ferdinand vorsichtig.
    „Nein. Das war mein Bruder.“ Die Bitterkeit in seiner Stimme war nahezu greifbar. „Warum bist du hier?“, fragte er.
    Ferdinand atmete tief ein.
    „Einfach Pech gehabt.“, sagte er dann mit einem Seufzen. „Falscher Ort, falsche Zeit. Und du?“
    „Ich sollte gar nicht hier sein.“ Erik presste die Lippen zusammen. „Hier in diesem Zimmer. Im Talkessel sowieso. So weit weg von-“, sagte er, doch seine Stimme versagte.
    Ferdinand bemühte sich, sich in sein Gegenüber hineinzufühlen, immerhin waren sie Leidensgenossen, doch Erik hielt nun die Hände vors Gesicht. Ob er damit Tränen verbergen wollte? Seine Erscheinung sprach Bände: Die Stimme, die Haltung, seine blasse Haut und nicht zuletzt der fehlende Fuß.
    „Du solltest nicht im Talkessel sein, sagst du? Bist du von außerhalb?“, fragte Ferdinand.
    Erik nickte langsam.
    „Und du bist mit deinem Bruder gekommen? Sag, kennst du Gero? Er ist Königsbote.“
    Zum ersten Mal flackerte Leben auf in Eriks Augen. Er richtete sich auf und sah Ferdinand neugierig an.
    „Wir sind mit ihm hergekommen.“, sagte Erik. „Er ist durch den Wald fortgeritten. Er hatte ein Pferd.“
    „Das haben jetzt die Banditen.“
    Erik lachte bitter. „Natürlich haben sie es.“, sagte er und warf sich wieder zurück.
    Das Gespräch erstarb. Nach einer Weile, man hörte nur den Wind und den Regen, erhob Ferdinand wieder das Wort.
    „Ich bin hier aufgewachsen. Als Waisenkind. Neigenbau, Eichenbruck, die vielen Höfe auf diesseits der Neige und die auf der anderen Seite. Die Mine, der hohle Zahn, alles meine Heimat. Nur in den Wäldern war ich bisher noch nicht – das muss ich mir wohl eingestehen. Aber ich hatte Glück damals! Ein Kaufmann hat mich in seine Obhut genommen, großgezogen und geschult. Nicht jeder hat so ein Glück.“
    Erik hob die Hand, bat Ferdinand um Ruhe.
    „Kann ich dich etwas fragen?“, sagte Erik und ächzte, wie er sich aufrichtete. „Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass du dir überhaupt keine Sorgen machst? Du wurdest gefangen genommen, deine Hände wurden gefesselt, wir sind umgeben von Meuchelmördern und Tagedieben.“
    Als Erik ihn ansah, sah Ferdinand seine tiefen Augenringe und die endlose Erschöpfung, von der sie herrührten. Doch Ferdinand lächelte.
    „Vielleicht liegt es daran, dass ich mir tatsächlich keine Sorgen mache.“ Er senkte seine Stimme, lehnte sich hinüber. „Ich glaube fest daran, dass bereits jemand daran arbeitet, mich hier raus zu holen.“
    Erik schwieg.
    Das Trommeln des Regens trat wieder in den Vordergrund. Erik legte sich behutsam auf den Rücken und hob die Beine über die Bettkante.
    „Wenn du neu hier bist, soll ich dir etwas vom Kessel erzählen?“, sagte Ferdinand.
    Erik brummte gleichgültig. Ferdinand blickte zu Boden, dachte kurz nach und hob an:
    „Der Talkessel sah nicht immer so aus. Es tut mir leid, dass du zu dieser Zeit hergekommen bist, doch einst blühte hier das Leben. Der Kessel war reich an Erzen, er ist es immer noch, auch wenn man nun tiefer schürfen muss. Die beste Zeit, das war vor etwas mehr als zehn Jahren, als man anfing am Middenberg zu graben. Heute nennt man ihn den hohlen Zahn, aus gutem Grund, denn das gesamte Massiv ist durchzogen von einem verworrenen Netz aus tiefen Stollen und dunklen Höhlen und auf allen Seiten findet man die schwarzen Löcher. Es sind Eingänge in das finstere Labyrinth des Middenbergs. Erst fand man das Eisenerz. Das rostbraune Gestein zeigte sich in breiten Streifen auf der Südflanke. Es war zu verlockend. Man folgte der Ader und bald, vollkommen unverhofft, stießen die Bergleute auf Silber. Später noch Zinn und Kupfer, es war eine wahre Goldgrube. Nun ja, Gold fehlte, aber es schien das einzige zu sein, was die Schürfer missten. Ich habe selbst eine Zeit lang in den Minen geschuftet, so wie viele andere Kinder auch, der niedrigen Gänge wegen. Der Betrieb zog die Menschen an. Eichenbruck, zunächst nur eine Zollfeste, allein auf weiter Flur, erfreute sich regem Verkehr und die Menschen begannen Häuser vor den Mauern zu errichten. In Neigenbau war es ähnlich, die Steinmühle wurde damals gegründet. Ein mechanisches Wunderwerk! Die Ingenieure und Mechaniker kamen von weit her, von Dornburg und von Motterrand. Damals hatte die Stadt noch Geld und konnte solche Leute einkaufen, gewaltige Summen zahlen, große Aufträge aufgeben. Die Zahnräder drehten sich, das Erz floss in Strömen, der Handel blühte, doch irgendwann kam es, wie es kommen musste: Die Glückssträhne endete. Ich war damals nur ein kleiner Junge, doch ich hatte das Glück, alles durch die Augen meines Meisters Quentin sehen zu können. Er war ein Kaufmann von der Sichelküste. Hoch angesehen, erfolgreich und mit einem scharfen Blick für Land und Leute. Ich bin nach wie vor sein Schüler.“
    Ferdinand hielt inne und seufzte gedankenverloren, bevor er fortfuhr.
    „Das Erste, was geschah, war, dass der Handel mit den Nordmar zusammenbrach, bei uns mit dem Stamm der Silberkrähen. Ihre Pelze, ihre Schnitzkunst, ihre Gebirgskräuter. Ihre Bögen aus Immerlindenholz, es war beliebte Ware im Talkessel. Nur das Erz kauften sie nie. Der Middenberg ist ihnen nämlich heilig und sie mochten es nicht, dass die Menschen vom Tal ihn einfach aushöhlten. Doch niemand hatte damals die Zeichen gesehen und wer weiß, vielleicht wussten die Nordmar ja etwas, vielleicht hätten sie Schlimmeres verhindern können? Aber Quentin sagte mir, es wäre das Gleiche im gesamten Königreich: Der Kontakt wurde abgebrochen. Ihre Pfadwächter blockierten den Zugang, Botschafter wurden abgewiesen und die Waren blieben aus. Was blieb, war der Handel mit dem Reich. Jahre später geschah dann ein Unglück. Ein Einsturz im Middenberg. Ganze Bergflanken sackten zusammen. Viele verloren ihr Leben, ihre genaue Ziffer ist bis heute unbekannt. Doch mit den Einstürzen in der Mine war es nicht genug: Eine riesige Gesteinsplatte, beinahe so hoch wie die Steilwand im Norden, löste sich vom Berg und schlitterte den Hang hinab. Die Lawine überrollte die Lager der Minenarbeiter. Männer, Frauen und Kinder, allesamt begraben, noch vor ihrem Tod. Die Einstürze versperrten den Weg, die Rettungsbemühungen liefen schleppend, bis man schließlich aufgab und das Schicksal der Verschütteten in Kauf nehmen musste. Ich muss dir nicht erklären, dass dies das Ende einer Ära im Talkessel bedeutete. Viele sind sofort abgereist, um anderorts Arbeit zu finden. Doch die meisten sind geblieben, haben auf eine Gelegenheit oder eine Besserung gewartet. Bis man irgendwann feststellen musste, dass der Pass zum Kessel versperrt war. Der Matterforst stand dort, zwischen uns und dem Königreich. Dort, wo vorher kein Wald gewesen war.“
    Erik unterbrach Ferdinand.
    „Sag mir, du hast von einem Quentin gesprochen?“, fragte er.
    „Ja, ich bin sein Lehrling.“, sagte Ferdinand mit einem stolzen Lächeln.
    „Ist er nicht ein Alchemist?“
    Ferdinand blickte irritiert. „Nein. Wie gesagt, Kaufmann. Und zwar ganzen Herzens.“
    „Hm“, sagte Erik. „Bist du dir sicher?“
    „Meister Quentin hat noch nie auch nur einen Trank zusammengerührt, ich gebe mir dein Wort!“
    Ferdinand sah Erik suchend an, doch dieser brummte nur und starrte enttäuscht an die Decke. Ferdinand stand auf und ging hinüber zum Fenster.
    „Man kann nur hoffen, das bessere Zeiten kommen.“, sagte er und öffnete die Fensterläden. „Ich glaube der Regen hört auf!“
    Als er keine Reaktion von Erik bekam, eilte er herüber und stellte sich neben das Bett und beugte sich zu Erik hinab.
    „Wenn ich hier rauskomme...“, flüsterte er, „...dann nehme ich dich mit!“
    Erik schwieg einen Moment und antwortete, ohne sich die Mühe zu machen Ferdinands Blick zu begegnen:
    „Ich kann nicht laufen, Ferdinand.“
    „Dann stütze ich dich eben!“
    Sollte er wirklich die Flucht wagen? Erik wippte unruhig mit seinem rechten Bein, oder mit dem, was davon übrig war, während er fieberhaft nachdachte. Die Bewegung erweckte das Gespür für seinen Verlust wieder. Die Muskeln in der Wade waren es immer noch gewohnt weniger Gewicht zu bewegen als dort tatsächlich war und in dieser Erkenntnis steckte eine tiefschwarze Wahrheit: Nicht nur war er ein Junge, der sich nicht seiner selbst erwehren konnte, nein, er würde auch niemals ein normaler Mann werden.
    „Nein.“, sagte Erik fest. „Wir wären zu langsam. Außerdem, wo will ich denn hin im Talkessel?“
    Seine Stimme brach mit seinen letzten Worten. Angestrengt kniff er die Augen zusammen, rieb sich das Gesicht, doch Ferdinand sah die Tränen über seine Wangen kullern.
    „Ich will niemanden auf dem Gewissen haben.“, sagte er. Ihre Blicke trafen sich. „Nicht meinetwegen! Verstanden?“
    Ferdinand hob die Brauen. „Ja, verstanden.“, sagte er.
    Der blonde Junge sank wieder auf seinen Schemel und wartete geduldig. Sein Vertrauen in seine Freunde hielt an, unbeugsam und stark. In einem Gedankenspiel von kindlicher Fantasie sah er Quentin Pläne schmieden und Sadiye ihre Ausrüstung vorbereiten. Er konnte es sich nicht verkneifen und ein Schmunzeln umspielte seine Lippen.


    XIII Am schiefen Baum
    Sein Gang war langsam und seine Bewegungen eingeschränkt. Wurzeln traten aus dem Fleisch seiner Füße. Drei Zehen fehlten ihm nun. Der rechte Arm war nicht länger menschliches Gewebe und seine Knie waren blockiert von festem, unbeweglichem Holz. Er hinkte zwischen den Bäumen entlang, geradewegs zum Bach. Das kühle Wasser, das der Bach führte, es hatte ihm schon so oft gedient, es umspielte seine Glieder. Stunden saß er dort. Ohne das Gefühl für die Kälte war es ganz einfach so zu verharren. Oft hatte er sich gewundert, was mit seinem Durst geschehen war. Er probiert einen Schluck des klaren Gebirgswassers, doch es hatte kein Ergebnis. Es bestand kein Bedürfnis. Tranken nun die Wurzeln an seinen Beinen für ihn? War das nicht besser, jetzt, wo sein rechter Arm erstarrt war? Wieder einmal unterwarf er sich seinem Unwissen und somit auch der Obhut der alten Frau. Jeden Tag untersuchte sie ihn, tastete seine Knochen ab und die hölzernen Fasern, die sich darauf bildeten. Er ließ es stets mit sich geschehen. Nach einer Weile hob er sein Bein und streckte es versuchsweise. Die Bewegung war langsam, doch es ging. Er stand auf und hielt inne. Er würde jetzt zum Baum gehen, diesem eigentümlichen Gebilde, unter dem die Frau wohnte. Dort würde er auf sie warten, Sonnenstrahlen aufsaugen wie süßen Saft, um dann wieder in den Schatten am Bach zurückzukehren. Doch er entschied sich diesmal anders. Er stieg in das plätschernde Wasser, es stand ihm bis zu den Knien, und begann dem Verlauf stromaufwärts zu folgen. Der Grund war steinig, zuweilen feiner Kies, aber auch grobe Brocken. Mit zunächst unsicheren Schritten kam er voran, doch dann sicheren Tritts und er bemerkte, dass die Wurzeln an seinen Füßen ihm halfen. Sie schlangen sich um die Steine, griffen sie, wenn er aufsetzte und ließen los, wenn er den Fuß heben wollte. Er folgte den Windungen des Bachs. Große Wurzeln begrenzten seinen Verlauf und bestimmten zuweilen seine Bahn, bis sich der Wald wandelte: Er betrat einen Birkenhain. Die weißen Stämme standen dicht, ragten empor und boten sich in den Höhen gegenseitig Halt. Vereinzelt ließen Trauerweiden ihre Zweige und Blätter in die Becken hängen, die sich im Meer der Wurzeln gebildet hatten. Nirgends sah man braune Erde oder grüne Kräuter auf dem Waldboden. Nur etwas Moos und all die Wurzeln und die spiegelglatten Becken. Kaskaden, tiefe und flache Pfützen, alles geformt durch den Wuchs der Bäume, führten das Wasser der Berge auf tausend Umwegen in den Bach hinab. Er stieg die Wurzeln hinauf und verweilte für einen Moment. Er empfand keine Neugier und kein Staunen, das ihn anregen konnte. Doch etwas zog ihn zu diesem Ort.
    Ist es Faszination?, dachte er.
    Er dachte mit kühlen Gedanken, mehr sich selbst betrachtend, als nach einer Absicht zu handeln. Er ging zu einem der stillen Becken. Es war abgeschnitten vom fließenden Wasser. Die Oberfläche war perfekt, unbewegt und glatt. Er trat an den Rand und betrachtete sein Angesicht. Sein rechtes Auge war schwarz. Der gesamte Augapfel hatte sich gewandelt. Darüber, wo seine Braue sein sollte, trat dunkle Rinde aus der Haut. Er neigte sich hinab und berührte mit einem Finger das Wasser. Der Spiegel war sogleich zerstört, Wellen breiteten sich in perfekten Kreisen aus und verzerrten sein Bild. Unumwunden stieg er ins Becken und legte sich hinein. Seine Arme schwebten im Wasser und die Wurzeln an seinen Zehen legten sich um den hölzernen Grund. Langsam, er beobachtete es genau, beruhigte sich das aufgeregte Wasser. Es dauerte eine ganze Weile und die Oberfläche war beinahe wieder glatt, so still war er, als er etwas bemerkte: Eine Kraft drückte seine Augen zu. Er wehrte sich, zunächst mit Erfolg, doch dann übermannte es ihn und er gab nach, warum auch nicht, und er senkte seine Lider. Dann, plötzlich, zuckte ein Bild durch seinen Kopf. Ein Netz, unendlich verzweigt, riesig und atemberaubend. Blau und weit bis zum Horizont. Er schreckte hoch. Mit weiten Augen hechtete er aus dem Becken. Keuchend und auf allen Vieren bemühte er sich zu sammeln. Er spürte etwas! Aufregung, eine Andeutung von Angst, doch an erster Stelle brennende Neugierde. Es war das erste Gefühl seit so langer Zeit! Es ebbte durch seinen Verstand und er fühlte es durch die ganze Länge seines Körpers gleiten. Ein Kribbeln und ein Beben. Doch im gleichen Augenblick nahm es schon ab. Langsam, doch stetig verließen ihn die Emotionen. Er schüttelte benommen den Kopf, schlug sich gegen die Schläfe. Nichts geschah. Er war gierig nach mehr. Er richtete sich auf, fixierte das Wasser, das unruhig hin und her schwappte und trat hinein. Wieder legte er sich hin. Sein Atem ging schnell. Der Fetzen von Gefühl, den er noch spürte, war deutlich: Erwartung, Anspannung. Er stemmte seine Füße auf den Boden, die Wurzeln griffen zu und er schloss seine Augen. Wie die Wellen in der Brandung ergoss es sich über ihn: Ein Gewirr aus tausend Wegen, unterirdisch und gewaltig in seinen Ausmaßen. Er sah sich selbst als kleinen Punkt am Ende einer der tausend Fäden, die sich in der weiten Menge verloren. Wie ein Ballen von unsortierten, in sanftem Blau glimmenden Stricken, inmitten finsterer Nacht, so mutete es an. Er blickte tiefer. Er sah die Fäden, wie sie sich durch dicke Wurzeln zogen und er sah den Stamm des widernatürlichen Baumes, ein Knoten von hundert Stricken, erleuchtet im Licht abertausender Fäden. Er blickte weiter. Das Netz wurde lichter, doch setzte sich fort. Dann, weit entfernt von seinem eigenen, mickrigen Punkt im gewaltigen Netz, sah er etwas anderes. Ein anderes Netz, es hatte eine andere Färbung, so verstand er es. Die Strukturen waren anders, die Formen waren kantiger, es war rötlich, ein dunkles, braunes Rot. Dünne Fäden verbanden die beiden Netze, wo ihre Merkmale verschmolzen. Doch seine Sicht schrumpfte. Die Stricke verblassten hinterm schwarzen Horizont. Weiter und weiter schwand das Netz. Er fühlte sich Bedrängt. Die Ausläufer verschwanden, der Baum und seine tausend Fäden verschwanden, immer mehr versank im Nichts, bis schließlich nur noch er selbst als kleiner Punkt im leeren Raum schwebte. Sein blaues Glimmen flackerte. Seine Angst fuhr von ihm. Die Finsternis verschlang ihn.
    „Was bist du?“, sagte eine Stimme ohne Mund.
    Geändert von GesustheG (16.03.2021 um 12:15 Uhr)

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    Kapitel 5

    KAPITEL 5
    I Am Treffpunkt
    Im Jahre des Addo 389, Am Nachmittag des 19. September
    Raik & Hermann
    Die Sonne schob sich durch die Wolken und sandte erste Strahlen auf den hohlen Zahn und die nassen Wiesen des Tals. Raik, Hermann und eine Eskorte von vier Mann hatten ihr Lager aufgeschlagen. Die Ost-West Straße führte hier vorbei. In einer Feuerstelle knisterte rote Glut, eine Lederplane schützte sie vor dem sanften Regen, gespannt zwischen den Ästen alter Apfelbäume. Endlich, nach einem kühlen Tag und einer noch kälteren Nacht, nahm der Dauerregen ein Ende. Hermann trat auf die Straße und blickte in die Wolken.
    „Bei den sieben Wächtern, es war wirklich an der Zeit! Der Herbst kommt früh dieses Jahr, hoffen wir, dass er es nicht zu eilig hat.“
    Raik reagierte nicht, blickte in die Glut.
    „Zu viel Regen würde die Ernte vernichten.“, sagte Hermann mit einem Blick auf die vollbehangenen Apfelbäume.
    Raik löste seinen Blick vom Glimmen des Lagerfeuers und raffte sich auf. Er ächzte, wie er auf die Beine kam. Meist fiel es Hermann nicht auf, doch in solchen Momenten sah er, wie das Soldatenleben den Kommandanten alt gemacht hatte.
    „Ein Nordmar...,“ sagte Raik, „...der zu spät kommt. Kannst du mir das erklären, Hermann?“
    Raik kam nun auch unter der Plane hervor und warf einen kritischen Blick gen Himmel. Die Wolkenschwaden zerfransten in fedrige Formen und sie erspähten eine Ahnung des blauen Himmels dahinter. Ein Wind kam auf, schüttelte die Tropfen von den Blättern und brachte den Geruch der Wiesen und Weiden des Talkessels. Der hohle Zahn türmte sich unweit von ihnen auf. In Verbindung mit ihren kürzlichen Erfahrungen auf seinen Hängen hatte seine Präsenz nun eine andere Aura. Für die Bürger des Talkessels blieb er ein Mahnmal Menschlicher Gier, doch unter den Soldaten fügte sich diesem Gefühl eine mysteriöse Bedrohlichkeit hinzu. Die Geschichte um den Kampf auf dem hohlen Zahn hatte die Runde gemacht, jeder Soldat kannte die Erzählung vom grauen Goblin, der unnatürlichen Größe seiner Meute und seiner taktischen Gerissenheit. Ahnungslos zu sein, nicht zu wissen, was in den finsteren Gängen hauste, war besser gewesen, als eine dunkle Vorahnung zu haben. Jetzt raubte es einem den Schlaf und Hermann gab sein Bestes, sich nicht von solchen Gedanken beeinträchtigen zu lassen. Goblins blieben immer noch Goblins. Bösartig, hinterlistig, aber schmächtig und ohne Frage einer bewaffneten Mannschaft unterlegen. Schließlich war Hermann bei der Auseinandersetzung dabei gewesen.
    „Ich kann es dir nicht erklären.“, sagte Hermann. „Nordmar sind pünktlich. Immer. Oder sie geben wenigstens Bescheid.“
    Raik schnaubte ungläubig, aber behielt soweit seine Frustration für sich. Hermann überquerte die Straße. Ein Gesteinsbrocken, breit wie ein Mann und so hoch wie zwei, stand dort. Ein Wegestein der Nordmar, verziert mit einer spiralförmigen Gravur, die sich bis zur Spitze emporwand. Sie markierten Grenzverläufe oder wichtige Knotenpunkte ihrer Pfade und dienten darüber hinaus einem religiösen Zweck, den Hermann allerdings nicht genau kannte. Lange bevor die Menschen des Königreichs im Talkessel Einzug gehalten hatten, war hier noch das Hoheitsgebiet der Silberkrähen gewesen. Doch sie bestellten keine Felder, schürften kein Erz, bauten keine Städte, sondern jagten und sammelten nur was das Land hergab und verblieben ansonsten in der Heimat ihrer wolkenverhangenen Berge. Viele hatten sich gefragt, warum sie nicht die fruchtbaren Täler nutzten, doch Ackerbau schien schlicht nicht ihre Lebensweise zu sein. So hatte das Vorgebirge, Generation um Generation, seinen Besitzer gewechselt. Hermann legte eine Hand auf den Wegestein. Die Gravur war sauber gemeißelt. Es würde für Äonen sichtbar bleiben und vielleicht war es sogar schon ebenso lange dort gewesen. Es hieß, die Windleser, das Bindeglied zwischen Geisterwelt und Stammesgruppe, kannten die Geschichte eines jeden Wegesteins.
    „Sie werden kommen.“, sagte Hermann gedankenverloren, während er mit den Fingern die Rillen entlangfuhr.
    Die vier Soldaten, die sie begleitet hatten, waren nun auch aufgestanden.
    „Wie lange sollen wir noch warten, mein Herr?“, fragte einer.
    Ungeduldig stemmte der Mann die Hände in die Hüfte. Raik sah ihn nicht an, sondern nur den Weg hinunter.
    „Jetzt nicht mehr.“, sagte er entschlossen. „Wir ziehen ab!“
    Hermann protestierte, doch Raik brachte ihn zum Schweigen.
    „Wir warten seit dem Mittag.“, sagte der Kommandant. „Nichts daran ist gewöhnlich, die Verlässlichkeit der Nordmar hin oder her! Wenn sie kommen, dann wissen sie, wo sie uns finden können.“
    Raik gab sogleich Befehl zum Aufbruch. Die Männer machten sich daran ihre Ausrüstung zu packen und das Feuer zu löschen, bloß Hermann rührte sich nicht.
    „Raik“, sagte er, doch der winkte bloß ab. „Raik! Sieh doch!“
    Der Kommandant blickte auf und tatsächlich, dort, zwei Männer kamen im Eilschritt die Straße herunter. Der eine trug Tätowierungen auf seinem kahlen Schädel, der andere führte ein Kampfbeil am Gürtel. Es waren Skerta und Heffas, keine Delegation der Silberkrähen, keine große Reisegruppe, bloß die beiden alten Bekannten. Sie kamen heran und hielten vor Raik. Stumm blieben sie dort, beide mit geneigtem Kopf. Raik blickte mit Skepsis auf die Nordmar, die ihm nicht in die Augen sehen wollten. Hermann eilte herbei.
    „Ihr müsst sie grüßen.“, flüsterte er Raik ins Ohr. „Sie sind zu spät und dürfen nicht das erste Wort sprechen.“
    Raik räusperte sich. „Willkommen“
    Die beiden Männer hoben das Haupt und Skerta gab ihm ein dankbares Nicken.
    „Wir sind spät dran.“, sagte er.
    „Allerdings“, sagte Raik und hob die Brauen.
    Die Nordmar waren außer Atem, verbargen jedoch ihre Erschöpfung. Sie mussten schnell gereist sein.
    „Verzeiht, ich schulde dir eine Erklärung. Unsere Brüder und Schwestern sind nicht gekommen.“
    Skerta schüttelte den Kopf, um zu zeigen, dass er selbst nicht wusste, was es zu bedeuten hatte.
    „Wir sind zu unserem Pfadwächtern gereist, und noch viel weiter ihnen entgegen, doch selbst dort war keine Spur von ihnen. Selbst die Wächter haben keine Menschenseele gesehen.“
    Raik zuckte mit dem Schultern. Seine Besorgnis gegenüber den Fremden aus den Bergen hielt sich in Grenzen.
    „Und nun?“, fragte der Kommandant.
    Skerta biss sich auf die Lippen. Er sah zu seinem Begleiter und fuhr sich mit der Hand über den Schädel.
    „Ich bleibe im Kessel. Mit eurem Einverständnis begleiten ich euch zu eurer Befestigung. Heffas wird unsere Brüder suchen. Seid ihr einverstanden?“
    Raik warf Hermann einen kurzen Blick zu und nickte dann.
    „Danke, Freund!“, sagte Skerta nun voller Inbrunst und bot ihm die Hand. Der Nordmar war sichtlich erleichtert. Dieses Mal machte Raik nicht den gleichen Fehler wie zuvor, sondern packte sein Gegenüber am Unterarm, gemäß der Bräuche. Skerta wandte sich Heffas zu. Sie sprachen mit gedämpften Stimmen. Heffas schien nicht sehr glücklich mit den Worten seines Seilmanns und Hermann kam zu Raik herüber.
    „Das ist sehr gewagt.“, sagte Hermann leise. „Seilmänner trennen sich für gewöhnlich nicht. Irgendetwas macht ihnen Angst.“
    Skerta und Heffas umarmten sich, klopften einander kräftig auf den Rücken und Heffas eilte schnellen Schrittes davon.
    „Er wird zu den Pfadwächtern gehen.“, sagte Skerta und sah seinem Seilmann nach. „Dort wird er meine Brüder abholen und sie zu uns bringen.“
    Hermann und Raik wechselten einen wissenden Blick.
    Wenn Heffas die Nordmar dort findet, sagten ihre Blicke.
    „Dann gehen wir. Aufbruch!“, rief Raik und die Truppe setzte sich in Bewegung.

    Die Ruine erreichten sie noch vor Sonnenuntergang, streiften ihre Rucksäcke ab und sorgten für Quartier und Verpflegung ihres Gastes aus den Bergen. Als die Nacht über den Talkessel hereinbrach, schlich sich ein Mann aus dem dunklen Gemäuer. Der Hauptmann hatte eine Verabredung in einer Schenke in Neigenbau.


    II Kersims Auftrag
    Im Jahre des Addo 389, In der Nacht des 19. September
    Frank & Sadiye
    Magie war den Menschen fremd. Nicht fremd in dem Sinne, dass sie ihre bloße Existenz leugneten, obwohl dies der eine oder andere Skeptiker sicherlich tat, aber so fremd, dass sie die Magie fürchteten. In den Augen vieler war es ganz sicher die Kraft der Götter, der Geister und die unsichtbare Hand der okkulten Kräfte, die die Gesetze dieser Welt bestimmten. Wo sie wirkte, wie sie wirkte und welchen Zweck sie hatte, dies blieb den Menschen jedoch verborgen. Wer wusste schon, ob die Riten und Zeremonien der Priester der sieben Wächter eine magische Wirkung taten, oder ob sie nur gewitzte Meister der Täuschung waren. Wenn man der Kirche Glauben schenkte, dann hatten sie diese Macht natürlich, aber wenn man der Kirche zur Gänze Glauben schenkte, dann gab es außerhalb ihrer Gotteshäuser nämlich gar keine Magie. Ähnlich war es mit der Religion der Wüstenvölker, die di Sonne und den Mond, Afthab und Mahy, als göttliches Zweigespann betrachteten. Oder die Nordmar und ihre Windleser, oder die Gurus in den Sümpfen oder die Einzelgänger, die ihren eigenen Weg zu Wissen, Macht oder Erleuchtung suchten. Doch die Einzelgänger, die Hexen, sie wurden verbrannt und die Seher und Wahrsager vor den Henker gezerrt. Ihr Praktiken wurden als Werke von Dämonen verschrien: Dort war es plötzlich ganz eindeutig, dass sie übernatürliche Werke taten, Heilung und Unheil wirken konnten. Aber es war eine glaubwürdige Geschichte, diese Menschen zu verleumden,
    denn sie wirkten tatsächlich Magie, sie arbeiteten meist im Verborgenen und ihre Kräfte waren ebenso unergründlich wie ihre Beweggründe. Der König ließ sie jagen, was sicherlich auch an dem Einfluss der Wächterkirche lag. Ihre Macht und ihr Monopol über den Zugang zum Reich des göttlichen, wurde durch Ketzer wie diese gefährdet und nicht ohne Grund wurde der König auch als der achte Wächter betitelt: Als achter, menschlicher Wächter auf Erden, der Seit an Seit mit den Göttern der heiligen Sieben die Geschicke der Menschheit lenkte. Doch manche Menschen hatten keine Furcht, nicht vor dem König, nicht vor der Kirche und nicht vor der Magie selbst. Manche hatten bloß Neugierde. Einer dieser Menschen war der alte Fehdamm, Stephanus Fehdamm, Freiherr von Sturmhaus, Oberhaupt der reichsten Familie des Talkessels. Auch wenn er selbst sich nicht auf den Umgang mit Magie verstand, so hatte er sich doch eine beträchtliche Sammlung angeeignet, durch seine unzähligen Reisen, Expeditionen und gewagten Unternehmungen in tiefe Sümpfe, hohe Gebirge und weite Wüsten. Dementsprechend viele Neider hatte er und unter ihnen, ein Mann ohne Stand und Titel, war auch Kersim. Kersim suchte ein Artefakt, gestohlen aus den heiligen Gräbern seines Volkes in der Wüste. Kersim suchte einen Weberstein.

    Der Mond war kaum mehr als eine dünne Sichel. Die Sterne blitzten klar und über Neigenbau lag der alles umhüllende Mantel nächtlicher Finsternis. Zwei Gestalten nutzten die Dunkelheit, wie sie von Schatten zu Schatten huschten, ihre Kleider schwarz wie die Nacht selbst. Sie waren in einer Gegend von edlen Häusern, Anwesen mit Gärten und hohen Schutzmauern. Doch sie waren nicht im oberen Viertel in der Stadt, nein, sie waren östlich der Neige, bei den Sturmhausanwesen, wo die Leute wohnten, deren Taschen tief genug für ihre eigene Sicherheit und für ihre eigene Wachmannschaft waren. Genug Reichtum, um ihre Ziergärten zu pflegen, ein großes Stück Land für nichts mehr als ihre eigene Belustigung zu besitzen, während im Umland sich die Söhne der Bauern um das magere Erbe zankten. Ohne eigene Wachmänner blieb solch ein Besitztum nicht lange in irgendjemandes Besitz. Doch die Wachen hier hatten einen gewissen Ruf und die Anwesen standen eins neben dem anderen, deckten sich so gegenseitig auf den Hängen der Berge. So thronten die Häuser der Reichen über allem, immer in Sicht an den Hängen im Nordosten, doch unantastbar. Die zwei Figuren näherten sich einem gewaltigen Grundstück, eine ausladende Villa mit tausenden von Erkern, vielen Stockwerken und verwinkelten Dächern. Die eine Gestalt war elegant und schnell. Der andere versuchte sein bestes mit ihr Schritt zu halten. Er war nicht unbedingt plump, doch ihm fehlte eindeutig ihre katzengleiche Gewandtheit. Sie hielten unterhalb der Außenmauer. Helle Fackeln auf mannshohen Stangen leuchteten vom Anwesen herüber und warfen zackige Schatten der eisengespickten Mauer auf die Straße.
    „Du kannst doch klettern, oder?“, flüsterte Sadiye.
    Frank bejahte.
    „Nicht so gut wie du, denke ich.“, fügte er hinzu. „Wir sollten noch einmal die Karte studieren.“
    „Nicht hier“, sagte sie.
    Sadiye griff seine Hand und führte ihn weiter. Frank fragte sich für einen Moment, ob sie geprüft hatte, ob die Wachmänner sie hier sehen könnten, doch er verwarf die Frage sogleich. Sie hatte es vermutlich, bloß war es wohl zu schnell für seine Augen gewesen und er täte sicherlich gut darin sie nicht zu unterschätzen. Sie erreichten einen Baum, eine alte Esche, nicht mehr als fünf Schritt von der Mauer entfernt. Nur die dünnen Zweige reichten bis zu den Eisenzacken hinüber. Aus dem Lauf, in fließenden Bewegungen und mit einer scheinbar mühelosen Eleganz erklomm sie den Stamm. Einen Moment später fiel vor Franks Füße ein Seil aus den Ästen.
    „Noch ist die Luft rein.“, zischte Sadiye. „Beeil dich!“
    Frank schnappte sich das Seil und zog sich in die Äste empor. Mit ihrer Hilfe war es ein leichtes. Sie bot ihm die Hand und half ihm auf einen dicken Ast, der sich zur Mauer neigte. Sie standen dicht an dicht. Ihrer beider Atem war ruhig, noch hatte der gefährliche Teil dieser Nacht nicht begonnen.
    „Die Karte“, flüsterte sie.
    Frank holte das Papier hervor. Kersim hatte sie noch vor wenigen Stunden selbst angefertigt. Die Striche der groben Zeichnung schimmerte silbrig im fahlen Mondlicht. Sie zeigte den Grundriss, jedoch nicht die Innenbereiche, bis auf zwei Treppenhäuser, einen geräumigen Empfangssaal und den zentralen Innenhof. Der begrünte Hof teilte das Gebäude in vier Seiten. Sadiye und Frank mussten unbedingt den Eingangsbereich vermeiden, zu viele Wachen, wenige Winkel und dunkle Ecken. Ihr Ziel war markiert. Kersim hatte dort ein Kreuz gesetzt: Der Tresorraum im östlichen Flügel, am Rande der Bibliothek, hinter den Schlafgemächern. Doch leider kamen sie von Westen her auf das Grundstück. Sie legte eine Hand auf seine Schulter und deutete durch die Blätter, über die Mauer und den fein gepflegten Rasen auf die mehrstöckige Westfront.
    „Wir müssen über die Fenster einsteigen.“, sagte sie. „Je weniger Zeit wir auf dem Außengelände verbringen, desto sicherer.“
    Frank spürte den Hauch ihrer Stimme, wie sie ihm ins Ohr flüsterte. Ein warmes Kribbeln überraschte ihn und wanderte seinen Rücken herauf.
    „Wonach genau suchen wir?“, fragte Frank.
    Kersim war in seiner Beschreibung äußerst mysteriös geblieben. Sadiye zuckte mit den Schultern.
    „Einen Weberstein, faustgroß, seltsame Symbole...“
    Frank sah sie skeptisch an, doch Sadiye winkte ab.
    „Wir werden es herausfinden.“, sagte sie. „Wertvolles Eigentum erkennt man an seiner Präsentation.“
    „Wohl war“, sagte Frank.
    Die protzige Überheblichkeit der Reichen galt in diesen Kreisen fast als ein Naturgesetz. Sadiye blickte hoch konzentriert an ihm vorbei: Zwei Wachmänner liefen dort Seit an Seit vorbei. Die Fackeln warfen ihre langen Schatten auf die Hauswand. Sadiye band sich das Seil um die Hüfte, stütze sich auf Franks Schulter, als sie sich an ihm vorbei wand. Mit präzisen Schritten balancierte sie den Ast entlang, bis zu dem Punkt, wo er dünn und zerbrechlich wurde. Sie ging in die Hocke und machte sie sich bereit zum Sprung, nahm ihre langen Haare zusammen, schob sie unter die Kapuze und blickte ihn über die Schulter an.
    „Wenn ich drüben bin, kletterst du über das Seil. Geschwindigkeit ist jetzt entscheidend. Bereit?“
    Er nickte. Die langen Schatten der Wachmänner verschwanden.
    „Los“, sagte sie.
    Sie nahm Schwung, der Ast wippte auf und nieder, und dann, mit allen Gliedmaßen, stieß sie sich ab und verschwand mit einem Rascheln durch das Blätterdach. Frank sprang vom Baum herunter, griff das ausgerollte Seil vom Boden und während er die Mauer erklomm, stemmte sie sich mit ihrem gesamten Gewicht auf der anderen Seite dagegen. Er erreichte die Spitze, trat mit aller Vorsicht über die gefährlichen Zacken und sprang herunter. Sadiye war schon wieder unterwegs. Sie sprintete zur Hauswand, und wieder, mit einer Sicherheit und Geschicklichkeit, die Frank den Mund offenstehen ließ, erklomm sie die Wand, den Schwung ihres Sprints nutzend. Nach drei Schritten aufwärts fand sie Halt im Fachwerk. Die schmalen Fugen zwischen Gebälk und Putz genügten ihren geschickten Fingern. Frank eilte ihr hinterher und als er die Mauer erreichte, war sie bereits am Fenster angelangt. Vorsichtig, ohne ein Geräusch zu provozieren, öffnete sie einen der Läden, zog sich hoch und verschwand im finsteren Hausinnern. Wie zuvor am Baum, kam einen Moment später das Seil hinab, mit dem Frank zu ihr aufschloss. Keuchend gönnten sie sich eine Pause und teilten das warme Gefühl von Erfolg und Sicherheit. Sadiye lachte leise, zwang sich aber die Ruhe zu bewahren.
    „Was ist?“, fragte Frank.
    „Nichts. Nur... du solltest versuchen etwas abzunehmen.“, sagte sie.
    Frank stieß empört die Luft aus. „Ich bin kein Kletterkünstler wie du! Werde es auch nie sein!“
    „Da hast du wohl Recht“, sagte sie, zwinkerte ihm zu und wies ihm den Vortritt.
    Frank ging zur Tür des kleinen Raumes. Sie war verschlossen.
    „Wie du siehst, bin ich aus anderen Gründen hier.“, sagte er, holte einen schmalen Lederumschlag hervor und rollte ihn vor der Tür aus.
    Eine Vielzahl unterschiedlicher Werkzeuge waren darin: Metallene Stifte, Zangen, gekrümmte Eisenstäbe, Drähte und Nadeln.
    „Von Kersim?“, fragte sie.
    Frank nickte nachdenklich und leckte sich über die Lippen. Er wählte zwei der Werkzeuge aus und machte sich am Schloss zu schaffen. Sadiye lehnte sich an den Türrahmen und beobachtete sein Tun.
    „Ich bin froh, dass du hier bist.“, sagte sie. „Für gewöhnlich bin ich von Anfang bis Ende unter Spannung. Zu zweit kann man wenigstens seine Erfolge feiern, ein bisschen mehr durchatmen.“
    Frank reichte ihr einen Eisenstift. Sie hielt ihn für ihn.
    „Ich hatte mal einen Partner.“, sagte Frank. „In Middenheim. Er war gebaut wie ein Schrank. Unsere Einbrüche hatten weniger...“, das Schloss klackte, „...Raffinesse.“
    Die Tür schwang einen Spalt breit auf. Er grinste selbstgefällig.
    „Aufregend waren sie dafür immer. Wollen wir?“
    Er bot ihr die Tür und Sadiye spähte hindurch. Ein langer Flur mit vielen Türen lag dahinter.
    „Wir sind im Flügel fürs Gesinde.“, sagte sie. „Wenige Wachen, vielleicht gar keine.“
    Flackerndes Kerzenlicht erhellte den Gang. Sie hielt einen Finger an den Mund und sie lauschten. Das Gebälk des Gebäudes knarzte ab und an. Keine Schritte, keine Stimmen.
    „Wir sollten nicht über die Eingangshalle gehen. Wir müssen durch die Schlafgemächer.“, flüsterte sie.
    „Auf geht´s, sagen wir Hallo.“, antwortete Frank.
    Das Diebespaar richtete ihre Kapuzen und sie schlüpften durch die Tür. Auf leisen Sohlen eilten sie den Flur entlang. Die Kerzen an den Wänden waren durch Windgläser geschützt, sie zu löschen würde also bloß Verdacht erregen. Der Gang führte der Länge nach durch den Westflügel. Es roch nun nach Seife und frischer Wäsche, dann nach Eintopf, Bier und Fleisch. Sie kamen dem Ende des Flurs näher, als sie Schritte hörten. Heller Feuerschein fiel in den Flur, jemand kam eine Seitentreppe hinauf. Ohne zu zögern zog Sadiye ihn durch eine Tür, es war stockfinster und ihre Herzen gefroren, als Frank gegen etwas stieß, es zu Boden fiel und laut polterte. Frank erkannte die Umrisse einer Sichel auf den Bodenbrettern neben dem Türrahmen. Es roch nach Rasenschnitt und nach Schweiß. Eine tiefe Stimme erklang.
    „Mach dir Tür ran!“, sagte jemand, empört aber schläfrig.
    Frank schob Sadiye in den Raum und schloss die Tür.
    „Entschuldigung“, antwortete er leise.
    Sie verharrten dort im Dunkeln. Sie hörten leises Schnarchen aus mehreren Kehlen, drei oder vier Männer, und sie hörten die Schritte, die den Flur entlangwanderten. Frank und Sadiye drängten sich in der Furcht noch etwas umzustoßen dichter aneinander. Als die Schritte nach einer gefühlten Ewigkeit verklungen waren drückte Sadiye die Tür wieder auf, sie verließen eilig den Raum und gingen schnell weiter. Der Flur machte eine Biegung. Dann weitete er sich ein wenig und wo das Schlafzimmer liegen müsste, endete in einer schweren, verzierten Tür. Zur rechten Seite stand ein deckenhohes Regal, gefüllt mit einer großzügigen Ansammlung von Schuhen, edlen Schuhen für schlechtes Wetter, für die Jagd, für Drinnen und Draußen. Zur anderen Seite war ein Stuhl nebst einer Treppe, die ins Erdgeschoss führte. Frank spürte eine leise Wut, als er die Menge an Schuhen sah. Er erkannte darin genau das, was mit jeder großen Stadt nicht stimmte: Die einen lebten im Überfluss und suchten sich ihre Kleider nach Lust und Laune aus, während der große Rest im Dreck lebte und sich nicht einmal ein einzelnes Paar Schuhe leisten konnte. Er schickte sich an zur Tür zu pirschen, doch Sadiye hielt ihn zurück. Sie tippte auf ihr Ohr. Jetzt hörte Frank es auch. Ein Pochen drang von der Treppe hinauf, Schritte, die Stufen herauf. Sadiye zog ihn um die Biegung zurück, sie suchte wieder nach einer Tür, doch diesmal hielt Frank sie auf. Die Schritte kamen näher, sie verstand nicht, zog ein seiner Hand, doch er blieb stehen und hob den Finger vor die Lippen. Dann verstummten die Schritte und sie hörten das Knarzen von Holz. Sie blickte ihn vorwurfsvoll an, doch er kam näher und flüsterte in ihr Ohr.
    „Er trägt Stiefel. Eine Wache. Der Stuhl neben der Tür, sein Posten.“
    Sie biss die Zähne zusammen und schüttelte den Kopf. „Wir müssen woanders lang.“, flüsterte sie.
    „Die Eingangshalle?“, fragte er.
    Sadiye nickte. Ihr Gesicht zeigte Besorgnis, ihre Augen waren unruhig.
    „Nein“, sagte Frank.
    Er griff hinter seinen Rücken und holte einen kurzen Gegenstand hervor. Es war ein hölzerner Totschläger. Er war überzogen mit schwarzer Farbe und glänzte matt im flackernden Kerzenschein.
    „Auch von Kersim“, sagte er leise. „Gib mir einen Augenblick.“
    Sadiye blieb stumm, biss sich bloß auf die Lippen und blickte besorgt. Frank drückte sich an die Wand und folgte der Biegung in kleinen, vorsichtigen Schritten. Sadiye blieb mit ein wenig Abstand hinter ihm. Frank hielt die Luft an und spähte den Gang hinunter, zuckte aber sofort wieder zurück. Die Wache saß auf seinem Stuhl, die Augen offen und auf die Zeilen eines Buchs gerichtet. Bei allen Wachen des Talkessels musste er auf die eine treffen, die des Lesens mächtig war, ärgerte sich Frank. Er gab Sadiye einen aufmunternden Blick, der mehr seiner eigenen Motivation dienen sollte. Sie konnte von ihrer Position aus die Situation nicht einschätzen und sah ihn bloß fragend an. Dann, laut und deutlich, als wäre es das normalste Gespräch, sagte er:
    „Na ja, du weißt nie wem du trauen kannst.“
    Wer da?“, kam es sofort vom Gang hinunter.
    Sadiye blickte ihn mit offenem Mund an. Angst und Verwunderung vermischten sich auf ihren Zügen. Frank redete unbeirrt weiter:
    „Ach, es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird!“, plauderte er vor sich hin.
    Die Wache kam den Gang hinunter. Frank stellte sich vor Sadiye, sodass sie von ihm verdeckt wurde.
    „Was zum Teufel macht ihr hier?“, blaffte die Wache ihn an.
    Franks Griff um den Totschläger wurde fester, seine Knöchel wurden weiß.
    „Das hätte dir auch jeder sagen können.“, flötete Frank in beiläufigem Gesprächston.
    Die Wache griff seine Schulter. Dann ging alles sehr schnell: Frank packt die Hand, zog daran, die Wache stolperte, Frank wirbelte herum und schlug, mit voller Kraft und aus der Drehung heraus mit seinem Totschläger zu. Es klackte laut, als Holz auf Knochen traf. Der Mann erschlaffte sofort, Frank fing ihn auf und Sadiye half, ihn wieder auf seinen Stuhl zu setzen. Das Buch lag neben dem Stuhl und Frank legte es aufgeschlagen auf seinen Schoß, sodass es den Eindruck erweckte, dass er eingeschlafen wäre. Sadiye stemmte die Hände in die Hüften. Ihre bodenlose Fassungslosigkeit stand ihr ins Gesicht geschrieben und Frank lächelte unschuldig.
    „Schau dir das an...“, sagte er, „...der Mann kann lesen. Eine Wache! Ihr seid mir ein paar seltsame Leute im Talkessel.“
    Sie kam heran und bohrte ihm den Zeigefinger in die Brust.
    „Das nächste Mal...“, zischte sie, „...sagst du mir Bescheid, wenn du planst unsere Köpfe in die Schlinge zu legen.“
    Frank hob entschuldigend die Hände. „Allemal besser als die Eingangshalle, oder?“
    Sadiye schnaubte erbost und zog ihm seine Kapuze ins Gesicht.
    „Mach lieber deine Arbeit.“, sagte sie und deutete streng auf die Tür.
    Frank verkniff sich eine Erwiderung und widmete sich dem Schloss. Auch wenn sie noch etwas erzürnt war von ihm, beobachtete sie ihn wieder neugierig, wie er Werkzeuge wählte, die Riegel untersuchte, verschiedene Bewegungen probierte. Er warf ihr einen Blick zu.
    „Willst du das Schlösserknacken lernen?“, fragte er.
    „Vielleicht. Nicht jetzt.“
    Sein Blick fiel auf das Schuhregal und er seufzte vernehmlich.
    „Sag mir bitte...“, sagte er in flehendem Ton, „...dass du einen Beutesack dabei hast.“
    Sadiye fasste sich an die Hüfte und löste den Knoten einer schwarzen Schärpe, die sich als geräumiger Beutel herausstellte.
    „Mögen die sieben Wächter dich segnen.“, sagte Frank erlöst.
    Sie gab ihm ein gewinnendes Lächeln.
    „Kannst du mir die da einpacken?“
    Er zeigte auf ein Paar braune Stiefel aus fein polierter, wetterfester Snapperhaut. Mit den Fingerspitzen zog sie die Stiefel heraus und ließ sie hintereinander in den Sack plumpsen. Frank biss sich auf die Unterlippe, denn sein Grinsen war kaum zu verbergen. Endlich zog er wieder etwas Beute an Land, es war für ihn wie ein kleines Stück Heimat, ein kleines Stück Middenheim und es war ein Erfolg, der so süß und so bitter nötig gewesen war in diesen grauen und leidvollen Tagen im Talkessel. Wenn er sich das Eigentum des reichsten aller reichen Pinkel des Tals unter den Nagel reißen konnte, fanden all die Erniedrigungen und Kompromisse einen kleinen Ausgleich, ein Stück Gerechtigkeit. Sadiye legte eine Hand auf seine Schulter.
    „Konzentriere dich, Frank!“, flüsterte sie. „Feiern können wir, wenn wir hier raus sind.“
    Frank sammelte sich, sie hatte Recht. Es dauerte nicht lang und das Schloss war geknackt. Langsam, sehr langsam, öffnete er die Tür. Sie stand erst einen Spalt breit offen, als sie begann zu quietschen. Erschrocken hielten sie die Luft an. Frank öffnete wieder den Lederumschlag. Dieses Mal nahm er nicht einen Dietrich, sondern einen kleinen Schlauch aus Schafsdarm und drückte sich einen Tropfen breiigen Moleratfetts auf den Finger und verteilte es auf den Scharnieren der Tür.
    „Gern geschehen“, murmelte er.
    Sie probierten es wieder und die Tür schwang geräuschlos auf. Der Raum dahinter war groß. Drei hohe Fenster bildeten einen Erker, wo ein ausladendes Himmelbett stand. Das Licht war zu gering, um Genaueres zu erkennen, doch sie sahen eine Gestalt unter der Decke ruhen. Frank erinnerte sich an eine Weisheit aus dem Diebeshandwerk:
    Nicht im Schlafzimmer gierig werden, dachte er.
    Sie durchquerten den Raum. Die Tür auf dieser Seite war schlichter, weniger massiv und sie war vor allen Dingen nicht verschlossen. Sadiye drückte ihr Ohr an das Holz. Nach ein paar stillen Atemzügen nickte sie Frank zu, drückte behutsam die Klinke herunter, die zwei schlüpften durch die Tür und ließen das Schlafgemach des alten Fehdamm hinter sich. Dieser Flur war breiter als auf der anderen Seite. Wandteppiche und Gemälde schmückten ihn zu beiden Seiten, dies musste der Wohnbereich der Fehdamm Familie sein. Auch hier leuchteten Kerzen unter Windgläsern die Flure aus. Sadiye ging voran. Der Gang wand sich um mehrere Ecken. Sie kamen an verschiedenen Schlafgemächern vorbei, von denen man leises Schnarchen hören konnte und mache Türen standen offen. Die Räume waren für die jeweiligen Bedürfnisse der Bewohner angepasst; es waren Schreibkammern, Lese- und Waschräume, Musikzimmer und Diwans, der Reichtum war in allen Ecken zu bezeugen. Es war ein Teil des Anwesens, der nicht auf der Karte verzeichnet war. Sie irrten durch die Gänge, grob die Orientierung bewahrend, doch seit Frank die Wache bewusstlos geschlagen hatte, standen sie unter Zeitdruck: Wann der Mann aufwachen würde, gefunden werden würde, oder man ihn woanders vermisste, dies war ein unlösbares Rätsel, also eilten sie schneller durch die verwinkelten Gänge. Schließlich erreichten sie in einen schlichteren Teil des Hauses. Die Wandteppiche blieben aus, die Wände waren nicht länger aus Holz, sondern bestanden aus kaltem Stein. Der Flur führte sie zu einem Bogengang. Sie traten hindurch und sahen: Sie waren in der Bibliothek angelangt. Es war ein gewaltiger Raum. Auf allen Seiten waren die Bücherregale, hoch und prall gefüllt mit Werken aus alten Zeiten, keine Wand lag frei, über mehrere Stockwerke hinweg. Manche Bücher waren abgesichert hinter schweren Gittern und manche quollen fast aus ihren Reihen. Frank erspähte sogar eine bewegliche Plattform, vielfach verseilt und kontrolliert durch eine große Winde. Ein Kran konnte das Gehänge durch den gesamten Raum bewegen, um jedes Buch erreichen zu können. Die Winde verstellte dabei die Höhe. Obwohl Sadiye und Frank am Geländer der dritten Etagen standen und eine gute Aussicht genossen, konnten sie von hier aus nicht das andere Ende der Bibliothek ausmachen. Das Licht war zu schummrig und hohe Regale und kreuz und quer gezogene Laufstege versperrten die Sicht. Sie sahen hinab und erspähten eine alte Frau. Ihre Gestalt war krumm, die grauen Haare lang bis über die Schultern und sie ging in kleinen Schritten mit den Händen hinter dem Rücken. Sie hielt, hob langsam den Blick und sah sie an. Die zwei Eindringlinge waren verborgen im Schatten, in tiefstem Schwarz, wie ihre Kleider selbst und auch noch ein gutes Stück entfernt, doch die Frau sah sie an, starr und unmissverständlich. Ihre Augen schimmerten silbrig, wie die eines Blinden. Frank wurde mulmig, er packte Sadiye am Oberarm, wollte sie wegziehen.
    „Warte“, sagte sie.
    Ein Mann näherte sich der Frau und die Alte löste ihren Blick. Der Mann trug einen Stapel Bücher. Unverständlich durch die Entfernung hallten ihre Stimmen zu ihnen hinauf.
    „Gehen wir“, flüsterte Sadiye.
    Auch sie war von dem eisigen Starren der greisen Frau nicht unberührt geblieben, doch sie schüttelte ihr Unbehagen schnell ab. Sie führte ihn in eine noch dunklere Ecke des Laufgangs. Die beiden Figuren unterhalb verschwanden zwischen den Schluchten der Bücherregale. Auf Kersims Karte war die Bibliothek vermerkt und ihr Ziel, der Tresorraum, direkt daneben. Doch wo genau, dafür waren die Striche zu grob. Sie suchten mit ihren Augen die Laufgänge ab, doch nirgends ein Durchgang oder eine Tür. Sadiye gab ein Zeichen. Frank sollte warten. Sie legte den Beutesack ab, stieg aufs Geländer und sprang. Schon hangelte sie an einem Seil, wand sich empor, von dort zum nächsten und erklomm schließlich einen luftigen Steg, aufgehangen an dicken Tauen. Franks Hände wurden schon schweißnass, wenn er ihr nur zusah bei ihrer akrobatischen Kunst. Innig hoffend, dass er nicht den gleichen Weg nehmen musst, beobachtete er ihren Abstieg. Sadiye machte sich nicht einmal die Mühe, wieder neben ihn zu treten, baumelte vor ihm an einem Seil, während sie die Position ihres Ziels beschrieb: Im Dachstuhl, drei Stockwerke höher, war eine eisenbeschlagene Tür. Es gäbe eine Treppe am anderen Ende, doch diese sei bewacht. Bevor er sich versah war sie wieder davon und bald kam ein Seil herab, landete direkt vor Franks Füßen. Er schwang sich den Beutesack über, prüfte noch einmal seine Taschen und seine Ausrüstung und begann schweren Herzens den Aufstieg. Drei Stockwerke, für Sadiye scheinbar nur ein Kinderspiel, für Frank eine Bärenaufgabe. Seine Finger schmerzten nach dem Ersten, die Haut wurde schwielig nach dem Zweiten und als im Dritten Sadiye ihm helfen musste und ihn über das letzte Geländer zerrte, waren seine Arme so weich wie Butter. Er keuchte, versuchte mit Mühe und Not nicht zu laut zu atmen, doch hier oben, im Dachstuhl der Bibliothek, war zu ihrem Glück eh niemand, der sie hören konnte. Zwei Lampen waren hier, zu ihrem Glück aber beide schon ausgebrannt. Eine Wache, die die Lichter entzünden kam, war ihnen lieber, als schon von der Ferne sichtbar zu sein. Der Ausblick von hier oben war umso beeindruckender, doch Sadiye drängte Frank sich an die Arbeit zu machen. Die Tür war gut gepflegt, der Eisenbeschlag geölt und das Schloss neu. Auch die Mechanik war nicht billig, Frank ertastete drei Stifte, die es zu drücken galt. Zum Glück hatte er alles Werkzeug dabei. Nach wenigen Minuten war das Rätsel gelöst und die Tür gab den nächsten Raum frei. Er war klein, schmucklos, die Wände aus glattem Stein und eine einzelne Tür war gegenüber. Diese war vollständig aus Eisen. Der Rahmen verschwand hinter dickem Gemäuer, vermutlich konnte die Tür nicht aufschwingen, sondern man musste sie zur Seite aufschieben. Mittig waren zwei Schlüssellöcher, nah beieinander auf gleicher Höhe mit symmetrischen Umrissen. Frank pfiff beeindruckt.
    „Allemal teuer. Sieht schwierig aus.“, sagte er.
    Er klopfte gegen das Metall und versuchte sich zunächst einmal die Mechanik der metallenen Tür auszumalen, doch er verwarf den Versuch schnell. Ein gutes Schloss war bereits ein komplexes Gebilde aus Federn, Klammern und Schaltern. Zwei zugleich zu entwerfen, das war ein Fall für einen meisterhaften Handwerker – ein Dieb musste nur herausfinden, wie man die Mechanik betätigte. Die Vermutung, dass beide Schlösser zur gleichen Zeit geöffnet werden mussten lag nahe. Warum sonst sollte jemand sie so nah beieinander platzieren? Er untersuchte mit einem dünnen Stab den Innenraum der beiden Schlösser. Sie waren spiegelverkehrt, ansonsten aber identisch. Man bräuchte zwei Schlüssel. Schmal und länglich waren sie außerdem.
    Frank fluchte leise.
    „Was ist los?“, fragte Sadiye.
    „Die Schlösser sind genau gleich, gespiegelt zueinander.“
    „Und?“
    „Und ich habe nur ein Exemplar von jedem Dietrich, nicht zwei. Ich kann in diese feineren Schlösser nicht irgendeinen Draht reinstecken.“
    Da sie auch keine Lösung für dieses Problem wusste, schwieg sie. Ob der Schlosser ein solche Situation vorhergesehen hatte? Dem gerissenen alten Fehdamm war dies zumindest zuzutrauen. Sadiye ging zur Tür und hielt Ausschau. Frank probierte seine Werkzeuge durch, fand die passenden und begann mit seiner Arbeit. Er kam voran, das Schloss drehte sich, doch wie erwartet blockierte der Mechanismus nach einer halben Umdrehung. Das andere Schloss müsste nun bedient werden. Also setzte er dort einen gröberen Dietrich an. Kratzend drehte er sich. Langsam und mit etwas Kraft begann der eiserne Stift sich zu bewegen, doch dann, mit einem metallenen Klang, sprangen die Schlösser zurück. Plötzlich stand Sadiye neben ihm. Sie zog ihn von der Tür weg und drückte ihn in eine Ecke. Er sah die Umrisse eines Mannes durch die Tür.
    „Hallo? Wer da?
    Der Mann zog sein Schwert. Die Klinge blitzte im Dunkeln.
    „Habt ihr das Licht gelöscht?“, sagte der Mann.
    Vorsichtig öffnete der Wachmann die Tür, setzt langsam einen Fuß vor den anderen, hinein in die Dunkelheit der Kammer. Dann, sein Schwert schnellte voran, zeigte in die Ecke des Raumes.
    Ha! Hab ich euch!“
    Sadiye rührte sich nicht. Das Schwert zeigte in die eine Ecke, aber sie saßen in der anderen. Sie hielt Frank fest, seine Hand lag auf seinem Totschläger, aber ihr Griff um seinen Arm hielt ihn zurück. Der Mann lockerte wieder seine Haltung, schob sein Schwert wieder in die Scheide, brummelte etwas enttäuscht vor sich hin und ging zu einer der gelöschten Kerzen. Dort kramte er in seinen Taschen. Sadiye lies Frank los. Jetzt pirschte er sich an. Den Totschläger hoch über dem Kopf erhoben kam er näher. Der Mann nahm das Windglas von der Kerze, machte eine Bewegung, Eisen traf auf Feuerstein, Funken sprühten und das Licht blitzte durch den Raum. Frank schlug zu. Das Holz traf den Mann am Schädel, streifte ihn aber nur, denn er hatte ihn gesehen. Der Wachmann wirbelte herum, Frank packte ihn am Kragen, presste die andere Hand an seinen Hals. Feuerstein und Eisen fielen zu Boden, klirrten hell auf harten Stein, in der anderen Hand hatte er noch das Windglas der Lampe, auch das ließ er fallen. In langen, schier ewigen Momenten fiel das Glas, näherte sich dem Boden, würde zerschellen mit lautem Schall, doch Sadiye war heran. Mit einem gewagten Hechtsprung war sie gesprungen, schlitterte an den ringenden Männern vorbei und das Glas landete sicher in ihren Händen. Dann traf die Faust auf Franks Kiefer. Noch einmal, doch Frank ließ nicht locker, drückte auf die Kehle des wutentbrannten Wachmanns, verhinderte, dass er um Hilfe rufen konnte. Der Mann drückte sich von der Wand ab, überrumpelte Frank, sie stürzten zu Boden, überschlugen sich und Frank verlor seinen Griff. Doch gleich packte er wieder zu, presste seine Hand auf den Mund. Mit einem dumpfen Schrei biss der Mann zu. Frank ächzte, blieb aber Herr seines Schmerzes, ließ nicht locker. Ein weiteres Mal traf die Faust in Franks Gesicht. Ihm wurde schwindlig, doch Sadiye war herbei. In einer fließenden Bewegung schlang sie ihre Beine um den Hals der Wache und presste sie zusammen. Doch auch das sollte nicht reichen. Der Mann war in Rage, schlug auf Frank ein, strampelte mit allen Gliedmaßen, hieb Sadiye in Bauch und Nieren. Die Situation geriet außer Kontrolle. Ein Schrei, ein Ruf würde genügen. Sadiye, immer noch mit den Schenkeln um seinen Kopf gewunden, wurde zu Boden geschmettert, rücklings und hart. Die Luft wurde ihr aus der Lunge gepresst, ihre Klammer löste sich, der Mann war frei, doch Frank war heran. Hartes Holz traf auf seinen Schädel und der Wachmann ging bewusstlos zu Boden. Blut rann aus Franks Nase und Sadiye hielt sich ihre Seite. Sie fluchte still, während sie sich aufrichtete. Sie keuchten, während sie auf den Bewusstlosen niederblickten.
    „Er muss sterben“, sagte Frank und kniete sich neben den Wachmann.
    „Warte-“, sagte Sadiye.
    Doch Frank begegnete ihrem Blick und ihren Zweifeln: Sein Gesicht war ernst und sein Ton nüchtern.
    „Er hat dich gesehen. Er kennt dein Gesicht. Deine Hautfarbe.“, sagte Frank.
    Sie kam herüber, doch Frank hatte bereits den Dolch an seiner Kehle und bevor sie etwas tun konnte, drückte er zu. Ohne Geräusch oder Widerstand verlor der Mann sein Leben. Rotes Blut quoll hervor und breitete sich auf den kalten Steinen aus. Frank reinigte die Klinge an den Kleidern des Toten, verstaute Dolch und Totschläger und durchsuchte den Mann. Er fand was er suchte: Einen Schlüssel, frisch poliert und fein gefertigt. Er probierte ihn, er passte! Frank gab ihn an Sadiye und wiederholte sein Vorgehen am anderen Schloss. Mit dem Dietrich in Position gab er ihr ein Zeichen: Gleichzeitig drehten sie. Die Schlösser sprangen auf, die Tür glitt zur Seite und gab den Raum dahinter frei. Er war klein. Die Wände waren glatt, aus massiven, geschliffenen Steinblöcken. Ein violettes Schimmern spendete Licht. Es kam von der Decke und es sah aus wie eine Schnur mit einem dicken Tropfen daran, in dessen Zentrum das seltsame Leuchten pulsierend glomm. Sonderbare Gegenstände waren sorgfältig aufgereiht. Sie lagen auf kleinen Tischchen, oder hingen von Haken an den Wänden. Ein Schopf von langem, zotteligem Haar, eine Schale gefüllt mit Pflanzensamen in den seltsamsten Formen, daneben eine mit Zähnen und Klauen, einige Schatullen, der Schädel eines Menschen überzogen mit filigranen Gravuren auf scheinbar jeder freien Fläche. Gold, Edelsteine und Schmuck fehlten, zumindest die Art von Schmuck in wertvoller Erscheinung. Frank hob seine Hand, bewegte sie zu einem Netz aus dünnen Seilen, vielleicht ein Fischernetz, zog sie aber schnell wieder zurück, als die Stricke wie von Geisterhand bewegt seinen Fingern entgegenkamen.
    „Hier“, sagte Sadiye.
    Sie stand vor einem Podest. In samtenen Stoff gebettet lag ein faustgroßer Stein, eingerahmt in einer polierten Fassung. Einkerbungen zierten die Mitte und Frank erkannte darin ein Gesicht mit geschlossenen Augen, darüber eine Anzahl von Sternen, die im Verlauf von links nach rechts verblassten, ihre Strahlen verloren. Eine Ecke fehlte, es schien jedoch nur die Fassung beschädigt zu sein, nicht der Stein selbst. Sadiye schnappte sich den Weberstein und im gleichen Moment, in dem sie ihn berührte, geschah etwas Seltsames: Blaue Funken sprühten aus der beschädigten Stelle. Die meisten verirrten sich ziellos im Raum, verblassten, bis sie gänzlich verschwanden. Einige landeten jedoch auf Sadiyes Arm und sanken dort langsam ein, unter ihre Kleider, durch ihre Haut. Eilig warf sie den Stein in den Beutesack und wie der Stein ihre Finger verließ erloschen die Funken.
    „Sadiye?“, sagte Frank.
    Die Severim blickte ins Leere. Verwundert sah sie zu Frank, der behutsam eine Hand auf ihre Schulter gelegt hatte. Sie blinzelte mehrmals.
    „Wir müssen los.“, sagte er und blickte ihr tief in die Augen. „Sadiye? Wir haben, was wir wollen.“
    Sie runzelte die Stirn, schüttelte den Kopf, als würde sie versuchen einen falschen Gedanken loszuwerden.
    „Ja“, sagte sie langsam. „Wir müssen gehen.“ Sie nickte bedächtig, als hätte sie vergessen, war sie hier waren und würde sich nun erinnern. Plötzlich war sie wieder ganz klar:
    „Gehen wir“, sagte sie
    Sie machte sich auf und ließ Frank mit verwirrtem Blick stehen. Er wollte ihr folgen, aber es störte ihn, dass sie sich die ganze Mühe gemacht hatten, so weit zu kommen und nun nichts aus diesem Raum für sich nahmen. Er blickte sich ein letztes Mal um. Alles hier war ihm unheimlich. Eilig entschied er sich für eine Jagdtrophäe, einen fingerlangen Reißzahn einer Bestie, die Frank nicht kannte. Als er ihn berührte, bemerkte er, dass der aschfahle Zahn wie aus eigener Kraft zitterte, beständig und unerklärlich. Er verstaute den Zahn in seinem Gürtel.
    „Komm schon!“, zischte Sadiye.
    Sie stand schon am Geländer. Die Leiche ließen sie beim Tresorraum zurück, da Spuren zu verwischen zwecklos wäre. Die kleine Schatzkammer zu verlassen gab ihm wieder Ruhe und Fokus, denn wie jeder vernünftige Mensch hatte auch die beiden Diebe eine gesunde Furcht und Vorsicht gegenüber wahrhafter Magie und ihrer seltsamen Aura. Sadiye führte sie zurück durch die Gemächer. Eine einfache Tür zur Nordseite hin brachte sie in eine Schreibkammer. Für sie war nur wichtig, dass es ein Fenster hatte, ein Fenster zum Außengelände. Sadiye zurrte das Seil fest. Im Moment war keine Wache in Sicht. Nur die Flammen der Fackeln auf ihren langen Stangen tanzten im sanften Wind, täuschten Bewegungen vor, wenn sie ihre langen Schatten auf die Vorgärten warfen. Sadiye legte eine Hand auf Franks Schulter und hielt ihn zurück.
    „Danke“, sagte sie.
    Frank winkte ab, drängte darauf die Flucht anzutreten.
    „Frank“, sagte sie. „Ich habe noch nie jemanden getötet.“
    Frank blickte sie stumm an. Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder und hob ratlos die Schultern.
    „Du hast kein Blut an deinen Händen.“, sagte er schließlich.
    Sie schnaubte ablehnend und fuhr sich durch die Haare. „Aber du? Du doch nur meinetwegen.“
    Er schüttelte den Kopf, wusste auch keine Antwort mehr und dachte an seinen Bruder und den blutig geschlagenen Jungen. Sie kam heran, legte ihre Arme um ihn und hielt ihn. Sie standen da im fahlen Mondlicht, der Wind fuhr sanft durch das Fenster, und sie umarmten einander. Sie schwiegen und verharrten so, bis schließlich Frank sich löste und sich eilig die Augen rieb.
    „Ist in Ordnung so.“, sagte er gepresst. „Wir müssen los“
    Sie nickte. Er warf einen Blick aus dem Fenster.
    „Wie geplant...“, sagte er, „...du nimmst die Beute und verschwindest. Ich nehme den Haupteingang. Es muss schließlich einen Einbrecher bei den Fehdamms gegeben haben, keine Einbrecherin.“
    Er stieg aufs Fensterbrett und sie berührte ihn am Arm.
    „Schüttle die Wachen einfach bei den zwölf Wirten ab.“, sagte sie und hatte Sorgenfalten auf der Stirn. „Ich sehe dich bei Kersim.“
    Es war eher eine Frage als eine Feststellung.
    „Keine Sorge.“, sagte Frank und zwinkerte ihr zu. „Das ist nicht das erste Mal, dass ich die Wache auf den Fersen habe.“ Sie tauschten einen letzten Blick, dann Sadiye aus dem Fenster.

    Frank keuchte und schnaufte, es stach in seiner Seite, er wurde langsamer, lief in langen Schritten aus und kam schließlich zum Halten. Seine Lunge brannte, er wollte sich auf seine Knie stützen, doch sein Seitenstechen verbat es ihm. Seine Brust bebte von den schnellen Schlägen seines Herzens. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Die Flucht nach einem Einbruch, wenn man alle angestaute Anspannung entladen konnte, war ein unvergleichliches Erlebnis. Frank gab sich einen Ruck, seiner Erschöpfung zum Trotz, und fiel wieder in ein Traben ein. Er hatte die Wachen zwar schon lange abgehängt, das Kneipenviertel der zwölf Wirte mit seinen vielen Gassen und dunklen Winkeln machte daraus ein Kinderspiel, doch sein Ziel hatte er noch nicht erreicht. In der Suppe waren die Straßen schlammig wie eh und je und auch wenn seine Schuhe immer wieder tief im Matsch versanken, konnte das seine Stimmung nicht mehr trüben. Das Gefühl von Freiheit beflügelte ihn. All seine Probleme, sein gestohlener Karren und sein Esel, der schlechte Preis für die Ware der Banditen, sein leerer Geldbeutel, Letos Bewährungsprobe, alles löste sich mit dem Erfolg dieser Nacht in Luft auf. Er bog um eine letzte Ecke und sah Kersims Laden. Nicht zuletzt waren es auch die Gedanken an Sadiye, die sein Herz höherschlagen ließen.


    III Der Geheime Zirkel, 2. Treffen
    Im Jahre des Addo 389, In der Nacht des 19. September
    Ratsherr Benjamin hatte sofort die Hand gehoben, als Quentin das Treffen eröffnet hatte. Dringliche Belange gingen vor. Jetzt warteten die Männer und Frauen auf seine Worte.
    „Heute war ein Mann in der Ratskammer.“, begann er. „Einer der Bauern, westlich der Neige. Großbauer Brendan Wankel, Besitzer der Apfelzucht und Obmann der anliegenden Höfe. Er vertritt gut ein Drittel der Bauern der Umgebung.“
    Benjamin trug die Brosche des Stadtrates auf der Brust und als wäre ihm das bronzene Emblem unbequem, zupfte er sein bauchiges Hemd zurecht.
    „Der Bauer hatte eine Bitte. An die Ratskammer.“
    Die Versammlung war still, alle lauschten seinen Worten. Ihre Gesichter waren ernst. Benjamin schluckte, bevor er fortfuhr. Seine Stimme klang etwas belegt.
    „Er hat mir eine Liste mit Namen gegeben.“
    Er warf ein Pergament auf den Tisch.
    „Es sind Opfer von Raubüberfällen. Todesopfer.“
    Die Blicke der Versammlung folgten dem Papier, wie es sich in voller Länge entrollte. Quentin hielt den Atem an. Mehr als dreißig Namen waren darauf. Benjamin verschränkte die Arme hinter dem Rücken und blickte streng.
    „Dies sind Männer, Frauen und Kinder. Er bat den Rat, die Räuber zu finden und zur Strecke zu bringen.“
    Die Gruppe schwieg.
    „Die Wahrheit ist...“, sagte Benjamin mit großer Besorgnis, „...dass dies nicht alle sind. Das sind die Namen derer, deren Leichname man geborgen habt. Die Zahl der Verschleppten soll noch höher sein. Und diese Zahl bezieht sich gerade einmal auf dieses Jahr.“
    „Das Banditenlager“, sagte Quentin nüchtern.
    Quentin schaute in die Runde und einige schüttelten betroffen den Kopf.
    „Ihr solltet wissen…“, sagte Benjamin „…der Großbauer geht ein hohes Risiko ein uns zu berichten. Wir hören erst jetzt von diesen Zahlen, weil man den Bauern droht, denn wer redet, der stirbt. Diese Zahlen, 37 Tote, das war ihre Leidensgrenze.“
    Boris brummte in seinen Bart. „Mit wie vielen Banditen haben wir es zu tun?“
    Benjamin zuckte mit den Schultern. „Schwer zu sagen. Es muss schon eine Bande sein, es könnten aber auch-“
    „Meine Frage richtete sich eher an unser neues Mitglied.“, unterbrach ihn Boris.
    Seine ernsten Augen waren auf Hermann gerichtet und die Blicke der anderen folgten seinem Vorbild.
    „Wie viele Banditen?“, sagte Boris. „Leiht uns eure militärische Sichtweise!“
    Der Hauptmann, etwas überfordert damit so plötzlich auf die Bühne gestoßen zu werden, räusperte sich. Sadiyes Augen durchbohrten ihn schon seit seiner Ankunft, doch nun sah ihn auch die Frau daneben prüfend an. Sybille hatte die Arme verschränkt und die Brauen erwartungsvoll gehoben. Als diejenige, die ihn eingeweiht hatte, trug sie die Bürgschaft für seinen Beitritt. Hermann atmete tief ein.
    „Das sind tatsächlich beängstigende Zahlen. Es geht nicht darum, wie groß eine Truppe sein muss, um so viele Menschen zu töten. Es geht darum, wie viele Höfe sie plündern müssen, um sich selbst zu erhalten. Warum sie ihre Opfer verschleppen, ist mir jedoch ein Rätsel. Doch Banditen sind keine Soldaten, ihre Organisation ist nicht militärisch, ihre Raubzüge ungeordnet. Vermutlich sind es mehrere Parteien und vermutlich sind sie mehr von Gier getrieben als von Taktik und Berechnung.“ Nachdenklich rieb der Hauptmann sich das Kinn. „Ich schätze ihre Zahl auf fünfzig, vielleicht sechzig Mann, vereinzelt in mehreren Splittergruppen.“
    Hermann verschränkte die Arme und sah in die Runde. Quentin hüstelte höflich.
    „Einhundert Mann“, sagte der Kaufmann und strich sich durch den Bart. „Einhundert Mann in einem Lager, so ist die Lage unseres Wissens nach.“
    „Unmöglich!“, protestierte Hermann. „Sie wären schon lange aufgeflogen!“
    „Unser Kontakt sagt etwas anderes.“, beharrte Quentin.
    „Wer ist dieser Kontakt?“
    „Ein Mann namens Raul“
    „Und ihr vertraut diesem Mann?“
    Quentin zuckte mit den Schultern. „Wir haben ihn nie gesehen. Der letzte Brief ist mehr als ein Jahr her, seitdem herrscht Stille.“
    „Ihr vertraut also blind.“, schloss der Hauptmann. „Dieser Raul kann behaupten, was er will, aber große Banden halten nie lange. Sie zerfallen wegen Machtkämpfen, oder wegen ihrer Ziellosigkeit, oder wegen dem Mangel an Struktur und Ordnung. Das ist etwas, was nur das Militär kann: Über lange Zeit die Befehlshoheit erhalten.“ Er kratzte sich an der Stirn. „Wie viele Banditen fragt ihr? Achtzig, vielleicht. Nicht mehr als einhundert, ganz sicher.“
    Sadiye lachte auf. „Euch laufen die Männer weg und dann redet ihr von Befehlshoheit!“ Sie spuckte auf den Boden, ihre Augen blitzten. „Wie viele sind desertiert? Zehn? Zwanzig?“
    „Der Kommandant hat die Männer im Griff!“, sagte Hermann laut, ohne Rücksicht auf seine Beliebtheit, hier musste er seinen Mann stehen.
    Boris, der Schmied, gab Sadiye ein besänftigendes Zeichen, stütze seine dicken Arme auf den Eichentisch und fasste den Hauptmann ins Auge.
    „Dann macht euch an die Arbeit.“, sagte er. Seine strengen Augen durchbohrten Hermann geradezu und er hob stolz sein Kinn. „Die Blutjacken haben doch selbst schonmal die Höfe geplündert, seht es als Wiedergutmachung.“
    „Wenn wir wüssten, wie viele Kämpfer-“, fing Hermann an, doch Boris Faust krachte auf den Eichentisch nieder. Die Muskeln seines mächtiger Schmiedearms zuckten respekteinflößend.
    37 Tote!“, donnerte er. „Reicht das nicht?“
    Seine sonst so nüchterne Art war gebrochen, seine Haut hinter seinem buschigen schwarzen Bart war rot vor Wut, aber Quentin hob beschwichtigend die Hände, bat um Ruhe.
    Meine Herren...“, sagte er, „...eines nach dem anderen!“
    Langsam senkte Quentin die Hände und der Schmied entspannte sich ein wenig. Quentin stellte das neueste Mitglied vor. Der Kaufmann, stets der Streitschlichter, bemühte sich ausdrücklich den Soldaten gebührlich zu empfangen, da dieser Auftakt beginnend mit dieser offenen Feindschaft des Hauptmanns Motivation durchaus schmälern konnte. Doch Hermann gab sich unberührt und gelassen und nickte den Mitgliedern höflich zu. Die wenigsten in der Runde erwiderten seinen Gruß.
    „Aber sagt uns, Hauptmann…“, sagte der Kaufmann, „…kann die Armee sich den Banditen in Tanneck annehmen?“
    Quentin legte die Hände zusammen und sah den Soldaten erwartungsvoll an. Der Hauptmann sah zu Boden, seine Stirn lag in Falten. Er ließ sich einen Moment Zeit, sich seine Antwort zurechtzulegen, einen Moment, den ihm die Mitglieder geduldig vergönnten.
    „Wir brauchen Aufklärung“, sagte er dann.
    „Wir haben keine Zeit.“, sagte Sadiye sofort.
    Quentin warf ihr einen strengen Blick zu, dass sie den Hauptmann schon wieder unterbrach, doch sie begegnete seinem Blick unumwunden und ließ sich kein bisschen einschüchtern.
    „Sie haben Ferdinand.“, sagte sie. „Und wir haben keine Zeit.“
    Quentin biss sich auf die Lippen. Er hatte es bereits erfahren, einige andere Mitglieder starrten sie mit offenem Mund an. Der Junge war kein Mitglied, aber was spielte das für eine Rolle? Er war ihr Bote. Er war quasi Quentins Sohn, und Boris Lehrling und Sadiyes Freund. Hermann, mit aller Vorsicht und Verständnis wiederholte seinen Einwand.
    „Wir brauchen Aufklärung.“, sagte er. „Das ist ihr Territorium, sie kennen die Umgebung, wir nicht.“
    Hermann seufzte. Eine Karte des Kessels lag auf dem Tisch, also schob er ein paar Schriftstücke zur Seite und legte die Karte oben auf. Mit dem Finger fuhr er über das raue Papier.
    „Dies sind die überfallenen Bauernhöfe, westlich der Neige?“, fragte er.
    Ratsherr Benjamin nickte.
    „Dann müsste ihr Lager in diesem Wald liegen.“ Sein Finger hielt über einem Waldstück in der südwestlichen Ecke des Tals, über Tanneck. „Wälder sind schwer auszukundschaften. Ein paar Späher könnten vielleicht fündig werden. Schwierig...“, sagte er gedehnt und rieb sich das Kinn. „Gibt es irgendetwas im Wald? Eine Höhle, einen Unterschlupf, ein-“
    „Haggartas Haus“, unterbrach ihn Quentin und er klang selbst überrascht.
    Hermann blickte ihn fragend an.
    „Sie war eine Alchemistin. Begnadet, ein Segen für die Kranken. Wir hatten eine Geschäftsbeziehung, doch das ist Jahre her. Lange vor dem Brand bei Eichenbruck und sogar noch vor dem Einsturz im hohlen Zahn. Sie hat sich von mir auszahlen lassen und ich habe ihr ein Haus gebaut. Hier, auf einer Anhöhe.“
    Quentins Finger zeigte auf die Mitte des Waldes, unterhalb des Sumpfes und jenseits der oberen Neige.
    „Anhöhe klingt gut“, sagte Hermann und strich die Karte glatt. „Wenn das Haus hoch genug ist, dann müsste man es sehen können, wenn man...“, sein Finger glitt hinab gen Süden, „...auf diesen Hängen steht.“
    Boris riss nun der Geduldsfaden. „Warum sollten wir euch warten? Wir wissen wo das Lager ist und wir haben die Männer! Zeit das Problem anzugehen!“
    „Mit guter Aufklärung ist die halbe Schlacht geschlagen.“, hielt Hermann dagegen. „Vielleicht haben sie Verteidigungsanlagen, Außenposten, oder Fallen aufgestellt.“
    Der Hauptmann verschränkte in militärischer Pose die Hände hinter dem Rücken.
    „In Mannstärke sind wir ihnen überlegen. Kennen wir die Gegend, auch in unserer Taktik.“, stellte er fest. „Doch ob der Befehl gegeben wird... von Kommandant Raik vielleicht, doch der Lehnsmann-“
    Hermann wurde unterbrochen, wieder von Sadiye, diesmal von ihrem höhnischen Gelächter. Sie konnte kaum an sich halten.
    „Ihr Soldaten!“, brachte sie hervor. Ihre Stimme triefte vor tiefem Abscheu. „Treu und stolz und voller Disziplin! Achtung vor der Obrigkeit! Ihr seid ja so viel besser als der Abschaum aus der Gosse!“, fauchte sie.
    Sybille war die Einzige, die sich traute etwas zu erwidern. Sie legte eine Hand auf die Schulter ihrer Freundin und sprach mit gedämpfter Stimme.
    „Sadiye, wenn du etwas zu sagen hast, dann-“
    „Allerdings habe ich etwas zu sagen! Zum Beispiel über euren Lehnsmann.“ Mit giftigen Augen starrte sie Hermann an. „Als ich ihn besucht habe, hatte er nicht mehr so viel zu sagen. Befehle erteilen ist schwer, wenn die Maden dein Fleisch fressen.“
    Hermanns Antlitz war starr. Eine Spur von Unsicherheit huschte über seine Züge, doch seine einzige Reaktion war ein abfälliges Schnauben.
    Als ob ihr davon nichts wüsstet!“, schrie sie.
    Wie kommt ihr darauf?“, brüllte er zurück. „Was fällt euch ein!“
    Sadiye, stolz und unbeugsam, trat vor, holte zwei Briefe hervor und schmiss sie auf den runden Tisch. Einer trug das königliche Siegel, den anderen zierte eine Kordel mit einem Wolfszahn der Nordmar. Hermann kannte die Briefe. Das letzte Mal hatte er sie in Raiks Händen gesehen. Er nahm sie in die Hände, starrte auf die Worte und seine Stirn legte sich in Falten.
    „Ihr wart dort? Er ist tot?“, sagte er und blickte Sadiye verdattert an. Es verschlug ihm beinah die Sprache. „Aber wer… und wie…?“, sagte er erstickt.
    Wortlos stand er da, sein Blick haftete auf den Briefen, seine militärische Fassung war wie hinweggefegt. Die Anwesenden wurden unruhig. Keiner wusste dies zu deuten, aber Quentin erhob getragen das Wort:
    „Ein Hund ohne Leine ist gefährlicher als ein Wolf in Fesseln.“, sprach er.
    Die Teilnehmer wurden wieder ruhig und der Kaufmann ließ seinen Blick über die Versammlung schweifen.
    „Es gibt viele offene Fragen.“, sagte er. „Wir legen eine Pause ein und werden danach unser Wissen zusammentragen.“
    Er bedeutete Hermann ihm zu folgen. Sie zogen sich in eine Ecke des Kellergewölbes zurück, wo sie ungestört reden konnten, während um den Tisch ein ungeordnetes Gespräch ausbrach.
    „Was hat das zu bedeuten?“, zischte Quentin. „Der Lehnsmann ist tot? Wusstet ihr davon?“
    Der Hauptmann schüttelte ratlos den Kopf.
    „Dann sag mir, was du denkst, was es bedeutet!“, setzte Quentin nach.
    Hermann raufte sich die Haare. „Ich weiß es nicht!“, sagte er. „Schlimmstenfalls löst sich die Truppe auf. Die Männer werden vogelfrei, schließen sich den Banditen an oder gründen ihre eigene Bande. Bestenfalls...“ Hermann zögerte.
    „Was?“
    „Bestenfalls behält Raik das Kommando. Er ist ein vernünftiger Mann. Er würde nie Neigenbau angreifen. Er verhindert, dass die Männer die Bauernhöfe besteuern, wie sie es nennen. Er führt mit harter Hand.“
    „Angenommen er übernimmt das Kommando, angenommen die Soldaten folgen ihm, würde er sich um die Banditen kümmern?“
    Hermann kniff die Augen zusammen. „Vielleicht“, sagte er und schüttelte unsicher den Kopf.
    „Was heißt das?“, bohrte Quentin nach.
    „Raik ist ein Taktiker. Er berechnet seine Chancen. Wenn wir genug über die Banditen wissen, wenn die Soldaten ihm folgen, wenn ein Angriff sinnvoll erscheint und ein Sieg wahrscheinlich – vielleicht.“
    Quentin stemmte die Hände in die Hüften und sah zu Boden.
    „Das ist nicht gut genug.“, sagte er und strich sich durch seinen Schnurrbart.
    Er blickte hinüber zu Sadiye und Boris. Sie unterhielten sich angeregt. Ignatius, der Vorarbeiter der Eisenmühle, stand auch bei ihnen. Quentins Augen waren voller Sorge, als er die anderen Mitglieder des geheimen Rates beobachtete.
    „Zeit ist von entschiedener Bedeutung.“, sagte Quentin. „Die Banditen haben meinen Lehrling. Er liegt vielen hier am Herzen; Geduld ist momentan Mangelware.“
    Der Hauptmann nickte langsam und verständnisvoll.
    „Ich kann meinen Vorgesetzten nicht zwingen.“, sagte er. „Aber ich werde versuchen ihn zu überreden. Ihr habt mein Wort.“
    Der Kaufmann neigte seinen Kopf und atmete lange aus. Er legte eine Hand auf Hermanns Schulter.
    „Das ist ein Anfang. Danke.“, sagte er.
    Mit schnellen Schritten ging er wieder zum Tisch.
    „Freunde, wollen wir?“
    Die Gruppe versammelte sich wieder. Boris stand neben Sadiye, beide hatten die Arme verschränkt. Quentin erhob das Wort.
    „Unser neuestes Mitglied will seine guten Absichten demonstrieren.“ Er wechselte einen knappen Blick mit dem Hauptmann. „Er hat versprochen Kommandeur Raik zum Eingreifen zu bewegen. Außerdem vertraut er im Angesicht der aktuellen Entwicklungen auf die Fähigkeiten des Kommandanten die Truppe anzuführen. Wenn wir warten, bis die Situation wieder unter Kontrolle-“
    Nein!“, sagte Boris. „Wir werden nicht warten. Wir müssen uns bewaffnen! Unsere eigene Truppe, wir bilden eine Miliz! Es wird Zeit, dass wir nicht länger abhängig sind von den Launen der Blutröcke oder der Banditen!“
    „Und wo willst du gute Kämpfer herbekommen?“, fragte Hermann, doch Boris ließ sich nicht bremsen.
    „Die Stadtwache. Die Arbeiter und die Handwerker. Auch die Severim. Wir haben genügend starke Hände, Hände, die keine Arbeit haben und für die gute Sache streiten wollen!“
    Benjamin schaltete sich ein. „Die Stadt ist pleite, wenn du das vergessen hast.“
    „Unsere Männer, kämpfen auch ohne Sold, wenn es für die richtige Sache ist!“, wetterte Boris. „Wir müssen es nur wagen! Wir brauchen die Soldaten nicht! Wenn wir uns zusammenschließen sind wir stärker!“
    Heißes Feuer brannte in seinen Augen, er forderte die anderen Mitglieder heraus, doch man schwieg, für den Moment.
    „Ich rufe zur Abstimmung!“, sagte er entschieden. „Wer dafür ist hebt die Hand.“
    Der Arm des Schmieds war der erste, Sadiye und Ignatius folgten. Drei von Acht war eine magere Anzahl. Sadiye blickte Sybille auffordernd an, doch die Frau schüttelte den Kopf.
    „Ich weiß nicht, ob das der beste Weg ist, Sadiye.“
    Dagegen?“, donnerte Boris.
    Moritz und Benjamin hoben ihre Hände. Zwei von Acht.
    „Ich kann meine Stadt nicht unbeschützt lassen.“, sagte Benjamin. „Die Stadtwache bleibt.“
    Hermann zögerte, denn es war sein erstes Treffen in dieser Runde. Quentin nickte ihm zu.
    „Du hast eine Stimme.“, sagte der Kaufmann.
    Langsam hob der Soldat die Hand. Drei von Acht dagegen.
    „Quentin.“, sagte Boris bestimmt. „Was sagst du? Bringen wir Ferdinand nach Hause! Er ist praktisch dein Sohn!
    Quentin seufzte und hob die Hand. Boris kochte innerlich und ballte seine starken Fäuste. Vier gegen drei, Sybille enthielt sich.
    „Wir wissen nicht, was uns erwartet.“, sagte der Kaufmann. „Die Soldaten können das Problem lösen. Mit ein bisschen mehr Zeit...“
    Pah!“, spie Boris in die Runde. Es krachte, als er voller Wut seine Faust auf den Tisch schlug. „Wozu haben wir diesen Rat, wenn wir nichts unternehmen?“
    Sein Blick war durchdringend und voller Zorn. Stürmisch und mit rotem Kopf stapfte er hinaus. Die Tür krachte zu. Eine tiefe Stille machte sich breit. Sadiye folgte ihm, so wie Ignatius. Quentin legte seine Hände flach auf den Tisch.
    „Hermann, rede mit Raik!“, sagte der Kaufmann flehend.
    Hermann nickte.
    „Das Treffen ist hiermit beendet.“

    Als Hermann den Gasthof ‚Zur Scharfen Kante‘ verließ, schwirrte sein Kopf voller Fragen. Ein lauer Wind wehte und der Himmel war sternenklar. Er macht sich auf seinen langen Heimweg. Wer hatte den Lehnsmann getötet? Raik selbst? Warum? Wer gibt jetzt die Befehle? Was werden die Männer tun? Tiefe Sorgen begleiteten ihn auf seinem Weg. Er würde seine Antworten erhalten, sagte er sich, früher oder später. Quentins Worte hallten in seinen Gedanken nach:
    Ein Hund ohne Leine ist gefährlicher als ein Wolf in Fesseln.
    Es bestand kein Zweifel, die Soldaten würden eine Leine brauchen und eine Vorstellung, wie er sie in den Händen hielt ging ihm durch den Kopf.


    IV Verhandlungen mit einem Severim
    Im Jahre des Addo 389, In der Nacht des 19. September
    Frank & Kersim
    Frank saß in einem ledernen Ohrensessel und starrte ins Kaminfeuer, einen Becher mit dampfendem Tee in seiner Hand. In der anderen hielt er einen der metallenen Stäbe aus dem Lederumschlag mit den Dietrichen. Kersim kam soeben herein, seinerseits mit einem Becher in den Händen.
    „Ich hoffe du weißt Rotdorntee zu schätzen.“, sagte er.
    Genüsslich sog der Severim die süßlich-würzigen Dämpfe ein.
    „Meine Vorräte sind begrenzt.“, sagt er, seufzte wehleidig und setzte sich.
    Sie schwiegen einen Moment, bis Kersim sich vernehmlich räusperte.
    „Ich habe mir eure Ware angesehen und glaubt mir ich komme euch gerne mit Gutem Willen entgegen, ihr habt schließlich eine gefährliche Aufgabe für mich erfüllt. Doch...“, er hustete und machte eine entschuldigende Geste, „...die Lieferung hat nicht den angegebenen Wert.“
    „Ich weiß“, sagte Frank unberührt.
    „Oh. Ihr wisst es also?“, fragte Kersim überrascht.
    „Ja. Es ist ein Test.“ Frank ließ einen Dietrich um seine Finger kreisen. „Eine einfache Methode mich auf die Probe zu stellen und noch ein paar Münzen dabei herauszuschlagen.“
    Kersim lehnte sich mit einem achtungsvollen Lächeln in seinen Sessel. „Ihr seid wahrlich ein Sohn der Weitsicht.“
    „Wie viel bleibt für mich übrig?“, fragte Frank ohne Umschweife.
    Kersim rieb sich das Kinn und sprach dann langsam:
    „Eure Ware hat den Wert von sieben Talern. Und das ist ein Freundschaftspreis!“ Mit erhobenem Zeigefinger betonte er die Richtigkeit seiner Schilderungen. „Verrechne ich die Prämie für euren kleinen Dienst mit dem veranschlagten Preis der Banditen... dann bleiben euch fünf Taler und drei Groschen. Nicht zu schäbig für einen Einbruch, meint ihr nicht?“
    Frank brummte und spielte geistesabwesend mit dem Dietrich in seinen Fingern. Es war zu schäbig, die reinste Abzocke, wenn man es nüchtern betrachtete.
    „Hinzu kommt euer Karren samt Esel, wie abgesprochen!“, fügte Kersim hinzu.
    Frank richtete sich in seinem Sessel auf, schob den Eisenstift zurück in seine Halterung und strich mit den Fingern über die Werkzeuge im Lederumschlag. Langsam nahm er einen Schluck von dem süßen Tee.
    „Ich erhöhe den Preis“, sagte Frank dann.
    Er fuhr Kersim über den Mund, der beinahe von seinem Sessel aufsprang.
    „Ihr habt mir nicht gesagt, von wem wir stehlen!“, betonte Frank. „Ihr sagtet, wir stehlen vom alten Fehdamm, aber nicht, wer das ist. Kennt ihr die Inhalte seiner Schatzkammer?“
    Frank holte den Fangzahn, den er gestohlen hatte, hervor.
    „Wisst ihr mit wem wir es zu tun haben?“, sagte Frank. Wisst ihr wozu Fehdamm imstande ist? Ich weiß es zumindest nicht, aber ich bin mir sicher, dass dieser Mann Wege und Mittel hat Menschen zu finden, dich nicht gefunden werden wollen.“
    Er warf Kersim den Zahn zu. Der Severim fing den Gegenstand, betrachtete ihn irritiert, wie er seine Vibration spürte.
    „Ich weiß, ihr braucht jemanden, der von euch ablenkt.“, sagte Frank. „Niemand hat Sadiye gesehen. Nur mich. Aber wenn ich als Zielscheibe herhalte, als Zielscheibe für einen Mann der eine Kammer gefüllt mit magischen Gegenständen hat, dann habe ich auch einen gewissen Lohn verdient. Behaltet den Zahn, nutzt ihn für eine falsche Fährte, oder seht ihn als Bezahlung.“
    Kersim verschränkte die Arme. Es war das erste Mal, dass er nicht die Höflichkeit des Gastgebers zur Schau trug.
    „Und?“, sagte er voller verletztem Stolz. „Was ist er, euer Preis?
    „Das Geld für Ware und Auftrag, der Karren samt Maultier, der Totschläger, er war sehr hilfreich, und...“, er schlug den Lederumschlag zu und hielt ihn hoch, „...die Dietriche.“
    Kersim schnaubte empört. „Wir hatten eine Abmachung! Ihr habt eingeschlagen!“
    „Und ihr habt mir so manches Verschwiegen. Ich kenne vielleicht nicht den genauen Wert der magischen Spielzeuge in dieser Kammer, aber ich weiß, dass er höher ist als ein paar Taler und ein Esel!“
    Kersim verschränkte die Arme und zog trotzig die Mundwinkel herab, als wären Franks Worte ein arger Verstoß gegen die Regeln des guten Benehmens.
    Frank ließ sich aber nicht klein halten. „Am Ende findet der alte Fehdamm ein Haar von mir und jagt mir einen Fluch auf den Hals.“
    „Ich könnte euch mehr Geld geben...“, sagte Kersim und rümpfte die Nase.
    „Das Diebeswerkzeug“, sagte Frank.
    Mehr Worte waren nicht nötig. Kersim presste seinen Lippen zusammen, denn er wusste, dass Frank in allen Punkten richtig lag. Er hatte auf die Unachtsamkeit Franks gewettet, aber nicht damit gerechnet, dass der Mann aus Middenheim schon eine ganze Reihe von zwielichtigen Geschäften abgeschlossen hatte. Ein solcher Weberstein versprach direkte Kontrolle über magische Kräfte. Bei allen Kostbarkeiten war dies verlockender, begehrenswerter als goldener Schmuck und schillernde Steine. Nicht zuletzt wollte der Hehler sicherlich noch das ein oder andere Mal mit Frank Geschäfte machen. Ruckartig stand Kersim auf, ging aufgeregt durch das Zimmer und warf schließlich resigniert die Hände in die Luft.
    „Gut! Behaltet es! Ich hoffe ihr wisst es wertzuschätzen, es ist nämlich kein billiger Tand von kruden Betrügern!“
    „Ich weiß“, sagte Frank.
    Er breitete den Umschlag aus schwarzem Leder auf seinem Schoß aus.
    „Es stammt aus geschulten Händen.“, sagte er. „Aus der Zunft der Schlosser in Vierbürgen.“
    Kersim vergaß seinen Ärger und blickte mit einer Mischung aus Neugier und Verwunderung herüber. Frank legte die letzte Tasche des Umschlags um. Darunter kam eine Stickerei zum Vorschein: Ein Wappen mit vier Türmen, einem Schlüssel und Schloss davor.
    „Man hat später noch Taschen hinzugefügt und die Kennzeichnung damit verdeckt. Denn diese Werkzeuge...“, er zog behutsam einen filigranen Draht aus den neueren Fächern, „...das sind nicht die eines gewöhnlichen Schlossers. So feiner Mechanik begegnet man nicht allerorts.“
    Kersim nahm einen Schluck von seinem Tee und zwang sich fortzusehen.
    „Trinkt jetzt!“, sagte er. „Kalt entfaltet Rotdorn nicht seine Würze.“
    Es war offensichtlich, dass er seinen kleinen Verlust noch nicht ganz verkraftet hatte. Frank mühte sich den Finger nicht weiter in die Wunde zu legen, es schickte sich nicht seinen Gastgeber vorzuführen. Zumal Sadiye noch nicht mit der Beute eingetroffen war, doch Kersims ruhige Stimmung bedeutete, dass Frank sich nicht zu sorgen brauchte. Wenn der Hehler Vertrauen in seinen Dieb hatte, dann sollte er ihm das gleichtun, dachte Frank sich. Still genossen sie ihren Tee. Das Knistern des Kamins, die Düfte von Räucherkerzen, das rote Licht, zurückgeworfen von den Wandteppichen ringsum, es schuf eine tiefe Geborgenheit. Kersim hatte es geschafft ein Stück seiner Heimat in den Talkessel mitzubringen, sein eigenes kleines Reich zu erschaffen. Frank leerte seinen Tee, ließ sich die süßliche Schärfe noch einmal auf der Zunge zergehen und seufzte gedehnt. Für ihn war die Gelegenheit, die Kersim im präsentiert hatte, mehr als nur ein einzelner Erfolg: Nicht nur hatte er reichlich Beute an Land gezogen, nein, er hatte nun auch die Kontakte, um sein eigenes Schicksal zu bestimmen. Gemeinsam mit Sadiye war kein Einbruch unmöglich und Neigenbau war groß. Nun ja, groß genug.
    „Danke für den Tee“, sagte Frank.
    Kersim brummte nur und winkte ab. Das Holz im Kamin knisterte, die Zeit verging und endlich hörten sie Schritte die Treppe hinaufkommen. Kersim sah auf.
    „Das hört sich nicht gut an.“, sagte er besorgt. „Normalerweise hört man sie nicht kommen.“
    Er erhob sich von seinem Sessel, als die Tür aufschwang. Sadiye kam herein, mit gesenktem Kopf und stürmischen Haaren.
    „Dieser Zirkel ist zu nichts nütze!“, polterte sie. „Reine Selbstverherrlichung, Wichtigtuerei, hohle Phrasen, keine Taten!“
    Achtlos warf sie Kersim den schwarzen Beutesack zu und warf sich frustriert in einen der Sessel vorm Kamin. Doch sie kam kaum zur Ruhe, löste stattdessen energisch die Gurte und Schnallen ihrer Diebeskleidung.
    „Guten Abend, meine werte Nichte.“, sagte Kersim betont höflich und rollte mit den Augen.
    Sadiye ignorierte ihn. Kersim stülpte sich einen Handschuh über und fasste in den Sack. Mit einem genüsslichen Lächeln holte er den Weberstein hervor. Er seufzte erleichtert, fuhr mit den Fingern über die Konturen und betrachtete ihn von allen Seiten. Er betastete die Fassung.
    „Er ist beschädigt.“, sage er überrascht. „Zum Glück nur die Halterung.“, murmelte er dann.
    Kersim legte den Stein behutsam ab und verließ den Raum eilig. Sadiye zog gerade eine Armschiene von ihrem Unterarm und ließ sie achtlos zu Boden fallen.
    „Du siehst nicht sehr glücklich aus.“, kommentierte Frank.
    Er stand auf und nahm sich den Beutesack.
    „Sieht das so aus, ja?“, sagte sie trocken.
    Die andere Armschiene landete auf den Brettern und sie machte sich an ihren Schuhen zu schaffen.
    „Du hast etwas von einem Zirkel gesagt?“, bohrte Frank nach.
    Doch sie schwieg, schnaubte nur und schüttelte den Kopf. Er holte die Stiefel aus dem Sack und strich über das glatte, grau-braune Leder. Leider würde er das teure Schuhwerk nicht im Lager tragen können. Im Anbetracht seiner niederen Stellung würde er unter den Banditen nicht Anerkennung, sondern Schläge kassieren und die Stiefel würden erneut ihren Besitzer wechseln. Sadiye zog ihren zweiten Schuh vom Fuß und warf sich in den Sessel. Ihre Arme baumelten lustlos von der Lehne.
    „Kann ich dir irgendwie helfen?“, sagte Frank.
    „Nein.“, sagte sie resigniert, „...wie sagt ihr Menschen doch gleich? Ich habe meine eigene Suppe zu Löffeln.“
    Doch dann hielt sie inne, sah Frank wie gebannt an.
    „Wann gehst du zurück ins Lager?“, sagte sie
    „Morgen. In der Früh.“
    Die Tür ging auf und Kersim kam mit einem Lupenglas in der Hand herein. Er setzte sich, nahm den Weberstein mit der behandschuhten Hand hervor und leckte sich angespannt über die Lippen, während er den Stein untersuchte.
    „Was ist das für ein Material?“, flüsterte er geistesabwesend.
    Er sah auf. Er sprach einen Satz in Arbu, an Sadiye gerichtet. Sie zuckte bloß mit den Schultern und antwortete ebenso in ihrer Muttersprache. Frank hörte sie zum ersten Mal so reden. Ihm war bewusst, dass sie natürlich Arbu beherrschte, selbstverständlich, doch es von ihren Lippen zu hören faszinierte ihn. Die Geschwindigkeit und Färbung der Laute gab ihr eine ganz andere Erscheinung, gelassener und mysteriös zugleich. Sie warf Frank ein Lächeln zu und Kersim erhob sich schwungvoll und faltete die Hände.
    „Wo bleibt mein Anstand? Frank, darf ich euch euer Zimmer zeigen?“
    Kersim wies mit einer leichten Verbeugung zur Tür. Frank schnappte sich seine Stiefel und die Tasche mit den Dietrichen und folgte ihm.
    „Frank!“, rief sie, bevor er das Zimmer verlassen konnte. „Wir reden morgen, bevor du zum Lager gehst? Ich habe noch etwas zu besprechen mit dir.“, sagte sie und blickte ihm prüfend in die Augen.
    Frank nickte.
    Kersim führte ihn durch den Flur. Er zeigte ihm ein schlicht eingerichtetes Zimmer mit Bett und Fenster und als Frank über die Schwelle trat, hielt der Gastgeber ihn auf: Seine Hand lag auf Franks Brust, er kam ihm sehr nahe, packte jetzt sein Hemd und flüsterte:
    „Wenn du meine Nichte anfasst, schlitze ich dir die Kehle auf und lasse dich von den räudigen Hunden in der Gosse zerfleischen.“
    Kersims Worte waren scharf und eisig, genauso wie sein Blick. Er ließ von ihm ab, zog seine Hand zurück.
    „Ruht sanft!“, sagte er sachlich, ließ Frank stehen und ging.
    Frank wusste, dass es nicht sehr weise war die Drohungen eines Severim in den Wind zu schlagen, doch er war sich keiner Schuld bewusst und zuckte nur mit den Schultern, als er allein im Zimmer stand. Sie war hübsch, keine Frage. Ihre Talente, bewundernswert und vielleicht konnte er etwas von ihr lernen? Aber schließlich kannte er sie kaum. Er ging zum Fenster seines Zimmers. Der erste Stock dieses Hauses ragte über die gedrungenen Behausungen der Suppe. Der Sichelmond neigte sich zum Horizont und er sah die Silhouetten von Stadtmauer, Häuserreihen, der Wassermühlen und Lagerhallen und im Norden auch die Zinnen der inneren Mauer um das obere Viertel, darüber noch die Silberfeste. Im fahlen Mondschein bot Neigenbau einen beschaulichen Anblick. Er öffnete die Fensterläden einen Spalt breit, entledigte sich seiner Kleider und legte sich in die weichen und sauberen Laken. Er ruhte tief, denn sein Tag war lang genug gewesen und die Zukunft schien vielversprechend.


    V Das Labor
    Im Jahre des Addo 389, Am Morgen des 20. September
    Ferdinand & Erik
    Die Sonne sandte ihre ersten Strahlen über die Wipfel des Waldes. Ferdinand wurde bald von ihr geweckt, als das Licht seinen Weg durch die Ritzen der Fensterläden fand. Er brauchte einen Moment sich seiner Lage zu besinnen: Das Bett war bequem, die Decke war weich, aber er war hier Gefangener und letzten Endes der Willkür seiner Wärter ausgesetzt. Eilig stand er auf, streifte sich seine Kleider über, band sich den roten Stoff an den Oberarm und verließ sein Zimmer. Der Flur war leer. Er ging in das Nachbarzimmer, wo Erik untergebracht war, und er fand ihn noch fest schlafend in seinem Bett. Im Gegensatz zu Ferdinand hatte er dieser die wirkliche Marter der Gefangenschaft erdulden müssen. Als Ferdinand das Fenster öffnete und das Sonnenlicht den Raum flutete, wälzte Erik sich mit einem Stöhnen in den Laken hin und her. Er sah ein wenig besser aus, weniger blass und weniger steif.
    „Guten Morgen, der Herr!“, sagte Ferdinand fröhlich.
    Erik brummte etwas Unverständliches und zog die Decke über den Kopf. Ferdinand genoss unterdessen die Aussicht. Hier, vom ersten Stock aus, konnte man den oberen Ring und die Arena überblicken. Einen Moment später klopfte es an der Tür und die Frau des Hauses trat ein.
    „Ah, hier seid ihr!“, sagte sie und schenkte ihnen ein warmes Lächeln. „Auf, auf! Das Frühstück wartet.“
    Schon war sie wieder fort. Es war ein wenig unwirklich, dies als Gefangenschaft zu betrachten, erst recht, wenn man die schäbigen Behausungen im unteren Ring in Betracht zog. Ferdinand half Erik sich anzukleiden, stützte ihn mit seiner Schulter und sie folgten der Frau. Am Ende des Flurs war das Wohnzimmer. Es war sauber und ordentlich, so wie scheinbar jeder Raum, ausgestattet mit wenigen Möbeln, einem Tisch, vier Stühlen und einer breiten Liege neben der Treppe zum Erdgeschoss. Dort lag Leto und schälte gelassen einen Apfel. Am Tisch, er war gedeckt für drei Personen, saß die Frau. Sie winkte die Jungen heran. Als sie saßen, senkte die Frau ihr Haupt, schloss die Augen und sprach ein Gebet. Sie dankte den sieben Wächtern für Nahrung und Wasser und bat Freyda, Wächterin der Sorge, um Schutz und Geborgenheit und um den Segen für ihr Haus. Ferdinand und Erik wechselten einen Blick – natürlich betete sie zu Freyda. Dann aßen sie. Es war reichlich gedeckt, Eier, Brot, Fleisch, Käse und Äpfel und Birnen, und die beiden Jungs langten zu. Ferdinand fiel zum ersten Mal auf, dass sie recht hübsch war, anmutig sogar in ihren Bewegungen. Doch eine tiefe Müdigkeit, verborgen hinter ihrem zurückhaltenden Wesen, zeigte sich in ihren Augen. Die Stimmung am Tisch, mit dem brutalen Banditenführer und seiner Hausfrau zu frühstücken, war seltsam: Nicht voller Anspannung, aber eben auch nicht gelassen.
    „Ihr macht das Labor sauber.“, sagte Leto schließlich. Er sah nicht auf. „Macht alles bereit. Wenn Frank wiederkommt, fangt ihr mit der Arbeit an. Ich will bis heute Abend ein Stück Seife in den Händen halten.“
    Leto stand auf und streckte seine muskulösen Glieder.
    „Es gibt drei Dinge, die ich nicht mag: Das sind Lügen, Lärm und Ungehorsam.“, sagte er, ohne die beiden Jungen direkt anzuschauen. Im Allgemeinen schien er den Blickkontakt zu den Jungen meiden. „Also, benehmt euch nicht wie Kinder. Ich gehe ins Lager.“
    Er kam herüber, legte Erik den geschälten Apfel auf den Teller und sein kleines Messer dazu. Erik blickte mit großen Augen zu ihm auf. Ferdinand, mit dem riesigen Mann über ihnen aufragend, erstarrte mit einer Brotscheibe auf halbem Wege zu seinem Mund.
    „Ich esse nur abends.“, sagte der Hüne. „Und was will ich mit einem ausgezehrten Seifenkocher, hm?“
    Dann ging er zur Frau, berührte sie sanft an der Schulter und sagte im Gehen:
    „Der Regen hat ein paar Hütten eingerissen. Bereite mir ein paar frische Kleider vor, wenn ich wiederkomme. Und ihr...“, er zeigte mit seinem riesigen Zeigefinger auf Erik und Ferdinand und sah ihnen dabei das erste Mal in die Augen, „...ihr macht eure Arbeit!“
    Erik und Ferdinand nickten zeitgleich. Dann verschwand Leto die Treppe hinab, die Frau gab ihnen ein Blick, der ihnen zu verstehen gab, dass sie besser auf den Hausherrn hören sollten und sie aßen schweigend weiter. Ferdinand, der sich seiner Natur nicht erwehren konnte, goss sich beiläufig einen Becher Wasser ein und fragte geradeheraus:
    „Ist er dein Mann?“
    Sie blickte ihn an, ihre Züge für einen Moment ganz still, räusperte sich dann und brach den Augenkontakt. Die beiden Jungen wechselten einen vielsagenden Blick.
    „Am besten, ihr kümmert euch gleich um eure Aufgaben.“, sagte sie. „Ich räume hier auf.“
    Damit war das Essen beendet. Ihre Freundlichkeit war nun verschwunden und sie sammelte mit schnellen Bewegungen die Gedecke zusammen. Sie reichte Ferdinand einen feuchten Stofflappen.
    „Wie heißt ihr?“, fragte Ferdinand.
    „Ferdinand!“, sagte Erik und gab ihm einen vorwurfsvollen Blick.
    Wieder hatte der blonde Junge seine Zunge nicht im Zaum gehalten, aber sie seufzte nur und gab ihm sogar ein Lächeln. Dann schüttelte sie tadelnd den Kopf und man sah: Es waren die Augen einer geübten Mutter.
    „Emma heiße ich.“, sagte sie. „Und jetzt ab mit euch! Das Labor ist die letzte Tür rechts, am Ende des Flurs.“
    Ferdinand machte eine kleine Verbeugung, stütze Erik so wie schon zuvor und sie verließen das Wohnzimmer. Erik quälte sich ein wenig, doch er biss die Zähne zusammen und schluckte seinen Schmerz. Sie erreichten die Tür. Schon auf dem Knauf sahen sie eine dünne Staubschicht und Ferdinand schenkte Erik einen besorgten Blick.
    „Wollen wir?“, fragte der blonde Junge seinen Begleiter.
    „Na los“, sagte Erik.
    Das Labor war reich bestückt, doch schon seit Jahren verlassen. Ein grauer Film von feinem Staub hatte sich über alles, jede Apparatur, jedes Werkzeug und jeden Tisch gelegt. Lange Reihen von Gläsern standen dort, kleine Violen sowie bauchige Flaschen, Zangen, Töpfe und Mörser, getrocknete Kräuter hingen kreuz und quer an langen Stricken im Raum. Schüsseln, gefüllt mit verschiedensten Ingredienzien, eine vollständige Destille, erkennbar an den vielfach gewundenen Glasröhrchen, ein Lesepult mit einem dicken Buch obenauf und in der hinteren Ecke ein großer Kessel. Dort, wo auch die Südostecke des Hauses war, hatte man mit Stein gebaut, um eine große Feuerstelle zu ermöglichen und links und rechts des Kessels waren mannshohe Doppeltüren, die der Ablüftung dienten. Die Dämpfe eines fehlgeschlagenen Experiments konnten einem Alchemisten das Leben kosten. Ferdinand eilte hinüber, schob die Riegel zurück und öffnete die großen Türen. Vor ihm erstreckte sich der dichte Wald; Sie waren hier auf Augenhöhe mit den Baumkronen alter Eichen und hoher Buchen. Das Haus fügte sich zu beiden Seiten in die Palisaden des oberen Rings ein. Sonnenlicht flutete den Raum, als Ferdinand die übrigen Fenster öffnete und feine Staubkörnen tanzten in den Strahlen. Eine lange Zeit schon hatte sich in diesem Raum nichts gerührt, doch jetzt waren die beiden Jungen hier.
    „Fangen wir an“, sagte Ferdinand.
    Er schnappte sich einen Besen, Erik stellte sich einen Schemel vor einem Regal voll dreckiger Gläser und bald schon steckten sie in einer dichten Staubwolke, husteten und keuchten, ein lauer Wind trug die alte Luft hinaus, doch sofort wirbelten sie neuen Staub auf. Sie arbeiteten bis zum Mittag und waren schließlich selbst in ein graues Kleid gehüllt. Ihr Gesichter waren schmutzig, der Schweiß band den Staub und bildete schwarze Ränder am Hals und auf der Stirn. Erik bemühte sich die verschiedenen Ingredienzien zu identifizieren, aber das meiste war alt und knochentrocken und somit unbrauchbar geworden. Doch er fand Schwefel, Salz, Kohle- und Eisenstaub in verschiedenen Schüsseln und sogar etwas Rotwurzel. Ein Kraut, das der Wundheilung diente und auch getrocknet noch brauchbar war. Hier, beim Untersuchen des Labors, rührten sich Eriks Lebensgeister. Ein Alchemist, ein wahrer Meister seines Fachs, hatte einst hier gearbeitet und sein Wissen war in greifbarer Nähe. Manchmal vergaß Erik sogar den dumpfen Schmerz seiner Amputation, während er an den Violen schnupperte, den Inhalt herauskratzte, ihn manchmal sogar probierte, um den Inhalt zu ergründen. Emma brachte ihnen Wischwasser, nickte zufrieden über ihren Fortschritt, und wies sie an unter dem Kessel ein Feuer zu machen. Die Zutaten für die Seife würden bald kommen.

    Frank
    Frank hatte endlich das Lager erreicht und beobachtete geduldig, wie sich das Tor Stück für Stück hob. Dort stand Leto mit verschränkten Armen, hinter ihm ein Gruppe Stiefel. Er winkte Frank heran.
    „Hast du alles bekommen?“, fragte Leto.
    Frank nickte.
    „Bring die Ladung direkt zu meinem Haus.“, sagte der Banditenanführer.
    Er sparte sich seine üblichen Drohgebärden, sondern blieb eher praktisch, während er Frank durchwinkte. Vielleicht hatte Frank mit seiner Wiederkehr sein Vertrauen gewonnen. Er trieb sein Maultier an und Leto zog mit seiner Bande ab. Die Stiefel trugen keine Waffen, sondern hatten Werkzeuge in den Händen, Sägen, Hämmer und Beile und auf den Schultern Bretter. Frank hörte von irgendwoher Baulärm. Als er schließlich das Haus erreichte empfing ihn die Hausfrau. Sie wählte bestimmte Teile der Ladung aus, schafften die Waren ins Haus und ein Riemen übernahm den Karren. Drinnen wartete der blonde Junge. Frank, der ihn sofort erkannte, verkniff sich seine Reaktion. Sadiye hatte ihm Ferdinand genauestens beschrieben, aber ihn hier im Haus zu treffen, damit hatte Frank nicht gerechnet, würden die Rekruten doch erst einmal in die Zellen geworfen.
    „Wir brauchen Salz, Kohle und Fett.“, sagte der Junge. „Habt ihr das dabei?“
    Salz und Kohle hatte Frank besorgt und er würde nun Molerats für ihren Speck jagen gehen, informierte ihn Frank. Die Frau schickte sich an, die Säcke nach oben zu schaffen, doch Frank kam ihr zuvor.
    „Ich mach das.“, sagte er schnell und hatte den Sack mit Bergsalz bereits geschultert.
    „Aber nicht mit den Schuhen ins Haus!“, mahnte ihn Emma, bevor er eintrat.
    Sie verließ mit zwei Holzeimern in den Händen das Haus, Frank tat wie ihm geheißen und folgte Ferdinand auf nackten Sohlen in den ersten Stock. Er führte ihn ins Labor. Dort war Erik, über ein Lesepult gebeugt.
    „Na Bruderherz“, sagt Frank, als er das Zimmer betrat.
    Er grinste seinen kleinen Bruder breit an. Erik sah auf und konnte sich tatsächlich ein Lächeln abringen. Frank kam herüber und sie umarmten einander. Es war das erste Mal seit langem, dass sie so beieinander waren: Ohne Angst und schwere Sorgen, sondern einfach nur beisammen, wie damals auf ihren Reisen.
    „Du wirst nicht glauben, was ich gefunden habe!“, sagte Erik.
    Er deutete auf das Buch und seine Augen blitzten auf. Die erste Seite war aufgeschlagen. Frank las:

    Herbavorum et Miraculum Alchemiae
    Enzyklopädie und Forschungen im Talkessel

    Antonia Haggarta

    Erik blätterte um. Auf dieser Seite war ein Inhaltsverzeichnis. Fein säuberlich sortiert, mit perfekten Abständen, Kapiteln und Unterpunkten war dort eine Vielzahl von Themen notiert: Wundheilung, Krankheiten, Infektionen, Verdauung, Säuren und Brandmittel. Das letzte Kapitel, ‚Eigenarten der Flora des Kessels‘, war unfertig und hatte nur einen Unterpunkt: Die ‚Einführung‘. Darunter war noch etwas Platz für mehr. Frank lächelte Erik breit an.
    „Scheint so, als könntest du dein Studium beginnen.“, sagte er zu Erik.
    „Scheint so“, sagt Erik und blätterte voll Faszination in dem Buch.
    Die Seiten waren gefüllt mit Skizzen von Kräutern und Pflanzen, mit Tabellen und Listen und vor allen Dingen mit abertausenden von Worten aus einer zarten Handschrift. Die Farbe der Schrift wandelte sich immer wieder, mal Schwarz, mal Blau, Rot oder Grün.
    „Ein wahres Kunstwerk“, flüsterte Erik voller Ehrfurcht.
    Frank klopfte seinem Bruder auf die Schulter. Er war überglücklich. Einen Teil seiner Mission, eine Lehrstätte für seinen kleinen Bruder zu finden, hatte er erfüllt. Frank atmete tief durch und wie er die Luft aus seiner Lunge fahren ließ, fand er ein Stück innere Ruhe. Erik hier, in Sicherheit, zumindest, solange er seine Aufgaben erfüllte und er selbst mit den Gelegenheiten seine Talente einzusetzen und sich selbst zu entfalten. Ferdinand, der sich respektvoll zurückgehalten hatte, um den Brüdern ihren Moment zu gönnen, räusperte sich höflich.
    „Ich will ja nicht stören, aber...“, sagte er und deutete auf den bauchigen Kessel, wo die Zutaten für das Seifenkochen bereitlagen.
    Frank wandte sich ihm zu. „Du bist Ferdinand, richtig?“
    Ferdinand nickte verwundert. „Woher kennst du-“, sagte er, doch Frank packte ihn am Arm, zog ihm zur Feuerstelle und den Doppeltüren.
    Sie blickten auf den Wald außerhalb des Lagers, die Bäume waren gut zwanzig Schritt von ihnen entfernt. Unter ihnen war eine tiefe Grube, die Grube, die zum Einfangen von Bestien für die Arena genutzt wurde, wie Frank wusste.
    „Sadiye meint, du kannst klettern?“, sagte Frank.
    „Sadiye?“ Ferdinands Augen weiteten sich.
    „Mit einem Seil, von hier über den Abgrund geworfen und dort in die Bäume, wäre das möglich. Wie weit ist das? Vierzig Fuß, vielleicht etwas mehr?“
    „Du kennst Sadiye?“, sagte Ferdinand aufgeregt. „Was sagt sie? Habt ihr-“
    Frank gab ihm ein Zeichen die Ruhe zu bewahren. Er lehnte sich vorsichtig aus der Tür und blickte in den Abgrund. Derzeit waren dort keine Tiere gefangen. Diese Schwachstelle in den Verteidigungsanlagen, wo der äußere Ring nicht das Lager umschloss, sondern zu beiden Seiten vor der Grube endete, barg seine eigenen Gefahren, sollten dort frische Bestien für die Arena lauern. Es ging sehr tief hinab: Zunächst das Haus hinunter, dann der steile Abhang des oberen Rings, dann die Bestiengrube. Frank lehnte sich zu Ferdinand herüber, wollte ihm gerade etwas ins Ohr flüstern, doch dann ging die Tür. Emma trat ein, zwei volle Eimer Wasser in den Händen. Eilig rückte Frank seine Kleider zurecht.
    „Interessante Einrichtung hier.“, sagte er und schickte sich an den Raum zu verlassen. „Ist das eure Küche?“
    Emma lachte auf, stellte die Eimer ab und schüttelte den Kopf. „Nein, das ist nicht meine Küche. Die alte Frau, die hier einst gelebt hat, hat hier allerlei Experimente durchgeführt. Doch sie ist schon lange fort.“
    Frank räusperte sich, warf Ferdinand einen knappen Blick zu. „Nun gut, die Jagd ruft. Unser Alchemist braucht Fett für seine Seife...“
    Etwas verlegen stand er dort, nickte dann und ging. Als er fort war seufzte Emma und blickte Erik besorgt an.
    „Du solltest aufpassen, dass dich dein Bruder nicht zu häufig besucht!“, sagte sie ernst.
    Erik reagierte nicht. Eigentlich wusste es keiner, doch Emma hatte wohl einen Blick für solche Dinge.
    „Es ist nicht gut in diesem Lager Familie zu haben.“, sagte sie. „Es kann gefährlich sein, es sei denn jemand passt auf dich auf.“
    Sie gab Erik einen vielsagenden Blick. Einen besseren Schutz als Leto gab es wohl kaum und sicherlich war es nicht einfach die einzige Frau in einem Lager voll von groben Männern zu sein.
    „Ich mache euch etwas zu Essen.“, sagte sie. „Ihr räumt den Rest hier auf und macht alles bereit für die Seife, ja?“
    Erik und Ferdinand nickten gehorsam. Bevor sie den Raum verließ, drehte sie sich noch einmal auf der Schwelle um.
    „Es ist schön, junge Menschen hier im Haus zu haben.“, sagte sie. „Selbst für Leto.“
    Dann lächelte sie wieder einmal, freundlich wie eh und je, und verschwand.


    VI Auf der Jagd
    Im Jahre des Addo 389, Am Nachmittag des 20. September
    Frank
    Als Frank den Jagdtrupp erreichte, waren die Männer schon bereit zum Aufbruch. Sie trafen sich vor dem Jägertor, dem südlichen und kleineren der beiden Zugänge. Der weiche Waldboden war noch feucht von den starken Regengüssen der Vortage und es war der ideale Zeitpunkt zum Jagen: All das Getier hatte sich während des Regens verkrochen, nun kamen es wieder heraus, um sich zu nähren und noch etwas Speck anzufressen, bevor die Tage kälter und die Nächte länger wurden. Das Klima der Vorgebirge brachte jeden Winter die scharfen Winde hoher Gipfel ins Tal hinab und wer sich nicht vorbereitete, den erwartete der bittere Kältetod. Doch noch war Zeit für Mensch und Tier, sich für Frost und Eis zu wappnen. Die Jäger standen dort, gut zwölf Mann und Frank erkannte ein paar von ihnen wieder: Dort war der alte, bärtige Mann, der ihn so neugierig ausgefragt hatte, als er sich vor ein paar Tagen zu ihnen gesetzt hatte. Wieder paffte er seine Pfeife. Auch Schnitzer war dort, der seinen Namen von den unzähligen Narben hatte, die sein Gesicht entstellten. Wie war gleich sein echter Name?
    Richtig, es war Raul!, dachte Frank.
    Als sich ihre Blicke trafen winkte er Frank herüber.
    „Mit mir“, sagte Schnitzer und gab ihm ein Handzeichen.
    Er reichte Frank einen Spieß mit langer, eiserner Spitze. Es war die Waffe der Wahl, wenn man Molerats jagen wollte: Man blieb ihren kräftigen Kiefern fern und mit ihren stummelartigen Beinen konnte sie die Lücke zwischen ihnen und dem Jäger nicht schließen. Außerdem konnte eine solche Waffe durch die zähen Fettschichten bis hin zu Lunge oder Herz durchdringen. Es war kein schönes Geschäft, Moleratfleisch war auch nicht sehr schmackhaft, doch ihr Fett war nützlich für allerlei Dinge: Fackeln, Lampen, Schmiere, Leder und Metallpflege und nicht zuletzt auch für die Herstellung von Seife.
    „Du bleibst beim Bogen?“, fragte Frank.
    Schnitzer nickte und blieb stumm. Die anderen Jäger machten sich bereit, einer führte sogar einen Hund fürs Fährtenlesen, was für Frank eine Erinnerung an die gute Organisation des Lagers war. Der Mann mit der Pfeife kam zu ihnen herüber.
    „Du bist sicher, dass du nicht mit uns kommen willst, Schnitzer? Wir könnten deine Hand gut gebrauchen.“
    Er lachte dreckig, als er ganz bewusst nicht die Mehrzahl von Hand verwendete. Der vernarbte Jäger schüttelte bloß den Kopf.
    „Leto will die Molerats.“, sagte er knapp.
    „Verstehe“, sagte er und paffte grauen Rauch durch seinen langen Bart. „Dann lasst euch nicht fressen von den kleinen Schweinchen.“
    „Ihr auch“, sagte Raul, schulterte seinen Langbogen und gab Frank das Zeichen zum Aufbruch.
    „Lass Schnitzer nicht alles allein machen!“, rief der bärtige Mann ihnen hinterher.
    Raul führte ihn über einen Trampelpfad durch den alten Wald. Die Gegend war hügelig, moosbewachsene Gesteinsbrocken fanden sich überall und selten sah man weiter als ein paar Meter. Sie kamen an einer Lichtung vorbei, auf der eine Schar Scavenger im nassen Boden nach Würmern suchte. Die Laufvögel waren wachsam, denn der Wald war zwar verlockend und voller Nahrung, doch er war für ihre Art ebenso gefährlich. Das Alphaweibchen beäugte sie neugierig, doch Schnitzer ignorierte die Wildtiere und führte sie weiter in den Wald.
    „Du weißt, wie man Molerats jagt?“, fragte Schnitzer.
    Frank nickte. Er war sicherlich kein Experte, doch er hatte bei der Versorgung seiner Familie etwas Erfahrung sammeln können. Hinderlich war gewesen, dass das Jagdrecht dem König zustand; Die Massen sollten Kohl und Kartoffeln essen, während die Obrigkeit und die Armee saftiges Fleisch kosten durften. Es war ein nicht zu vernachlässigender Grund, wegen dem so manch einer die Uniform des Königs annahm.
    „Ich habe schon ein paar erlegt.“, sagte Frank. „Nicht in ihren Fetthöcker stechen. Das kümmert sie nicht, dann beißen sie dir erst ins Bein und dann ins Gesicht. Entweder man geht auf ihren Schädel, doch den zu knacken ist schwer, oder man versucht durch den Nackenbereich Herz oder Wirbelsäule zu erreichen.“
    Schnitzer nickte zufrieden.
    „Gut“, sagte er und deutete dann auf den Boden.
    Dort war eine große Mulde, die Erde war aufgewühlt und weiße Wurzeln, von denen die Rinde abgeschält worden war, lagen überall im Dreck. In der Mitte fand man ein kleines Häufchen Stroh. Dies mussten die Überreste des Baus eines Kleintieres sein. Vielleicht Füchse, oder Marder, ein Dachs oder Maulwurf. Frank betastete das Stroh, entdeckte kleine Blutspritzer in den getrockneten Halmen und begriff endlich: Dies war das Werk von Molerats. Die Biester hatten diese Höhle mit ihren Grabklauen einfach ausgebuddelt und was auch immer hier gelebt hatte mit Haut und Haar verspeist. Frank blickte zu Schnitzer und der Jäger nickte ihm zu.
    „Ihre Fährte.“, sagte Raul. „Wo lang?“
    Frank stand auf und sah sich um. Es war fast schon zu einfach, denn eine breite Schneise, deutlich sichtbar, zog sich zu seiner Linken durch das niedrige Gestrüpp. Frank wollte schon aufbrechen, aber der Jäger hielt ihn zurück.
    „Das waren nicht die Molerats“, sagte er.
    Frank sah ihn fragend an. Er blickte auf die aufgewühlte Erde, die freigelegte Höhle, das von Blut benetzte Stroh. Schnitzer zeigte es ihm: Dort waren Spuren, wo die Molerats tatsächlich gegraben hatten, wo scharfe Klauen tiefe Furchen durch den Boden gezogen hatten. Aber er zeigte ihm auch die abgenagten Wurzeln und die lockere Erde, die frei war von Würmern, Samen und Kernen. Zuerst hatten hier Molerats fette Beute gemacht, dann, und daher kam auch die breite Schneise, hatte eine Wildschweinrotte noch einmal das offene Erdreich durchwühlt. Sie hatten die Vorarbeit der Molerats genutzt. Die Molerats hingegen, mit ihren kräftigen, aber kurzen Beinen, hinterließen nicht solche Spuren im Dickicht. Sie bewegten sich stattdessen in Reih und Glied, einer nach dem anderen. Die war auch ihre Jagdtaktik: Unentdeckt und nah am Boden pirschten sie sich an, versperrten dann mit ihren massigen Körpern die Zugänge der Höhlen ihrer Opfer und schaufelten sich letztlich den Weg frei. Raul zeigte Frank ihre Fährte: Ein einzelnes Loch zwischen Gestrüpp und Kräutern, gerade mal so breit wie zwei Ellen.
    „Die Fährte ist frisch. Sie sind nicht weit.“, sagte Schnitzer und führte sie weiter.
    Der Jäger sollte Recht behalten: Bald fanden sie die Tiere, sie waren vor ihrem Bau unter einer riesigen Immerlinde. Schnitzer legte den Zeigefinger auf seine Lippen, während sie sich anpirschten. Diese Bäume wuchsen für gewöhnlich nicht inmitten von Talsohlen und dichten Wäldern. Sie standen lieber allein auf windigen Berghängen und auch die Lindleber, welches die giftigen Blätter zersetzte, wuchs hier nur spärlich. Für Frank schien es zumindest ungewöhnlich, so viel hatte er gerade noch von seinem Vater gelernt, doch die Molerats kümmerte das reichlich wenig: Vier Tiere waren dort. Sie wühlten im Dreck oder dösten vor sich hin. Mehrere kreisrunde Löcher führten zwischen den Wurzeln ins Erdreich. Zwei waren Jungtiere, die anderen ausgewachsen. Ein Exemplar war besonders massig und die platte Schnauze, die abgenutzten Zähne und der kräftige Nacken ließen ein hohes Alter vermuten. Sein Fetthöcker, von Jägern auch Humpen genannt, war gewaltig. Mit seinen stummeligen Tatzen schaufelte das Tier die Erde beiseite und schnüffelte nach etwas Essbarem. Frank und Raul blieben in Deckung. Schnitzer gab Frank eine Reihe von Zeichen. Frank solle sich mit dem Spieß um das große Tier kümmern, Raul würde die anderen erlegen. Er zog vier Pfeile aus dem Köcher, steckte drei davon vor sich in den Boden und legte den letzten auf die Sehne. Frank sah nun, wie der einhändige Jäger den Bogen bediente. Er trug einen Handschuh über den Stumpf, eine Lasche war daran angebracht mit der er den Bogen problemlos halten konnte. Überhaupt fiel Frank das fehlende Glied kaum auf, denn Rauls Bewegungen waren natürlich und fließend.
    Raul klopfte ihm auf die Schulter, gab ihm sein Zeichen.
    Frank nickte.
    Er pirschte sich voran. Schritt um Schritt. Das Tier sah ihn zunächst nicht, buddelte weiter im Erdreich. Raul richtete sich auf, verließ seine Deckung, den Bogen gespannt. Der erste Pfeil flog, traf ein Jungtier, sank tief in den Nacken ein und es erschlaffte sofort. Dann bemerkte der kräftige Molerat Frank. Die tiefliegenden Schweinsaugen huschten über seine Figur. Sofort drohte es dem Eindringling mit seinem typischen, gebellten Keuchen und machte damit die anderen Molerats auf ihn aufmerksam. Frank warf einen Blick nach hinten, Raul war bereit, also machte Frank einen Satz nach vorn, den Spieß erhoben. Ein weiterer Pfeil zischte an ihm vorbei, traf ein anderes Tier in seinen geöffneten Rachen. Er stieß seinen Spieß hinab. Er traf die Schulter. Das Tier zuckte, quiekte erbärmlich und wand sich, doch Frank hatte nicht stark genug gestoßen, der Spieß ging nicht tief genug. Er klammerte sich an seine Waffe, doch die starken Muskeln des Molerats rissen hin und her, bis, mit einem lauten Knacken, das Holz brach und Frank nur noch einen kurzen Stock in der Hand hielt. Rotes Blut quoll aus der Wunde, doch das Tier war weder erschöpft noch ängstlich: Es war in Rage. Die Erde spritzte auf, als es voran stürmte. Der massige Körper bewegte sich schneller als Frank es für möglich gehalten hatte, er sprang zurück und entging den spitzen Zähnen nur knapp. Er schlug mit seinem Stock nach dem Tier, traf sogar den Schädel, doch ohne Wirkung. Der Molerat setzte nach, schnappte nach seinen Beinen. Pfeile flogen an Frank vorbei, doch dafür hatte er keine Zeit. Er tanzte mit seinem Gegner, der fette Molerat schien nicht zu erschöpfen, doch schließlich fasste Frank einen Plan. Es war riskant, aber er sah sonst keinen Weg dem wilden Tier beizukommen. Er passte den Moment ab, sein rechtes Bein war exponiert und bereit auszuweichen. Das Tier kam heran, biss zu. Frank zuckte mit den Fuß nach oben und in einer schnellen, kraftvollen Bewegung, trat er zu; gerade auf den gebrochenen Schaft seiner Waffe. Er trieb die Klinge tiefer in den Körper, durch die Schulter, durch die Rippen und bis ins Herz. Frank erhielt +50 Erfahrung. Das Tier zuckte, krampfte und wand sich, Blut sprudelte aus der Wunde, doch seine Kräfte verließen es nicht.
    Es kämpft weiter!, schoss es Frank durch den Kopf.
    Der Schweiß rann ihm über die Stirn, er keuchte und wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht. Dann sah er es: Die Blutspur, breit und mittlerweile überall verteilt, sonderte feinen Dampf ab. Und dort, wo das Blut dem Tier in Strömen den Nacken herablief, entstanden bläuliche Schwaden. Ein scharfer Geruch, wie der von heißem Stahl, biss in seiner Nase. Der Molerat setzte nach, schnappte nach Frank und kratzte panisch mit seinen Klauen über seine Wunden. Es spie Blut und Galle und weißen Rauch. Raul kam heran. Mit einem langen Dolch in der Hand schwang er sich auf das Tier. Er saß oben auf, klammerte seine Beine um den Leib des Tiers und rammte das Messer mit aller Kraft in den fleischigen Nacken. Der Molerat grub die Klauen in den Boden, verdrehte die Augen und erschlaffte mit einem letzten Keuchen.
    Schnitzer stand über dem erlegten Tier, stemmte einen Fuß in seinen Nacken und zog das Messer heraus. Er hatte bereits die Sehne seines Bogens abgespannt und ihn sich über den Rücken gelegt, nun entfernte er den letzten seiner Pfeile von den erlegten Tieren. Frank aber war wie von Sinnen. Er starrte auf das seltsame Blut, wie es Blasen warf und den bläulichen Dunst absonderte. Der Geruch von heißem Metall intensivierte sich. Woran erinnerte ihn dies bloß? Franks und Rauls Blicke trafen sich, doch Schnitzer zuckte nur mit den Schultern.
    „Wir nehmen die Jungtiere.“, sagt er bloß.
    Frank war damit nicht zufrieden. „Findest du das normal?“, fragte er entgeistert.
    Sie standen zwischen den erlegten Tieren. An dem Blut der anderen war nichts ungewöhnliches, aber wo die große Bestie sogar ganze Lachen hinterlassen hatte, zischte und dampfte es jetzt und dicke Blasen platzten und spuckten blauen Dampf. Raul kam zu ihm heran und sah ihn ernst an.
    „Nein. Aber ich habe auch keine Antworten parat. Vielleicht liegt es an der Immerlinde, wer weiß? Füge es einfach zu der langen Liste von sonderbarem Mist in diesem gottverlassenen Kessel hinzu! Wir sollten los!“
    Für Raul war das Thema damit beendet, doch Frank blieb misstrauisch. Rauls Gleichgültigkeit wollte so gar nicht zu seiner sonst so berechnenden Art passen.
    „Was weißt du?“, fragte Frank geradeheraus.
    Raul stierte ihn aus seinen stahlblauen Augen direkt an, seufzte schließlich und winkte ihn herüber.
    „Können wir erst die beiden Jungtiere hier raus schaffen? Mir ist das auch nicht geheuer.“
    Sie packten die Molerats an den Vorderläufern, schulterten sie und verließen den Ort des Kampfes. Sie waren ein Stück von der Immerlinde entfernt, als Raul ihm sein Wissen schilderte: Es war nicht das erste Tier, das dieses seltsame Verhalten gezeigt hatte und es waren nicht nur Molerats betroffen. Selbst schwere Wunden töteten sie nicht, erschöpften sie gerade mal und sie alle hatten die Eigenschaft, dass ihr Blut, wenn es in Kontakt mit der Luft kam, begann heiß zu dampfen, Blasen warf und zischte. Diese Tiere wurden sehr alt, sie waren stark und gerissen und um sie schnell zu töten half nur eine Klinge durch den Schädel oder das Rückgrat. Sie zu jagen lohnte nicht einmal: Ihr Fleisch war bitter bis zur Ungenießbarkeit
    „Warum die Tiere so sind, wo sie herkommen...“ Raul schüttelte den Kopf und ließ den Rest des Satzes offen. „Es sind nur die Älteren betroffen, vielmehr wissen wir auch nicht.“
    Frank schwieg. Was er gesehen hatte, oder genauer gesagt was er nun erlebt hatte, rief ferne Erinnerungen wach: Bevor sie in den Talkessel gekommen waren, es schien wie eine Ewigkeit her, hatte ihnen ein Jäger mit faulem Atem und verschwörerischer Stimme etwas von seltsamen Tieren erzählt, Tiere, die nicht sterben wollten und Tiere dessen Blut kochte. Doch auch wie Schnitzer wusste Frank keine Antworten. Er trug seine Fragen noch lange mit sich herum, wälzte sein spärliches Wissen hin und her in seinem Kopf. Vielleicht war die Bestie im Matterforst auch besessen gewesen, von einer unheimlichen Kraft und dieser widernatürlichen Zähigkeit? Doch einen Sinn, einen Zusammenhang zwischen brennenden Städten, wuchernden Wäldern, Flüssen, die ihren Verlauf änderten, Minen, die einstürzten und Tieren, die nicht sterben wollen, den fand er nicht, beim besten Willen nicht. Es war wie das Spiel eines verrückt gewordenen Gottes, oder die Werke von Magie. Aber zu sagen, es wäre Magie, war auch keine Antwort, die ihm oder sonst wem eine Hilfe wäre. Es bliebe ein Rätsel.
    „Gibt es jemanden, der versucht Antworten zu finden?“, fragte Frank.
    Die Tiere waren zwar schwer, aber sie waren gut vorangekommen und Frank konnte auch schon die Palisaden durch die Baumstämme erkennen. Raul gab ihm einen prüfenden Blick.
    „Wozu sollte man die suchen?“, fragt er.
    „Um das Schlimmste zu verhindern, denke ich.“
    Raul schenkte ihm einen weiteren Blick, dieses Mal mit eng zusammengekniffenen Augen. Etwas flackerte in seinen Augen, irgendein verborgener Gedanke, etwas, was er ihm nicht sagen konnte oder wollte. Doch der Jäger blieb stumm. Sie traten aus dem Wald und sahen vor sich das Lager und Raul sagte schließlich:
    „Nein. Ich kenne keinen.“
    Sie schleppten die Tiere zum Jägertor und Raul wies ihn an, die Molerats schnell zum Fleischer zu bringen. Man bräuchte die Überreste als Köder, noch bevor der Abend beginnen würde.


    VII Letos helfende Hand
    Im Jahre des Addo 389, Am Abend des 20. September
    Erik
    Erik standen die Schweißperlen auf der Stirn. Die Hitze des Kessels, das ständige Rühren und das Anfachen der Glut waren ein ganzes Stück Arbeit für seinen schwachen Körper. Doch er genoss es auch. Zum einen genoss er die frische Luft, denn die Lüftungstüren zu beiden Seiten des eisernen Kessels standen weit geöffnet und er genoss den Ausblick auf Wald und Lager im abendlichen Dämmerlicht. Zum anderen war es etwas zu tun, etwas, was ihn von den ständig in seinem Kopf rumorenden Gedanken ablenkte. Die Stimme seines jämmerlichen Selbstmitleids war endlich verstummt und in manchen Momenten vergaß er sogar seinen physischen Schmerz.
    „Du bist sicher, dass du keine Hilfe mehr brauchst?“, fragte Ferdinand.
    Erik schüttelte den Kopf. „Das Fett, das Salz, das Wasser, es ist alles im Kessel. Jetzt muss ich nur noch das jeweils richtige Maß finden und abkochen.“
    Ferdinand nickte. „Geh nicht zu spät schlafen.“, sagte er und schürzte die Lippen. „Weck mich, wenn du etwas brauchst!“
    Damit ging Ferdinand. Erik blickte ihm hinterher und sah wie die Tür sich schloss. Selbst der Knauf war geputzt, denn sie hatten das gesamte Labor penibel und sorgsam gereinigt. Die Gläser der Reihen um Reihen von Laborfläschchen reflektierte das orangene Glimmen der Glut zu seinen Füßen. Er warf noch einmal einen Blick in den Kessel; die Masse dickte und die Blasen wurden größer. Eine letzte Prise Salz gab er hinzu, dann holte er mit einem Haken die Kohle unter dem Kessel hervor, stand auf und benutzte seinen niedrigen Schemel, um zu gehen. Schritt für Schritt kam er dem Lesepult näher. Das Licht reichte kaum noch aus. Viel Zeit hätte er nicht mehr. Die güldenen Lettern glänzten verlockend und er klappte den dicken Wälzer auf. Die ersten beiden Seiten waren leer, abgesehen von einer Widmung in zierlicher Schrift und dunkelgrüner Farbe:

    Dem König, den Göttern, den Geistern
    Der Prosa, der Liebe, der Kunst
    Der Tante, dem Vater, dem Bruder
    Dem Grafen, dem Gelde, der Zunft
    Sie widmen ihre Schriften
    Den Menschen und den Dingen
    Und wolln sie Gutes stiften
    Tun sie von Göttern singen
    Ich -
    Ich widme dies Werk der Natur
    Sie ist mein treuer Lehrmeister
    Mein Gott und meine Familie
    Antonia Haggarta

    Erik schmunzelte. Ganz wie bei seinem Vater, so hatte auch die Autorin wohl mit den Häusern der hohen Schule abgeschlossen. Die hochnäsigen Direktoren und Professoren obskurer Fächer wussten nur zu genau von Richtig und Falsch zu unterscheiden, besonders wenn ihr Fachgebiet ihre eigene Religion oder das Recht des Königs betrafen. Die Lehrmeister des kaufmännischen Handwerks waren wohl noch die ehrlichsten: Lagen sie falsch, wurden sie arm.
    Wissenssuche heißt Demut vor der Wahrheit, dachte Erik, so ein Sinnspruch seines Vaters.
    Er blätterte um. Das Inhaltsverzeichnis. Dann, von fern, hörte er Geschrei. Es stammte nicht aus dem Lager. Er humpelte zu den Lüftungstüren. Dort, im Wald, zwischen den dunklen Baumstämmen, sah er Fackelschein, Bewegungen, hörte einen Hund kläffen. Er lehnte sich nach vorn, kniff die augen zusammen und blickte in die Tiefe. Wachen standen auf den Palisaden, auch sie hielten Fackeln in der Hand, und die Grube zwischen den Pfählen war ebenso erleuchtet: Dort lagen die ausgenommen Leichennahme von zwei Tieren. Es mussten die Molerats sein, dessen Fett er verkocht hatte. Die Tür schwang auf. Leto trat ins Labor.
    „Na, mein Junge. Genießt du das Schauspiel?“, sagt er und kam herüber.
    Eilig machte Erik ihm Platz. Sofort wurde ihm klamm ums Herz, aber der riesige Mann schenkte ihm keine Aufmerksamkeit. Er strich sich nur sein Hemd glatt, steckte seine großen Hände in die Taschen und leckte sich erwartungsvoll über die Lippen, während er in den dunklen Wald starrte. Dann brachen sie aus dem Dickicht: Zwei schlanke Wesen, ledrige Haut schimmerte im Fackelschein, sie fauchten und zischten: Es waren Snapper.
    Ha! Was für ein Fang!“, rief Leto voller Freude laut hinaus.
    Die Echsen hoben ihre Köpfe und ihre gelben Schlitzaugen Augen fixierten den Hünen. Ihre Nüstern zitterten voller Zorn und Furcht zugleich. Männer kamen aus den Büschen, einer nach dem anderen. Sie waren mit langen Speeren bewaffnet und trieben die Tiere zurück, immer näher an die Grube und die scharfen Krallen der gefährlichen Bestien gruben sich tief in den irdenen Untergrund. Ihre eleganten Körper schlangen sich umeinander, sie suchten nach Platz, fanden keinen, fauchten gefährlich, doch die Jäger waren gut eingespielt, koordinierten sich und schlossen jede Lücke schneller, als dass ein Snapper sie nutzen konnte. Wachen eilten herbei, reihten sich bei den Jägern ein. Sie hielten Fackeln mit langen Stangen, die sonst die Wege im Lager erhellten. Man drängte die Bestien weiter und weiter zurück, bis, unter lautem Jubel von Leto, ihrem Anführer auf seinem hohen Ausguck, die Tiere ihren Halt verloren und sie strampelnd und mit peitschenden Schwänzen in die Grube stürzten. Leto lachte lautstark.
    „Gute Arbeit, Männer! Freibier für jeden Jäger!“, rief er und die Männer antworteten mit ausgelassenem Jubel.
    „Das gibt ein paar schöne Kämpfe.“, sagte Leto mit einem breiten Grinsen zu Erik.
    Der Junge war noch vollkommen starr. Das Schauspiel, was sich hier ereignet hatte raubte ihm die Worte. Phantomschmerzen zuckten sein Bein herauf und Erinnerungen wurden wach. Leto blickte auf den großen Kessel, sah hinein und hob die Brauen.
    „Ist das fertig?“, fragte er.
    Erik nickte.
    Leto nahm sich Schüssel und Kelle von einem Tisch, füllte sie mit der frischen, noch butterzarten Seife. Er zerrieb einen Tropfen auf seiner Fingerspitze und schnupperte daran. Ein Lächeln stahl sich über seine Lippen, als er den Geruch wahrnahm. Erik hatte Lavendel und Salbei beigemischt.
    „Oha!“, sagte er zufrieden. „Was für ein Tag!“
    Leto gab ihm einen heftigen Klaps auf den Rücken, woraufhin Erik stolperte. Der Junge verlor das Gleichgewicht, wollte sich auf seinem Stumpf fangen, doch wie er aufkam, schoss heißer Schmerz sein Bein herauf. Hart kam er auf und er wand sich unter heftigem Stöhnen auf dem Boden, unter dem riesigen Leto, und er konnte es nicht verhindern, dass Tränen in seine Augen traten. Eine riesige Hand kam zu ihm herab. Keine Faust, nein, sie war geöffnet, wartete auf ihn. Erik griff sie und ließ sich helfen. Keine Entschuldigung für Eriks Schmerzen, aber eine helfende Hand.
    „Morgen kriegst du eine Krücke, mein Junge.“, sagte er und klopfte ihm dieses Mal vorsichtiger auf den Rücken. „Gute Arbeit“
    Der große Mann seufzte, sog noch einmal den Duft der Seife ein und zwinkerte dem Jungen zu. Leto ging. Eriks Bein pochte, die Muskeln zuckten noch. Er würde sich eine Heilsalbe machen müssen, denn unter den Verbänden lag sein Knochen frei und sein Fleisch war offen. Dieser grausame Mann mit seiner rauen Art bot ihm nun eine helfende Hand. Und morgen eine Krücke? Was war seine Geschichte? Die Frau, seine Frau, wie hieß sie?
    Emma
    Erik hatte nie eine Mutter gehabt. Aber einen sorgsamen Vater, weit weniger grausam als Leto es je sein könnte. Ferdinand hingegen hatte weder Mutter noch Vater, doch der hatte Quentin und wohl noch andere Menschen im Kessel. Als Erik sich zu seinem Zimmer begab, die Kerze auf dem Nachttisch löschte und unter die Decke kroch, begriff er, dass er nie wieder in einer geborgenen Welt leben würde. Sein Vater war fern. War dies nun seine Heimat? Sein Bruder war zwar hier, doch letzten Endes waren es nur Eriks Hände selbst, die seine Sicherheit garantieren konnten. Er könnte hier Alchemie studieren, er würde hier Seife kochen. Es wäre leichter, wenn er noch zwei Füße hätte. Aber wer hatte sie ihm genommen? Leto? Yorrick? Frank? Oder der Fleischer, der das Beil geschwungen hatte? Erik zuckte zusammen, als seine Fantasie ein solches Bild fertigte. Ein vages Gefühl von kalter Furcht schloss sich um seine Brust, doch er schüttelte es schnell wieder ab. Es lag an ihm, sein Schicksal zu gestalten. In der Schwebe, zwischen Angst und Sorge gegen Hoffnung und Vorfreude, glitt er in den Schlaf.


    VIII Raiks Geheimnis
    Im Jahre des Addo 389, In der Nacht des 20. September
    Hermann & Raik
    Der Hauptmann konnte keine Ruhe finden. Er hatte den Tag damit zugebracht das Gespräch zu seinen Männern zu suchen, um ihr Verhalten in Neigenbau, speziell im Freudenhaus, zu richten, zu rügen und schließlich auf die rechte Bahn zu lenken. Sie hatten ihn angehört, was die Männer letztlich tun würden, blieb jedoch ungewiss. Hermann könnte seine Augen nicht überall haben. Nun lag er auf seinem Bett, an die Decke starrend. Das Treffen mit den Nordmar war ausgefallen und blieb ein weiteres Rätsel, das es zu lösen galt, doch das war es nicht, was ihn umtrieb. Es war der geheime Zirkel, mit all seinen verschiedenen Gestalten, Verstrickungen und Interessen und es ließ ihn nicht los. Der Lehnsmann war tot. Es gab nur einen im Lager, der regelmäßigen Kontakt mit dem zurückgezogen lebenden Mann hatte und das war Raik, als Ranghöchster Soldat der Garnison des Talkessels. Er ging in den Bergfried, redete mit ihm, nahm Befehle entgegen und bot seinen Rat. Was war geschehen? Warum wusste niemand davon? Was hatte Raik damit zu tun? Er kannte den Kommandanten nun schon Jahre, schon vor ihrer Stationierung im Kessel, und er war sein engster Vertrauter. Oder zumindest glaubte er es zu sein. Hermann stand ihm am nächsten und der Hauptmann tat sich schwer damit, Raik einen Mord anzulasten. Er kannte ihn als Pragmatiker, als guten Strategen, bei seltenen Gelegenheiten auch als Hitzkopf, doch ein eiskalter Mörder, der seine eigenen Männer belügt, oder zumindest die Wahrheit verschweigt; Er wollte und konnte diese Person in Raik nicht erkennen. Hermann rieb sich mit den Händen das Gesicht, ächzte frustriert und raffte sich auf. Schlaf würde er keinen finden, auch wenn es schon mitten in der Nacht war. Entschlossenen Schrittes überquerte er den Innenhof, wo die Lager der Mannschaft aufgeschlagen waren und hielt geradewegs auf das Haus des Kommandanten zu. Trotz seines festen Vorhabens wurden seine Schritte langsamer und sein Blick blieb auf der Standarte neben der Tür haften. Der Stoff war dreckig, alt, ausgefranst und durchlöchert. Das königliche Emblem war unkenntlich: Das sich aufbäumende Pferd vor einem Wachturm, auf dessen Spitze eine Flamme strahlte. Es war nur noch von denen erkennbar, die das Symbol bereits kannten. Der Flaggenträger, der Soldat mit der Aufgabe sich um die Symbole des Königs zu kümmern, zählte zu den Deserteuren. Er war einer der Glücklichen gewesen, die Raiks Suchtrupps nicht aufgespürt hatten. Hermann sog die warme Abendluft ein und sammelte sich. Ohne zu klopfen trat er ein. Er fand Raik zusammen mit Skerta, beide grübelnd über einen Tisch gebeugt, der übersät war mit Karten und alten Schriftstücken.
    „Kommandant, auf ein Wort.“, sagte Hermann brüsk.
    Kaum ein anderer in der Mannschaft konnte sich diesen Ton leisten. Raik sah auf. Er hatte sich seit einer Weile nicht rasiert und Hermann fielen sofort die grauen Stoppeln im schwarzen Bart auf.
    „Ich bin ganz Ohr.“, sagte er und sah wieder auf die Karten.
    Hermann zögerte, denn er wollte vor dem Nordmar seinen Vorgesetzten nicht in Frage stellen.
    „Ich war wieder in Neigenbau.“, sagte Hermann schließlich.
    „Ich weiß“, sagte Raik. „Ihr schleicht euch immer wieder ohne meine Erlaubnis heraus und genießt die Freuden der Stadt, nehme ich an?“
    Raik sah nicht auf und hatte immer noch die Augen auf den Karten.
    „Nicht dieses Mal“, sagte Hermann bestimmt und erntete damit endlich die volle Aufmerksamkeit von Raik.
    Ihm war klar, dass seine nächsten Worte entscheidend sein konnten, doch zu viel durfte er nicht verraten. Seine neuen Verbündeten mussten geheim bleiben, aber vielleicht konnte er einen Mittelweg gehen. Er kam an den Tisch heran.
    „Ratsherr Benjamin kam auf mich zu. Es ging um ein Gesuch der Bauern. Sie haben ein Banditenproblem.“
    „Ein großes oder ein kleines Banditenproblem?“
    „Groß genug, dass es die Aufmerksamkeit der Armee benötigt.“
    „Wie groß?“, fragte Raik streng.
    Der General mochte es nicht, wenn man ihm sagte, was er zu tun hatte, ohne dass man ihm einen triftigen Grund nannte. Dafür bedurfte es einen militärischen Rang über dem seinen. Hermann zuckte mit den Schultern.
    „Genaues wissen wir nicht. Ich schätze ihre Zahl auf 80 Mann, nicht alle von ihnen Kämpfer, vielleicht mehr, vielleicht weniger.“
    „Eine Bande?“, fragte Raik und hob die Brauen.
    Hermann nickte.
    Er berichtete von den Überfällen, den Opferzahlen und den Verschleppungen. Für einen losen Haufen Gesetzesloser waren die Angriffe zwar zu viele an der Zahl, Raik pflichtete in dieser Sache Hermanns Einschätzung bei, doch eine größere Bande schlossen sie aus. Große Zahlen fielen auf, denn es gab immer Einzelne die ausscherten, die ihre Bande verrieten, ob es nun durch reinen Zufall geschah oder ob es sich um den Verrat eines in Ungnade gefallenen Mitglieds handelte. Es waren Respekt vor der Befehlsgewalt und gemeinsame Ziele, die eine Mannschaft zusammenschweißte. Leider fehlte Letzteres auch den Soldaten in diesen Zeiten.
    „Fünfzig Kämpfer, vielleicht sechzig...“, sagte Raik und legte die Stirn in Falten, „...das ist keine einfache Goblinmeute und selbst die scheinen nicht mehr ganz die Alten zu sein im Kessel.“
    Er schenkte Hermann und Skerta einen bedeutungsschwangeren Blick. Der Hauptmann nickte gedankenverloren, dachte zurück an ihren Kampf auf den Hängen des hohlen Zahns. Auch Skerta brummte zustimmend.
    „Welche Höfe wurden überfallen?“, fragte Raik.
    Er legte eine detaillierte Karte des Talkessels auf die unsortierten Papiere auf. Sie war alt, der hohle Zahn hatte noch keine Löcher, der Matterforst existierte auch noch nicht und es fehlten ein paar Gehöfte. Hermann deutete auf die betroffene Gegend, westlich von Neigenbau und unterhalb des hohlen Zahns. Raik legte seinen Finger auf Tanneck, den Wald im Süden des Talkessels. Er war begrenzt durch einen Sumpf im Norden, den blauen Weiler, einen See in der Südspitze des Kessels, und die Geröllhänge der schneebedeckten Massive im Südwesten. Die Obere Neige schnitt mitten durch den Wald, zumindest auf dieser älteren Karte, denn nun war der Wald östlich dieses Flusses größtenteils abgeholzt.
    „In diesem Wald müssten sie ihr Quartier haben.“, sagte Raik. „Wenn sie schlau sind, lagern sie jenseits des Flusses.“
    Sein Finger fuhr weiter nach Süden.
    „Von hier aus sollte man einen Überblick haben.“, fuhr er fort.
    Ein Lächeln umspielte Hermanns Lippen, denn es waren die exakt dieselben Worte, die er an den geheimen Zirkel gerichtet hatte. Dass sein militärisches Wissen auf Augenhöhe mit dem von Raik war, ehrte den Hauptmann.
    „Ich kann Späher entsenden, dann sehen wir weiter.“, sagte der General und gab Hermann einen fragenden Blick.
    Hermann nickte knapp, er hatte den Befehl verstanden.
    „Ich stelle einen Suchtrupp zusammen.“, sagte er.
    „Gut!“, sagte Raik.
    Der Kommandant räusperte sich und stemmte die Hände in die Hüften.
    „Drei Jahre sitzen wir faul auf unseren Hintern und auf einmal passiert alles gleichzeitig!“, sagte er.
    „Nicht zuletzt wegen dem Lehnsmann.“, sagte Hermann. „Was wird er dazu sagen, dass wir nun Banditen jagen? Wie ich ihn kenne, sollen wir die Füße stillhalten.“
    Hermann verschränkte die Arme und hob das Kinn. Die darauffolgende Stille war tief. Die Blicke von Raik und Hermann trafen sich, doch der Kommandant blickte schnell wieder auf die Karte.
    „Lass den Lehnsmann meine Sorge sein.“, sagte Raik.
    „Mein Herr, es gibt noch eine andere Sache, die ich besprechen wollte.“, setzte Hermann nach.
    Seine Stimme war gepresst und diesmal starrten sie einander in die Augen und keiner wandte sich ab.
    „Erster Jäger Skerta...“, sagte der Hauptmann, „...wenn ihr uns entschuldigen würdet.“
    Der Nordmar tat eine leichte Verneigung und verließ ohne Worte den Raum. Sie waren allein. Beide schwiegen. Raik zog einen Stuhl heran und setzte sich. Seine Haltung war gelassen, mit einem Arm auf dem Tisch liegend. Hermann ging ein paar Schritte auf und ab, bevor er schließlich stehen blieb und sich räusperte. Die Worte wollten ihm nicht recht über die Lippen kommen.
    „Ich will dich nicht fragen, was der Lehnsmann des Tals zum Treffen mit den Nordmar sagt. Oder zum Banditenlager.“ Noch einmal räusperte sich Hermann. „Ich denke, dazu hat er keine Meinung. Nicht mehr.“
    Raik schürzte die Lippen, blieb aber stumm. Er trommelte mit den Fingern auf dem Tisch, jetzt nicht mehr so gelassen.
    „Ich verstehe es nicht, Raik.“, sagte Hermann und lehnte sich über den Schreibtisch. „Ich habe nicht den leisesten Schimmer, was geschehen ist. Ich dachte wir-“
    Kommandant!“, schnitt Raik ihm das Wort ab.
    Hermanns Mund schloss sich abrupt.
    Kommandant Raik“, wiederholte sein Vorgesetzter. „Es wird Zeit das in dieser Truppe wieder etwas Disziplin einkehrt.“
    Sein Ton zeigte keine Spur von Zweifel, es klang vielmehr wie eine Feststellung, eine Darstellung von Fakten. Hermann sah ihn entgeistert an. Raik wollte offenbar nicht über den Lehnsmann sprechen.
    „Du kriegst deine Späher.“, sagte der Kommandant. „Hauptmann, ihr werdet am frühen Morgen das Lager-“
    „Vergiss die Späher! Und vergiss deinen verdammten Titel!“, brach es aus Hermann heraus. „Was ist passiert? Der Lehnsmann ist tot! Was bei den sieben Wächtern hat das zu bedeuten?“, rief er, ohne Rücksicht auf Rang oder Respekt.
    Dieses Mal brachte es Raik nicht zustande in Hermanns Augen zu blicken. Stattdessen nahm er die Karte des Kessels in die Hände, den Blick starr auf den Zeichnungen.
    „Was weißt du?“, fragte Raik trocken.
    Hermann warf die Arme in die Luft.
    „Reichlich wenig, wenn du mich nicht einbeziehst!“, sagte der Hauptmann aufgebracht. „Hast du ihn getötet?“
    Raik blieb stumm.
    „Wenn ja, dann aus welchem Grund? Wir können mit unseren Männern keine Spielchen spielen! Du glaubst, ich habe einen Draht zu den Jungs, doch ich sage dir, sie blicken alle auf dich. Du bist unser Führer, du hast die Pflicht-“
    Raiks Faust fuhr nieder auf den Tisch.
    Soldat!“, brüllte er.
    Karten und Papiere fielen zu allen Seiten vom Tisch und segelten zu Boden. Er fuhr ruckartig hoch. Sein Stuhl schlitterte nach hinten und krachte laut auf den Boden. Voller Wut zerknüllte er die Karte des Kessels, warf sie fort und stampfte auf. Er blinzelte stark, atmete ein und aus.
    Wir, Hauptmann...“, sagte er und hob einen zitternden Zeigefinger „...wir führen diese Männer. Führer, wie du und ich sorgen für den Frieden, für die Sicherheit und Ordnung. Der Lehnsmann hat den Tod mehr verdient als die Soldaten, die ich auf dem Platz dieser Burg habe hängen lassen!
    „Was tust du nun?“, sagte Hermann kühl.
    Ihr habt eure Befehle!“, spie Raik ihn an.
    Hermann blieb auf seinem Platz stehen und biss sich auf die Lippen.
    Hinaus!“, bellte Raik.
    Der Hauptmann fügte sich, salutierte, was er vor Raik schon lange nicht mehr getan hatte, und stapfte hinaus. Im Hof folgten ihm die Blicke seiner Kameraden, doch es scherte ihn nicht. Geradewegs ging er zum Haupttor.
    Millen!“, rief er barsch.
    Der Kopf des Wachmeisters zeigte sich auf dem Wehrgang.
    „Wir brechen auf!“, sagte Hermann. „Du, zwei Männer, leichtes Gepäck. Eine Spähmission.“
    „Es ist mitten in der Nacht!“, antwortete Millen irritiert.
    „Wir brechen jetzt auf!“, sagte Hermann entschieden.
    Mit diesen Worten schritt er durch den Torbogen. Er schluckte seinen Zorn und seine Enttäuschung fürs erste herunter, doch mit dem Gedanken, dass die gesamte Mannschaft wohl die Zeugen seines Streits gewesen waren, schwanden seine Hemmungen. Er fluchte laut und seine Rufe hallten von den Klippen der Steilwand wider und verloren sich in den Hügeln unter der Ruine. In der Ruhe, die sich danach über Hermanns Gemüt legte, hatte er nur einen Gedanken. Er wünschte, dass ihm die Truppe gleich wäre, dass er keine Verantwortung trüge für diese Männer. Doch sie war es nicht. Also entschied er weder nach seinen Gefühlen noch nach seinem Willen, sondern erfüllte seine Befehle. Raik ihn verraten. Die Pflichten des Kommandanten waren das eine, denn der König war fern. Aber dass er ihn nicht einbezogen hatte, dass Hermann außen vor blieb, wenn Raik einen solchen Schritt ging, dies war ein tiefer Bruch seines Vertrauens. Hatte er aufgegeben und zog nun all die Männer mit sich herunter? Jetzt hatte Raik seinen engsten Vertrauten verloren und damit eine Stimme für guten Rat. Ohne Raik würde der Ruf der Blutjacken leiden. Doch damit auch die Menschen im Kessel. Dem Hauptmann war das wohl bekannt, doch in diesem Moment waren seine Gedanken gefangen in einem dunklen Nebel von Wut und Enttäuschung.


    IX Ein Angebot für Frank
    Im Jahre des Addo 389, In der Nacht des 20. September
    Frank
    Frank saß wieder bei den Jägern. Die Reste eines Scavengers brutzelten über dem Lagerfeuer und Funken stieben in den dunklen Nachthimmel, wenn einer der Männer die Glut anfachte. Sie tauschten sich lebhaft über ihre erfolgreiche Treibjagd aus. Der bärtige Jägersmann, es war wohl unmöglich ihn ohne Pfeife im Maul anzutreffen, beschrieb lebhaft die einzelnen Rollen und heldenhaften Taten seiner Kameraden. Ihr Fang gab Frank Grund zur Sorge: Zwei Snapper, ausgewachsen und quicklebendig, hatte man in die Bestiengrube getrieben. Sie würden später in der Arena kämpfen, wenn man neue Gefangene hätte. Nicht nur, dass sie diesen Gefangenen buchstäblich den Kopf abreißen würden, bereitete ihm Kopfschmerzen, nein, dass sie genau in der Grube warteten, über den der naheliegendste Fluchtweg führte, ließ ihm keine Ruhe. Es ging zwar nicht um ihn selbst oder um Erik, doch er hatte Sadiye ein Versprechen gegeben und beabsichtigte es zu halten. Schnitzer schien seine Augen auffällig oft auf Frank zu haben, was Franks Unbehagen nur noch steigerte: Die zerschnittenen Züge des verstümmelten Mannes waren schwer einzuschätzen, seine Absichten umso mehr. Misstrauen oder Neugierde, Frank konnte nur raten. Bald wurde er aus seinen Grübeleien herausgeholt: Yorrick kommandierte ihn herbei. Dieses Mal gingen sie nicht in Letos Haus, sondern in Yorricks eigene Hütte. Es war ein Blockhaus, stabil gebaut und innen nicht zu spärlich ausgestattet. Jagdtrophäen zierten die Wände und die Möbel waren in gutem Zustand. Er wies Frank einen Stuhl, schenkte ihm einen Krug klares Wasser ein und setzte sich ihm gegenüber.
    „Langer Tag, nicht wahr?“, sagte Yorrick und nahm sich selbst einen Becher. „Erst Neigenbau, der lange Weg, dann die Jagd.“
    „Wir sind nicht hier, um über meinen Tag zu reden, hab ich Recht?“, sagte Frank und nahm einen Schluck.
    „Nein“, sagte Yorrick mit seiner kehligen Stimme. „Nein, sind wir nicht.“
    Yorrick seufzte, blickte Frank lange an, der bloß die Augenbrauen hob und sagte:
    „Sondern?“
    Yorrick stand auf, ging hinüber zu einer alten Truhe, hob den eisenbeschlagenen Deckel und kehrte mit einem Bündel Lederstreifen wieder. Frank begriff sofort: Es waren Riemen, Lederriemen, ein Zeichen der Mitgliedschaft im Lager. Yorrick warf das Bündel auf den Tisch. Jetzt hob Yorrick die Augenbrauen und sah ihn erwartungsvoll an.
    „Also...“, sagte Frank langsam, „...verstehe ich das richtig?“
    Yorrick nickte.
    „Womit verdiene ich denn die Ehre?“
    „Du hast dich bewiesen.“, sagte Yorrick, zuckte mit den Schultern und nippte von seinem Krug. „Leto hat keine Einwände. Ich habe keine. Die Jäger kennen dich und hätten sicherlich nichts dagegen. Außerdem, genügend Männer haben dich in der Arena gesehen, man kennt dich.“
    Frank atmete tief durch. Seine Augen ruhten auf den Lederriemen. Er war schon einmal in einer Bande gewesen, damals, in Middenheim. Es hatte nicht gut geendet. Doch dieses Lager war keine Bande, es war beinahe eine Armee. Er könnte die Riemen anlegen. Er könnte es tatsächlich.
    „Was habe ich davon?“, fragte Frank.
    Yorrick lachte laut. „Ja, ja, das ist so eine Sache, wenn man jemandem nach nur wenigen Tagen die Zügel für den Karren in die Hand gibt, nicht wahr?“
    Yorrick lachte wieder, doch als er bemerkte, dass Frank es ernst meinte, verstummte er.
    „Was du davon hast?“, sagte er. „Du bist einer von uns! Du hast Männer, die dir den Rücken stärken. Du, speziell du mit deinen Talenten, hättest jede Menge Aufträge, oder soll ich sagen: Gelegenheiten. Gelegenheiten, dich und das Lager zu bereichern und die vollen Taschen der reichen Säcke in Neigenbau etwas leerer zu machen zum Beispiel.“
    Frank schwieg. Er nahm einen der Riemen in die Hand und drehte ihn hin und her.
    „Und was muss ich tun?“, sagte er schließlich.
    Yorrick faltete die Hände zusammen. „Ein Teil vom Lager sein. Zu uns stehen. Meine Befehle befolgen und Letos Plan unterstützen.“
    „Letos Plan?“
    „Dafür...“, sagte Yorrick und stellte den Becher ab, „... musst du schon ein Stiefel sein. Aber das würde ein Mann der Gelegenheit wie du sicherlich auch in Kürze meistern.“
    Frank brummte, während er sich nachdenklich die Stirn rieb. Es war nicht klug die Einladung zu einer Bande von Gesetzesbrechern abzulehnen: Es bedeutete Misstrauen und Misstrauen konnte den Tod bedeuten. Andererseits wäre für ihn gesorgt. Für Erik wäre gesorgt. Sein kleiner Bruder hätte Zeit zu heilen, Zeit zu studieren, der eigentliche Grund, weshalb die Brüder überhaupt aufgebrochen waren. Und nicht zuletzt: Männer wie Greg mit ihrer brutalen Willkür verlören ihre Macht.
    Langsam legte Frank seine Finger um die Riemen. Sie waren frisch gegerbt, das Leder beweglich und glänzend.
    Letos Befehle. Yorricks Befehle. Verrat hieß den sicheren Tod.
    Mit einem tiefen Seufzen nahm er einen Riemen in beide Hände und legte ihn mit steifer Miene um seine Brust.
    Der Talkessel war klein, Flucht war unmöglich, Verstecken schwierig.
    Einen zweiten Riemen legte er schräg über den Ersten.
    Er brauchte Verbündete. Ob Verbrecher, Soldat, Bürger oder Bauer, wer wusste schon, wie sicher ein Mann im Kessel überhaupt sein konnte?
    Frank legte den letzten Riemen an, zurrte ihn fest und schloss die Schnalle.
    Erik würde hier leben. Leben und lernen können. Sein Bruder würde Franks oberstes Gebot bleiben. Immer.

    Frank blickte in den funkelnden Sternenhimmel. In wenigen Tagen gäbe es wieder Arbeit, hatte Yorrick ihm gesagt. Allein saß vor seiner Hütte, versunken in Gedanken an die ungewisse Zukunft. Er senkte seinen Blick, hinab von den Sternen und nieder auf seine Hände. Er hielt seinen ersten Sold in den Händen. Seltsam, dass Yorrick es Sold nannte, hatte er doch deutlich betont, dass ein Riemen kein Soldat wäre, das Lager keine Armee und jeder Mann seine eigenen Freiheiten genoss, seine eigenen Geschäfte hatte, seinen eigenen Besitz. Alles für den geringen Preis einer gewissen Pflicht gegenüber Leto und dem Lager. Er könnte seine Hütte aufbessern, er könnte ein paar Aufträge an Land ziehen, Kontakte knüpfen und Freunde finden, irgendwie im Talkessel ankommen. Der Kartenzeichner, Theo, der Kochgehilfe, und der Jäger Schnitzer gehörten bereits zu seinen Vertrauten, auf die ein oder andere Art und Weise. Frank stand auf und ging Richtung Markt. Nun, wo es ihm gestattet war, wollte er sich Speis und Trank kaufen, denn schließlich hatte er noch eine lange Nacht vor sich. Auch ein Seil müsste er besorgen.


    X Jeder Krieg hat seine Opfer
    Im Jahre des Addo 389, Am späten Abend des 20. September
    Boris
    Die Sonnenuntergänge im Talkessel waren etwas Besonderes, denn wenn die Sonne hinter dem gezackten Horizont der Berggipfel verschwand, dann warf sie noch eine Weile ihre goldenen Strahlen auf die Berge im Osten, die Hänge über Neigenbau, über der alten Mine und auf den verborgenen Pass der Nordmar. Der Kessel selbst lag nun im Schatten, nur noch erhellt durch das zurückgeworfene Licht der Bergflanken des Silbergebirges. Als die Dämmerung ihren majestätischen Glanz schließlich verloren hatte und am Horizont nur noch ein blauer Streifen an den Tag erinnerte, brachen sie auf. Eine Gruppe schwarz gekleideter Männer pirschten durch die Sohlen der sanften Hügel, nicht unweit der großen Köhlerei zwischen Neige und oberer Neige. Sie waren vierzig Mann stark und sie waren bewaffnet. Sie trugen Knüppel: Kurze, hölzerne Prügel mit schwarz gerußtem Holz, welche in der Dunkelheit unsichtbar wurden. Allem voran war ein kräftig gebauter Mann mit kahlem Schädel und dichtem, mit Brandlöchern übersätem Bart. An seiner Seite war Ignatius, der Vorarbeiter. Er und der Schmied führten die Männer an. Als sie den Waldrand erreichten, sammelten sie sich um den Stamm einer mächtigen Linde. Die Männer schnauften. Sie hatten ihre Gesichter mit Kohle eingerieben und ihr Schweiß wusch den Schwarzen Staub in dünnen Striemen von ihrer Haut. Boris baute sich vor ihnen auf.
    „Wir bleiben zusammen. Immer in Sichtweite.“, sagte er. „Lauft versetzt zueinander. Wir bilden eine Front, durchkämmen das Unterholz.“
    Er ging in die Hocke und senkte seine Stimme.
    „Doch wir müssen sie zunächst einmal finden. Wir suchen nach einem Pfad, einem Weg oder einer Schneise im Wald. Irgendeine Spur muss es geben. Finden wir etwas, kommen wir wieder zusammen und setzen unseren Weg in diese Richtung fort.“
    Während er sprach trat eine Frau aus dem dunklen Wald hervor.
    „Ich habe den Pfad gefunden.“, sagte sie.
    „Sadiye!“, freute sich Boris. „Gerade rechtzeitig.“
    Die Severim beschrieb ihnen den Weg, erst durch den lichten Wald diesseits der oberen Neige, dann durch eine breite Furt, dann durch den dichten Wald dahinter, wo ein verborgener Trampelpfad sie an ihr Ziel führen würde. Wachposten hätte sie keine gesehen, was nicht hieß, dass es keine gäbe, denn die Nacht umhüllte jedermann in ihr schwarzes Kleid. Sadiyes verabschiedete sie sich eilig und war fort. Ihre Aufgabe war nicht bei der Gruppe, sie handelte allein. Boris sprach die letzten Worte:
    „Im Wald sind wir still. Keinen Laut. Überraschung ist unser Vorteil. Und denkt daran: Wir sind nur das Ablenkungsmanöver. Haltet euch den Rücken frei, damit wir wieder abziehen können. Verstanden?“
    Die Männer nickten. Das Weiße ihrer Augen stach aus den schwarzen Gesichtern hervor. Konzentriert hatten sie den Ausführungen ihres Anführers gefolgt. Sie waren entschlossen und sie würden kämpfen. Boris blickte ein letztes Mal in ihre Gesichter. Es waren Bauern, Arbeiter und ein paar von ihnen von den Familien der Severim. Alle waren freiwillig hier. Der Schmied hatte gerufen und sie folgten. Ignatius, der Vorarbeiter der Eisenmühle, war unter ihnen und auch seine Stimme hatte Gewicht. Gemeinsam rückten sie aus. Die Sonne war erloschen, nun spendete der Vollmond ihnen Licht, zwischen den Bäumen war es jedoch finster und die Männer orientierten sich mehr an den Geräuschen der Schritte ihrer Kameraden. Bald erreichten sie den Fluss. Eine breite Furt führte hinüber, doch bevor der erste Mann seinen Fuß ins Wasser setzen konnte, hielt Boris ihn zurück. Durch die Furt führte eine Reihe von Trittsteinen. Jemand hatte sie so angeordnet, dass man trockenen Fußes die andere Seite erreichen konnte. Dies war die Spur, nach der sie gesucht hatten. Die Gruppe fand sich zusammen und überquerte dann, einer nach dem anderen, wortlos und mit wachsamen Augen, den Fluss – tiefer in den Wald hinein.

    Sadiye
    Sadiye saß auf dem Ast einer kräftigen Stieleiche, eine gerade, schlanke Baumart. Von dort blickte sie in die Grube hinab. Franks Beschreibungen erwiesen sich als korrekt, dies war ein guter Fluchtweg, doch was sie beide nicht hätten erahnen können, war das, was sich in der Grube befand: Snapper, zwei an der Zahl. Die Tiere nagten an dem ausgeschlachteten Kadaver eines Molerats. Immer wieder wandte sich eine der Bestien von dem Fraß ab, versuchte mit seinen scharfen Klauen die viel zu steilen Hänge aus bröckelnder Erde zu erklimmen, gab es dann wieder aber auf und widmete sich erneut dem Fleisch. Ein hölzerner Gang auf langen Stehlen führte über die Grube und verschwand zu beiden Seiten in dunklen Tunneln, die ins Innere des Erdhügels führten. Oberhalb stand ein Haus. Ein kaum sichtbarer Streifen Licht fiel aus dem Fenster eines Zimmers im oberen Stockwerk. Dort mussten sie sein, im Haus des Anführers, dem einzigen Fachwerkhaus des Lagers. In der Hand hielt sie einen eisernen Haken, der am Ende eines Stricks befestigt war. Gespannt kaute sie auf ihrer Unterlippe, ihre Augen hafteten auf den Fenstern. Sie war bereit.

    Hermann
    Je höher sie kamen, desto steiler wurden die Hänge. Auch der Untergrund wandelte sich. Zunächst waren der Hauptmann und sein Spähtrupp noch über Geröll und Felsbrocken geklettert, hier und da sprossen zähen Birken, Tannen und kleine Fleckchen Gras, doch nun standen sie vor glatten Gesteinsschichten, riesigen Platten, die sich ineinander verkantet hatten. Doch gleichzeitig, je höher sie kamen, desto besser wurde auch der Blick auf den Wald unter ihnen, und die Chancen stiegen dort etwas erspähen zu können. Hier war jedoch kein Weiterkommen. Hermann ärgerte sich im Stillen, dass sie nicht im Besitz der spezialisierten Ausrüstung eines Pfadwächters der Nordmar waren. Er stellte sich auf einen Felsen, der weit aus dem Hang herausstach und überblickte den dichten Wald. Der Tanneckwald bedeckte das gesamte südwestliche Tal, wie dichtes Moos auf nassem Boden, und verbarg unter seinem Blätterdach das Wasser der oberen Neige. Frank sah er den Mondschein auf den Wellen des blauen Weilers glitzern. Die wogenden Baumwipfel, die sanften Hügel, der einsame hohle Zahn, alles wirkte sehr friedlich in dieser stillen Nacht. Millen, sein Schütze, kam hinzu.
    „Ich sehe nichts. Nur Steine und Bäume.“, sagte Millen.
    „Abwarten“, antwortete Hermann.
    Konzentriert suchte er jeden Flecken in den silbrigen Baumwipfeln unter ihnen ab.
    „Die Nacht ist gerade erst hereingebrochen. Sicherlich werden sie bald ein Feuer machen, Fackeln anstecken, Fleisch braten...“
    Doch der Wald blieb finster. Der Wind wehte sanft hier oben auf den kahlen Hängen aber immer wieder pfiffen kühle Böen den Soldaten durch ihre Kleider. Hermann fröstelte. Ein Feuer konnten sie nicht riskieren. Sie mussten ausharren.

    Frank
    Frank lag auf seinem Bett. Unruhig setzte er sich auf. Etwas war anders, etwas war seltsam an dieser Nacht. Er trat vor die Tür und plötzlich, aus der schwarzen Dunkelheit, hasteten ein Gruppe Männer an seinem Haus vorbei. Sie alle trugen die ledernen Riemen, Letos Häscher. Ihre eiligen Schritte verklangen und wieder war es still. Frank sah sich um, doch das Lager war finster. War die Zeit gekommen? Er wusste noch genauestens Sadiyes Worte:
    Es wird nicht zu übersehen sein. Du wirst es wissen.
    Doch beim besten Willen, er wusste es nicht. Sadiyes Beschreibungen für ihren Plan waren äußerst kryptisch gewesen; vermutlich für den Fall, dass Frank die Seite wechseln würde und einen anderen Verbündeten als die mysteriöse Severim wählen würde. Immerhin war Frank nun ein Riemen. Für ein paar Münzen und, noch viel wertvoller, das Vertrauen gewisser Kontakte in Neigenbau, sollte Frank nur eine Kleinigkeit erledigen: Einen Fluchtweg finden. Für Ferdinand. Den hatte er gefunden.
    Es wird nicht zu übersehen sein.
    Aber es war zu dunkel, um irgendetwas zu sehen. Dann, in diesem Moment, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Es war zu dunkel, um zu sehen. Die Lichter waren gelöscht. Auf den Palisaden, in den Häusern, auf den Straßen: Die Feuer waren kalt, überall. Er eilte ins Haus, schnappte sich das Seil und rannte los. Noch in dieser Nacht hatte er es sich gekauft. Tatsächlich waren die Lichter überall gelöscht, nicht nur bei seiner Hütte. Er erreichte das Haupttor und den Aufgang zum oberen Ring. Das Tor stand offen. Es war schwer zu sagen, doch er erkannte die Schemen von Männern zu beiden Seiten. Er ließ sich nicht davon ablenken, schlich sich um eine Hausecke und erreichte den oberen Ring. Er war menschenleer. Nur zwei Jäger saßen in ihrer üblichen Ecke, doch ihr Lagerfeuer war gelöscht. Auf der anderen Seite der Kampfgrube war Letos Haus. Auch dort waren die Fenster dunkel. Frank lief geduckt an den Häuserfronten entlang, um die Arena herum, aber gegenüber der Jäger, um nicht entdeckt zu werden, bis er Letos Haus erreichte. Es war still, nur seinen eigenen Atem hörte er. Die Tür ging leicht, sie knarzte nicht. Er schloss die Augen und horchte noch einmal. Kein Geräusch, absolute Stille herrschte in den Räumen. Vorsichtig setzte er seinen Weg fort.

    Boris
    Sie hatten den Weg gefunden, den die Banditen nutzten. Er war nicht breit, doch er war ausgetreten. Dicke Wurzeln waren durch viele Füße glatt gerieben und Wagenspuren waren erkennbar. Es musste sie zu ihrem Ziel führen! Die Männer waren dicht beisammen. Mit stetem Schritt und ohne Worte glitten sie durch das Unterholz. Boris hörte seine Mitstreiter atmen. Dieses Geräusch und das gelegentlich Knacken eines Zweigs begleitete ihr Vordringen. Die Blätter niedriger Zweige strichen durch ihre Gesichter. Sie waren eine schlagkräftige Truppe und allem voran eines: Entschlossen. Viele der Bauern hatten Freunde und Familie an die Banditen verloren und suchten nach Gerechtigkeit. Alle anderen vertrauten Boris und Ignatius. Der Wald lichtete sich, moosbewachsene Baumstümpfe, zwei dicke Eichen, gefällt von starken Händen, standen zu beiden Seiten des Weges. Ab hier krochen sie. Sie erreichten eine Böschung und von dort, hinter dem verworrenen Gestrüpp, sahen sie es, etwas, das ihre Erwartungen weit übertraf: Eine breite Lichtung war in den Wald geschlagen und die gefällten Bäume neu aufgereiht, als Schutzwall gegen alle Mächte von außen. Die Palisade war hoch. Ein einzelnes Tor unterbrach ihren Verlauf. Die zusammengebundenen Stämme waren nach oben gezogen. Es stand tatsächlich offen! Das Lager war finster. Kein Licht brannte.

    Frank
    Frank betrat das Zimmer. Der strenge Geruch von verbranntem Fett drang ihm sofort in der Nase. Eine schwache Glut unter den Kesseln warf einen matten Schein in den Raum. Das Alchemielabor war leer. Frank ging wieder in den Flur, taste sich im Dunkeln an der Wand entlang und fand die nächste Tür. Dort lag Ferdinand in seinem Bett und schlief. Frank ließ sich keine Zeit. Er eilte zu Ferdinand, rüttelte ihn kurz und als er aufwachte hielt er schnell seine Hand auf Ferdinands Mund. Der blonde Junge wehrte sich, riss die Augen weit auf.
    „Ich bin es“, zischte Frank.
    Ferdinand beruhigte sich.
    „Zeit zu gehen“
    Ferdinand nickte, Frank löste seine Hand, half ihm auf und bedeutete ihm zu folgen. Sie gingen ins Labor. Eilig öffnete Frank die Doppeltüren beim Kessel. Die Luft war kühl und frisch. Er winkte Ferdinand heran, legte das Seil auf den Boden und schlang ein Ende um den steinernen Unterbau der Feuerstelle. Es würde halten.
    „Was ist mit Erik?“, flüsterte Ferdinand.
    Frank schüttelte den Kopf und ignorierte ihn.
    „Kommt er nicht?“, sagte Ferdinand.
    „Warum sollte er? Es geht um dich.“, sagte Frank gepresst durch zusammengebissene Zähne.
    Wie kann dieser Junge in dieser Situation nur anfangen den Plan zu hinterfragen?, dachte Frank.
    Doch bevor er etwas tun konnte, war der Junge schon fort und eilte auf leisen Sohlen zu Eriks Zimmer. Frank fluchte im Stillen, unterdrückte seinen brennenden Frust über junge Menschen, die einfach nicht auf ihn horchen wollten und zurrte das Seil fest. Dann warf er es hinaus. Es entrollte sich, glitt wie eine Schlange hinab in die Tiefe, kam dumpf auf und sofort hörten er ein gefährliches Zischen und Knurren. Frank sah in den dunklen Abgrund. Zwei Paare von blitzenden Augen starrten ihm entgegen.
    Warum heute? Warum Snapper, ausgerechnet Snapper.
    Das Geräusch allein jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken. Bilder von spitzen Zähnen, mörderischen Augen, scharfen Krallen und aalglatter Echsenhaut gingen ihm durch den Kopf. Ferdinand kehrte wieder. Gestützt auf seiner Schulter war Erik. Sie kamen heran und ihre Augen folgten Franks Blick. Scharf zog Ferdinand die Luft ein.
    „Ich kann unmöglich da runter klettern.“, protestierte er sofort.
    „Umso weniger kann das mein kleiner Bruder.“, sagte Frank entschieden.
    Erik war noch im Halbschlaf. Er wusste kaum was geschah, doch er begriff langsam, dass es darum ging die Flucht aus dem Lager zu wagen. Frank zeigte auf den Wald jenseits der Grube.
    „Du sollst nicht in die Grube klettern.“, sagte er. „Sieh!“
    Ein eiserner Haken blitzte im Mondlicht: Er kam aus einem Baum geschossen, verfehlte das Seil nur knapp und wurde an einem Strick wieder eingeholt. Kurz darauf flog er wieder. Wieder ging der Haken ins Leere, doch dieses Mal berührte er das Seil. Die Snapper tanzten aufbracht in der Grube.

    Boris
    Boris hob sein Schwert, sichtbar für alle. Ein alter Gedanke huschte durch seinen Kopf: Er hatte nie vorgehabt, seine eigenen Waffen selbst zu führen. Er war ein Mann des Handwerks, nicht des Krieges. Doch harte Zeiten brauchten harte Entscheidungen. Die Scheide blitzte ihm Mondesschein. Füße scharrten, Körper neigten sich, zum Sprung bereit. Dann, mit dem Schwung seiner Klinge, stürzten sie voran. Sie brachen aus der Böschung. Die Büsche wurden niedergetrampelt, die Zweige brachen unter ihren Füßen, doch die Münder waren geschlossen. Erde spritzte auf: Die schwarze Mannschaft strömte auf das Tor zu. Sie sprinteten so schnell sie konnten. Sie preschten voran und schnauften wie die Tiere.

    Sadiye
    Sadiye warf den Haken erneut. Es war schwierig das Seil so einzufangen, doch eine bessere Lösung hatte sie nicht ersinnen können. Endlich gelang es ihr. Sie holte den Strick ein und zog Franks Seil herüber. Die Snapper knurrten und die Bestien wurden wütender, sprangen gegen die steilen Erdwände, gruben ihre Klauen ins Erdreich, fielen jedoch jedes Mal wieder zum Grund der Grube. Sadiye nahm das Seil vom Haken. Sie straffte es, wand es zweimal um einen dicken Ast, führte es zum Stamm und band es dort fest. Der Knoten war sicher und ohne Spielraum. Dann schlug sie drei Mal gegen das gespannte Seil. Die Schwingungen reisten hinauf zum Haus. Hinauf zu Frank und Ferdinand. Und auch zu Erik.

    Frank
    Frank drängte Ferdinand zum Seil. Er duldete keine Widerrede. Er wusste um die Angst des Jungen, als Futter für die Snapper zu enden, doch er trieb ihn ungnädig voran. Dies war ihr Plan, einen besseren gab es nicht und sie würden ihn ohne Zögern durchführen. Mit einer Hand an Franks Unterarm ließ Ferdinand sich hinab und griff mit zittrigen Fingern das Seil. Die Tür schwang auf. Frank wirbelte herum, zückte seinen Dolch, bereit zum Kampf, ob es Leto selbst war oder sonst wer. Dort stand Schnitzer, den Langbogen in der Hand, einen Pfeil auf der Sehne. Acht Schritte trennten sie voneinander, doch der Jäger legte nicht an. Stattdessen kam er herüber. Er ignorierte Frank und obwohl dieser ihm mit der Klinge drohte, schritt er zum Fenster und sah hinab.
    „Euer Plan ist schlecht.“, sagte Schnitzer.
    Er legte an, spannte und schoss in die Finsternis. Dann sah Frank, was sein Ziel war: Eine Wache stand auf den Palisaden, der Pfeil hatte ihn knapp über dem Schlüsselbein getroffen und der Wachmann röchelte nur noch bis er kraftlos zusammensackte.
    „Zu viel Raum für Fehler.“, tadelte Schnitzer wieder. „Beeilt euch!“
    Schon ging ihr unverhoffter Verbündeter wieder. Es war Zeit für Ferdinands Abstieg.
    „Was ist mit mir?“, sagte Erik.
    „Nicht jetzt!“, zischte Frank.
    „Kommt mit!“, sagte Ferdinand. „Ich habe Freunde! Im ganzen Talkessel! Wir finden einen Ort für euch.“
    Frank unterband das Gespräch mit einer barschen Geste. Der Blonde Junge begann seinen Abstieg. Mit Händen und Füßen um das Seil geschlungen baumelte er über dem Abgrund. Stück für Stück kam er hinab. Erik stand dort und blickte ihm nach.

    Boris
    Das Tor war zum Greifen nahe. Die schwarzen Gestalten waren im vollen Lauf. Die ersten Männer waren am Tor, fast hindurch. Es klackte laut. Die massiven Stämme des Tors erzitterten. Boris sah es genau: Oben, auf dem Wehrgang, lagen Hände auf den Stämmen. Zwei Mann waren hindurch, dann drei, dann fünf, dann zehn und mehr. Dann, mit Schwung und Kraft, kam es herunter. Die spitzen Pfeiler bohrten sich in den Boden und teilte die Gruppe. Es knirschte widerlich, als zwei Männer unter dem immensen Gewicht erdrückt wurden und ihre Knochen barsten. Sofort gellten helle Schreie durch die Nacht. Die Männer, die außen vor dem Tor waren, konnten nicht mehr bremsen. Sie fluteten gegen das unbewegliche Holz, pressten aus vollem Lauf gegeneinander. Das Gemenge von Leibern entwirrte sich schnell. Boris war einer von ihnen und als er endlich frei war, sah er einen der Männer, die das Holztor eingeklemmt hatte. Sein Unterleib war bis zu den Rippen unter dem Gewicht der Stämme festgesetzt und zermalmt. Er schnappte nach Atem, die Augen geweitet, die Lippen bebend. Boris hörte Kampfeslärm vom Inneren des Lagers. Schreie von Angst und Wut und Verzweiflung und das dumpfe Geräusch von Körpern, die auf den Boden prallten und das Krachen von Waffen im wilden Streit. Er kniete sich zu dem Mann unter dem Tor. Sein Gesicht war fahl, die schwarze Kohle vom Schweiß verwaschen. Er zitterte und zuckte, starrte ziellos in den Himmel und es schmerzte den Schmied, als sich die Hand des Mannes um die von Boris klammerte. Seine Kraft schwand und mit dem Versiegen des Kampfes auf der anderen Seite des Walls verstarb der Mann. Boris Gesicht war verzerrt in Wut und Angst, sein Kiefer mahlte. Er blickte auf. Der Großteil der Truppe war mit ihm noch vor dem Tor.
    „Zurück“, sagte er leise. Dann brüllte er: „Wir ziehen uns zurück!

    Frank & Erik
    Stück für Stück kam Ferdinand voran. Sie hörten Geschrei vom anderen Ende des Lagers, doch es kümmerte sie kaum. Frank war unruhig. Er hatte die Wache übersehen und wäre Schnitzer nicht eingeschritten, dann wäre es das Ende für ihn gewesen, für seinen Bruder und sicherlich auch für Ferdinand und Sadiye.
    „Was ist, wenn das unsere einzige Chance ist?“, fragte Erik.
    „Was meinst du, unsere einzige Chance?“
    „Unsere einzige Chance zu fliehen! Irgendwo dort draußen ist meine Lehrmeisterin, die, die das Buch geschrieben hat! Deswegen sind wir doch hier, oder nicht?“
    Frank raufte sich die Haare. „Hier drinnen ist ein Labor! Hier hast du ein Buch voller Geheimnisse und alles was du brauchst, um sie zu erforschen!“ Frank wurde beinahe laut, doch er unterdrückte seine Aufregung. „Warum willst du fort? Du bist hier sicher, kleiner Bruder!“
    „Ferdinand hat viele Freunde! Vielleicht sind wir dort draußen sogar noch sicherer.“
    „Ich werde dich nicht...“, sagte Frank durch zusammengebissene Zähne, „...in diesem Zustand über diesen Abgrund klettern lassen! Dir fehlt ein Fuß! Du bist kaum erholt! Und du willst fliehen?“
    „Und wer hat mir diesen Fuß genommen?“
    Frank verstummte, seine Lippen geformt zu einem dünner Strich. Er blickte hinab und Ferdinand hatte schon mehr als die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht. Er sah Sadiye, die von der anderen Seite Ferdinand herüberwinkte.
    „Ich bin jetzt ein Riemen.“, sagte Frank. „Ich habe eine Verpflichtung.“
    Erik lachte abfällig. „Eine Verpflichtung als Letos Schoßhündchen?“
    Frank stand auf. Er schnaufte wütend und kam seinem Bruder nahe, sehr nahe. Er stierte ihn an, aber Erik wich seinem Blick aus.
    „Du warst schon immer meine Verpflichtung!“, zischte Frank. „Du! Wegen dir sind wir hier. Wegen dir habe ich gemordet, wegen dir bringe ich jeden Tag jedes Opfer, das es braucht! Diese Riemen…“, er riss an ihnen und hielt sie Erik vors Gesicht, „…ich trage sie auch wegen dir. Bis du sicher bist, bis dahin, bist du meine erste und einzige Verpflichtung! Hier bist du sicher. Und ich nebenbei auch. Wir bleiben hier!“

    Boris
    Die Männer waren erstarrt. Nichts verlief nach Plan. Sie hatten noch nicht einmal gekämpft.
    Zurück!“, brüllte Boris noch einmal.
    Ignatius reagierte als Erster. Er drängte die Männer zum Aufbruch. Dann, von den Palisaden herab ertönte eine Stimme. Sie war tief und herrisch.
    Gebt auf!
    Ein Mann erschien über dem Tor. Gegen den Mond sah man nur seine Umrisse. Er war riesig, muskelbepackt und breitschultrig. Eine mächtige, doppelschneidige Schlachtaxt ruhte auf seinen Schultern. Eine Fackel wurde entzündet und ein weiterer Mann erschien. Der Feuerschein zeigte ihre grimmigen Gesichter. Der zweite Mann, seine Stimme war kehlig und rau und eine markante Narbe zierte seinen kahlen Schädel, sprach nun in nüchternem Ton:
    „Wir haben Männer an der Furt. Fliehen ist zwecklos. Niemand wird den Wald verlassen.“
    Unvermittelt brach einer der Männer aus der Gruppe um Boris. Er ließ seinen Knüppel fallen und rannte so schnell er konnte. Er kam nicht weit. Ein Pfeil traf ihn in die Seite. Er strauchelte und sank auf die Knie. Aus den Schatten der Bäume kam ein Zweiter und bohrte sich tief in seine Brust. Es war schwer im Dunkeln etwas zu erkennen, aber Boris sah an den schwankenden Grashalmen, wie sich der Mann im Todeskampf hin und her wand. Dann kamen die Gestalten aus dem Wald, von allen Seiten. Sie waren umzingelt. Manche hatten Bögen, manche Speere oder krude Nagelknüppel, die bösartige Verletzungen verursachen konnten. Sie alle trugen derbe Tierfelle, die mit Lederriemen festgezurrt waren. Einer von ihnen trat zu dem Mann am Boden und stieß seinen Speer hinab. Die Bewegungen im Gras erstarben sofort. Die Männer um Boris drängten sich zusammen, mit dem Rücken zum Tor. Es roch nach Schweiß und Angst. Ihre Anspannung, ihre Furcht und ihre Verzweiflung waren greifbar.

    Frank & Erik
    Erik bückte sich zum Seil.
    „Dann gehe ich allein.“, sagte er bestimmt.
    Franks Hand legte sich auf seine Brust. Er hielt ihn zurück und schüttelte den Kopf.
    „Dann komm mit!“, drängte Erik.
    Wieder schüttelte Frank den Kopf.
    „Entweder wir gehen zusammen, oder gar nicht.“, sagte Frank fest. „Und du kannst nicht einmal einen einzelnen Schritt alleine machen!“
    Seine Hand wurde nun fester, er griff Eriks Hemd, hielt ihn an Ort und Stelle.
    „Dieses Lager ist kein Ort für mich!“, flehte Erik. „Was soll ich hier bei den Banditen?“
    Frank bewegte sich nicht
    „Vater würde wollen, dass wir weitersuchen!“, sagte Erik.
    Franks Ton war nüchtern und kühl. „Vater ist nicht hier.“
    Erik schlug die Hand seines Bruders beiseite, ging auf die Knie und machte sich daran hinab zu steigen, aber Frank packte ihn. Erik konnte sich nicht wehren, nicht als der Krüppel, der er war und Frank zog seinen jüngeren Bruder zurück, weg von dem Seil und ließ ihn dort im Raum einfach liegen. Er eilte wieder zur Doppeltür, sah das Ferdinand den Abgrund überwunden hatte und gab Sadiye das Signal das Seil zu lösen. Doch Eriks Wille war noch nicht bezwungen. Er rappelte sich auf, wollte Frank beiseitedrängen, stemmte sich gegen ihn, doch sein älterer Bruder war erfahrener und geschickter. Er stieß ihn zurück, dass er stolperte, ums Gleichgewicht kämpfte und mit lautem Rumpeln auf die Latten stürzte. Schmerzerfüllt biss er die Zähne zusammen und zog scharf die Luft ein. Frank holte bereits das Seil ein und löste die Knoten. Erik atmete schnell. Er war wütend, aber machtlos. Frank wollte ihm aufhelfen, doch Erik schlug seine Hand beiseite.
    „Tut mir leid, kleiner Bruder.“, sagte Frank.

    Boris
    Boris löste sich aus seinem Schrecken, öffnete den Mund, um seine Männer anzupeitschen, doch bevor er sein erstes Wort sprach, erschütterte das Tor. Langsam hoben sich die schweren Stämme. Dort standen die Banditen. Dicht an dicht, befleckt mit dem Blut ihrer Opfer und gerüstet bis an die Zähne. Ihre Ausrüstung war ohne Frage überlegen. Sie waren umzingelt und nicht nur das, sie hatten nicht einmal die Wand in ihrem Rücken. Boris Männer ächzten und stöhnten vor der bodenlosen Angst um Leib und Leben. Einer seiner Männer weinte, sein Schluchzen war erbärmlich. Boris wühlte sich durch seine Männer, sprach leise zu ihnen, zum einen für ihren Mut und zum anderen über seinen Plan.
    „Wer hat hier das Sagen?“, erklang die tiefe Stimme.
    Leto kam an die Spitze seiner Männer. Er trug die weiße Schürze eines Fleischers, unbefleckt und rein, und grinste breit. Die Füße der Streiter um Boris scharrten im Dreck. Alle pressten nach innen, keiner wollte an vorderster Front stehen.
    Ich!“, rief Boris.
    Der Schmied trat nach vorn. Er stockte, als er in das Gesicht des Banditenführers blickte.
    „Leto?“, flüsterte Boris.
    Auch Leto stand die Überraschung ins Gesicht geschrieben, für einen Moment, doch dann lachte er lautstark.
    „Es ist eine Weile her, Schmiedemeister. Hast du dein Handwerk niedergelegt? Führst du jetzt ein Schwert?“
    Beiläufig deutete er mit seiner Streitaxt auf die Kämpfer um Boris. Die Leichtigkeit, mit der er die Waffe bewegte, war furchteinflößend.
    „Und du?“, sagte Boris. „Schürfst du nicht länger die Kohle im hohlen Zahn?“
    „Der Berg hat mir mehr als meine Arbeit geraubt.“, sagte Leto. Seine Züge verfinsterten sich. „Nie wieder.“
    „Also schlachtest du nun Bauern und ihre Kinder?“
    Leto blieb stumm, seine Miene starr. Dann sagte er:
    „Jeder Krieg hat seine Opfer.“
    Gleichgültig trat der Hüne gegen den gespaltenen Körper des Mannes den das Tor zerquetscht hatte. Boris schnaubte laut, fixierte den Mann mit der Streitaxt und brüllte aus voller Kehle seinen Zorn gegen die Feinde. Er zögerte nicht länger. Er stürmte voran, geradewegs auf Leto zu, doch einer seiner Männer sprang dazwischen. Der Schmied fing den Nagelknüppel des Gegners mit der Linken auf, rostiges Eisen bohrte sich durch seine Hand, aber Boris hieb unbeirrt und mit voller Wucht sein Schwert tief durch die Schulter seines Feindes.
    Jetzt!“, brüllte er.
    Seine Männer stieben davon, zu allen Seiten. Sie wagten den Ausbruch, fielen Pfeilen und Speeren und Schwertern zum Opfer, aber manche, doch viel zu wenige, entkamen im Chaos des Kampfes und flohen in den dunklen Wald.

    Hermann
    Es war ruhig hier oben auf den Hängen des Kessels. Er blickte über die wogenden Baumwipfel, verlor sich in ihrem silbrig-grauem Licht und ließ seine Gedanken schweifen. Für einen Moment war es ihm gleichgültig, ob der Spähtrupp fand, was er suchte; Er dachte an Raik und seinen Verrat. Der Wind fuhr in seine Kleider, doch auch die Kälte ignorierte er. Millen stand neben ihm. Der Bogenschütze hatte ausgezeichnete Augen und war ein besserer Späher als er. Hermann legte eine Hand auf seine Schulter.
    „Wir sehen Morgen noch einmal, bei Tageslicht.“, sagte er und wandte sich ab.
    Hermann!“, sagte Millen plötzlich.
    Er deutete auf den Wald. Ein orangener Punkt, ein Feuerschein, zeigte sich inmitten des Waldes. Dann ein Zweiter. Umrisse wurden erkennbar, Formen, anders als die von Blättern und Zweigen. Es folgten mehr Lichter und dann sahen sie es. Spitzen von Palisaden, Dächer von Häusern.
    „Das ist ihr Lager.“, sagte Millen zufrieden. „Recht groß für-“
    Hermann brachte ihn zum Schweigen.
    Er lauschte in den Wind. Dort unten mehrten sich die Lichter, Fackelschein zuckte hin und her und die Punkte schwärmten aus in den dunklen Wald. Der kühle Wind trug die fernen Geräusche herüber, die Geräusche eines grausamen Kampfes: Es waren Schreie von Schmerz und Leid und Tod.


    XI Am schiefen Baum
    Schrecken flutete seinen Verstand, als er wieder in die Wirklichkeit gestoßen wurde. Die alte Frau hatte ihn aus dem Becken gezerrt, oder zumindest vermutete er, dass es so geschehen war, denn sie stand über ihm, wie er auf den Wurzeln zwischen all den spiegelglatten Pfützen lag. Sie blickte auf ihn nieder und wartete. Wie sie dort wartete, verebbte seine Furcht.
    „Du wolltest mich wohl verlassen?“, sagte sie mit einem sanften Lächeln. „Hast du ihn kennengelernt? Warst du schon fort?“
    Er versuchte zu antworten, doch ihm fehlte die Stimme. Was wollte sie fragen? Wen hatte er kennengelernt? Die Worte, die er in seinem Traum gehört hatte? Das Wesen aus Licht, aus Strängen und Knoten von leuchtenden Fäden? Seine Fragen würden unbeantwortet bleiben, wollten sie ihm doch nicht über seine Lippen kommen, denn sie waren ihm plötzlich egal. Die gewohnte Gleichgültigkeit machte sich breit. Dann hörte er ein Platschen, Schritte im Wasser. Er blickte zur Seite und dort kam eine Gestalt auf sie zu. Er hatte noch nie einen anderen Menschen hier gesehen, nur ihn und die Alte. Und dies war auch kein Mensch: Es hatte Arme und Beine und eine Brust und einen Kopf, doch es fehlten Gesicht und Haut und Finger. Die Figur bestand aus Holz, knorrigem, nassem, moosbewachsenem Holz. Schritt um Schritt kam sie näher und die alte Frau blieb ganz ruhig.
    „Er wird uns helfen. Es wird Zeit für dich zu schlafen, nur ein letztes Mal.“
    Wieder war ihre Stimme gütig und ruhig. Das Baumwesen kam heran und hob ihn auf. Seine eigenen Glieder waren wieder einmal starr und unbeweglich, also ließ er es mit sich geschehen. Die Frau ging und das Wesen folgte ihr, mit ihm in seinen Armen. Sie erreichten eine Lichtung. Dünnes Gras wuchs hier und blaue Blumen, die er noch nie gesehen hatte, blühten überall. Inmitten der Lichtung, beschienen von der warmen Mittagssonne, standen eine Reihe von Gestalten. In ihrer Form Menschen, doch in ihrer äußeren Erscheinung nur Bäume, gewachsen in seltsamen Posen. Die Frau geleitete sie zu ihnen. Dort stellte ihn das Wesen hin, trat einen Schritt zurück und wartete starr und stumm.
    „Du wirst hier wachsen. Es wird eine Weile dauern, aber ich werde dich holen, wenn du fertig bist.“
    Sie legte eine Hand auf seine Wange. Bewegen konnte er sich nicht.
    „Du bist etwas Besonderes.“, flüsterte sie. „Du hast mit ihm geredet.“
    Ihre Lippen zitterten, Wasser sammelte sich in ihren Augenwinkeln und rann ihre Wangen hinab.
    „Sag ihm, dass ich ihn verehre. Sag ihm, ich freue mich darauf mit ihm zu sprechen! Er ist mein ein und alles. Wir können so viel voneinander lernen!“
    Dann senkte sie ihre Hand, blinzelte, wischte sich die Tränen aus den Augen, lächelte ein letztes Mal, ganz zart, und ging.


    Nachwort:
    Dies war der erste Band. Der erste Abschnitt einer größeren Geschichte endet hier. Zunächst einmal: VIELEN VIELEN DANK fürs Lesen! Ich bin mir sicher, dass es noch nicht sehr viele gibt, die bis hierhin gekommen sind und es ehrt mich, dass du dran geblieben bist. Allein das schon verstehe ich als ein Kompliment und ich bin dir über die Maßen dankbar!
    Natürlich wird es noch Band 2 geben, aber das wird eine Weile dauern, ich hoffe ich kann dich dann für den nächsten Teil begeistern!
    Zu guter Letzt eine Bitte:
    Ich habe noch nicht viel Feedback für dieses Werk erhalten, nicht für die Gesamtheit von 'Suchende Wurzeln'.
    Ich würde mich unglaublich freuen, wenn du mir schreiben würdest. Vielleicht könnte man einmal ganz frei und gelassen auf Discord quasseln, oder einfach nur ein kurzer Satz, eine kurze Meldung: "Hey, ich habe dein Buch gelesen, ich fand es... soundso." Du kannst dir sicher sein, ich mache dann ein paar Luftsprünge und hüpfe im Kreis!!

    Vielen Dank an John Irenicus, langjähriges Mitglied auf diesem Forum. Deine Kritik hat mich oft zum weiterschreiben bewegt, viele Fehler finden und viele Verbesserungen vornehmen lassen. Du bist ein Segen für meine Arbeit, danke, danke, Dankeschön!
    Geändert von GesustheG (16.03.2021 um 12:22 Uhr)

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