Aniron war gedanklich noch bei dem Löwenzahn und wollte Mera eigentlich von dessen hervorragender Wirkweise gegen Lebererkrankungen oder Rheume und Gicht erzählen, wo sie doch so froh war, in Mera eine tapfere Zuhörerin gefunden zu haben, als sie jedoch jäh unterbrochen wurden.
Mutter der Kräuter? So hatte sie ja noch niemand genannt! Die Priesterin musste schmunzeln. Doch bevor sie zu Aaras und der fremden Frau rüberschreiten konnte, erregte etwas anderes noch ihre Aufmerksamkeit. Eine Elster landete auf der Mauer nahe der Aurikeln, die sie eben noch Mera gezeigt hatte, und ließ ihr schnarrendes Zetern hören. Aniron warf dem Vogel einen prüfenden Blick zu, wusste sie doch schließlich solche Merkwürdigkeiten nicht als Zufälle abzutun. Und tatsächlich: der Vogel schien sein Bein zu schütteln und Aniron trat näher. Etwas war an eben jenes Bein gebunden und vorsichtig näherte sie sich dem Tier. Die Elster zeterte erneut los, dann aber blieb sie ruhig sitzen und taxierte Aniron mit ihren kleinen schwarzen Augen. Vorsichtig hob die Wehmutter die Hände und löste das, was der Vogel um seine Bein hatte. Sofort flatterte die Elster mit einem empörten "Ratatatatat" los und war im nächsten Augenblick schon wieder verschwunden.

Aniron sah dem Vogel erst hinterher, dann betrachtete sie, was sie in der Hand hielt. War das ein eingerolltes Blatt? Sie entrollte es vorsichtig. Tatsächlich! Und da stand sogar etwas auf beim Blatt oder eher in dem Blatt? Schrift war es jedenfalls nicht, aber da waren kleine Löcher, fein säuberlich, und sie ergaben sogar eine Schrift:

Runa ist mir gefolgt.
Ich passe auf sie auf.
Wir reisen weiter zum Baum.


Die Nachricht war für sie bestimmt! Sie musste von Maris stammen! Für einen Augenblick wusste Aniron nicht, was sie denken sollte. Sie war zunächst beruhigt, dass Runa bei ihrem Vater und damit in Sicherheit war und dass sie damit nicht länger verschollen war. Aber gleichzeitig war sie auch beunruhigt, dass Runa nicht mehr hier war, sondern tatsächlich einen Weg gefunden hatte, mit in den Sumpf zu gehen. Sie schwankte zwischen Groll und Bewunderung für ihre Tochter und trotzdem war da diese Angst. Aber Maris würde sein großes Mädchen beschützen. Eher würde er sich beide Augen ausstechen als zuzulassen, dass ihr etwas geschah.

So schwer es Aniron fiel, sich von der Nachricht zu lösen, ihre Aufmerksamkeit war nun an anderer Stelle gefordert. Hier im Kräutergarten. Also wandte sie sich wieder den Ankömmlingen zu, die zu ihnen in den Garten gekommen waren.
"Oh, Bruder Aaras, schön dich zu sehen!", grüßte sie den Adepten.
Dann fiel ihr Blick auf die Frau, die so bewegt auf vor der Blauen Königin kniete. Tränen strömten der Dunkelhaarigen mit dem goldenen Teint aus den Augen. Aniron hatte sie noch nie zuvor gesehen. Sie hockte sich neben die Frau.
"Man nennt sie die Blaue Königin, sie ist eine fasznierende Pflanze", erklärte Aniron. "Aber leider auch nicht ungefährlich."
Sie nahm die Hände der fremden Frau und zog sie langsam nach oben. Etwas verwirrt blickte die Dunkelhaarige Aniron an. "Sie nährt sich von Magie und unterscheidet dabei nicht zwischen Freund und Feind oder Mensch oder Tier. Wir dürfen sie beobachten, aber sollten in ihrer Nähe nicht zu lange verweilen."

Vorsichtig machte sie ein paar Schritte nach hinten und führte die Frau weg von der Blauen Königin.
"Mein Name ist Aniron, ich bin eine Priesterin Adanos'. Ich habe euer Gesicht noch nie hier gesehen. Gibt es etwas, womit wir Euch helfen können?"