Schwarz. Kein Zucker. Die letzten Tropfen frischgebrühten Kaffees perlten aus der verchromten Maschine und fielen lautlos in die erdfarbene Tasse darunter. Aus deren Aufschlag auf der Oberfläche breiteten sich zwei pechschwarze und rasch vergrößernde Ringe aus. Hanna zog die Tasse unter dem Vollautomaten weg und betrachtete kurz den sich rasch verflüchtigenden Dampf. Kaffee, so fand sie, musste man trinken solange er heiß war, sonst konnte man ihn wegkippen. Hanna ging zum Küchentresen, stellte den Kaffeebecher ab und schlug die Zeitung auf. Echte Zeitung, unechtes Papier. Keine toten Bäume, sondern Zellstoffverbindungen und ein Gips, der aus Asteroiden gewonnen wurde. Das Knistern der Seiten, das Umblättern und Falten – ein Hauch von Nostalgie, den manche Liebhaber alter Traditionen den digitalen Nachrichten zum Lesen oder denen zum eher passiven Zuhören vorzogen. Nicht, dass sie die Breaking-News nicht trotzdem schon vor dem Aufstehen schnell überflog, aber was hier stand, das war durchrecherchiert und stützte sich nicht nur auf Vermutungen. Außerdem beleuchtete es die Hintergründe und ließ Meinungen zu Wort kommen – so zum Beispiel der Kommentar eines Politredakteurs zu Syren Vox und dessen Verstrickung in das Geiseldrama, das niemand anderer als Beyo Vhan persönlich zu verantworten hatte. Hanna knickte die Seite und schaute auf das Bild des ihr so bekannten Turianers. Sie trank einen Schluck Kaffee und las den Artikel.
Vhan, das hatte sie am Vortag schon durch den Livebericht mitbekommen, war einmal mehr zum Opfer wütender Frauen geworden. Und wieder war er dem sicheren Tod gerade so von der Schippe gesprungen. Syren Vox hatte sich dazu entschlossen auf Vhans Seite zu stehen, was gewissermaßen mit politischem Selbstmord gleichgestellt werden konnte, zumal Vhans Schläger keine Sekunde gezögert und die vormalige Bedrohung, die geläuterte Attentäterin, bei der erstbesten Gelegenheit in rechtschaffenem Zorn verdroschen hatten. Nun gab es genug Zungen, die dem Turianer Schönwetterpolitik und symbolträchtige Akte anstatt echter Aktionen vorwarfen. Allerdings setzte sich Vox für Spenden zum Wiederaufbau seines einstigen Prestigeprojektes ein, das dereinst seinen – so hieß es – Pfad als nächste Stimme der Turianer auf der Citadel ebnen sollte. Sich mit dem skandalgebeutelten Spross einer umstrittenen Dynastie zu zeigen war entweder sehr dumm oder sehr mutig. Sicher, die Leute liebten „Underdogs“ aber Beyo Vhan hatte den schmalen Grat zwischen Sympathie und gesunder Distanz bereits mit seinem ersten Live-Statement verlassen.
Hanna bemerkte die Hitze auf der Zunge. Sie schluckte und pustete sachte über die Oberfläche des Kaffees. Sie nahm noch einen Schluck und blätterte um. Sie suchte, den Finger über das Papier gleitend, nach Informationen über den Gavros-Fall. Es war erstaunlich, dass die Medien nahezu keine Neuigkeiten zu der wahnsinnigen Turianerin rausbrachten. Es schien fast so, als wollte man Gavros und ihre Aktionen vergessen. Hanna vermutete allerdings, dass ein gewisser Asari-Spectre seine blauen Finger im Spiel hatte.
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Die Rückkehr aus dem 12. Revier war beinahe ohne Bürokratie und völlig lautlos passiert. Man hatte Hanna so stillschweigend von dort abgezogen und wieder ins Präsidium versetzt, wie sie vorher abgeschoben worden war. Die Tatsache, dass sie Anteil an der Jagd und Verhaftung eines des gefährlichsten Terroristen der jüngsten Vergangenheit gehabt hatte, wusch ihre vorher etwas schmuddelig gewordene Weste wieder rein. Allerdings bekam sie keine Medaille, keine Beförderung, nicht einmal ein vollmundiges Lob. Im Gegensatz zu dem neuen Captain des 12. Reviers, der urplötzlich vom scheidenden Yuhki für sein ehemaliges Amt empfohlen wurde, sprang für Hanna nur der alte Posten raus. Selbes Büro, selbes Gehalt. Andererseits beneidete sie Captain Krzeminski – ehemals Officer – nicht um seine Aufgabe. Sie hatte im Flurfunk gehört, dass sein turianischer Amtskollege Karvas Leute aus seinem Revier für irgendetwas Großes zusammentrommelte. Entsprechend war sie froh, dass sie vorher zurückbeordert worden war – große Aktionen gipfelten selten in Zufriedenheit.
Neben Krzeminski hatte es mehr oder weniger zeitgleich eine weitre Beförderung gegeben: Special Agent William Hunter, ihr ehemaliger Partner, war wegen seiner vorzüglichen Leitung der Ermittlungen im noch immer aktuellen Mordfall MacDougal zum Lieutenant befördert worden und diente nun zeitgleich mehr oder wenige als die linke Hand von Commander Verox, dem turianischen Leiter der Präsidiums-Einheit. Hanna wusste, dass Will die Prüfung zum L.T. schon vor einiger Zeit abgelegt hatte, die Beförderung aber aus irgendwelchen unempfindlichen Gründen aufgeschoben worden war. Die Blondine hatte dabei den Commander im Verdacht, dem die Zusammenarbeit von ihr und Will ein Dorn im Auge gewesen war. Vielleicht hatte er sogar darauf spekuliert, Will mit der Beförderung locken zu können und sie so irgendwann ins Messer laufen zu lassen. Die beiden Männer hatten ein eher zweifelhaftes Verhältnis, hielt Verox Hunter doch für ein Weichei und der wiederum Verox für zu voreingenommen. Hanna hatte sich mehr als einmal in die Schusslinie zwischen ihnen geworfen – und dafür mit ihrer Karriere bezahlt. Sie würde den Agent-Status wohl nie mehr verlassen. Sie hatte William immer sehr gemocht, wusste aber, dass sie ihn nie wieder als Partner haben würde. Der junge Mann verfolgte seine Karriere mit leidenschaftlichem Eifer. In der Leidenschaft zum Job hatten sie sich immer geglichen, nicht aber im Verständnis zur Deeskalation. Wo Hunter einknickte, gab Hanna Vollgas – und manövrierte sich allzu oft in Sackgassen. Nur ihr Wert für die Polizeiarbeit rettete sie vor oftmals vor Disziplinarverfahren. Ein Wert, den sie bald wieder unter Beweis stellen musste.
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Die Glaspaläste des Präsidiums funkelten hell und kalt, wie in den Himmel gestreckte Speerspitzen einer ganzen Armee, in denen sich das Licht der zahllosen Sterne brach. Oder wie die Zähne eines gigantischen Monsters, dass durch die Schwerelosigkeit des Alls glitt und dort alles und jeden zu verschlingen suchte. Dieses Ungeheuer hatte eine weitere Seele verschlungen. Hannas Skycar landete auf einer der exponierten Plattformen, die vornehmen Hotels und Regierungsgebäude vorbehalten waren. Dort herrschte reger Betrieb. Das organisierte Chaos auf der Plattform wirkte wie von unsichtbarer Hand gesteuert. Skycars mussten be- und entladen werden und alle paar Sekunden startete oder landete ein auf Hochglanz poliertes Fahrzeug dort. Hannas Weg hatte sie ins Herz des Luxus geführt, wo jeder Drink ein kleines Vermögen kostete, Diplomaten und hochgestellte Personen teure Kleidung trugen und sich gewählt ausdrückten – das Gegenteil der Tips, die doch nur eine kurze Strecke mit dem Skycar entfernt lagen. Hier wurde Politik gemacht und Gefälligkeiten zählten mehr als Geld. Es war eine Welt, die oberflächlich perfekt schien und schlichtere Gemüter mühelos beeindruckte. Hanna durchquerte eine Sicherheitsschranke, die von automatischen Drohnen und zwei in glattgebügelten Uniformen steckenden Männern bewacht wurde. Ihre ID-Karte wies sie als C-Sicherheit und Waffenträger aus – sie durfte passieren. Ihr Ziel: Das Splendid Star Luxury Hotel.
Die Fahrt mit dem Panoramaaufzug, der an der Außenseite des Wolkenkratzers angebracht war, dauerte fast zwei Minuten. Zwei Minuten, in denen Hanna höher und höher stieg und die geschäftige Menge bunter Individuen unter ihr zu Stecknadelkopfgröße schrumpfte. Im Stockwerk 109 angekommen ließ der Aufzug eines nachklingendes „Ping“ hören, die Tür glitt stumm auf und gab den Blick auf einen mit karmesinrotem Teppich ausgelegten Flur frei. Etwa dreißig Meter vor ihr stand die vierte Tür auf der linken Seite offen. Davor wartete ein Turianer. Sie erkannte ihn schon von Weitem. Agent Reach Kruto war Hannas neuer Partner, nachdem William Hunter aufgestiegen und sie aus der Versenkung des 12. Reviers zurückgeholt worden war. Man hatte sie einander direkt am Tag ihrer Rückkehr vorgestellt, Achtundvierzig Stunden nach dem Ende des Falls Gavros und dem abschließenden Abendessen mit Craig Gillespie. Kruto schien fähig zu sein und seine Akte sprach für ihn. Das war für Hanna allerdings noch kein Grund ihm zu vertrauen, geschweige denn ihn zu mögen. Hanna mutmaßte, dass er es mit ihr ähnlich hielt. Vielleicht war es auch ihr durchwachsener Ruf, der ihn vorsichtig bleiben ließ. „
Kruto“, sagte sie und nickte ihm zu. Ähnlich wie sie selbst trug der Turianer keine offizielle C-Sec Uniform, sondern gut geschnittene Kleidung in beruhigendem Braunton und mit weißen Highlights, die seinen stromlinienförmigen, hohen Körper betonten. Soweit Hanna das beurteilen konnte, war er immer gut gekleidet. Zwischen den Diplomaten und dem Botschaftspersonal auf dem Präsidium fiel er nur durch die geholsterte Paladin auf. „
Ilias.“ Der Turianer nickte zum offenen Zimmer. Der Eingang war mit kalt leuchtenden, digitalem Absperrband für Unbefugte abgesperrt. Hanna brauchte keine weiteren Fragen zu stellen.
In den vergangenen zwei Wochen nach der Verhaftung von Braelyn Gravos hatte Hanna ihre Zeit mit dem Kennenlernen und vorsichtigen Abtasten des neuen Partners verbracht, mit Zeugenaussagen zu der Jagd auf die Terroristin, mit Gesprächen bei einer Psychologin – reine Routine – und Ermittlungen der Internen. Zum Warmwerden hatte Commander Verox Ilias und Kruto auf ein paar Einsätze geschickt, bei denen neben den normalen Officers auch Polizisten mindestens im Rang „Detective“ anwesend sein musste. Das waren schwere Raubüberfälle mit Körperverletzung, Selbsttötungen oder Waffen- und Drogendeals. Er wollte sehen, wie sie als Team funktionierten, weshalb die Ergebnisse der Fälle auch auf der Hand lagen und nur die Beurteilung der Beiden zum Abschluss benötigten. Nun hatten sie es mit einem mutmaßlichen Mord zu tun.
Hanna durchschritt die blaue Linie der Absperrung, die bei Körperkontakt grün leuchtete. Bei einer unautorisierten Person wäre die Farbe Rot gewesen und ein unangenehmer Alarmton hätte sofort einen der wachhabenden Officers auf den Plan gerufen. Hanna trat durch die Tür, gefolgt von Kruto. Ein Polizist mit digitalem Klemmbrett stand direkt am Eingang. Sie wies sich mit Namen, Rang und Dienstnummer-ID aus, was der andere Cop mit Zeitstempel notierte und betrat das Hotelzimmer. Das Apartment war groß, mit niedriger Decke, in nie aus der Mode kommendem Grau und Weiß gehalten und gering aber gezielt luxuriös eingerichtet. Vitrinen aus Glas, gerade Formen der Möbel, silberne Lampen. Geradeaus gab ein großes Panoramafenster den Blick auf die Citadel frei. Hanna folgte einem kleinen Flur, dessen zweite Tür auf der rechten Seite zu einem Bad führte. Die Dusche war nur mit einer bodenhohen Glasscheibe vom Schlafzimmer und dem King-Size-Bett getrennt. Das Bett war frisch gemacht, die Kissen bauschig wie Wolken. Am Bettende deutete eine kleine, rundliche Kuhle darauf hin, dass dort jemand nicht sehr schweres gesessen und die Decke in Unordnung gebracht hatte. Dieser jemand lag nun direkt vor Hannas Füßen auf dem weißen Hochflor-Teppich.
Es war eine junge Frau, Hanna schätzte sie auf Anfang bis Mitte Zwanzig. Das schwarze Haar, das sich wie ein See mit vielen Nebenflüssen auf dem Teppich verteilte, bildete im Gegensatz zur Hintergrundfarbe einen krassen Kontrast. Sie war sehr schlank und trug ein elegantes, körperbetonendes nachtschwarzes Kleid. Ihre zierlichen Füße steckten in hochhackigen Sandaletten. Hanna sah, dass dem einen eine Hacke fehlte. Sie lag abgebrochen neben dem Bett. Eine kleine Kameradrohne fotografierte gerade das an Porzellan erinnernde Gesicht der Frau. Später würde die Drohne, nachdem sie jeden Zentimeter des Opfers im Bild dokumentiert hatte, ein detailgenaues Dreihundertsechzig-Grad-Foto von dem Tatort machen, welches später als lebensgroßes Hologramm reproduzierbar und begehbar war. Etwa einen Meter neben dem, wie eine schwarze Corona gefächerten Haar, sah Hanna einen großen roten Fleck und ein auf dem Boden liegendes Weinglas. Sie zog den linken Mundwinkel nach oben, öffnete dort leicht die Lippen und machte ein schmatzendes Geräusch, indem sie die Zunge an die Zähne presste und Luft einzog. Sie spürte den Drang in sich aufkeimen, sich eine Zigarette anzustecken. Hanna zog sich sterile weiße Gummihandschuhe an und kniete sich nieder, schob die Drohne beiseite wie eine lästige Fliege und näherte sich dem Gesicht der Frau bis auf eine Handbreit. Die Panik war noch nicht vollständig aus ihren grauen Glasaugen gewichen – das Leben schon. Auf den Wangen zeigten sich kaum mehr sichtbare Linien, wo nun weggetrocknete Tränen von den Augen bis zum Kinn gelaufen waren. Ein schmales Rinnsal silbernen Schmeichels hatte sich im Mundwinkel der Frau gesammelt und blitzte bei jedem Schutz der Kameradrohne auf. Hannas Blick wanderte ihr Kinn hinab. Die Frau trug eine dünne Silberkette. Hanna sah mehrere mal mehr und mal weniger gut sichtbare Linien und Striemen am Hals der Frau. Sie machte Fotos davon mit der Kamera-App ihres Omnitools. „
Tod durch Erdrosseln?“, fragte Kruto, der hinter ihr in die Hocke gegangen war und über ihre Schulter schaute. Hanna zuckte die Achseln. „
Vielleicht. Sieht ja so aus.“ Die beiden spielten bloß mit Mutmaßungen, sie waren Profi genug, um zu wissen, dass man bei der ersten Betrachtung nicht immer sofort identifizieren konnte, was für den Tod des Opfers verantwortlich geworden war. Ein Kopfschuss aus einer großkalibrigen Waffe war für jeden Laien zu erkennen, hier aber konnten die Gründe mannigfaltig sein. „
Teures Kleid“, bemerkte Kruto. „
Hm?“ Der Turianer deutete auf einen dünnen, silbernen Faden an der linken Seite, der hauchdünn gut zehn Zentimeter parallel zur Linie des Körpers verlief. „
Daran erkennt man die Designerkleider von ‚Hapuna‘, dieser speziesübergreifenden Trendmarke von Sur’Kesh, bei der sogar die Asari ihre alterslose Gelassenheit fallen lassen.“ Hanna hob eine Augenbraue. „
Da ist jemand ein Fan…“ „
Meine Frau hat auch zwei von diesen Stücken“, seufzte Kruto. Hanna argwöhnte, dass er das nicht wegen der Vorstellung seiner Frau in dem Kleid, sondern ob dem Preis des Fummels tat.
Das Kleidchen der Frau war leicht hochgeschoben. Das musste nichts bedeuten, immerhin deutete der abgebrochene Absatz auf ihren Überlebenskampf hin. Den hatte sie verloren, ebenso wie ihre Würde. Hanna machte trotzdem ein Foto. Die Beine waren leicht gespreizt und so angewinkelt, dass Hanna ihre Unterwäsche sehen konnte: rot und mit Spitze. „I
ch denke mal, die ist nicht zum Übernachten hier gewesen“, sagte Hanna. „
Du meinst…“ Die Blondine nickte. „
Ah.“
Hanna ging wieder in die Senkrechte und winkte einem salarianischen Officer zu, den sie kannte. Er hatte ein gelbes Muster auf der Stirn, was ihn von den meisten anderen Salarianern unterschied. „
Hast du noch was für mich, Iz?“, fragte sie. Der Polizist deutete auf eine Strassstein-besetztes Handtäschen auf der Kommode gegenüber dem Bett. Sie nahm die Tasche in die Hand und wiegte sie vorsichtig. Dann öffnete sie sie und schaute hinein. Lippenstift, Identitätsausweis, PDA, Verhütungsmittel, Credit-Chips, Taschentücher und etwas, was wohl ein stiftgroßer Elektroschocker war. Hanna machte ein Foto von dem Inhalt, dann fischte sie vorsichtig die ID-Karte heraus und hielt sie ins Licht. Die Schrift darauf flimmerte weißlich. „
Stella Moreno“, las sie Kruto vor. Auf dem Ausweis lächelte sie eine junge Frau an, die gerade der Pubertät entwachsen war. „
Ha!“, machte Hanna freudlos. „
Was ist?“ „
Sie wäre diese Woche Einundzwanzig geworden.“ „
Ha“, machte Kruto bedrückt. „
Hast du sonst noch etwas?“ „
Ja“, sagte Hanna. „
Eine Spur.“