Ungewöhnlich still kreisten die Möwen am Himmel, als ihr Boot sachte gegen den kleinen Anleger stieß. Fenia hob den Kopf und sah auf zu dem kleinen Fischerdorf, zu dem ein seichter Abhang hinaufführte. Direkt am Rand des Dorfes auf der Seeseite war ein mehrstöckiges Holzhaus errichtet worden, das die Gelegenheit zur beeindruckenden Aussicht aber verschmähte. Kein Fenster lag zu der für Fenia sichtbaren Seite.
„Und du bist dir sicher, dass es hier ist?“, fragte Halvor nervös und holte die Paddel ein.
„Ganz sicher“, antwortete Fenia und kletterte ungeschickt an Land. Auch wenn sie in einer Hafenstadt groß und die Frau eines Fischers geworden war, hatte sie ihr Gleichgewicht auf Booten nie gut halten können.
Sie erhob sich auf dem Steg und klopfte ihre Röcke glatt. Als sie dem Dorf einen eingehenderen Blick widmete, konnte sie nicht einen einzigen Menschen entdecken. Es war geisterhaft. Ohne darauf zu warten, dass Halvor das Boot vertaut hatte, schritt sie den Steg entlang und begann den Abhang hinauf zu staksen. Dass hier noch kein vernünftiger Weg angelegt worden war, zeigte nur allzu deutlich, in was für einem verschlafenen Nest sie angelegt hatten. Doch wenn Fenia nicht irrte, würde sie hier endlich zu Ende bringen können, was sie vor fast einem halben Jahr begonnen hatte. Es brannte ihr in den Fingern endlich die ihr zustehende Ehre einzukassieren.
Sie durchquerte die dem Meer zugewandte Lücke zwischen zwei Häusern und kam auf einen halbwegs groß zu nennenden Platz, der an anderen Tagen als Markt dienen konnte, heute aber genauso verwaist war wie der Rest des Dorfes. „Ja, wir sind hier richtig“, sagte sie aufgeregt, obwohl Halvor noch außer Hörweite war. Wie von selbst schlossen sich ihre Hände zu Fäusten. Sie würde es ihnen allen zeigen. Herek, Markus und ganz besonders der Seeblatt-Bockhand.
Sie fasste die schmucklose Holztür des mehrstöckigen Gebäudes ins Auge und schritt energisch darauf zu. Durch die braun getönten Butzenfensterscheiben links der Tür konnte sie nichts erkennen, obwohl die Sonne noch reichlich Licht spendete. Sie hämmerte an die Tür.
Erst geschah nichts. Eine Möwe kreischte nun doch noch hämisch. Dann wurde die Tür einen Spalt breit geöffnet und ein Auge erschien zwischen Tür und Zarge. Der Mann weitete erschrocken die Augen, als er sie erkannte.
Auch Fenia hatte ihn sofort erkannt: „Was machst du denn hier?“
Shrat öffnete die Tür noch ein Stück weiter. Er spähte kurz über die Schulter, ob sie sonst noch jemand bemerkt hatte. Dann wandte er sich wieder nervös ihr zu. „Du willst doch nicht etwa bei dem Laden hier mitmachen? Ich überleg gerade, wie ich hier wegkomme.“
„Im Gegensatz zu dir bin ich ja nicht in der ersten Runde rausgeflogen“, bemerkte Fenia lakonisch.
„Was du nicht sagst“, grummelte Shrat. „Ich dachte, hier bin ich diesen ganzen Wahnsinn los. Und jetzt holt mich der ganze Dreck hier doch noch wieder ein.“ Dann stieß er endlich die Tür auf und ließ sie passieren.
Gerade als Shrat die Tür schließen wollte, schob Halvor den Fuß in die Tür. „Hey, soll ich etwa draußen bleiben? Ich hab dich übers ganze Meer gerudert!“
Fenia wandte sich zu ihrem geliebten Mann um. Sie wusste, dass er es nicht verstehen würde, doch sie musste hart bleiben: „Du hast mich nie spielen sehen. Und das sollte auch so bleiben.“ Halvor klappte die Kinnlade herunter, dann gelang es Shrat endlich, seinen Fuß aus der Tür zu schieben und sie zuzuknallen. Shrat schlang eine Kette um den Riegel und versah sie mit gleich mehreren Schlössern. Keine Übertreibung, wenn man bedachte, wen sie um alles in der Welt draußen halten mussten. Dann schloss er zu Fenia auf, als wären sie gar nicht unterbrochen worden. „Ein paar Einfaltspinsel ausplündern, ein bisschen Erz sammeln… Das waren meine Gedanken, als ich mich hier beim alten Pfatt als Wirt beworben hab. Aber jetzt hab ich euch alle wieder am Hals. Die Pest soll mich holen!“, grummelte Shrat. Fenia folgte ihm unaufgefordert. „Nur die Kolonie war schlimmer, das sag ich dir! 'Sprich mich nicht an!' - 'Bitte den Schläfer um Vergebung!' - 'Deine Mission ist von äußerster Dringlichkeit!' All dieses ätherische Gelaber…“
Fenia hörte ihm kaum zu. Innerlich stellte sie sich auf die Herausforderung dieser Nacht ein.
Shrat führte sie einen schmalen Flur entlang. Sie hörte Stimmengewirr, das immer lauter und lauter wurde.
Schließlich schwoll der Lärm zu einer ohrenbetäubenden Kakofonie Hunderter Stimmen an. Sie erreichten eine Galerie, die in das schummrige Licht ungeordnet angebrachter Öllampen getaucht war. Männer stießen grölend ihre Humpen aneinander und kippten sich den Inhalt hinter die Binde. Manche Frauen lachten schrill über die geistlosen Bemerkungen wohlgekleideter Männer, während andere auf leeren Weinfässern tanzten. Und in den finstreren Ecken feilschten Sumpfkrauthändler hinter vorgehaltener Hand erbittert mit ihren Abnehmern.
Nun warf Fenia einen Blick über die Brüstung und erblickte die Löwengrube. Im Untergeschoss war es noch voller als auf der Galerie, die Menschen standen dicht an dicht wie eingepfercht. Die Bartheke nahm eine ganze Seite des Raums ein und drei Bedienstete kamen mit dem Aufnehmen der Bestellungen nicht hinterher. Eine von ihnen war anscheinend dazu übergegangen, einfach ein Bier nach dem anderen zu zapfen und ihren Kollegen das Abkassieren zu überlassen. Fenia fiel ein alter Mann auf, der mit einem Holzbein und zwei Augenklappen auf einer Kiste hinter der Theke saß und mit dem Kopf im Takt der schwungvollen Streichmusik mitwippte, deren Ursprung Fenia noch nicht entdeckt hatte.
„Verdammichnocheins, nu macht mir schon Platz!“, herrschte Shrat die Menge vor ihm an. „Ich schneid euch eure verfilzten Klöten ab, wenn ihr mich nicht auf der Stelle durchlasst!“
Naserümpfend wichen die Feiernden vor ihm zurück. Dadurch entstand zwar nur ein schmaler Spalt, doch Shrat begnügte sich damit und Fenia folgte ihm weiter.
„War nur’n Witz!“, raunte Shrat ihr zu, scheinbar um sie zu beruhigen, doch Fenia hatte keine Angst vor Shrat. Sie hatte gesehen, was für ein Weichei er war, nachdem sie ihn in der ersten Runde aus dem Turnier gefegt hatte und er stundenlang geheult hatte wie ein Orkhund.
Sie nahmen eine Treppe nach unten. Auf der letzten Stufe hielt sie kurz inne, denn unweit der Treppe lungerte auch ihr ärgster Rivale herum: Die Seeblatt-Bockhand. Hager und mit tiefliegenden Augen lehnte er in einer Ecke und schlürfte an einem dampfenden Becher. Als er ihren Blick bemerkte, ließ er den Becher sinken. Sie funkelten sich an. Für einen Moment hatte Fenia das Gefühl, ganz mit ihrem Rivalen allein zu sein. Dieses Jahr würde er sie nicht wieder aus dem Turnier fegen. Doch sein ausdrucksloser Blick zeugte von dem Willen genau das zu tun. Fenia unterdrückte eine Gänsehaut. Die mysteriöse Aura, die den Mann umgab, rührte zu einem großen Teil daher, dass er noch nie jemandem seinen richtigen Namen verraten hatte. So hatten die Leute ihn bald nach seinen beiden hervorstechendsten Merkmalen benannt: Dem Wappen mit dem einzelnen Seeblatt, das er stets auf der Brust trug, und seine Angewohnheit, jeden wichtigen Stoß über eine auffallend spitze Bockhand auszuführen. Schlauere Menschen als sie hatten wochenlang dicke, staubige Almanache gewälzt, um herauszufinden, zu welcher Familie das Wappen gehören könnte, doch noch nie war einer auf einen handfesten Hinweis gestoßen.
„Können wir weitergehen? Was denkst du?“, drängelte Shrat.
Fenia blinzelte und der Moment war verflogen. Die Seeblatt-Bockhand schien sich wieder auf ihren Becher zu konzentrieren. Fenia schloss zu ihrem ungeduldigen Führer auf.
Schon nach wenigen Schritten mussten sie wieder stoppen, da vier Männer Arm in Arm durch die Menge sprangen, ihr Bier verschütteten und laut johlten. Als sie übereinander stolperten und allesamt zu Boden gingen, jubelten sie, als hätten sie das Turnier gewonnen.
„Diese verdammten Spinner gehen mir gehörig auf den Sack“, zischte Shrat und stieg über die sich kugelnden Betrunkenen hinweg. Fenia raffte ihre Röcke und folgte ihm, wobei sie ausversehen mit einem ihrer Absätze eine Hand zerquetschte.
Shrat tippte einem hageren Mann auf die Schulter. Mit blasierter Miene wandte er sich zu ihnen um, doch kaum dass er Fenia erblickte, strahlte er: „Wundervoll, endlich sind alle da!“ Ohne ein weiteres Wort abzuwarten, klatschte er in die Hände. „Alle herhören! Die letzte Halbfinalistin ist eingetroffen, es kann losgehen!“ Obwohl es so voll und laut war in der mehrstöckigen Kneipe, war Sir Neville Chamberlains Stimme gut vernehmbar. Zunächst verstummte das allgemeine Geplapper, dann begann die Menge zu brüllen und zu toben. Wie von Sinnen rissen sich die Männer ihre Hemden vom Leib und wirbelten sie über den Köpfen, warfen Piratenbräute achtlos ihre Humpen durch die Luft und alle schrien sie durcheinander. Die Ekstase der Menge jagte Fenia eine wohlige Gänsehaut über den gesamten Körper. Dies war der Moment, in dem sie spürte, dass sie wirklich zurück war.
Es war erst wenige Jahre her, dass die Galeere eines weit entfernten Königreichs in Khorinis eingelaufen war. Damals war die Hafenstadt noch ausgehungert von den letzten Ausläufern eines verzweifelten Krieges. Der König, der sich in das Obere Viertel zurückgezogen hatte, nachdem er auf dem Festland jede Bastion verloren hatte, hatte mit ihrem Wortführer nicht lange verhandelt. Es war für alle ein Schock gewesen, als er höchstpersönlich auf dem Galgenplatz von Khorinis erklärt hatte, dass das großmyrtanische Reich mit sofortiger Wirkung von Nordirischia annektiert wurde. Dies sei der einzige Weg, den Orks noch etwas entgegenzusetzen.
Seitdem hatte niemand mehr den alten König gesehen, doch Nordirischia hielt Wort. Eines Tages war der Hafen von Khorinis gerammelt voll mit nordirischen Kriegsgaleeren und im Handumdrehen wurden die Orks nicht nur auf den Inseln sondern auch auf dem gesamtem Festland vernichtend geschlagen.
„Es ist soweit“, intonierte Sir Neville mit sonorer Stimme. „Hier in Ardea werden heute die finalen Spiele der diesjährigen nordirischen Snooker-Meisterschaft ausgetragen!“
Der Tumult fand einen neuen Höhepunkt. Fenia war voll und ganz bewusst, dass die Meisterschaft aus gutem Grund abgebrochen worden war. Das Spiel euphorisierte die Menschen so sehr, dass sie alles um sich herum vergaßen. Auch Fenia hatte seinem Sog nicht lange widerstehen können, als die Nordirischianer nicht nur ihre Kriegsgaleeren sondern mit ihnen auch den Snooker nach Khorinis brachten. Von erster Stunde an hatte sie in den zwielichtigen Untergrundpartien ihr Bestes gegeben und sich immer weiter hochgearbeitet. Bis sie sich schließlich für die Landesmeisterschaft im weit entfernten Rimelick qualifiziert hatte. Dort hatte sie sich wie im Rausch durchs Turnier gespielt – Bis die Euphorie nach dem letzten Viertelfinale außer Kontrolle geriet und das Turnier abgebrochen werden musste. Sir Neville hatte versucht, sich bei seinen Kollegen Gehör zu verschaffen, aber die Querschnittslähmung eines Achtelfinalteilnehmers sowie das mysteriöse Verschwinden eines Schiedsrichters ließ das Komitee auch gegen die gewichtige Stimme Sir Nevilles Chamberlains die Reißleine ziehen. Doch Sir Neville wäre nicht Sir Neville, wenn er nicht im Verborgenen Strippen gezogen hätte, um das Unmögliche möglich zu machen. Heute waren die vier Halbfinalisten versammelt und zu allem bereit. Der nordirische Adel konnte unmöglich ahnen, dass sie sich in einem Kaff wie Ardea trafen, um diesen international angesehenen Wettbewerb zu Ende zu bringen.
Die Masse teilte sich und gab den Blick frei auf einen Snookertisch. Die fahle Beleuchtung ließ das Grün beinahe schwarz wirken. Shrat trat vor und positionierte die Kugeln auf dem Tisch. Sir Neville selbst reichte Fenia einen Queue. „Die erste Halbfinalbegegnung“, rief er schallend. „Die unerschrockene Fenia, jetzt schon beste Frau des Turniers. Und der von einem legendären König gesalbte Ex-Paladin Markus!“ Markus trat an das andere Ende des Tischs und wirbelte seinen Queue übermütig in der Hand. Dicht hinter ihm stand ein buckliger Mann, der Fenia finster anstierte. Nun holte er einen Flachmann aus seinem Hemd und reichte ihn Markus. Markus entkorkte ihn und trank gierig einige Schlucke.
„Was macht er da?“, fragte Fenia niemand bestimmten. „Alkohol hat noch niemandem zum Sieg verholfen.“
Sir Neville beugte sich leicht zu ihr herunter und raunte. „Kein Alkohol. Desoxythymidintriphosphatlösung. Die Wettbewerbsaufsicht war noch damit beschäftigt, die Wirksamkeit des Stoffes zu untersuchen. Doch da bislang nichts bewiesen ist, können wir ihn nicht des Dopings bezichtigen. Sein alchemistischer Berater Avogadro schwört aber darauf. Ich habe schon ein paar Kollegen in Trelis, die mir noch einen Gefallen schulden, auf diesen Mann angesetzt, aber bislang lieferten ihre Nachforschungen leider keine eindeutigen Erkenntnisse.“
„Diese Brühe wird ihm gegen mich nichts bringen“, sagte Fenia und fasste ihren Gegner ins Auge.
„Eine gute Einstellung. Gebt Euer Bestes, Fenia.“
Fenia wog ihren Queue kurz in der Hand, sie hatte nichts an der Balance auszusetzen.
Sir Neville positionierte sich an der Mitte des Tischs, während Markus und Fenia sich an den Enden gegenüberstanden.
„Kopf oder Zahl?“, rief Neville, der letzte verbliebene Mitarbeiter des Organisationsteams. Fenia wurde klar, dass er sämtliche Aufgaben allein übernehmen musste.
„Ich lasse der Dame den Vortritt“, sagte Markus ernst.
Fenia schürzte die Lippen, wollte sie doch keine Vorzugsbehandlung, nur weil ihr kein Ersatzhirn zwischen den Beinen baumelte. „Kopf“, entschied sie spontan.
„So sei es!“, rief Neville und warf eine Münze hoch in die Luft, bis über die Galerie hinweg. Als er sie geschickt wieder auffing und langsam entblößte, wurde die Menge still.
„Zahl!“, rief er und reckte die Münze in die Höhe.
Markus nahm die weiße Kugel von Neville entgegen und positionierte sie innerhalb des Halbkreises. Er wählte dafür eine Position zwischen der pinken Kugel in der Mitte und der gelben Kugel zu seiner Rechten. Fenia war sofort klar, dass er über die rechte Bande mitten auf das Dreieck der roten Kugeln zu zielen gedachte. Ein gewöhnlicher, aber effizienter Eröffnungsstoß.
Die weiße Kugel sauste über den Tisch, prallte von der Bande ab, glitt klackernd in die Menge der roten Kugeln, gerade so stark, dass sie auseinanderstieben, doch nur eine von ihnen landete in der hinteren linken Tasche.
„Markus – ein Punkt!“, rief Sir Neville.
Das Publikum johlte, obwohl es bloß ein simpler Stoß gewesen war, ohne jede Schwierigkeit. Markus stand nicht umsonst im Halbfinale. Was der betrunkenen Menge völlig entging, sie aber beunruhigte, war die schwarze Kugel, die von einer roten Kugel touchiert und in die Nähe der hinteren rechten Tasche gebracht worden war. Der Weg zwischen weißer und schwarzer Kugel war frei und Fenia zweifelte nicht daran, dass Markus sie versenken würde, ohne die weiße ebenfalls in die Tasche zu befördern.
„Markus – sieben Punkte!“, rief Sir Neville wenige Augenblicke später tatsächlich.
Höchst konzentriert setzte Markus seinen Queue erneut an.
„Ein Punkt!“ „Fünf Punkte!“ – „Ein Punkt!“
In Fenia keimte Hoffnung. Als nächstes musste Markus wieder eine farbige Kugel versenken. Die Gelbe war ohne Weiteres zu schaffen, doch die dreimal so wertvolle pinke Kugel war ebenfalls nicht unmöglich – allerdings viel schwieriger zu spielen, da zwei rote Kugeln den Weg blockierten. Fenia fragte sich, welche von beiden Markus anspielen würde. Diese Entscheidung würde tief in Markus‘ Spielweise blicken lassen.
Tatsächlich legte er auf die pinke an. Schon als er ansetzte, wusste Fenia, dass sie nun an der Reihe war. Die weiße Kugel stieß eine rote zur Seite, touchierte die pinke. Doch die bekam nicht mehr genug Schwung und blieb nahe der Tasche liegen.
„15 Punkte“, verkündete Sir Neville die Gesamtpunktezahl von Markus‘ erstem Durchgang.
Fenia entschulterte ihren Queue. Ihr Kontrahent hatte ordentlich vorgelegt. Sie positionierte ihre linke Hand auf dem Tisch, ließ den Queue federnd auf ihrem Daumen aufkommen – und blendete alles um sich um herum aus. Während der Raum und die Menschen in Dunkelheit versanken, schienen die farbigen Kugeln vor ihr auf dem Tisch geradezu aufzuleuchten. Sie fixierte eine rote Kugel, die sie mit Leichtigkeit versenken konnte und die weiße Kugel nicht zu weit von der aufreizend leicht zu versenkenden pinken Kugel abbringen würde. Direkt nach ihrem Stoß wandte sie den Blick ab. Sie wusste auch so, dass sie getroffen hatte.
Als die Realität wieder Gestalt annahm, war das Publikum verstummt. Alle standen sie da mit ihren Bierhumpen und Tellern voll Eintopf und bewegten sich kein Stück mehr. Fenia kannte diese Reaktion bereits zur Genüge. Das war genau der Grund, warum Halvor unter keinen Umständen bei ihren Spielen dabei sein durfte. Wenn sie einen Queue in die Hand und eine Kugel aufs Korn nahm, sie ganz in dem Spiel versank, wurde ihr konzentrierter Blick furchteinflößend. Fenia hatte diese Auswirkung, die sie auf andere hatte, zunächst beunruhigend gefunden, doch inzwischen hatte sie sich damit abgefunden. Solange sie spielen konnte, war alles gut.
Sie hatte den Tisch fast halb umrundet, nun legte sie wieder an, dachte dabei aber schon an die Kugel, die sie nach der pinken versenken wollte. Wo musste die weiße Kugel stehen bleiben, um ihr die optimalen Voraussetzungen zu verschaffen?
Wenige Minuten später rief der Schiedsrichter: „Fenia – 31 Punkte.“
Das brach den Bann der Menge. Überschwänglich klatschten sie in die Hände. Fenia hörte Avogadros rauhes Flüstern durch den Tumult: „Das kann eigentlich nicht sein. Das Desoxythimidintriphosphat als Bestandteil der Desoxyribonukleinsäure sollte einen Vitalisierungsprozess in Gang bringen, der ihm eine übermenschliche Wahrnehmung verleiht. Wie konnte diese Göre…“ Avogadro brach abrupt ab, als er ihren Blick bemerkte. Sie deutete nur ein spöttisches Lächeln an, dann wandte sie sich ab.
Es dauerte nicht lang und sie hatte das Halbfinale gewonnen. Fenia empfand keine rechte Freude an ihrem Sieg. Was zählte, war allein das Finale gegen die Seeblatt-Bockhand.
Sie stellte sich an den Thresen, wo Shrat gerade ein halbes Dutzend Bierkrüge heranbrachte.
„Was ist das für ein Eintopf, den die Leute hier essen?“, fragte sie ihn.
„Das ist Pfatterers Rübe“, entgegnete Shrat kurz angebunden. „Spezialität des Hauses. Und das einzige, was es hier gibt. Mehr konnte der Alte zu seiner Zeit halt nicht.“
„Pfatterer?“, fragte sie, weil sie mit dem Wort nichts anfangen konnte.
Shrat zuckte kaum merklich zusammen. „Dein Ernst? Du kennst Pfatt nicht, die Wirtshauslegende? Das hält man ja im Kopf nicht aus!“ Er trat einen Schritt beiseite, so dass sie freie Sicht, auf den Greis mit den beiden Augenklappen hatte, der immer noch auf seiner Kiste hinter der Theke saß. „Er ist in ganz Myrtana berühmt. Seine Schenke hier war selbst zur Blütezeit Vengards die meistgefragteste Kneipe im ganzen Land. Er ist der Wirt, der mit einer Spelunke in der verschlafenen Hafenstadt Ardea, ganze Kneipenstraßen in allen Städten des Landes bankrott gehen ließ. Von überall her pilgerten die Menschen hierher, um sein Bier zu trinken, seine Pfatterer Rüber zu essen und sich seine Anekdoten anzuhören. Heute ist er nur noch ein Schatten seiner selbst, aber seine pure Anwesenheit lockt die Menschen noch immer hierher. Sir Neville hat Ardea nicht umsonst für den heimlichen Turnierabschluss der nordirischen Snookermeisterschaft ausgewählt. Er wusste, dass mit dieser Wahl alle zufrieden sein würden.“
„Na schön“, sagte Fenia, die nicht wusste, was sie von der Geschichte halten sollte. „Dann gib mir auch mal diese Pfatterer Rübe.“
„Das Original, vom Meister selbst gehackt, kommt sofort!“ Und Shrat angelte einen Teller aus einem Schrank und eine Suppenkelle aus einem riesigen Topf hinter ihm. Fenia warf Pfatt noch einen Blick zu und fragte sich, ob er die Rüben trotz seiner Blindheit wirklich selbst geschnitten hatte.
Mit Schmackes servierte Shrat ihr den Teller direkt vor die Nase, sodass gefühlt die Hälfte über den Thresen spritzte. So wie das Holz aussah, war es üblich, Pfatterer Rübe auf diese Weise zu servieren. Und da Shrat von ihr keinerlei Bezahlung zu erwarten schien, beklagte sie sich nicht. Mit einem Ohr hörte sie, wie Sir Neville das zweite Halbfinale ankündigte. Sie schob sich mit ihrem Teller durch die Menge, bis sie gut sehen konnte. Obwohl sie sowohl Herek als auch die Seeblatt-Bockhand schon oft hatte spielen sehen, wollte sie sich einen Eindruck davon verschaffen, wie sie sich in den letzten Wochen entwickelt hatten und ob sie in Form waren. Jedes Detail konnte spielentscheidend sein, wenn es gegen die Seeblatt-Bockhand ins Feld ging.
„Ich habe mich immer gefragt, ob ihr eigentlich von Hereks Vergangenheit wisst“, fragte Shrat plötzlich direkt neben ihr.
„Ich weiß nur, dass er ein Überlebender der Barriere sein soll“, gab Fenia kurz angebunden zurück. Die Seeblatt-Bockhand führte gerade ihren ersten Stoß aus.
„In der Barriere war er beinahe handzahm, zumindest was ich so mitgekriegt hab“, lenkte Shrat sie weiter ab. „Stand voll unter dem Pantoffel der Gardisten. Aber ich meinte eigentlich, die Zeit davor.“
„Das interessiert mich herzlich wenig“, stellte Fenia kauend klar. „Er wird gleich eh aus dem Turnier ausgeschieden sein.“
„Was?“ Shrat blickte verwirrt zu dem Snookertisch hinüber. „Aber er hat doch noch gar nicht gespielt. Wie willst du das jetzt schon wissen?“
„Weibliche Intuition“, antwortete Fenia schlicht. In Wirklichkeit war die Seeblatt-Bockhand Herek schon seit jeher weit überlegen gewesen. Und schon nach den ersten zwei Stößen war Fenia sich sicher, dass die Seeblatt-Bockhand in einer Bestform war, die Herek unmöglich überwinden konnte. Sie straffte ihre Schultern und vergaß ganz das Essen, während sie sich fragte, ob sie ihr gewachsen sein würde.
Shrat wurde dankenswerterweise von den Trinkwütigen in Beschlag genommen, so dass sie sich auf jeden Spielzug konzentrieren konnte. Die Seeblatt-Bockhand spielte ihre wie üblich etwas zu spitz aufgesetzte Bockhand, für die sie berühmt geworden war. Das Wappen mit dem Seeblatt schimmerte auf seiner Brust. Ähnlich wie Markus spielte sie stets die riskanteren Züge. Doch im kompletten Gegensatz zu dem Ex-Paladin gelang ihr jedes einzelne Manöver mit Leichtigkeit.
Es war eine kurze erbarmungslose Partie, die wie erwartet mit Hereks Niederlage endete.
Die Zuschauer waren inzwischen ordentlich angetrunken und in Hochstimmung. Während Sir Neville sie noch weiter anheizte, brachte Fenia ihre leere Schale zurück zum Tresen. Auf dem Rückweg teilte sich die Menge ehrfürchtig vor ihr, so dass der Weg zum Snookertisch frei war. Gemessenen Schrittes ging sie auf ihren ärgsten Rivalen zu.
Der Münzwurf entschied, dass sie anfangen würde. Die Menge wurde ruhig, als sie ihre Fingerspitzen auf den Tisch setzte und die erste Kugel anvisierte.
Doch noch bevor Fenia alles um sich herum ausgeblendet hatte, gab es Radau auf der Galerie. Männer schrien empört auf, Glas klirrte. Erst wollte sie sich davon nicht ablenken lassen, dann hörte sie Halvors Stimme: „Orks! Sie erklimmen gerade den Abhang! Mehr als ich so schnell zählen konnte!“
Mit einem Mal war es totenstill in der Kneipe.
Das folgende Durcheinander war chaotisch. Einige schrien und duckten sich in die Ecken, andere zückten Dolche oder krempelten die Ärmel hoch. Doch ihnen allen war gemein, dass sie wild durcheinander wuselten, sich anrempelten und schubsten und nur dazu beitrugen, dass das Durcheinander noch schlimmer wurde.
Fenia suchte den Blick der Seeblatt-Bockhand. Als sie sich in die Augen sahen, war ihnen sofort klar, dass keiner von ihnen nur wegen ein paar Orks das Finale abbrechen würde. Fenia legte sich wieder über den Tisch. Niemand achtete mehr auf sie außer ihrem Gegner. Und ihrem Mann, wie ihr bewusst wurde, als sie seinen Blick von der Galerie aus spürte. Im nächsten Moment rempelte sie jemand von der Seite an und der Queue wirbelte ihr aus der Hand.
Fluchend stürzte sie dem Stab hinterher ins Getümmel. Vielleicht war es doch nicht so leicht, das Turnier in dieser Situation zu einem Abschluss zu bringen.
Ein Geräusch wie die Faust eines entschlossenen Mannes auf der Theke gellte durch die Taverne. Noch ehe Fenia das Geräusch verortet hatte, erschallte es ein zweites Mal. Und zum dritten Mal. Der langsame Takt war beruhigend. Und als sie sich nach dem Ursprung umsah, erkannte sie, dass es auch den anderen so zu gehen schien.
Schließlich entdeckte sie Pfatt. Zittrig auf Shrats Schulter gestützt stand er wohl auf seiner Kiste und klopfte in regelmäßigen Abständen mit seinem Holzbein auf das Holz. Alles Gewusel endete. Die Schreie verstummten. Es wurde mucksmoleratchenstill.
„Wie oft wollen die Orks noch versuchen, unser schönes Ardea auszuplündern?“, raunte Pfatt und obwohl er seine Stimme nicht erhob, schien sie überall zu hören zu sein. „Wir haben aus unseren Fehlern gelernt, oder nicht? Jeder, der mit Derek gelernt hat, eine Waffe zu schwingen, sollte sich nun fragen, ob er es nicht genau für diesen Moment getan hat. Beschützt das Wirtshaus. Hier sind alle versammelt. Solange wir hier in Sicherheit sind, wird niemandem etwas passieren. Dafür wird eine Hand voll Männer reichen. Der Rest kann ausschwärmen und ihnen Saures geben, auf dass es ihnen eine Lehre sei. Ardea wird nie wieder unter ihnen buckeln. Ja, sie werden es nicht einmal schaffen, dieses vergnügliche Turnier zu unterbrechen. Oder was meint ihr?“
Wieder schrie die Menge. Doch dieses Mal johlten sie Pfatt zu, einhellig, und fern jeder Panik. Fenia lief ein Schauer über den Rücken. Dieser Mann, so alt und kränklich er auch war, die Dorfbewohner schienen ihn auf eine ganz natürliche Weise als ihren Anführer zu respektieren. Er brauchte keinen Rang, damit seinen Befehlen gehorcht wurde.
Fenia hob ihren Queue auf und kehrte an den Tisch zurück. Sie war Pfatt dankbar dafür, dass auch er nicht daran dachte, das Finale zu unterbrechen. Nun war auch sie entschlossen, den Orks durch das bloße Fortführen des Turniers die Stirn zu bieten. Diese grünhaarigen Kerle hatten keine Macht mehr über die Menschen. Und das würde sie ihnen jetzt zeigen.
Sie stellte sich Halvors Blick, nickte ihm ermutigend zu, legte auf die weiße Kugel an, und blendete alles um sich herum aus.

Erst als das Finale vorüber war und die Seeblatt-Bockhand ihren Queue über dem Knie zerbrach, bekam Fenia mit, dass die Orks mühelos verjagt worden waren. Einerseits hatten sie wohl nicht mit Gegenwehr gerechnet. Und andererseits war Halvor schon immer langsam im Zählen gewesen.
Die Gratulanten wollten nicht abreißen. Sie nahmen Fenia auf die Schultern und feierten sie als erste weibliche nordirische Snookermeisterin. Erst nach einer ganzen Weile schaffte Halvor es, zu ihr vorzudringen. Er war etwas blass um die Nasenspitze, doch er lächelte sie voller Stolz an. Und in diesem Moment bereute Fenia es, ihn so lange von ihren Spielen ferngehalten zu haben. Sie ließ sich von den Schultern der Männer gleiten, sprang auf Halvor zu und küsste ihn inmitten der tobenden Menge. Wieso hatte sie ihm diese ihrer Seiten nur so lange verborgen? Der Stolz in seinen Augen war das Beste an ihrem Sieg.