Niall O'Grady
Nate hörte das scharfe Pfeifen als Riley Luft einsog. Er wollte nicht, dass sie das hörte. Er hatte ihr erzählt, dass er nicht mehr mit Anastasia arbeitete und nicht, dass seine ehemalige Partnerin getötet worden war. Rasch wandte er sich um und sah in die versteinerte Miene seiner Tochter. „Dad“, hauchte sie ergriffen. Ihre Tonlage berührte sein Herz – und riss es in Fetzen. „Riley, ich wollte nicht, dass du es erfährst.“ „Dad, was redet dieser Mann da? Anastasia Nix ist tot?“ Er wusste, dass es keine Möglichkeit, keinen Grund mehr für eine Lüge gab. Er nickte. „Sie wurde ermordet. Und ich will ihren Mörder fassen.“ Sie trat dichter an ihn heran, berührte seine Hand. Er spürte, wie sie ihre Hand um seinen kleinen Finger schloss und ihm darauf die Tränen in die Augen schossen. Als kleines Mädchen, als ihre Hand kaum größer als sein Handballen gewesen war, hatte sie seinen Finger schon so umschlossen. Nun waren Finger und Tochter gewachsen und doch sah er nun wieder in die sorgenvollen, braunen Augen des kleinen Mädchens. „Weißt du, wer es war?“ Wieder nickte er. „Ein Auftragskiller namens…“ „Oh, Dad!“ Tränen kullerten ihr über die Wangen. In dem Moment fiel Nate zum ersten Mal auf, wie dumm er eigentlich war und dass er jetzt erst begriff, was Riley in dem Bruchteil einer Sekunde begriffen hatte: Er kämpfte gegen einen Gegner, der mehr war als die üblichen Cops mit Fehltritten. Er kämpfte gegen jemanden, der sich das Töten zum Beruf gemacht hatte und dass seine Chancen eine direkte Konfrontation mit so jemandem zu gewinnen gering waren. „Nein!“, beschloss Riley und umarmte ihren Vater. „Das lasse ich nicht zu. Du kannst dein Leben nicht wegwerfen für…“ Sie schwieg und in ihrem Schweigen lag die Wahrheit dessen, was sie nicht sagte. Sterben für eine tote andere Frau, die nicht seine Tochter war.
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Vincent van Zan
„Material.“ Seeva schaute zu dem Turianer, der nach van Zans Vortrag das Wort ergriff. „Bitte was?“, fragte der Spectre. Qatar trat einen Schritt vor. „Wir wissen nicht, was Vhan baut. Wir wissen nur, dass er etwas baut. Wir können die Basis per Fern- und Nahaufklärung sondieren. Oder…“ Er deutete auf eines der Bilder, die Seeva auf dem Tisch liegen hatte, ein unbewegter Ausdruck einer Situation. Darauf war ein abhebendes Shuttle zu sehen. „Oder wir schauen uns das Material an, dass er verwendet. Damit meine ich nicht Stahlbeton und Lastenträger, sondern das, was er in die Gebäude schafft.“ Seeva legte den Kopf schief. „Was schlagen Sie vor?“ „Eine Option sollte sein, die Schiffe, die Vhan zum Transport nutzt zu identifizieren und zu überfallen.“ „Wie Piraten?“ „Wie Piraten.“ Sie nickte. Der Plan gefiel ihr, hatte etwas handfestes.
„Mister van Zan, Sie sollten sich nach den von Ihnen erwähnten Günstlingen und Geschäftsleuten umhören, die mit Vhan Senior vielleicht noch ein – wie sagen die Menschen immer – Hühnchen zu rupfen haben. Wir brauchen mehr politischen Dreck, den wir auf Vhan schmeißen können. Sollte es keine losen Enden geben legt das die Vermutung nahe, dass Vhan sie verschwinden lässt und das wiederum bedeutet mehr Ärger, als erwartet.“ Sie betrachtete die Profile der beiden turianischen Leibwächter. Sie konnte noch nicht sofort zuschlagen. Gefühlt entrann ihr die Zeit wie Wasser durch eine hohle Hand, ein zu rasches Handeln würde den Plan im Zweifel aber durchkreuzen. „Tiberias, Sie haben doch Kontakte in die Unterwelt.“ Der Turianer schaute Seeva mit etwas an, was das Äquivalent zur gehobenen Augenbraue war. „Ja“, sagte er zögernd. „Nehmen Sie Kontakt auf und erkundigen Sie sich dezent nach einem kaufbaren ‚Enterkommando‘. Stellen Sie noch nichts vor, fragen Sie nur nach. Ich will wissen, ob es nach den Riots noch genug Profis auf der Station gibt, die wir mit einspannen könnten – extern, versteht sich.“ Qatar nickte knapp – Befehl erhalten. „Gut.“ Seeva trat vom Tisch zurück und winkte Lacan an sich heran. „Pater, ich brauche Sie um ein Netzwerk aus Verschlüsselungen innerhalb dieses kleinen Teams zu weben.“ Sie tippte auf ihr Omnitool, worauf das seine leuchtete. „Ich schalte Ihnen Ressourcen frei, die Sie nach Ermessen nutzen können. Stellen Sie auch einen Kanal bereit, der mit dem Schiff verknüpft werden kann.“ Der Priester nickte. „Ich bin etwas aus der Übung, Commander.“ Die Asari lächelte schräg. „Das kriegen Sie schon hin. Denken Sie dran: Es geht auch um Ihre Schäfchen.“
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Karvas Rarkin
Charis rannte. Die elektronische verstärkten Stimmenn, das grelle Licht des Lichtpaneels, die Schreie der von Betäubungsmunition getroffenen Leute – all das befeuerte ihren Sprint. Sie schlitterte um eine Ecke, stürzte fast und erwartete die ganze Zeit den Ruf „C-Sicherheit! Bleiben Sie stehen!“ Die verfluchten Cops waren tatsächlich in die Tips gekommen, hatten jeden Streifenpolizisten und Mech des Bezirks zusammengezogen und in Hundertschaft-Stärke die Bezirke durchkämmt. Überall war Lärm und Angst, mehr noch als vor den üblichen Gang-Verbrechen. Der Bezirk mit seinen eigenen Gesetzen regelte das meiste von selbst. Bei Mord verschwanden die Leichen meistens, ohne dass die C-Sicherheit überhaupt mitbekam, dass jemand gestorben war. Zumindest, wenn es sich um den Bodensatz der Gesellschaft handelte. Ihrer Eclipse-Freundin Sonny zufolge hatte ein maskierter Irrer die Polizei in Alarmbereitschaft versetzt und der Mord an einem Beamten schließlich das Fass zum Überlaufen gebracht. Und nun rannte sie, rannte um ihr Leben, um die nächsten Jahrhunderte nicht in einer Zelle auf dieser verdammten, uralten Raumstation festzusitzen. In was war sie da bloß wieder hineingeraten?
Sie bog um eine weitere Ecke und – stieß gegen eine Masse an Mann. Charis stürzte und noch im Sturz griff der Mann ihren nackten Arm und hielt sie fest wie ein Lastenkran seine Ware. Die Augen der Asari weiteten sich vor Schreck, als sie das glänzende Metall einer Waffe in der anderen Hand sah…
*
John kannte sich in dem Bezirk offenbar gut aus. Er führte Ethan durch Gänge, die auf den ersten Blick nur wie von Schatten bewohnte Spalten zwischen Gebäuden wirkten. So umgingen sie zwei C-Sec-Patrouillen, die nichts taten, außer Leute aufzuhalten. Ethan machte sich gedanklich ein paar Notizen zu dem Vorgehen der Polizei. Es war systematisch, aber weniger geplant, als er es vermutet hatte. Die Konzentration der Polizisten an gewissen Orten war ihm schleierhaft. Captain Karvas konnte unmöglich davon ausgehen, dass seine Truppe den
gesamten Bezirk kontrollieren würde. Selbst mit Unterstützung der anderen Reviere könnte er kaum die Hälfte des Bezirks komplett erfassen. Das Ganze erschien Ethan mehr wie eine plötzliche Aktion, vielleicht um einen eigenen Fehler auszumerzen. Plötzlich spürte der Journalist die Hand seines Führers auf der Brust. John drückte ihn gegen eine Häuserwand, während er um die Ecke auf die schwach erleuchtete Straße starrte. Der ältere Mann zog eine Pistole – und was für eine. „
Was zum Henker ist das denn?“, fragte Ethan angesichts der merkwürdigen Beschaffenheit. Die Pistole atmete nicht weniger Nostalgie als Ethans Visitenkarten. „
Eine Ruger GP100, ein alter Revolver“, antwortete John. „
Ist nicht weniger zuverlässig als die gewöhnlichen Knarren, wird aber von den Scannern der Citadel nicht als Waffe erfasst.“ Er legte den Daumen auf den Hahn uns spannte. Die beiden Männer lauschten. Irgendetwas ging da vor sich. Ein diffuser Klang. John machte einen Schritt vor und – stieß mit etwas zusammen. Oder besser gesagt, mit jemandem. Die Asari strauchelte, stürzte fast, wurde im letzten Moment aber von John aufgefangen. Sie öffnete den Mund zum Schrei. „
Still, Mädchen!“, zischte John. Die Ironie, dass diese Asari mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit älter war als er, entging ihm offenbar. Sie riss sich zusammen und blieb ruhig. John zog sie hoch, sodass sie ihren Stand wiederfand. „
C-Sicherheit?“, fragte sie unsicher und außer Atem. John lächelte grimmig und schüttelte den Kopf. „
Weit gefehlt. Wir sind auf der Suche nach den Cops – und dem, was sie veranstalten.“ „Dann gehen Sie in die richtige Richtung“, sagte die Asari und klopfte sich ihre Weste ab, obwohl sie gar nicht gefallen war. „
In dieser Richtung liegt das Assa’tavinia, ein Lokal. Da hat C-Sicherheit gerade einen Mann erschossen. Einfach so.“ Caine untersuchte die Gesichtszüge der Asari auf Anzeichen einer Lüge oder Übertreibung. „
Wirklich?“ „Ich schwöre es bei der Göttin. Haben ihn auf die Beine gezwungen und abgeknallt.“ „
Haben Sie Beweise?“ Sie schüttelte den Tentakelkopf. „
Aber da sind Kameras im Laden und viele Leute in den Tips aktivieren ihre Omnitool-Videofunktionen, sobald sie C-Sicherheit sehen. Und die Leiche ist sicherlich noch warm.“ John sah zu Caine. „
Was meinen Sie?“ „
Klingt nach etwas, dem man sich widmen sollte. Wissen Sie sonst noch etwas zu dem Schützen?“ Die Asari tippte sich auf die Lippe. Ihr Atem hatte sich beruhigt. „
War auf jeden Fall ein Captain, hat er mehrfach lautstark erwähnt. Rasko…“ „
Rarkin?“ Die Asari schnippte mit blauen Fingern. „
Das war’s!“ Caine knirschte mit den Zähnen – großartige Aussichten. „
Na gut. Vielen Dank und lassen Sie sich nicht erwischen.“ Die Asari straffte sich. Einen Moment legte sich ein gequälter Ausdruck auf ihr Gesicht, sicherlich angesichts des kommenden Laufs auf Stiefeln. „
Passen Sie auf sich auf“, sagte sie, passierte die beiden Männer und ließ sie hinter sich.
***
Craig Gillespie
„Eigentlich“, murmelte Hanna und trank etwas Bier. Sie seufzte innerlich, das Essen füllte ihren Magen und mit der einsetzenden Sättigung kam die Müdigkeit. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie aus einem Kampf auf Leben und Tod ins Krankenhaus und nun zu einem Diner gelangt war. Kämpfen, Essen, Schlafen – diese Reihenfolge war ihr bekannt. Frisch geduscht zu dinieren und dabei Gespräche über die Blasto-Filme zu führen während die Körper ihrer Feinde noch warm waren, das kannte selbst sie nicht. Außerdem hatte sie das Gefühl, dass Craig sie nicht ernst nahm. Die Idee eines Spiels sollte der Erheiterung dienen, Hanna wusste, dass sie vom Geselligen her nicht der Bringer war, hatte es aber zumindest versuchen wollen. „Ähm, wie bitte?“ Hanna riss sich aus dem Dämmerzustand ihrer Überlegung. „Ja, nein. Entschuldigung.“ Sie blinzelte zweimal heftig, dann trank sie noch einen Schluck. „Also, ich schaue überhaupt keine Serien und eigentlich auch keine Filme. Ich hasse Komödien, Dramen, Liebesschnulzen; Komödien übriges am meisten. Ich habe auch noch nie diese Blasto-Filme gesehen, keinen einzigen davon.“ Sie holte einmal tief Luft und fuhr damit fort, die Fragen der Reihe nach zu beantworten: „Ich esse meistens, um zu überleben“, antwortete sie pragmatisch und zuckte mit den Schultern. „Pizza, Burger, Baguette – alles, was sich schnell irgendwo mitnehmen oder liefern lässt. Sushi finde ich klasse.“ Hanna ließ den Blick schweifen und versuchte, die aufkommende Selbstreflexion zu unterdrücken, die vielleicht an ihrer Stimmung zerren würde. „Ich habe zwar eine gute Küche und alles, was man zum Kochen zu braucht, habe das aber in den fast zwei Jahren, in der ich die Wohnung besitze, nie benutzt. Schon seltsam…“ Sie trank den letzten Schluck Bier, stellte die Dose ab und erhob sich. „Hören Sie, Gillespie, es war ja echt schön und so und ich freue mich, dass Sie wohlauf sind. Wäre echt scheiße gewesen, wenn Sie wegen mir draufgegangen wären, aber ich denke, ich sollte jetzt gehen.“ Sie suchte nach ihrem Seesack, in den sie ihre Ausrüstung gestopft hatte, so gut es ging. Den Harnisch würde sie aber wohl so tragen müssen, ihr Gewehr hängte sie sich um. Craig stand natürlich ebenfalls auf, der Schein der Kerzen auf dem Tisch beleuchteten sein genesenes Gesicht. „Erholen Sie sich gut. Und wenn Sie etwas brauchen, keine Ahnung, jemand Sie in Bedrängnis bringt, sagen Sie Bescheid.“ Sie schulterte den Seesack, rückte die Waffe zurecht und nahm den Panzer in die freie Hand. „Vielen Dank für den Abend. Machen Sie’s gut, Gillespie.“ Hanna schenkte dem Weißhaarigen, der nun in Sicherheit und wieder wohlauf war, ein ehrliches Lächeln. „Schön, dass Sie wieder unter den Lebenden sind.“