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    Deus Avatar von Laidoridas
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    Post [Story]Gameboy



    Diese Geschichte wurde im Rahmen des Story-Wettbewerbs 2019 auf Basis der folgenden, zufällig ausgewählten Wikipedia- und Gothic-Almanach-Artikel verfasst (durchgestrichene Artikel wurden gemäß der Wettbewerbsregeln nicht berücksichtigt):

    Geändert von Laidoridas (22.09.2019 um 19:02 Uhr)

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    Deus Avatar von Laidoridas
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    Laidoridas ist offline
    Ich musste gerade an dich denken. Als ich im oberen Stockwerk war, die Gießkanne in der Hand und schon auf dem Weg zum Kaktus, da musste ich an dich denken. Du bist jetzt schon mehr als ein Jahr weg. Die Kakteen auch, nur der eine hat überlebt. Früher ist jedes Jahr ein langer Stiel herausgewachsen mit einer großen pinken Blüte am Ende, aber das ist jetzt schon lange nicht mehr passiert. Vielleicht ja noch dieses Jahr, aber die Hoffnung ist nur noch gerade groß genug, um die Gießkanne rauszuholen.
    Ich bin jetzt wieder unten im Wohnzimmer. Die Gießkanne steht im Abstellraum mit einer Restpfütze drin, ich liege auf dem Sofa und taste nach der Fernbedienung. Die Lampen sind aus im Wohnzimmer, seit ein paar Tagen ist das so. Es waren mal drei Glühbirnen, die hier geleuchtet haben, und die letzte hat vor ein paar Tagen den Geist aufgegeben. Ich weiß, dass ich sie wechseln müsste, wenigstens eine von ihnen, aber die Sache ist, es geht auch so. Sobald der Fernseher mal an ist, brauche ich auch keine Lampen mehr. Dann ist genug Licht da.
    Noch ist es aber dunkel. Von draußen kommt auch nichts rein, die Rollläden sind unten. Noch wäre es auch still, wäre da nicht der Regen, der nicht nachlassen will. Gut, dass ich nicht raus muss. Heute nicht, morgen nicht, übermorgen nicht. Danach werde ich Wasser kaufen müssen. Das Zeug aus der Leitung trinke ich nicht.
    Jetzt habe ich die Fernbedienung gefunden. Meine Augen schmerzen, als sie das Licht sehen. Aber dieser Schmerz hält nur kurz. Schlimmer sind die Bauchschmerzen. Die habe ich jetzt seit zwei Wochen, oder zweieinhalb Wochen mittlerweile. Die gehen auch nicht weg, nur mal kurz für ein paar Stunden, aber nie so lange, dass ich glauben kann, es würde besser. Auf dem Wohnzimmertisch wird jetzt das Wasserglas angeleuchtet, neben dem die Tablettenpackung liegt, die ich letzten Dienstag aus der Apotheke geholt habe. Ich habe noch nicht entschieden, ob ich die nehmen soll. Der Arzt hat nur geraten, glaube ich.
    Die Kanäle wechseln jetzt durch. Lauter neuer Kram. Alf mag ich nicht besonders. Garfield hasse ich. Ich möchte ihn jedes Mal von der Scheibe kratzen, wenn er vor mir auftaucht. Am Glücksrad bleibe ich hängen, aber dann wird der Regen heftiger und das Bild beginnt darunter zu leiden, irgendwann auch der Ton. Ich muss den Fernseher anlassen, des Lichts wegen, aber den Ton schalte ich stumm. Unter meinem Hintern klemmt mein Kreuzworträtselheft, ich ziehe es raus und hole den Kuli aus der Sofaritze. Nicht so gut wie Glücksrad, aber kein Grund sich aufzuregen. Weniger Stress, hat auch der Arzt gesagt, bevor er mir irgendwelche Medikamente verschrieben hat. Einfach mal entspannen.
    Physiker mit sechs Buchstaben. Keine Ahnung. Vielleicht ist es der Kühlschrank, denke ich wieder. Er wird nicht mehr so kalt wie er sein sollte. Ich habe ihn hochgedreht von 2 auf 7 und dann wieder zurück auf 6, weil ich es nicht übertreiben wollte, aber er ist kein bisschen kälter geworden. Er wird schon immer noch kalt, aber vielleicht nicht mehr kalt genug, um alle Bakterien einzufrieren. Vielleicht kommen daher die Bauchschmerzen. Ich sollte auch das angebrochene Apfelmus nicht immer so lange im Kühlschrank stehen lassen, bis es schimmelt, nehme ich mir vor. Aber es fühlt sich nicht so an, als hätte ich mir den Magen verdorben. Mir ist manchmal ein wenig übel, und Sodbrennen habe ich auch ab und zu. Aber das fühlt sich nicht an wie ein verdorbener Magen, glaube ich. Irgendwas anderes stimmt da nicht. Vielleicht hat der Kühlschrank damit zu tun, vielleicht ist es was anderes. Aber die Medikamente, glaube ich, die sollte ich nicht nehmen. Die machen es am Ende nur noch schlimmer.
    Das Telefon klingelt, damit hatte ich nicht gerechnet um diese Zeit. Beim Glücksrad zeigen sie keine Uhrzeit an, aber es muss schon nach zehn sein. Ich könnte es einfach klingeln lassen, aber dann würde ich die halbe Nacht wachliegen und grübeln, wer es gewesen ist. Hilft alles nichts. Ich stehe vom Sofa auf und gehe vorsichtig zur Kommode rüber, die vom Fernsehlicht nicht so viel abbekommt. Das Telefon finde ich trotzdem und hebe ab.
    „Hey, ich bin’s“, meldet sich Stefan. „Alles klar?“
    „Ja“, sage ich und gehe mit den Augen die kaum zu lesenden Zahlen auf der Wählscheibe durch.
    „Gut, gut. Ich rufe doch nicht zu spät an, oder? Bei mir ist es gerade Mittag.“
    „Bei mir nicht. Aber macht nichts.“
    „Perfekt“, sagt Stefan. „Hör mal, wegen Becki. Ich kann da vielleicht was arrangieren.“
    „Das haben wir doch schon besprochen“, erinnere ich ihn. „Bitte lass es.“
    „Hör doch erst mal. Jan sieht sie vielleicht morgen. Das heißt, heute. Bei euch ist es heute. Und ich hab ihm gesagt, er kann Becki ja mal ganz unverbindlich fragen...“
    „Nein“, sage ich entschieden. „Niemand soll Becki irgendwas fragen.“
    „Komm schon, sie mag dich doch.“ Ich höre Stefan durch die Leitung grinsen. „Das sieht jeder. Es muss nur mal einer die Initiative ergreifen. Und von euch beiden macht das ja keiner.“
    „Das weiß ich selber, dass mich Becki mag. Aber so sehr nun auch wieder nicht. Außerdem passen wir gar nicht zueinander.“
    „Das weißt du doch gar nicht, bis du es ausprobiert hast.“
    „Stefan“, sage ich so ruhig wie möglich. „Bitte tu mir den Gefallen und lass es einfach sein, okay? Becki und ich, wir kommen gut miteinander aus. Ich freu mich immer, wenn ich sie sehe. Wenn ihr da jetzt irgendwas anzettelt, dann wird es vielleicht alles nicht mehr so sein wie jetzt.“
    Wie vor fünf Wochen, korrigiere ich mich in Gedanken. Ich sehe Becki ja nur, wenn wir wieder zusammen irgendwo eingeladen sind. Und wenn ich dann auch hingehe.
    „Du feige Sau“, lacht Stefan. „Trau dich doch mal was. Einmal wenigstens.“
    „Ich kenne Becki vielleicht einfach besser als ihr. Die findet mich ganz nett und das war’s. Und sie hat ja auch einen Hund.“
    „Na und?“
    „Ich mag keine Hunde.“
    „Gut, gut, ich seh schon, das führt zu nichts“, lenkt Stefan ein. „Dann sage ich Jan eben, er soll Becki aus dem Weg gehen. Das kriegt er schon hin.“
    „Er muss ihr nicht aus dem Weg gehen. Er soll sie einfach nur nichts Blödes fragen, okay?“
    „Ja, ja.“
    „Nichts über mich“.
    „Schon klar.“
    „Versprochen?“
    „Versprochen.“ Ich warte auf eine Verabschiedung, aber dann legt Stefan nach: „Ich hab da übrigens auch noch eine Bitte an dich.“
    „Was denn für eine Bitte? Soll ich wieder irgendwas für dich unterschreiben?“
    „Nein, nein“, versichert Stefan. „Es ist nur, die Garage. Die alte, in der mein Auto steht. Ich hab vergessen es umzuparken, bevor ich weg bin, und morgen läuft der Mietvertrag aus. Die können es abschleppen, wenn es bis morgen nicht raus ist, und wenn ich es dann in einer Woche nicht abhole, persönlich mit Führerschein und Ausweis, dann versteigern sie es.“
    „Daran hättest du aber echt denken können, bevor du weg bist“, sage ich.
    „Ja, klar, ist blöd gelaufen.“ Stefan gibt sich für einen Moment zerknirscht. „Ich kann nicht so schnell zurück, also muss das Auto in der neuen Garage stehen, bevor der Mietvertrag ausläuft. Das heißt, vor Mitternacht.“
    „Das ist in zwei Stunden oder so.“
    „Wenn du das sagst. Also, kannst du das für mich machen?“
    „W… was? Was soll ich denn da machen?“
    „Na, das Auto umparken.“
    Die Bitte verschlägt mir kurz die Sprache.
    „Nein“, sage ich dann. „Nein, auf keinen Fall. Ich habe keinen Führerschein.“
    „Weiß ich doch. Aber die Garagen sind fast direkt gegenüber. Nur einmal ein paar Meter über die Straße, einparken, fertig. Dafür braucht man keinen Führerschein.“
    „Vergiss es. Ich habe keine Ahnung, wie sowas geht. Am Ende baue ich noch irgendeinen Unfall. Oder die Polizei hält mich an.“
    „Um die Zeit ist doch keiner unterwegs.“
    „Das spielt überhaupt keine Rolle. Ich würde irgendwo gegen fahren. Schlag dir das sofort aus dem Kopf, Stefan.“
    „Hör mal. Du hast doch Test Drive gespielt, oder?“
    „Ja“, sage ich. „Aber ich hab es nie richtig verstanden.“
    „Ich auch nicht. Aber Autofahren ist in echt viel einfacher als bei Test Drive. Das ist ja der Punkt. Pass auf, ich erklär’s dir: Du setzt dich rein, Gang einstellen, Gaspedal, ausparken. Dann einmal über die Straße fahren –“
    „Einmal über die Straße fahren! Du sagst das so, als wäre das ganz einfach!“
    „Ist es auch. Und die neue Garage ist geräumig. Das Einparken ist kein Problem. Schau nur vorher, wo das Bremspedal ist.“
    „Du bist verrückt“, stelle ich klar. „Ich mach das auf keinen Fall.“
    „Hey, komm schon. Es geht um mein Auto.“
    „Lass es doch einfach in der alten Garage stehen. Als ob das so schnell einer kontrolliert.“
    „Die kontrollieren das. Ich hab denen in die Augen geguckt, als ich den Vertrag unterschrieben habe. Wusste sofort, was das für welche sind. Würde mich nicht wundern, wenn die da um Punkt Mitternacht schon aufkreuzen. Die warten nur drauf, dass da immer noch mein Auto drin steht.“
    „Stefan, nein. Wenn ich dein Auto kaputt fahre, dann hast du auch nichts mehr davon.“
    „Du musst einfach sehr langsam fahren, ja?“, rät mir Stefan. „Sehr vorsichtig. Du hast genug Zeit, kein Grund zur Hektik. Mach es einfach ganz langsam, ganz vorsichtig, dann wird das schon klappen. Weißt du noch, als Lisa den heißen Draht bei sich zuhause hatte?“
    „Ja. Ich habe verloren.“
    „Aber du hast es trotzdem ganz gut gemacht. Du warst nur ein bisschen zu unentspannt. Wahrscheinlich weil Becki da war.“
    „Becki war gar nicht da.“
    „Jetzt denk mal für einen Moment nicht an Becki und hilf mir einfach, okay? Die Sache ist, wenn du dich konzentrierst, dann kannst du es schaffen. Jeder Depp kann Auto fahren. Ohne Scheiß, jeder Depp. Und du willst mir erzählen, ausgerechnet du kriegst das nicht hin? Ein paar Meter über die Straße, von einer Garage in die andere? Ich bitte dich.“
    „Nicht ohne Führerschein.“
    „Vergiss den Führerschein! Jeder kann Auto fahren, von der ersten Minute an, dazu braucht keiner einen Führerschein. Glaub mir da einfach mal.“
    Mir wird das Gespräch langsam unangenehm.
    „Stefan, ich kann jetzt nicht raus. Egal ob zum Autofahren oder sonst was. Es regnet und...“
    „Ohhh, es regnet“, spottet Stefan. „Es geht hier um mein Auto, Mann!“
    „Und ich habe Bauchschmerzen. Nicht irgendwelche, sondern… da stimmt irgendwas nicht, ich weiß auch nicht genau. Ich nehme schon Medikamente deswegen, so schlimm ist es.“
    „Du hast wegen allem Bauchschmerzen, das ist genau dein Problem“, behauptet Stefan. Im Hintergrund ist jetzt eine andere Stimme zu hören, die irgendwas in einer anderen Sprache sagt. Wenn ich noch wüsste, wo Stefan genau hin ist, dann könnte ich die Sprache sicher erraten. „Du denkst zu viel und machst zu wenig. Egal ob mit Becki oder mit meinem Auto, ist immer das Gleiche.“
    „Kannst du nicht Jan fragen? Der wohnt doch auch gleich um die Ecke. Und der hat einen Führerschein.“
    „Hast du Jan mal fahren gesehen? Vergiss es. Außerdem habe ich den schon um die Sache mit Becki gebeten. Der hat jetzt eh schon was gut bei mir.“
    „Aber die Sache mit Becki –“
    „Hör zu. Wenn du mein Auto umparkst, dann kannst du meinen Gameboy haben, bis ich wieder da bin. Was sagst du?“
    Zum ersten Mal blicke ich von den schummrigen Ziffern der Wählscheibe auf.
    „Deinen Gameboy?“
    „Genau den.“
    „Den keiner anfassen darf?“
    „Du darfst ihn jetzt anfassen“, eröffnet mir Stefan und fügt seufzend hinzu: „Ich kann es eh nicht verhindern. Der liegt ja auf der Rückbank. Aber wenn du mir hilfst, dann soll es mir recht sein. Dann kannst du ihn meinetwegen haben.“
    „Bis du wieder da bist?“
    „Bis ich wieder da bin. Ist sogar ein Spiel drin, das kannst du spielen. Aber mach dir einen neuen Spielstand und denk gar nicht dran, meinen zu löschen, klar?“
    „Was ist das denn für ein Spiel?“
    „Wirst du schon sehen. Kannst du jetzt endlich rausgehen und mein Auto retten?“
    „Stefan… ich kann doch nicht das Gesetz brechen für diesen Gameboy.“
    „Dann mach es eben für mich“, fordert Stefan. „Einmal über die Straße, das hättest du schon fünfmal machen können in der Zeit, in der wir hier reden. Bestimmt ist es schon elf.“
    Das glaube ich nicht, denn das Glücksrad läuft noch. Aber Stefan hat recht: Wenn ich es mache, dann muss ich es jetzt machen, bevor die Zeit knapp wird und ich hektisch werde. Wenn ich hektisch werde, dann werde ich es auf jeden Fall vergeigen.
    „Ich guck es mir mal an, okay?“, sage ich vorsichtig. „Aber wenn es nicht geht, dann geht es nicht.“
    „Du schaffst das.“ Stefan klingt so optimistisch, dass ich ihm fast glauben möchte. „Denk einfach dran: Gaspedal, Bremspedal, Rückwärtsgang, Vorwärtsgang. Und immer ganz ruhig. Dann kann gar nichts schief gehen.“
    Geändert von Laidoridas (09.09.2019 um 18:38 Uhr)

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    Deus Avatar von Laidoridas
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    Ich bin klatschnass, als ich an der alten Garage ankomme. Natürlich habe ich versucht, mich zu beeilen, aber es hat nichts gebracht. Das ist ein Meer, das da vom Himmel fällt, und ich bin reingestiegen. Vor dem Garagentor suche ich mit den glitschigen Fingern nach dem richtigen Schlüssel im Schlüsselbund, und dann suche ich nach dem richtigen Schlüsselloch. Es ist zappenduster, meine Brillengläser sind voller Tröpfchen und die triefenden Haare hängen mir in die Augen. Und das, obwohl ich Haarausfall habe seit einer ganzen Weile. Es sind wohl immer noch genug Haare, dass sie mir in die Augen geraten können.
    Endlich fährt der Schlüssel ins Schloss und ich kann das Garagentor nach oben hieven. Endlich im Trockenen. Endlich wieder drinnen. Ich drücke den Lichtschalter und suche nach dem Autoschlüssel im Bund. Diesmal geht es schnell. Ein muffiger Geruch dringt aus dem Auto, als ich die Tür öffne. Ich setze mich auf den Sitz und nässe ihn ein. Stefan hasst es, wenn seine Sitze nass werden, aber ich habe ihm ja nicht verschwiegen, dass es regnet.
    Ich drehe mich zur Rückbank um, und da liegt er, der Gameboy. Ich recke mich, bis ich ihn zu fassen kriege. Er liegt ziemlich schwer in der Hand, aber das ist nichts gegen das Gewicht eines Atari oder eines Commodore. Kaum zu glauben, dass da Spiele drauf laufen. Tatsächlich kommt mir jetzt der Gedanke, dass mich Stefan angeflunkert haben könnte. Ich habe das Ding ja noch nie in Aktion gesehen. Stefan ist da immer sehr strikt gewesen. Er hat was unterschrieben, angeblich, dass er den Gameboy niemandem zeigen darf, wenn er eingeschaltet ist, und dass ihn niemand anfassen darf. Klar, der kommt ja auch erst nächstes Jahr auf den Markt. Ich will nicht sagen, dass ich ihm nicht glaube. Es soll ja auch schon andere Geräte geben, die ein bisschen ähnlich sind, und die man nur in Japan oder so bekommt. Und trotzdem ist es schwer zu glauben, dass da wirklich was auf dem kleinen, grünen Bildschirm erscheinen wird, wenn ich ihn einschalte.
    Dot Matrix with Stereo Sounds, steht da. Keine Ahnung, was eine Dot-Matrix ist. Etwas aus der Zukunft.
    Ich drehe das Gerät um und ziehe das Spielmodul heraus, so wie Stefan es auch mal gemacht hat, als ich dabei war. Es ist sofort zu erkennen, dass es kein Modul ist, wie man es im Laden kaufen kann. Nichts Offizielles, eine Vorabversion. Das Modul ist grau und kühl, und es ist nur ein kleiner Blankoaufkleber drauf, ähnlich wie ich sie auf meinen Disketten kleben habe. Mit dickem Filzstift hat jemand die zwei Buchstaben G und U drauf geschrieben. Ich habe keine Ahnung, für was das stehen könnte. Draußen rauscht und prasselt der Regen noch ein bisschen stärker, als ich das Modul wieder in den Gameboy stecke. Hoffentlich sind die Batterien noch aufgeladen, überlege ich. Der hat hier ja schon eine Weile gelegen. Es hilft nichts, ich muss es sofort nachprüfen. Zuerst ist mein Daumen zu nass und schwitzig, um den Einschaltschieber einzurasten, aber dann schaffe ich es doch.
    Die Leuchte, neben der Battery steht, leuchtet jetzt knallrot auf. Ich hoffe mal, das ist ein gutes Zeichen. Auf dem Bildschirm ist ein Nintendo-Schriftzug zu sehen, der langsam nach unten fällt. Dann macht es Pling, und etwas anderes steht groß auf dem Display. Gothic Universe. Ich bin ein bisschen enttäuscht, ich hatte auf was Bekanntes gehofft. Aber wenn Stefan es so lange spielt, muss es was Gutes sein. Ich wähle mit den Pfeiltasten die Option New Game und drücke den A-Knopf. Als nichts passiert, drücke ich den B-Knopf und dann den Start-Knopf, und dann geht es auch schon los.
    Ein kleines Figürchen steht neben irgendwas, und zwei andere steht vor ihm, einer davon mit irgendwas in der Hand. Dann erscheinen große Buchstaben.
    RICHTER: Im Namen KÖNIG RHOBARS II, Träger des Zepters von Varant, Vereiniger der vier Reiche am myrtanischen Meer, verurteile ich diesen Gefangenen…
    PYROKAR: Halt! Gefangener, ich habe dir ein Angebot zu machen: Dieser BRIEF muss den Führer der Feuermagier erreichen.
    HELD: Du verschwendest deine Zeit.
    PYROKAR: Deine Belohnung könntest du selbst wählen. Man wird dir alles geben, was du verlangst.
    HELD: Gut, ich werde deinen BRIEF nehmen. Unter einer Bedingung: Erspart mir den Rest von seinem Gefasel!

    Ich muss grinsen. Und staunen. Das ist schon mehr Text, als ich in jedem anderen Spiel gelesen habe. Und dann auch noch auf Deutsch. Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Es geht noch ein bisschen so weiter, und dann wird eines der Figürchen von einer Klippe in einen Teich geschmissen. Zwei weitere Figürchen tauchen auf und einer scheint das Heldenfigürchen zu verkloppen. Ganz faszinierend, auch wenn ich gar nichts machen kann als Texte wegzudrücken. Jetzt aber kann ich sogar Antworten auswählen. Der Großteil des Displays ist von den ganzen Texten eingenommen, ganz klein oben erscheint das Pixelbild des Gesprächspartners, das ist ein Typ namens Diego. Er ist grün, wie jeder und alles in dem Spiel. Alles ist grün. Das ist gewöhnungsbedürftig, aber okay. Ich wusste das auch schon. Das ist eine der wenigen Sachen, die mir Stefan über den Gameboy verraten hat. Dass alles Grün ist. Hellgrün, dunkelgrün. Aber dafür kann man ihn überall mit hinnehmen. Ich weiß gar nicht, wieso mich das so beeindruckt, diese Eigenschaft des Gameboys, überall mit hingenommen werden zu können. Ich gehe ja sowieso nirgendwo hin. Es ist wohl die Möglichkeit, auf die es ankommt. Die Fantasie. Ich könnte, wenn ich wollte. Und im Moment sitze ich ja immerhin schon mal in einem Auto, draußen in einer Garage, während es regnet. Mit dem Amiga könnte ich hier nicht sitzen.
    Die Garage, fällt mir ein. Ich bin ja immer noch in der alten Garage, und so lange kann es nicht mehr hin sein bis Mitternacht. Nicht, dass Stefan am Ende recht behält und ich von den neuen Besitzern überrascht werde. Das ist eine Begegnung, auf die ich gut verzichten kann. Kurz kommt mir der Gedanke, den Gameboy einfach mit reinzunehmen und das Auto stehen zu lassen. Das wäre vielleicht Diebstahl, aber sicher immer noch legaler, als das was ich eigentlich vorhabe. Fahren ohne Führerschein. Aber das wäre ein Verrat und ich käme mir schäbig dabei vor. Ich bin jetzt schon im Auto, also werde ich das auch durchziehen. So kompliziert sieht das alles auch gar nicht aus, versuche ich mir einzureden. Ein Lenkrad, mit dem man lenkt. Zwei Pedale, eins zum Gasgeben und eins zum Bremsen. Dann noch dieser Ganghebel, mit dem man irgendwie die Gänge einstellt. Und das war es ja fast schon. Es gibt zwar auch noch Knöpfe, aber ich glaube, die sind nicht so entscheidend. Ich werde das schon hinkriegen. Wenn bloß meine Bauchschmerzen nicht schlimmer werden. Ich weiß nicht, ob sie vom Magen kommen oder vom Darm, oder einfach aus allen Eingeweiden auf einmal, aber sie werden eher schlimmer als besser. Vielleicht kommt jetzt noch die Aufregung dazu. Und von der Nässe werde ich bestimmt eine ordentliche Erkältung kriegen, das ist mir jetzt schon klar.
    Ich drücke mich noch durch den Dialog mit Diego durch, laufe ein bisschen mit der Heldenfigur hin und her und speichere das Spiel. Dann schalte ich den Gameboy aus und lege ihn auf den Beifahrersitz. Nur kurz in die andere Garage fahren, und dann kann ich die ganze Nacht damit spielen. Noch einmal tief durchgeatmet. Dann den Schlüssel ins Schlüsselloch am Lenkrad gesteckt und umgedreht.
    Der Motor brummt auf, schrecklich laut trotz des Sturmgetöses draußen. Das Auto fährt gegen die Garagenwand, unaufhaltsam prescht es voran, ich sehe es schon krachend durch den Putz brechen, aber dann tut es doch nichts von alldem und bleibt einfach stehen, mit brummendem Motor.
    Okay. Soweit, so gut.
    Ich bin Stefan dankbar dafür, dass er rückwärts eingeparkt hat. Jetzt muss ich nicht rückwärts ausparken. Das soll ja nicht ganz einfach sein, glaube ich. Ich stelle den Ganghebel auf den ersten Gang ein, lieber nichts überstürzen, und dann drücke ich eins der Pedale. Als nichts passiert, drücke ich das andere, und der Motor dröhnt noch etwas lauter. Aber das blöde Auto fährt immer noch nicht. Ich stelle es in den zweiten Gang, dann den dritten, aber nichts passiert, nur das Dröhnen wird stärker. Es ist wie ein Lautstärkeregler für den Motor, aber das kann es ja nicht sein. Ich drehe ein bisschen am Lenkrad herum, aber das bringt natürlich nichts. Dann kommt mir die rettende Idee. Es gibt ja noch diesen Bremsenhebel, dieses Ding da an der rechten Seite. Die Handbremse. Ich rüttelte ein bisschen daran herum, mit dem Fuß auf dem Pedal, und dann geht alles plötzlich ganz schnell. Das Auto setzt sich in Bewegung und rumpelt aus der Garage.
    Das ist der Moment, ab dem ich nichts mehr sehe. Auf allen Scheiben prasselt der Regen, von irgendwo dringt ein Leuchten zu mir durch, aber keine Ahnung was das ist. Ich fahre jetzt wirklich, begreife ich erst ein paar Sekunden später so richtig, und das Schlimme daran ist, dass ich keinen blassen Schimmer habe wohin eigentlich. Die Scheibenwischer. Ich muss irgendwie die Scheibenwischer aktivieren. Hastig fahre ich mit den Fingern über die Knopfreihe neben dem Lenkrad. Aus den Symbolen wird keiner schlau, also drücke ich sie der Reihe nach.
    „...zurück mit den Hot Pop News bei GT Radio FM! Sascha, du bist heute Nacht unser Mann für die Hot Pop News, hab ich recht?“
    „Sowas von recht, Steffi! Und ich hab wieder einiges für dich mitgebracht, so viel kann ich schon mal versprechen!“

    Stefan hört also GT FM, das hätte ich gar nicht von ihm gedacht. Aber das soll auch nicht die letzte Neuigkeit sein, die ich im Leben mitbekomme, also drücke ich weiter Knöpfe. Ich wundere mich, dass ich noch nicht irgendwo gegen gefahren bin, aber ich weiß auch, dass sich das jederzeit ändern könnte. Das linke Seitenfenster fährt runter und prustet mir Regenwasser ins Gesicht. Hastig drücke ich den gleichen Knopf nochmal und reiße mir die Brille von der Nase, die jetzt so nass und beschlagen ist, dass ich gleich doppelt regenblind geworden bin.
    Endlich erwische ich den richtigen Knopf. Die Scheibenwischer rumpeln los und wischen mir die Sicht frei. Erst jetzt wird mir klar, dass vorne am Auto die Lichter leuchten, was wohl ganz normal ist, nehme ich an. Ich bin auf der Straße und fahre auf eine Hecke zu, ich erkenne die Hecke im Moment gar nicht wieder, aber ich will auf keinen Fall reinfahren. So kräftig ich kann drücke ich das andere Pedal. Die Bremsen quietschen, aber dann, in der gleichen Sekunde, quietscht auch etwas anderes. Jemand quietscht, und ganz kurz taucht ein Gesicht vor dem Fenster auf, das von der Seite herangerast kam.
    Es rumpelt unter meinen Füßen, und aus dem Quietschen wird ein langgezogener Schrei. Das Auto steht.
    Ich wage nicht, mich zu regen. Der Motor dröhnt noch immer, der Regen prasselt manisch, und auch die Scheibenwischer machen immer weiter und weiter. Neben mir auf dem Beifahrersitz liegt der ausgeschaltete Gameboy. Ganz kurz ist da der Moment, in dem ich mir einbilden möchte, mir das menschliche Quietschen und Schreien nur eingebildet zu haben, aber das klappt nur so lange, bis das Stöhnen los geht. Dieses Stöhnen ist gleichzeitig schlecht und gut, wird mir sofort klar: Schlecht, weil ich wirklich jemanden umgefahren habe. Gut, weil ich wenigstens niemanden umgebracht habe. Nicht sofort, jedenfalls.
    Ich reiße die Tür auf und haste nach draußen. Vor dem Auto liegt eine zusammengekauerte Gestalt, die Hände um das rechte Bein geschlungen.
    „Alles in Ordnung?“, brülle ich durch den Regen. „Tut mir leid, dass ich… also…“
    „You hit me!“, brüllt die Gestalt zurück. Ich merke jetzt, dass die Stimme zu einer Frau gehört, einer wohl noch ziemlich jungen und ein bisschen dunkelhäutigen Frau mit mittellangen schwarzen Haaren. Offenbar spricht sie nur Englisch.
    „Yes, I, I know“, stammele ich. „I don’t know how this could happen!“
    „Just where did you come from?“, krakeelt die Frau. „You just came from – from nowhere! Not from the road anyway!“
    Mir ist das alles ziemlich unangenehm. Nicht nur, dass ich diese Frau angefahren habe, jetzt muss ich auch noch Englisch mit ihr sprechen.
    „Sorry, my English isn’t so great“, versuche ich zu erklären. „I try to help you, okay?“
    „I don’t care about your English. You just hit me with your car in the middle of the night! On purpose!“
    „No! No!“, versuche ich ihr eindringlich zu erklären. „Not on purpose! I would never do that, believe me! I didn’t see you!“
    „Whatever“, keift die Verletzte. „Just get me to the hospital. I need this leg fixed right now.“
    „Yes, yes, of course. Just… just get into the car and…“
    „I can’t stand up, idiot! You have to get rid of my skates first.“
    „Of… what?“
    „My inline skates!“ Sie zeigt auf die zwei Dinger an ihren Füßen, die ich noch gar nicht richtig wahrgenommen habe. Inline-Skates, natürlich. Zum Glück ist es nicht weiter schwer, sie ihr von den Füßen zu ziehen. Ich werfe sie schnell durch die offene Tür auf die Rückbank ins Auto und öffne dann die Beifahrertür.
    „Okay, now come into the car.“ Ich fasse sie bei den vom Regen glitschig gewordenen Händen, ziehe sie hoch und schaffe es irgendwie, mit ihr zum Beifahrersitz zu humpeln, wo sie sich ächzend niederlässt. Hastig schlage ich die Tür zu und beeile mich, zur anderen Seite wieder ins Auto zu kommen.
    „Oh, Mist“, sage ich, als ich sie da sitzen sehe. „Can you… can you please stand up again for a second?“
    „You’re kidding! No! No, i can not do that!“
    „It’s just… you… you are sitting on…“
    „This here?“ Jetzt sehe ich, dass sie den Gameboy auf dem Schoß hat. „I’m not sitting on that! Now, could you please stop talking and start driving!“
    „Driving… yes, to the… hospital.“
    Als ich diese Worte stammele, wird mir erst so richtig klar, was das eigentlich bedeutet. Ich muss zum Krankenhaus fahren. Nicht bloß über die Straße zur neuen Garage, was schon schwierig genug ist, wie sich herausgestellt hat, sondern zum Krankenhaus, das ein paar Straßen weiter steht. Ein paar Straßen mit Kreuzungen, Zebrastreifen, Straßenschildern und all sowas. Ich bin kurz davor zu fragen, ob sie selber fahren will, aber ich lasse es dann lieber. Das Bein sieht wirklich übel aus, die halbe Hose ist zerrissen und es ist auch Blut zu sehen. Gut möglich, dass sie Stefans Beifahrersitz einsaut, aber wenigstens dafür fühle ich mich nicht verantwortlich. Das hat Stefan ja mit einkalkulieren müssen, als er mich losgeschickt hat.
    Ich hebe meine Brille auf, die auf der Fußmatte liegt, und dann zögere ich nur kurz, denn mir ist klar, dass ich aus der Nummer jetzt nicht mehr rauskomme. Vielleicht ist es ja gar nicht mehr so schwierig, mit den Scheibenwischern. Es wäre nur nicht so gut, wenn meine Beifahrerin mitbekommt, dass ich das alles zum ersten Mal mache. Wobei sie da womöglich schon so einen Verdacht hat.
    Ich drücke aufs Gaspedal und drehe ruckartig am Lenkrad, um das Auto wieder in Fahrtrichtung zu drehen. Die Frau schnappt nach Luft, aber zu meiner eigenen Überraschung klappt das Manöver ganz gut.
    „You drive like a madman“, kommentiert sie.
    „Sorry“, murmele ich und fahre im zweiten Gang die Straße lang. Im Radio wird ein Song von Talk Talk ausgeblendet, den ich erst jetzt richtig wahrnehme, da er vorbei ist.
    „Da sind wir wieder bei den Hot Pop News auf GT Radio FM, Freunde der Nacht. Sascha, lass hören, was ist die Hot News des Tages?“
    „Happy Birthday, Queen of Pop! Ja, richtig gehört, Madonna ist vor ein paar Minuten dreißig Jahre alt geworden.“
    „Madonna und dreißig? Die Queen of Pop, alt und runzlig? Schwer zu glauben, Sascha!“
    „Ich weiß, Steffi, das ist nicht leicht zu verdauen. Bestimmt auch nicht für ihren Sean, der sich heißen Insider-Informationen zufolge bereits nach einer Jüngeren umschaut.“
    „Was du nicht sagst, Sascha.“
    „In Hollywood redet man über nichts anderes in diesen Tagen. Die Gerüchteküche brodelt, und manch einer will schon die ersten grauen Strähnen gesehen haben. Aber das ist der Lauf der Zeit, nicht wahr? Du hast ja auch nicht immer beim Radio gearbeitet, Steffi!“
    „Da sagst du was, Sascha, haha!“
    „Madonna ist alt, das ist die Hot News des Tages. Aber in diesem Song, den wir jetzt für euch spielen, da ist Madonna noch knackige Achtundzwanzig. So wie wir sie lieben! Nur für euch, liebe G-Townies: La Isla Bonita!“

    „What’s that language they speak on the radio?“, fragt die Frau auf dem Beifahrersitz, während ich mich aufs Geradeausfahren konzentriere.
    „That’s German“, erkläre ich, ohne den Blick von der nassen Straße abzuwenden. „You know where you are, right? This is Germantown.“
    „Ah, really? I didn’t even know something like that existed. Guess I got lost a little. I’m not from here, you know. I’m from Guatemala.“
    „Guatemala, really?“ Mir ist es gar nicht so recht, dass ich beim Autofahren nun auch noch auf Englisch plaudern soll, und das auch noch, während La Isla Bonita läuft, ein Lied, das ich ganz gerne mag und lieber in Ruhe gehört hätte, aber nachdem ich die Frau schon angefahren habe, will ich nicht auch noch unhöflich wirken. „So what brought you to Kingston?“
    „I’m a professional inline skater, as you can see. I’m training for the World Games.“
    „That’s something like, like Olympia, I guess?“
    Ich habe einen kurzen Blick zur Seite riskiert und blicke ihr lange genug ins Gesicht, um zu bemerken, dass sich ihre Augen ein wenig verengen. „It’s not Olympia. It’s something entirely different.“
    „Okay. I… I don’t even care about Olympia, you know? It’s quite boring, really. I’d rather watch the Glück… the Wheel of Fortune, or… or maybe even Alf –“
    „I love Olympia. Don’t get me wrong. I love it, with all my heart.“
    „It’s, of course, it’s a great thing, Olympia, it’s… people from all over the world… I mean, even the greatest things can become a bit boring from time to time, right? In a good way, of course.“
    „But the World Games, they’re just not Olympia. It’s something entirely different.“
    „Yes… yes, okay“, murmele ich, als mir plötzlich bewusst wird, dass ich rechts abbiegen muss. Wahrscheinlich müsste ich jetzt blinken, aber da ich keine Ahnung habe, wie das geht, lenke ich das Auto einfach nach rechts. Zu meiner Erleichterung ist das tatsächlich gar nicht so schwer. Die Reifen schrammen zwar hörbar am Bürgersteig entlang, aber es hat alles funktioniert. Ich bin auf der richtigen Straße und muss jetzt nur noch geradeaus fahren, um zum Krankenhaus zu kommen. Sogar der Regen hat ein bisschen nachgelassen.
    „You know, they always say, Guatemala, that’s no country for inline skaters“, fährt die Angefahrene fort. „And not for inline skating women, especially. Women in Guatemala should not skate with their inline skates, that’s what they say all the time. But I don’t listen to that crap. I want to be the first woman ever to participate in the World Games for my country, and I’m training hard for it.“
    „But why here in Kingston? If… I may ask?“
    „I’m a member of the Kingston Inline Skating Truckers’ Club. Since January. So I thought, why not train with my fellow club members?“
    „You’re a trucker, really?“, erwidere ich, während ein schwarzes Auto links auf der Gegenfahrbahn an mir vorbeisaust. „That’s great.“
    „No, of course I’m not a trucker“, stellt sie klar. „It’s the only inline skating club I could afford. They all have these horrendous membership fees. All except this one and a club in New Zealand. But that’s way too far away, of course. That’s not even the same continent.“
    „Yes, of course.“
    Die Stadt ist voller Trucker, aber ich wusste gar nicht, dass einige von ihnen in ihrer Freizeit mit Inline-Skates fahren. Es könnte mir im Moment aber auch nicht egaler sein.
    „So I’m training every day and night to be the first woman of Guatemala to participate in the World Games“, erklärt die Frau weiter. „I’m not sleeping. I’m hardly eating and drinking. It’s just me and my inline skates. Me and my dream.“
    „That’s so great“, sage ich. „I’m sure you’ll make it to the World Games.“
    „I’m not going to make it.“ Ihre Stimme ist plötzlich leiser, aber umso feindseliger geworden. „I’m not going to make it because you hit me with your car.“
    Ich habe plötzlich einen ganz schönen Kloß im Hals.
    „I’m really, really sorry about that.“
    „Yes, I know. But all your being sorry won’t make my leg heal. Maybe I’ll never skate again. Maybe all that training… all for nothing...“
    Ihre Stimme ist noch leiser geworden. Das wird mir jetzt richtig unangenehm. Ich glaube fast, sie will anfangen zu weinen, aber zum Glück sind wir gerade am Parkplatz des Krankenhauses angekommen.
    „Hey, you know what?“, rufe ich ihr etwas zu laut zu. „We’re at the hospital. I’m now going to park the car.“
    Die letzten Worte sage ich vor allem, um mich selbst davon zu überzeugen. So richtig klar ist das ja noch lange nicht, dass ich das mit dem Parken wirklich hinbekommen werde. Immerhin habe ich sie damit aber erfolgreich vom Weinen abgehalten, denn sie wischt sich jetzt einmal kurz mit den Fingern durch die Augen und scheint sich dann wieder zu sammeln.
    „They have the best doctors here. The best doctors in whole Benton, maybe in… I don’t know, maybe in whole Iowa. They are really good. They heal a leg in no time, I guess.“
    „We’ll see“, sagt sie matt. „Is this a German hospital, as well?“
    Ich nicke, während ich mir auf die Unterlippe beiße und ganz vorsichtig auf einen freien Parkplatz zusteuere. Zum Glück ist der Parkplatz nicht so stark ausgelastet und ich muss nicht zwischen zwei Autos einparken. Da kann eigentlich nicht viel schiefgehen, sage ich mir.
    „It’s the hospital of Germantown“, erkläre ich derweil. „But don’t worry, I’m sure they speak better English here than I do. I just don’t get out of Germantown so often, you know? In the radio, they would say, I’m a Germantownie through and through.“
    Ich weiß nicht, warum ich das gesagt habe. Ich hasse es, wenn sie im Radio immer von den Germantownies, oder, noch schlimmer, von den G-Townies reden. Es ging mir wohl hauptsächlich darum, überhaupt irgendwas zu sagen.
    „I’m surprised you folks have your own radio station. How many people live in Kingston? Five hundred, six hundred? And how many of these are Germantown residents?“
    „I don’t… maybe two hundred or so? It’s a small radio station. And not a very good one. But it’s better than nothing, I guess.“
    „So, what is this Germantown, exactly? Is it – oh boy, did you hit that trash bin?“
    „Yes, that… that was really hard to see, and… alright, we’re here.“
    Ich atme tief aus, bis mir auffällt, wie auffällig das sein muss. Aber die Erleichterung, erfolgreich eingeparkt zu haben, ist nur schwer zurückzuhalten. Ich denke sogar daran, die Handbremse wieder einzurasten, oder wie man dazu sagt. Scheibenwischer, Motor, Radio, alles verstummt, als ich den Schlüssel drehe und herausziehe. Die Stille fühlt sich an wie eine Triumphfanfare, aber nur für einen kurzen Moment. Mir ist schon klar, was die Inline-Skaterin da drin den Ärzten gleich erzählen wird, die Wahrheit nämlich sehr wahrscheinlich. Und dann wird die Polizei gerufen werden, und die wird Fragen stellen, zum Beispiel die nach meinem Führerschein. Plötzlich ist da wieder dieser harte, zupackende Schmerz in meinem Bauch, und dazu ein leichtes, kühles Kribbeln.
    „Everything okay?“, fragt jetzt die Frau, und ich beeile mich, zu nicken.
    „Let’s get you to the hospital.“
    Der Regen ist zu einem mäßigen Nieseln geworden. Ich helfe ihr raus und sie stützt sich auf meiner Schulter ab. Jetzt wird mir erst bewusst, dass sie auf Socken läuft, die schon ganz durchnässt und dreckig sind. Ich will erst was sagen, aber eine bessere Idee als sie schnell auf Socken ins Krankenhaus zu bringen, habe ich auch nicht. Die Rollen kriegt man ja so ohne Weiteres auch nicht von den Inline-Skates abgeschraubt, und meine eigenen Schuhe würden ihr bestimmt nicht passen.
    Als ich gerade die Tür zumachen will, da fällt mir wieder der Gameboy ins Auge, den sie auf dem Armaturenbrett liegen gelassen hat. Den kann ich unmöglich da liegen lassen. Wenn der geklaut wird, habe ich richtig Ärger mit Stefan, und auch Stefan hat richtig Ärger. Wer weiß schon, was der alles unterschreiben musste, um an das Vorabmodell zu kommen. Auch wenn ich mir ein bisschen blöd dabei vorkomme, greife ich also nochmal ins Auto und nehme den Gameboy heraus, bevor ich die Tür schließe. Ich wickele ihn ein bisschen in meine Jacke ein, damit er nicht zu nass wird, und dann arbeite ich mich mit der humpelnden Inline-Skaterin über den spärlich beleuchteten Parkplatz zum Eingang des Krankenhauses vor.
    „You asked about Germantown, right?“, nehme ich den Gesprächsfaden wieder auf, weil mir das Schweigen unangenehm wird. „It’s more or less half of Kingston, really. We are all… ähm… children… grandchildren...“
    „Descendants?“, hilft sie mir auf die Sprünge.
    „Yes, descendants. Of the people who came to America in the nineteenth century, from Germany. My grandgrandmother came from Detmold, for example. And my grandgrandfather from Lemgo. They never met in Germany. Funny, right? Many of these immigrants never left the town they built here, and their children… their descendants, they also didn’t. Many of them, at least. I’m one of these people. They call this part of town Germantown since the Forties or so.“
    „And none of you want to leave? You want to stay here forever?“
    „Well… some do want to leave, but I…“ Die Frage ist mir ein bisschen unangenehm. „I don’t know. I’m not participating in Olympia or something. Or… or in the World Games. There’s just no need to get out of town.“
    Wir humpeln jetzt zusammen die Treppe zum Eingang hoch. Mir geht langsam die Zeit aus, um meine Bitte an sie zu richten.
    „It’s not a very big hospital, is it?“, bemerkt sie beim Anblick des tatsächlich nur dreistöckigen Gebäudes. Das sind nicht besonders viele Stockwerke für ein Krankenhaus.
    „Ähm, there’s something I want to ask you“, beginne ich endlich und wage es nicht, sie dabei anzusehen. „If the doctors ask what happened, could you please…“
    Sie guckt mich irritiert an, ich bin nicht ganz sicher, ob sie mich verstanden hat, weil ich meine Sätze vielleicht ein bisschen zu sehr vernuschelt habe. Aber dann ist das Gespräch auch schon beendet, weil die große Eingangstür aufgeht und zwei Ärzte mit einer Trage herausstürmen.
    „Willkommen im Peter-Hafftiz-Hospital Germantown“, begrüßt mich einer der beiden, ein Bärtiger. „Wir haben Sie auf der Überwachungskamera gesehen.“
    „Da dachten wir, dass wir Ihnen besser entgegen kommen“, ergänzt der andere, ein Glatzkopf. „Wir bringen Sie sofort in die Notaufnahme.“
    „Das ist sehr freundlich von Ihnen“, sage ich etwas überrumpelt. Die beiden Ärzte hieven die Sportlerin auf die Trage, und dann gehen wir gemeinsam durch den Eingang in die warme, trockene und vor allem gleißend hell erleuchtete Eingangshalle.
    „Doktor Hermann!“, brüllt der Bärtige dabei, und mir ist nicht ganz klar in wessen Richtung. „Doktor Hermann, wir haben hier eine Beinfraktur! Notfall-OP bereitmachen!“
    „Was ist denn überhaupt passiert?“, fragt mich der Glatzkopf. „Das sieht ja gar nicht gut aus.“
    „Do you speak English?“, geht die Verletzte dazwischen, bevor ich etwas sagen kann.
    „Was hat sie gesagt?“, fragt mich der Glatzkopf.
    „Ob Sie Englisch sprechen“, erkläre ich.
    „Leider nicht“, erwidert er und auch der Bärtige schüttelt den Kopf.
    „Wir sind beide nie aus Germantown herausgekommen.“
    „Wir sind Buddes“, sagt der Glatzkopf.
    „Original-Buddes“, ergänzt der Bärtige. „Wir sind Brüder. Dr. Friedrich Budde.“
    „Und Dr. Simon Budde“, stellt sich der Glatzkopf vor. „Sogar die Namen stammen noch von unseren Vorfahren aus dem letzten Jahrhundert. Wir sind so deutsch wie sonst nichts in Kingston.“
    „So leid es uns tut.“
    „Ja, so leid es uns tut.“
    „Halb so wild“, sage ich. „Also, was passiert ist… ich war gerade mit dem Auto unterwegs, als ich sie auf der Straße liegen gesehen habe. Da habe ich sie natürlich mitgenommen zum Krankenhaus.“
    „Aber wie ist es zu der Verletzung gekommen?“, hakt Dr. Friedrich Budde nach. „Das haben Sie doch sicher schon in Erfahrung gebracht, nicht wahr?“
    „Ja, natürlich“, sage ich, während ich den Ärzten und der Trage durch einen Flur folge. Mir ist klar, dass ich nicht zu weit von der Wahrheit abweichen darf. Wenn diese Ärzte lange genug auf die Wunde gucken, wissen die bestimmt schon selbst, was passiert sein muss. Das sind ja schließlich Profis. „Sie wurde angefahren, von einem Auto. Beim Inline-Skating. Sie ist Mitglied dieses, dieses Trucker-Clubs.“
    „Ein Trucker-Club?“, wiederholt Dr. Simon Budde mit gekräuselter Stirn.
    „Ein Inline-Skating-Trucker-Club“, präzisiere ich. „Sie stammt aus Guatemala und möchte bei den sogenannten World Games mitmachen. Das ist wohl so eine Art Olympia. Und als sie dafür am Trainieren war, da… ja, da hat sie einfach einer mit dem Auto umgefahren. Fahrerflucht. Die Leute werden immer rücksichtsloser.“
    Ich habe zwar ein schlechtes Gewissen, als ich das erzähle, bin aber auch ganz zufrieden mit mir. Besonders die letzten Sätze sind mir gut gelungen, finde ich. Erstmal werden die mir das schon abkaufen. Zumindest so lange, bis die Patientin hier auf jemanden trifft, der Englisch versteht.
    „In den OP“, ruft der bärtige Budde einer Krankenschwester zu, die wir im Gang treffen. Aus einer Tür kommt jetzt eine andere Frau gelaufen mit Stift und einem Aufkleberbogen in der Hand.
    „Name?“, fragt sie und läuft jetzt mit uns neben der Trage her.
    Ich beuge mich über das Gesicht der Verletzten. Ich frage mich, ob das Schweiß oder Regenwasser auf ihrer Stirn ist.
    „They want to know your name. What’s your name?“
    „Dalia Soberanis“, sagt sie, und ich wiederhole den Namen noch einmal zur Sicherheit.
    „What did you tell them?“, will sie wissen.
    „They wanted to know what happened“, erkläre ich.
    „You did tell them the truth, didn’t you?“
    „Yes, I…“
    „Did you tell them something about Olympia? I’m not going to Olympia.“
    „I didn’t tell them that. I just said that the World Games –“
    Die Aufkleberdame schiebt mich plötzlich von der Trage weg.
    „Entschuldigen Sie, aber Sie müssen jetzt zurückbleiben. Wir müssen operieren. Kein Zutritt für Angehörige.“
    Sie hat den Namen Dalia Soberanis ein paar Mal auf die Aufkleber geschrieben und klebt jetzt einen davon an die Seite der Trage.
    „Sie können solange im Wartezimmer bleiben. Wir rufen Sie dann auf.“
    „Ich… also, ich bin ja kein Angehöriger, ich –“
    „Bitte warten Sie einfach im Wartezimmer. Durch diese Tür hier bitte. Wir melden uns bei Ihnen.“
    „Keine Sorge, wir machen das schon“, ruft mir Dr. Friedrich Budde noch zu und hebt zuversichtlich grinsend den Daumen, bevor Dalia durch eine große Doppeltür in den OP-Raum gebracht wird. Kurz darauf ist die Tür zu und ich stehe allein auf dem Gang. Anscheinend ist die Tür sogar ziemlich schalldicht, denn auf einmal fühle ich eine unangekündigte Stille auf mir lasten. Ich hätte nicht geglaubt, dass es in einem Krankenhaus so still sein kann. Nach ein paar Sekunden höre ich dann aber doch dumpfe Stimmen und leises Gepiepse durch die Türen, vermutlich war es also nur der erste Eindruck.
    Ich überlege, ob ich einfach abhauen soll. Niemand hat nach meinem Namen gefragt. Ich kann einfach wegfahren, so einfach wie das eben ist mit mir und dem Fahren, und mit ein bisschen Glück werde ich nie wieder von der ganzen Sache hören. Aber der eine Arzt hat ja von einer Überwachungskamera gesprochen, und vielleicht haben sie Stefans Auto auf Videofilm. Mit Nummernschild und allem, und auch mit meinem Gesicht natürlich. Wenn ich jetzt einfach abhaue, dann mache ich mich wahrscheinlich verdächtig, und dann werden sie auf dem Videofilm nachschauen und die Polizei benachrichtigen. Wahrscheinlich ist es klüger, wenn ich erst einmal hier bleibe und noch einmal mit der Inline-Skaterin, mit Dalia rede, nach der OP. Wenn alles gut verläuft und ihr eine schnelle Heilung in Aussicht gestellt wird, dann hat sie vielleicht gar keinen Grund dazu, mich der Polizei zu melden. Wir haben uns ja auch ganz gut unterhalten, jedenfalls zeitweilig, und ich habe das Gefühl, dass sie mich jedenfalls nicht völlig verachtet. Vielleicht, wenn wir noch einmal ins Gespräch kommen und wir uns so richtig gut verstehen, vielleicht kann ich ihr dann ja auch alles erzählen und ihr begreiflich machen, dass ich in die ganze Sache nur von Stefan hinein gequatscht wurde, und dass es mir wirklich sehr leid tut. Das sind natürlich ziemlich viele Vielleichts, und nur weil mich ihre Mimik manchmal ein bisschen an Becki erinnert hat, bedeutet das noch lange nicht, dass wir uns ganz sicher so richtig gut verstehen werden. Aber einfach abhauen, das kann ja jeder. So einer will ich nicht sein. Wenn ich ganz ehrlich bin, und das kann ich ja sein, dann ist es aber wohl nicht zuletzt auch der Horror vor dem Autofahren, der mich dazu bringt, die Tür zum Wartezimmer zu öffnen und mich auf einen von vielen freien Stühlen zu setzen. Ich will wirklich nicht schon wieder Auto fahren müssen. Da sitze ich lieber in einem Krankenhauswartezimmer für werweißwielange.
    Ich habe ja zum Glück den Gameboy dabei.
    Geändert von Laidoridas (22.09.2019 um 18:56 Uhr)

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    Deus Avatar von Laidoridas
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    HELD: Was machst du hier?
    GOR NA KOSH: Ich jage MINECRAWLER.
    HELD: Kannst du mir was über die Crawlerjagd erzählen?
    GOR NA KOSH: Beim Crawlerjagen gibt’s nur eine Regel. Wenn du sie siehst, lauf auf sie zu und töte sie, so schnell du kannst. Kämpfe ohne Furcht und töte ohne Gnade.

    Leichter gesagt als getan, denke ich mir. Die Kämpfe in diesem Spiel sind alles andere als einfach. Eigentlich ist gar nichts besonders einfach in diesem Spiel. Damit ich etwas vom Boden aufheben kann, muss ich die A-Taste gedrückt halten und gleichzeitig die Pfeiltaste nach vorn drücken. Und um eine verschlossene Truhe zu öffnen, muss ich sogar bei gedrückter A-Taste die Pfeiltasten nach links und rechts in einer bestimmten Reihenfolge drücken. Ich weiß nicht, wer sich das ausgedacht hat, aber inzwischen habe ich mich ganz gut daran gewöhnt. Nur die Kämpfe sind immer noch etwas schwierig. Bei dem Spiel handelt es sich nämlich um ein Fantasy-Spiel, ein bisschen so wie Ultima, und deshalb gibt es eine Menge grüner Tiere und Monster, gegen die man kämpfen soll. Außerdem wimmelt es von Männern mit Schwertern, kleinen grünen Männern mit kleinen grünen Schwertern. Ich frage mich, wie das alles auf dem C64 aussehen würde. Welche Farbe hätten wohl die Minecrawler? Grün wahrscheinlich nicht. Diese Tiere leben in den Tiefen eines Berges, und in solchen Umgebungen sind die Tiere nicht grün. Wenn ich mir eine Farbe für sie ausdenken müsste, dann wäre es wahrscheinlich schwarz. Ich glaube, das wäre am gruseligsten.
    Jetzt soll ich ein Zahnrad aus einem verlassenen Bereich der Mine holen. Keine Ahnung, ob das gut geht. Ich vermute, es wird sich dann nicht mehr länger vermeiden lassen, gegen die Minecrawler zu kämpfen. Bisher habe ich noch keinen zu Gesicht bekommen, aber dieses merkwürdige Fiepen, das der Gameboy jetzt ausstößt, das ist bestimmt einer von denen.
    Ein ganz anderes Geräusch lässt mich vom Bildschirm aufblicken. Die Tür ist aufgegangen und ein Arzt guckt zu mir rein. Es ist ein jugendlicher Typ mit schulterlangen roten Haaren und einer Brille, die aussieht, als ob sie lieber eine Sonnenbrille wäre.
    „Kommen Sie bitte?“
    Ich nicke, nuschele etwas, speichere ab und schalte den Gameboy aus. Dann folge ich dem Arzt in ein Untersuchungszimmer, das etwas weiter hinten im Gang liegt. Er bittet mich, Platz zu nehmen und setzt sich mir gegenüber hinter einen schmalen Schreibtisch, auf dem allerlei Dokumente ausgebreitet sind. Das Spiel hat mich gut abgelenkt, aber plötzlich ist die ganze Aufregung wieder da. Hoffentlich ist nicht irgendwas richtig schiefgelaufen bei der Operation.
    „Was haben Sie denn da?“
    „Ach, das“, sage ich und lege den Gameboy auf den Tisch. „Das ist ein Gameboy. Die Zukunft der Unterhaltungselektronik.“
    „So so. Also, dann erzählen Sie mal“, fordert der Arzt. „Wo drückt denn der Schuh?“
    Ich bin so verblüfft, dass ich eine Sekunde brauche, bevor ich antworten kann. „Das ist ein Missverständnis, glaube ich. Ich bin gar nicht hier, um mich untersuchen zu lassen. Ich habe bloß jemanden begleitet. Die, die Inline-Skaterin. Dalia Soberanis.“
    „Ach“, sagt der Arzt, schiebt die Brille hoch und kratzt sich an der Nase. „Da haben die Fräuleins im Sekretariat wohl etwas durcheinander gebracht. Es ist mitten in der Nacht, da kann so etwas schon einmal vorkommen.“
    „Natürlich. Überhaupt kein Problem.“
    „Aber da Sie schon einmal hier sind“, fährt der Arzt fort, „kann ich Ihnen ja vielleicht trotzdem irgendwie weiterhelfen. Oder sind Sie ganz und gar gesund?“
    „Naja. So würde ich das jetzt nicht sagen.“
    „Aha“, sagt der Arzt zufrieden. „Wusste ich es doch.“
    „Ich habe diese Bauchschmerzen, seit ein paar Wochen schon. Ich weiß nicht, ob sie vom Magen oder vom Darm her kommen, aber sie sind ziemlich unangenehm. Ich war schon bei einem Arzt deswegen, aber…“
    „Der konnte Ihnen nicht helfen, wie? Dann lassen Sie mich mal machen.“ Er steht auf und schüttelt mir die Hand. „Dr. Mensenkamp. Setzen Sie sich bitte mal aufs Bett.“
    „Okay. Ja, gut.“
    Ich stehe auf und tue, wir mir geheißen. Der Doktor kommt mit einer Lampe und leuchtet mir erst in die Augen und dann in die Ohren.
    „Ist mit den Ohren alles in Ordnung?“
    „Eigentlich schon“, sage ich. „Ich habe nur dieses Problem, also, eigentlich ist es gar kein richtiges Problem, aber… jedenfalls, wenn ich so bestimmte Muskeln im Gesicht bewege, dann knackt und knirscht es wie verrückt in den Ohren.“
    „Ach ja?“
    „Man gewöhnt sich aber daran. Da müssen Sie jetzt nicht unbedingt was machen, die Bauchschmerzen sind viel schlimmer.“
    „Ich muss Sie im Ganzen untersuchen, wenn ich Ihnen helfen soll. Verstehen Sie das bitte. Was die Ohren betrifft, da wird sich wohl einfach eine Menge Schmalz angesammelt haben. Haben Sie den mal entfernen lassen?“
    „Ja“, sage ich wahrheitsgemäß. „Hat aber nichts gebracht.“
    „Dann wurde das wohl nicht richtig gemacht“, konstatiert Dr. Mensenkamp. „Sie sollten das nicht auf sich beruhen lassen. Wenn sich der Schmalz erst einmal fest gesetzt hat, dann kriegen Sie den nie mehr raus.“
    „Okay“, sage ich. Wahrscheinlich ist es dann längst zu spät.
    „Machen Sie mal den Mund auf.“
    Vorsichtig mache ich den Mund auf, und der Arzt steckt mir eines dieser furchtbaren Holzplättchen rein, die mich immer würgen lassen. Auch jetzt wieder.
    „Sie haben ja ordentlich Belag auf der Zunge.“
    „Ja, ich bin immer so ein bisschen krank“, versuche ich zu erklären. „Immer so ein bisschen erkältet. Vielleicht kommt das daher.“
    „Haben Sie es mal mit einem Zungenschaber versucht?“
    „Ja, aber...“ Ich hasse diese Dinger, aber das will ich dem Arzt nicht so offen sagen. „Es hat nicht so richtig gut geklappt.“
    „An Ihrer Stelle würde ich da nicht locker lassen“, rät mir der Arzt. „Es geht ja schließlich um Ihre Zunge. Können Sie den Kopf bitte etwas anheben?“
    Ich will noch etwas sagen, aber dann weiß ich plötzlich nicht mehr, wie mir geschieht. Der Arzt hat von irgendwo ein langes Wattestäbchen hergeholt, und kaum habe ich das mitbekommen, da hat er es mir auch schon mit voller Wucht ins Nasenloch gerammt. Erst ins linke, dann ins rechte. Es fühlt sich an wie zwei Stiche direkt ins Gehirn.
    „Das ist ein bisschen unangenehm“, sagt Dr. Mensenkamp, was der ganzen Aktion nun wirklich so überhaupt nicht gerecht wird. „Aber jetzt haben Sie es ja hinter sich.“
    „Sie... hätten mich ruhig warnen können.“
    „Ach wissen Sie, für mich ist das ja Routine. Ich taste jetzt einmal Ihren Schädel ab, nicht erschrecken.“
    Das Gesicht des Doktors ist auf einmal ganz dicht vor meinem eigenen, als seine Finger mit festem Druck über meine Kopfhaut fahren. Besonders angenehm ist das nicht, aber ich achte gar nicht richtig darauf, weil ich in Gedanken immer noch bei dem Wattestäbchen in meinen Nasenlöchern bin.
    „Was ist das denn da rechts?“, will der Arzt wissen.
    „Ach, das“, sage ich. „Das ist so ein Blutschwämmchen, das habe ich schon, seit ich ganz klein bin.“
    „Und wollen Sie das nicht mal wegmachen lassen?“
    „Eigentlich schon. Ich war auch schon mal bei einem Hautarzt deswegen, schon vor vielen Jahren.“
    „Und?“
    „Der meinte, das sei eine Schönheitsoperation und ziemlich riskant. Deswegen hat er mir davon abgeraten.“
    Dr. Mensenkamp tastet jetzt ganz ausgiebig am Blutschwämmchen herum.
    „Das kann aber auch auf die Schädeldecke drücken, wissen Sie?“, klärt er mich auf. „Unter der Haut kann das noch viel größer sein, und wenn es dann auf die Schädeldecke drückt, dann haben Sie den Salat.“
    „Noch viel größer?“ Das erschreckt mich jetzt doch etwas. „Wie bei einem Eisberg?“
    „Das ist ein sehr guter Vergleich.“ Der Doktor nickt zufrieden. „Sie sollten da wirklich mal was machen lassen. Kann ich Ihnen nur zu raten.“
    „Hm“, mache ich. Eigentlich hätte ich das Ding sowieso am liebsten weg. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Becki so begeistert davon wäre, wenn sie es mal entdecken würde. Bisher ist es dazu natürlich noch nicht gekommen, denn es liegen ja immer Haare über dem Blutschwämmchen, und so nah, dass sie mir durch die Haare wuscheln würde, stehen wir uns dann eben doch nicht. Aber wenn es mal dazu käme, dann wäre es wohl auch nicht so angenehm, wenn Becki direkt beim ersten Wuscheln auf so ein komisches Ding stoßen würde. Manchmal habe ich schon gedacht, dass mich das Ding vielleicht für eine Komparsenrolle bei einem Film über außerirdische Parasiten qualifizieren könnte, denn so etwas Echtes sieht ja meistens besser aus als jeder Spezialeffekt. Aber so fies ist es dann wahrscheinlich doch nicht. Und ein Parasit müsste sich wohl auch mal bewegen, um so richtig gruselig zu sein.
    „Machen Sie sich bitte obenrum frei“, fordert der Arzt. Ich ziehe meinen Pullover und mein T-Shirt aus und lege mich aufs Bett.
    „Dass Sie zwei unterschiedlich große Beine haben, das wissen Sie, oder?“
    „Nein“, sage ich verdutzt. „Das wusste ich noch nicht. Haben Sie das so direkt gesehen?“
    „Ja, das sehe ich an Ihrem ganzen Gang“, erklärt Dr. Mensenkamp. „Das ist sofort zu sehen, dass bei Ihnen da etwas nicht im Gleichgewicht ist. Und jetzt, da Sie hier liegen, ist es offensichtlich: Ihr linkes Bein ist etwas kürzer als das rechte. Das erschwert das Gehen ganz gewaltig. Sie werden das sicher schon gemerkt haben, oder?“
    „Ich weiß nicht. Ich war jetzt nie so der Sportlichste, aber…“
    „Natürlich nicht, mit solchen Beinen. Kaum zu glauben, dass ich der Erste bin, der Ihnen davon erzählt.“
    „Ich höre davon wirklich zum ersten Mal.“
    „Ich kann Ihnen nur raten, da mal etwas machen zu lassen. Im Alter wird das nicht besser, ganz im Gegenteil. Dann leiden die Gelenke umso stärker, je länger Sie das so belassen. Es gibt ja heutzutage sehr verträgliche Methoden, solche Längenunterschiede operativ anpassen zu lassen, da brauchen Sie gar keine Scheu vor zu haben. Mein Cousin hat das auch machen lassen, der ist ein ganz neuer Mensch seitdem.“
    „Ich denk mal drüber nach“, sage ich. Ich weiß aber genau, dass ich niemals eine Operation durchführen lassen würde, wenn es nicht ganz dringend nötig ist. Und so richtig nötig kommt mir die Sache mit den Beinen im Moment noch nicht vor. Vielleicht hat Dr. Mensenkamp auch einfach einen Knick in der Optik.
    „Lassen Sie mal sehen“, murmelt der Arzt und drückt jetzt mit den Daumen auf meinem Bauch herum. Das ist ziemlich unangenehm, und so richtig schmerzhaft wird es, als er eine bestimmte Stelle erwischt, an der er hartnäckig weiter herumdrückt.
    „Das ist es, oder?“
    „Ja“, stöhne ich.
    „Davon geht der Schmerz aus?“
    „Genau das ist die Stelle.“
    „Gut, gut, hm, hm.“ Endlich lässt er von mir ab. „Sie können sich jetzt wieder ankleiden.“
    Das lasse ich mir nicht zweimal sagen. Schnell ziehe ich mir mein T-Shirt wieder über.
    „Und, was glauben Sie, wo die Schmerzen herkommen?“, frage ich, während ich in den Pullover schlüpfe.
    „Chronische Überreizung der Magenschleimhäute.“ Der Arzt geht zu einem der Schränke und holt etwas heraus. „Nehmen Sie das hier. Einmal genügt, das sollte helfen.“
    Er drückt mir ein kleines, glänzendes Tütchen in die Hand. Es erinnert mich ein bisschen an eine winzige Portion Brausepulver, aber als ich es aufmache, sind darin kleine, runde, weiße Kügelchen.
    „Das ist aber keine Homöopathie, oder?“ Davon halte ich nicht besonders viel.
    „Ich bitte Sie.“ Der Doktor wirkt ernsthaft verstimmt nach dieser Frage, aber zum Glück nur für einen Moment. „Das Peter-Hafftiz-Hospital ist vielleicht nicht das Größte, aber es hat einen guten Ruf. Da können Sie sich überall erkundigen.“
    „Ich meine ja nur, weil…“
    „Nun nehmen Sie es schon.“ Er geht zu einem Wasserspender, der in einer Ecke des Raumes steht, und zapft für mich Wasser in einen Pappbecher. Der Becher ist ziemlich staubig, wie mir sofort auffällt, als ich ihn in der Hand halte. Es schwimmen auch ein paar Fusseln im Wasser.
    „Vertrauen Sie mir, es wird Ihnen schnell besser gehen. So eine Überreizung ist etwas ganz Natürliches, das haben viele Leute.“
    Alles in mir sträubt sich dagegen, ein Medikament zu nehmen, von dem ich nicht einmal weiß wie es heißt oder was in der Packungsbeilage steht. Und Fusselwasser trinke ich auch nicht gern. Aber so auffordernd wie mich Dr. Mensenkamp anschaut, geht es einfach nicht anders. Ich kippe mir die Kügelchen in den Mund und trinke den Becher leer.
    „Na also“, sagt der Doktor lächelnd und nimmt mir den Becher wieder ab. „Wir werden Sie über Nacht zur Überwachung hier behalten.“
    „Ich… soll hier schlafen? Ich dachte, es wäre nichts Schlimmes?“
    „Ist es auch nicht“, erwidert Dr. Mensenkamp. „Aber es kann eben immer etwas passieren. Da ist es dann besser, wenn jemand in der Nähe ist. Keine Sorge, ich komme jetzt mit Ihnen in die Patientenaufnahme, dann brauchen Sie sich um nichts zu kümmern.“
    Ich habe das Licht angelassen, fällt mir urplötzlich ein. Das Licht in der Garage brennt noch, und das Garagentor ist auch offen. Das wird Stefan nicht gefallen, wenn sich die neuen Besitzer deswegen beschweren. Aber das ist längst nicht der einzige Grund, weshalb ich nicht über Nacht im Krankenhaus bleiben möchte. Es ist ja gar nicht so, dass ich etwas dagegen habe, wenn sich jemand einmal ernsthaft um meine Bauchschmerzen kümmert. Aber doch nicht so, ganz ohne Vorwarnung. Auf einen Krankenhausbesuch hätte ich mich lieber eine Weile lang eingestellt, um nicht völlig unvermittelt in eine so neue Situation geworfen zu werden. Jetzt scheint es aber nicht mehr anders zu gehen. Dr. Mensenkamp ist sich seiner Sache sehr sicher, und ich fühle mich nicht in der Lage dazu, ihm Widerstand zu leisten.
    „Vergessen Sie Ihren Gameboy nicht“, sagt er, bevor wir das Untersuchungszimmer verlassen.
    Geändert von Laidoridas (09.09.2019 um 18:39 Uhr)

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    Deus Avatar von Laidoridas
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    RIORDIAN: Gut, dass du kommst! Ich habe schon auf dich gewartet!
    HELD: Du hast auf mich gewartet? Warum?
    RIORDIAN: GORN bat mich, dich bei deinem Auftauchen hier sofort zu ihm zu schicken!
    HELD: Was ist los?
    RIORDIAN: Er hat einen Plan zur Befreiung der BESETZTEN MINE.
    HELD: Bewacht er noch den Zugang zur Mine?
    RIORDIAN: Ja! Bitte suche ihn so schnell wie möglich auf!

    Von draußen sind die ersten Vogelstimmen zu hören, als ich mich durch den Dialog mit dem Wassermagier Riordian drücke. Ich habe zwischendurch manchmal überlegt, ob ich den Gameboy weglegen und versuchen sollte, zu schlafen, aber mir ist dann immer gleich klar geworden, dass ich unmöglich in den Schlaf finden würde. Nach allem was passiert ist an diesem Abend bin ich viel zu aufgekratzt. Außerdem fühle ich mich noch nicht heimisch genug in meinem Zimmer, um zu schlafen. Ich liege in einem Zweierzimmer, aber das andere Bett ist zum Glück leer, also müsste ich mich nicht beobachtet fühlen im Schlaf und hätte auch meine Ruhe. Trotzdem ist mir das alles zu fremd, dieser kleine, spärlich eingerichtete Raum mit den schmalen Fenstern, vor denen ausgebleichte violette Vorhänge kleben. Der kleine Fernsehapparat in der Ecke, der immer ausgeschaltet ist. Und natürlich die medizinischen Geräte, an denen ich jetzt festgemacht bin. Ich habe einen Zugang gelegt bekommen am linken Handgelenk und bin an einen Infusionsapparat angeschlossen, und außerdem hänge ich auch noch an einem Gerät, das alle paar Minuten meinen Blutdruck misst und dabei lauter piepst als die Harpyien, wenn ich ihnen den Gnadenstoß verpasse. Unter solchen Umständen könnte ich nicht schlafen. Außerdem will ich nicht aufhören zu spielen. Ich habe eine Minecrawlerkönigin umgebracht, vier Fokussteine gefunden und einen Orkfriedhof erkundet. Inzwischen kann ich allerlei Monster und Gegner besiegen, sogar die gefährlichen Orks, um die ich zu Beginn immer einen großen Bogen gemacht habe. Und ich kann jetzt verstehen, wieso mir Stefan den Gameboy nie geben wollte. Ich hätte Stefan den Gameboy auch nicht geben wollen, wäre er hier bei mir, ganz unabhängig davon, welche Verträge ich unterschrieben habe.
    Manchmal frage ich mich, wie es Dalia geht. Die Operation muss ja längst abgeschlossen sein, vielleicht liegt sie in einem Bett ganz in der Nähe. Aber ich kann ja doch nichts für sie tun. Dalia kann ich nicht helfen, im Gegensatz zum grünen Gorn, der mich jetzt bei der besetzten Mine braucht. Ich glaube, er braucht jemanden, der ihm den Rücken freihält. Was mich am meisten beunruhigt ist deshalb, dass das rote Licht der Batterieanzeige nicht mehr ganz so hell leuchtet wie noch vor ein paar Stunden. Erst habe ich gedacht, dass ich es mir nur einbilde, aber mittlerweile bin ich mir sicher: Wenn das Licht ganz aus ist, dann war es das mit mir und den Goblins, Orks, Waranen und Scavengern, mit Milten, Gorn, Diego und Lee, mit dem Truhenknacken und Schwerterschwingen. Dann liege ich hier nur noch im Bett herum und gucke einen leeren Fernseher an. Ich versuche, so wenig wie möglich daran zu denken, und ich habe den Gedanken auch beinahe vergessen, als ich gemeinsam mit Gorn die besetzte Mine erkunde. Aber dann, mitten im Kampf gegen ein paar großmäulige Gardisten in ihren grünen Uniformen, betritt jemand mein Zimmer.
    „Alles in Ordnung bei Ihnen?“
    Ich komme aus dem richtigen Schlagrhythmus, und der blöde Gardist rammt mir das Schwert in den Bauch. GARDIST: Stirb! steht jetzt groß auf dem Display, und in meiner Bauchgegend zieht sich wieder alles zusammen. Ich habe nicht das Gefühl, dass diese Kügelchen gut wirken.
    „Ja“, sage ich und blicke zu der Krankenschwester auf, die neben mein Bett getreten ist. „Alles gut soweit.“
    „Es tut uns wirklich leid, dass wir gerade kein Fernsehprogramm anbieten können. Sie werden ja sicher festgestellt haben, dass da alles nur rauscht.“
    „Achso, ich habe das noch gar nicht ausprobiert“, sage ich. „Wo ist denn überhaupt die Fernbedienung?“
    „Gleich zu Ihrer Linken, in der kleinen Schublade Ihres Beistelltisches“, erklärt mir die Krankenschwester freundlich. Zur Demonstration öffnet sie auch gleich die Schublade, holt die Fernbedienung heraus und schaltet den Fernseher ein. Da rauscht aber nur alles, wie angekündigt.
    „Die Satellitenschüssel hat den Sturm nicht gut vertragen. Sie wissen ja sicher selbst, wie exakt alles ausgerichtet sein muss, damit man die deutschen Programme empfangen kann.“
    „Ja. Mir ist auch gestern das Fernsehprogramm ausgefallen, mitten im Glücksrad.“
    „Das ist ärgerlich“, findet auch die Krankenschwester. „Wenn Sie gerne etwas schauen möchten, wir haben auch noch Videokassetten, die kann ich Ihnen bringen. Da sollte für jeden Geschmack etwas dabei sein.“
    „Das ist nett, aber ich möchte gerade nicht fernsehen.“
    „Sie haben ja schon etwas zur Unterhaltung, wie ich sehe.“
    „Ja, das ist ein Gameboy“, sage ich, habe dann aber keine Lust, es weiter zu erklären. Ich glaube, so richtig interessiert ist die Krankenschwester sowieso nicht.
    „Sagen Sie, wissen Sie vielleicht etwas darüber, wie es der Frau Soberanis geht?“, frage ich stattdessen. „Ich bin mit ihr zusammen hier angekommen. Sie hat eine Beinverletzung und wurde operiert.“
    „Soberanis?“, wiederholt die Krankenschwester langsam. „Ich glaube nicht, dass sie bei uns auf der Station ist. Aber ich frage gleich mal meine Kollegen.“
    „Das wäre sehr nett.“
    „Übrigens, wenn Sie mal schauen möchten…“ Sie zieht aus ihrer Brusttasche ein paar Prospekte, die sie mir auf die Bettdecke legt. „Da erfahren Sie alles über unser Haus. Damit Sie sich gut aufgehoben fühlen können.“
    „Ah, ja, danke“, sage ich und nicke höflich.
    „Wenn irgendetwas ist, rufen Sie einfach oder drücken Sie den Knopf an der Wand neben Ihrem Bett. Dann sind wir sofort bei Ihnen.“
    „Danke, mach ich.“
    Als die Krankenschwester wieder weg ist, lege ich den Gameboy kurz zur Seite und blättere die Prospekte durch. Auf dem ersten ist vorne ein Mann mit Akademikerhut und erhobenem Zeigefinger abgebildet, und daneben steht in großen roten Buchstaben:
    PETER HAFFTIZ SAGT: SO RUH DICH AUS UND WERDE HEIL.
    Ich frage mich, wer dieser Peter Hafftiz ist und warum man ein Krankenhaus nach ihm benannt hat. Um eine Weisheit scheint er aber nie verlegen zu sein, denn von denen finden sich eine ganze Menge in den drei Prospekten, die mir die Krankenschwester hingelegt hat.
    PETER HAFFTIZ SAGT: GESUND SEI DER MENSCH, IN KÖRPER UND GEIST.
    In einem der Prospekte geht es vor allem um die Betten im Krankenhaus, die, glaubt man dem Prospekt, wohl besonders gute Betten sein sollen. Man hat sie in Zusammenarbeit mit einem dänischen Bettenarchitekten entworfen, der anscheinend ein Garant für Qualitätsbetten ist.
    PETER HAFFTIZ SAGT: WER RUHEN MAG, DER MAG GESUNDEN.
    Das zweite Prospekt stellt eine Reihe neuer technologischer Errungenschaften vor, die hier im Krankenhaus zur Anwendung kommen. Auf einem Foto ist Dr. Friedrich Budde abgebildet, der als Experte für transösophageale Echokardiographie vorgestellt wird und mit einem entsprechenden Apparat zu sehen ist. Ich wundere mich ein bisschen, dass ein Kardiologe bei einer Beinoperation beteiligt gewesen ist, aber vielleicht hat er Dalia auch gar nicht operiert. Vielleicht haben die beiden Buddes sie nur in den OP-Saal geschoben, und dann hat jemand anders operiert. Oder die Unfallchirurgie und die Kardiologie hängen enger zusammen als ich glaube. Ich bin ja kein Experte.
    PETER HAFFTIZ SAGT: BEGIB DICH IN GUTE HÄNDE UND SEI WOHLGEMUT.
    Im dritten Prospekt geht es um die Geschichte des Krankenhauses. Es wurde in den Fünfzigerjahren von einem Mann namens Ernesto Schlehmeier gegründet, dessen erklärtermaßen größtes Vorbild Peter Hafftiz gewesen ist. Auf der letzten Seite des letzten Prospekts erfahre ich dann auch endlich etwas über diesen Hafftiz. Ein Lehrer und Rektor, der im sechzehnten Jahrhundert gelebt und in verschiedenen Schulen unterrichtet hat. Medizinschulen, nehme ich mal an, auch wenn es da nirgendwo steht. Aber irgendetwas mit Medizin muss dieser Mann doch am Hut gehabt haben, wenn man ein Krankenhaus nach ihm benennt.
    PETER HAFFTIZ SAGT: NUN KENNST DU MICH, NUN LASS MICH HELFEN.
    Ich lege die Prospekte wieder zur Seite und nehme mir den Gameboy. Zum Glück habe ich kurz vor dem Besuch der Krankenschwester gespeichert und muss nur den Kampf gegen die Gardisten noch einmal von Neuem beginnen. Diesmal stört mich niemand und ich mache kurzen Prozess mit ihnen. Mir fällt auf, dass dieses Spiel blutiger wird, je länger ich es spiele. Reihenweise tote Pixelgestalten liegen nun auf dem Felsboden in der Mine, inmitten vieler dunkelgrüner Flecken, die wohl eigentlich rot sein müssten. Aber die Gardisten haben es ja nicht anders gewollt, findet auch Gorn. Einer von ihnen lebt noch, doch bevor er die Armbrust abfeuern kann, bin ich bei ihm und gebe ihm den Rest.
    „Stirb“, murmele ich leise, als ich den letzten Gardisten absteche. Aber das Wort bleibt mir im Hals hängen, denn mir kommt es vor, als hätte ich mir das Schwert selbst in den Bauch gerammt. Der Gameboy rutscht mir aus der Hand und fällt auf die Matratze des Dänenbettes, als meine Hände nach meinem Bauch greifen. Fast rechne ich damit, grünes Blut an ihnen zu sehen, als ich sie kurz zurückziehe, aber da ist natürlich nichts. Die Wunde ist nicht äußerlich, sie ist irgendwo da drin, und sie zieht mir jetzt alles zusammen mit nicht gekannter Härte. Das kühle Kribbeln ist zu einem eisigen Griff geworden, mit dem mich die unsichtbare Verwundung gepackt hält.
    „Schwester!“, rufe ich mit gepresster Stimme, und gleichzeitig tastet meine Hand schon nach dem Knopf. Kaum habe ich ihn gedrückt, da stürmen sie alle den Raum.
    „Er krampft“, sagt eine der Krankenschwestern. Ein Pfleger fummelt an dem Blutdruckmessgerät herum. Ein anderer macht irgendwas mit meinem Infusionsständer.
    „Britta, ruf Doktor Mensenkamp. Wir müssen operieren.“
    „Doktor Hermann, Notfall-OP bereitmachen!“
    Plötzlich reden um mich herum alle durcheinander, und ehe ich mich versehe, wird schon mein Bett zur Tür geschoben.
    „Machen Sie sich keine Sorgen“, wendet sich einer der Pfleger an mich. „Sie bekommen jetzt ein Beruhigungsmittel, und wenn Sie aufwachen, dann ist alles schon vorbei.“
    „Sind Sie denn sicher, dass… dass Sie wirklich operieren… mü… müss…“ Ich weiß gar nicht, ob ich irgendwelche dieser Worte verständlich herausbekommen habe, denn die Schmerzen in meinem Bauch nehmen mir jede Luft zum Atmen und zum Sprechen.
    „Beruhigen Sie sich. In ein paar Sekunden sind die Schmerzen weg. Wir kümmern uns um Sie.“
    „Aber… Gorn braucht mich doch… muss ihm… muss ihm’n Rücken…“
    Geändert von Laidoridas (22.09.2019 um 18:53 Uhr)

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    XARDAS: Da bist du ja wieder! Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns nochmal wiedersehen.
    HELD: Ich fühle mich, als hätte ich drei Wochen unter Steinen gelegen.

    Es ist kaum zu glauben. Ich habe mit Gorn die besetzte Mine befreit, ich habe ein Ding namens Ulumulu gebaut und einen Erzdämonen in einem uralten Tempel besiegt, und noch immer ist dieses Spiel nicht vorbei. Tatsächlich scheint es gerade erst richtig loszugehen. Jetzt verstehe ich, wieso Stefan so lange daran gespielt hat. Was ich nicht verstehe, ist wie er sich davon lösen und abhauen konnte, ohne es durchgespielt zu haben. Wie er sich stattdessen Gedanken über Garagen und Autos machen konnte. Wir sind wohl doch sehr verschieden, ich und Stefan.
    Ich habe mir den Gameboy genommen, direkt nach dem Aufwachen. Ich habe nur ein paar Sekunden gebraucht, um die größte Benommenheit abzuschütteln und zu merken, dass irgendwas anders ist mit meinem Bauch, und gleich zu wissen, dass ich es nicht sofort in Erfahrung bringen möchte. Stattdessen habe ich mir den Gameboy genommen, den jemand vom Bett aufgehoben und auf den Beistelltisch gelegt haben muss, und ich habe meinen Spielstand geladen und einfach weitergespielt. Ich habe zuerst befürchtet, dass mir das Betäubungsmittel das Rhythmusgefühl in den Kämpfen geraubt haben könnte, aber diese Furcht ist unbegründet gewesen. Durch das Fenster scheint jetzt Licht, was es noch einfacher macht, etwas auf dem Bildschirm zu erkennen. Ich glaube, dass ich dadurch noch wesentlich besser geworden bin. Den Erzdämonen habe ich beim ersten Versuch besiegt. Eigentlich wollte ich das gar nicht, weil ich das Spiel ja nicht beendet haben wollte. Aber absichtlich verlieren, das hätte auch keinen Spaß gemacht. Und jetzt geht das Spiel noch weiter, eine ganz neue Spielwelt hat sich offenbart und es scheint noch viel mehr darin zu stecken als zu ahnen war. Das ist besser als Ultima, keine Frage.
    Als ich gerade aus dem Turm des Dämonenbeschwörers gegangen und an einem grünen Schaf vorbeigelaufen bin, kommt jemand zu mir herein.
    „Wie ich sehe, sind Sie wach“, stellt Dr. Mensenkamp fest. Er hat die roten Haare jetzt zu einem Knoten auf seinem Hinterkopf zusammengebunden, vielleicht macht er das beim Operieren immer so.
    Ich speichere ab und lege den Gameboy zur Seite.
    „Hat alles gut geklappt bei der Operation?“
    Der Doktor antwortet nicht sofort, sondern zieht einen Stuhl ans Bett und setzt sich.
    „Wir wissen jetzt, was für Ihre Schmerzen verantwortlich war. Eine schwere Infektion mit Helicobacter pylori.“
    „Das sind Bakterien, oder?“
    „Ganz genau. Haben Sie vielleicht große Mengen verdorbener Speisen zu sich genommen in letzter Zeit?“
    „Nein. Also, mein Kühlschrank… der kühlt nicht mehr ganz so gut, aber…“
    „Das hätten Sie nicht auf sich beruhen lassen dürfen“, sagt Dr. Mensenkamp mit ernstem Blick. „So etwas rächt sich dann.“
    „Wie schlimm ist es denn?“
    „Am Infektionsherd hat sich ein tennisballgroßes Geschwür gebildet, das über die letzten Wochen gewachsen ist.“
    „Tennisball…?“
    Der Doktor nickt. „Glücklicherweise konnten wir ihn entfernen. Die Infektion ist damit abgeheilt.“
    „Ah. Das… das ist doch eine gute Nachricht, oder? Meine Schmerzen sind auch nicht mehr so stark. Also, es drückt zwar noch ein bisschen, aber…“
    „Ja, das ist die gute Nachricht. Leider mussten wir den Rest Ihres Magens ebenfalls entfernen“, teilt mir Dr. Mensenkamp mit. „Das ist die weniger gute Nachricht. Aber zu Ihrem Glück sind wir im Peter-Hafftiz-Hospital sehr fortschrittlich ausgestattet. Schauen Sie mal, was wir hier für Sie haben.“
    Dass der Arzt auf einmal unter meine Bettdecke greift, erschreckt mich im ersten Moment mehr als die bei genauerem Nachdenken mit Sicherheit entsetzliche Nachricht, die er mir gerade überbracht hat. Er zieht seine Hand aber gleich wieder zurück und holt dabei ein klobiges, chrommäßig glänzendes Gerät heraus, das er mir vorsichtig in die Hände drückt. Es ist ein ziemlich schwerer Kasten, ungefähr so groß wie eine halbe Packung Toast, und es gehen zwei dicke schwarze Schläuche von ihm aus, die unter die Bettdecke führen.
    „Das hier ist Ihr neuer Magen“, eröffnet mir der Doktor. „Sehen Sie, durch diesen Schlauch hier wird das Essen in den künstlichen Magen geführt, und durch diesen anderen Schlauch wird der verdaute Speisebrei in Ihren Darm weitergeleitet. Sie können also essen wie gewohnt, wenn Sie nur daran denken, vor dem ersten Bissen Ihren Magen einzuschalten. Das geschieht über den großen Schalter an der Oberseite. Sehen Sie?“
    Er guckt mich so lange erwartungsvoll an, bis ich nicke.
    „Mit diesem Drehregler können Sie anschließend die exakte Menge der Verdauungsflüssigkeit bestimmen, die Sie in den Magen einleiten wollen. Die Verdauungsflüssigkeit wird hier an der Seite eingeführt. Das sind Einwegampullen, die Sie in der Apotheke bekommen, und die etwa drei bis viermal in der Woche gewechselt werden. Die richtige Stellung des Drehreglers können Sie einfach dem Handbuch entnehmen, das liegt schon neben Ihnen auf dem Tisch bereit. Da finden Sie für jede Speise eine Angabe für die benötigte Menge der Verdauungsflüssigkeit und können sich das dann ganz einfach zusammenrechnen. Eigentlich können Sie nicht viel falsch machen. Sie sollten bloß darauf achten, nicht zu wenig Verdauungsflüssigkeit zuzuführen, denn das kann zu schwerem Durchfall und über kurz oder lang zu Darmentzündungen führen. Damit ist nicht zu spaßen. Zu viel Verdauungsflüssigkeit ist auch nicht ratsam, dann müssen Sie sich erbrechen und schädigen im Wiederholungsfall mittelfristig Ihre Speiseröhre. Sie werden den Bogen aber sicher schnell rausbekommen, es ist auch alles gut erklärt im Handbuch.“
    Ich schaue kurz zum Handbuch rüber. Es sieht dicker aus als das Handbuch dieser Flugsimulation, die Jan mir mal gezeigt hat, und das war schon so dick, dass nicht mal Jan Lust hatte, es durchzulesen. Aber es ist immer noch nicht so dick wie der Kasten an sich.
    „Und den… muss ich jetzt immer mit mir rumtragen?“
    Ich frage mich, was Becki davon halten wird.
    „Das lässt sich leider nicht vermeiden. Sie finden sicher eine schöne Tasche dafür, viele Patienten werden da ganz erstaunlich kreativ.“
    „Okay.“
    Plötzlich erinnere ich mich daran, dass ich kurz vor der Bewusstlosigkeit irgendwas von Gorn erzählt habe, und das ist mir etwas peinlich. Aber der Arzt hier war ja glücklicherweise nicht dabei. Hoffentlich hat ihm keiner der Krankenpfleger davon erzählt.
    „Nehmen Sie sich ruhig Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen“, sagt Dr. Mensenkamp mit zuversichtlichem Lächeln. „Sie werden ja noch eine Weile bei uns bleiben. Heute Nachmittag steht auch noch einmal eine Nachoperation an.“
    „Noch einmal operieren?“, entfährt es mir. „Aber wieso das denn?“
    „Das ist ein ganz normales Verfahren in solchen Fällen. Ihr neuer Magen ist schon jetzt voll funktionsfähig, allerdings sind die Schläuche bislang nur durch provisorische Metallklammern an der Darmöffnung fixiert. Wenn wir die Schläuche schon während der ersten Operation vollends mit dem Darm verbinden würden, dann würde der Körper sie mit hoher Wahrscheinlichkeit abstoßen. Wir haben Ihnen ein Medikament verabreicht, das diese Abwehrreaktion bis zur nächsten Operation heute Nachmittag unterdrücken wird. Ich kann Ihnen später gerne alles in Ruhe erklären, wenn Sie möchten.“
    „Ja, ich… ich glaube, ich verstehe schon.“
    „Sehr gut. Dann sehen wir uns heute Nachmittag im OP-Saal wieder. Bis dahin!“
    Als der Doktor aus dem Raum gegangen ist, wage ich einen Blick unter die Bettdecke. Ich trage jetzt ein blaues Krankenhausgewand, und die Schläuche verschwinden beide durch ein rechteckig in dieses Gewand hineingeschnittenes Loch in der rechten Seite meiner Bauchdecke. Weil da große weiße Pflaster auf meiner Haut kleben, ist die Eintrittsstelle nicht zu sehen, aber die Vorstellung genügt mir schon. Schlimmer aber ist die Leere, die ich plötzlich in meinem Körper fühle, genau da wo vorher noch die Krämpfe und die Kälte gewesen waren. Da ist jetzt nichts mehr. Einfach gar nichts mehr. Der Magen ist weg, ich weiß genau, dass der Arzt mir die Wahrheit gesagt hat. Hätte ich doch bloß den verdammten Kühlschrank reparieren lassen.
    Ich will gerade nach dem Gameboy greifen, da geht der Fernseher an und rauscht. Ich habe überhaupt nicht mitbekommen, dass noch eine Schwester im Raum ist und die Fernbedienung in der Hand hält.
    „Die Satellitenschüssel ist leider immer noch beschädigt, aber ich habe Ihnen einige Videokassetten mitgebracht. Möchten Sie einen Krimi sehen, eine Sportübertragung oder etwas zum Lachen?“
    Zum Lachen ist mir nicht zumute. Und natürlich will ich überhaupt nichts im Fernseher sehen. Ich will Gothic Universe weiterspielen.
    „Das ist sehr nett von Ihnen, aber ich glaube, ich möchte gerade nicht fernsehen“, sage ich ihr, und da sie etwas enttäuscht wirkt, füge ich hinzu: „Später vielleicht.“
    „Natürlich. Ich lege Ihnen die Videokassetten hier hin. Rufen Sie mich einfach, falls Sie Schwierigkeiten haben, sie selbst einzulegen.“
    „Mach ich“, verspreche ich ihr und bin froh, als sie endlich gegangen ist. Mir ist schnell klar, dass ich einen Wendepunkt erreicht habe, eine Schwelle, ab der sich alles ändert. Ich muss jetzt wieder ganz von vorn anfangen, alles ist wieder schwierig und gefährlich. Schon die Wölfe im Tal unter dem Turm bringen mich um, als ich mich ihnen zu unbedarft nähere, und ich muss mehrfach neuladen. Ich habe auch meine Waffen und meine Rüstungen verloren und muss auf einem Bauernhof Rüben pflücken, um mir neue Kleidung zu verdienen. Zuerst frage ich mich, was sich die Spielentwickler dabei gedacht haben, aber dann finde ich es direkt ganz großartig. Es ist langweilig, zu stark zu sein. In der Schwäche liegt die Spannung. Und jetzt ist alles wieder sehr spannend. Ich werde von Banditen hereingelegt und lasse mich auf einen Handel mit einem zwielichtigen Händler ein, um in die Stadt zu kommen, nachdem ich die Bauernkleidung direkt wieder an einen Piraten abgegeben habe. Und die Stadt, in die ich jetzt komme, die ist riesig. Stunden vergehen, in denen ich einen grünen Text nach dem anderen lese, und doch ist es so viel großartiger als ein Buch zu lesen. Ich gehe bei einem Bogner in die Lehre und lasse mich von einem Türsteher verprügeln. Ich nehme Schulden bei einem Geldhai namens Lehmar auf und lasse mich vom Wassermagier Vatras segnen. Ich besorge mir Fischsuppe und erforsche das obere Stadtviertel, bevor ich in die Kanalisation hinabsteige und der Diebesgilde beitrete. So geht es weiter, bis mich zwei ungebetene Gäste aus dem Spiel reißen: Der Hunger und ein neuer Zimmergenosse.
    Der Hunger fühlt sich anders an als gewohnt. Ohne Magen ist da auch nichts mehr, das sich zusammenziehen könnte, nichts mehr, das knurren könnte. Und trotzdem weiß ich, dass ich Hunger habe, und trotzdem quält es mich. Ich habe gehofft, die erste Mahlzeit mit diesem Ding so lange wie möglich hinauszögern zu können, aber es lässt sich wohl nicht mehr vermeiden, dass ich mich damit auseinandersetzen muss. Als ich nach der Krankenschwester rufe, um sie nach einem Mittagessen zu fragen, kommt sie mit einem Patienten im Schlepptau ins Zimmer.
    „Das ist Herr Sievert, der schläft jetzt hier bei Ihnen“, erklärt sie mir. Herr Sievert, ein älterer, verschnupft wirkender Mann mit grauer Halbglatze – so schlimm ist es bei mir noch nicht – kommt zu mir ans Bett und wir schütteln uns die Hand.
    „Hallo“, sage ich. „Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn ich mit meinem Gameboy spiele. Er piepst ein bisschen, aber ich kann den Ton leiser drehen, wenn Sie möchten.“
    „Wenn es Sie nicht stört, dass ich fernsehe, dann komme ich damit sicher zurecht“, erwidert Herr Sievert. Ich komme aber auch nicht umhin festzustellen, dass er ein bisschen pikiert wirkt, als er das sagt.
    „Wir haben leider gerade keinen Satellitenempfang“, erklärt ihm die Schwester. „Aber Sie können eine dieser Videokassetten schauen, solange wir die Satellitenschüssel noch nicht repariert haben. Möchten Sie einen Krimi sehen, eine Sportübertragung oder etwas zum Lachen?“
    Ich höre schon gar nicht mehr richtig hin, denn die beiden haben sich ein bisschen von mir abgewandt und ich möchte nicht den Eindruck erwecken, allzu sehr an Gesprächen interessiert zu sein. Das fehlt mir gerade noch, dass sich ständig ein Herr Sievert zu Wort meldet, wenn ich gerade gegen Wölfe oder Schlimmeres kämpfe. Bevor die Schwester gehen will, erinnere ich sie aber noch an mein Essen, und sie verspricht, mir etwas zu bringen.
    Mit der angenehmen, nur durch das Gameboy-Gedudel unterbrochenen Stille ist es jetzt vorbei. Die Schwester hat Herrn Sievert das Video mit der Sportübertragung eingeschoben, und kaum geht es los, ist ein furchtbares Gekrächze zu hören. Der Ton ist unter aller Sau, das Bild auch. Es ist eine Schwarzweißaufnahme, und gezeigt wird ein Fußballspiel aus dem letzten Jahrhundert, oder zumindest sieht es so aus. Herr Sievert ist auch nicht zufrieden. Als die Schwester zurück kommt und mir einen Teller dampfender Nudeln mit roter Soße auf den Tisch stellt, winkt er sie zu sich und fragt: „Was ist denn das für eine Sportübertragung, die Sie mir da eingelegt haben?“
    „Das ist das Meisterschaftsfinale“, sagt die Schwester.
    „Welche Meisterschaft denn?“
    „Das weiß ich leider auch nicht. Auf der Kassettenhülle stand nur Meisterschaftsfinale. Ich werde mich aber für Sie erkundigen und Ihnen Bescheid geben, wenn ich mehr weiß.“
    „Nun gut“, sagt Herr Sievert und verfolgt, nachdem die Krankenschwester gegangen ist, für eine Weile schweigend das Meisterschaftsfinale. Ich schaue nur ab und zu hin und erkenne keinen Spieler wieder, deren Köpfe und Rückennamen auch ohnehin kaum auszumachen sind. Auch der Kommentator hilft nicht weiter, weil er in einer mir ganz fremden Sprache aus dem Fernseherlautsprecher plärrt. Ich nehme mir derweil den Teller mit den dampfenden Nudeln, traue mich aber noch nicht, eine zu essen. Erst muss ich den Knopf an meinem Kunstmagen drücken. Als ich das mache, fängt das Ding ordentlich zu rödeln an.
    „Geht das auch leiser?“, ruft Herr Sievert vom Bett nebenan rüber. „Sie hatten doch versprochen, die Lautstärke leiser zu drehen.“
    „Das ist nicht der Gameboy, das ist mein künstlicher Magen.“
    „Dann drehen Sie den eben leiser.“
    „Tut mir leid, ich glaube, das geht nicht. Ich kann hier nur die Verdauungs… also, ich glaube, ich kann ihn nicht leiser drehen. Aber es ist ja nur, solange ich esse.“
    Tatsächlich habe ich gar keine Ahnung, wie lang ich den Magen eingeschaltet lassen muss, bis alles verdaut ist. Es scheint auch nirgendwo eine Anzeige zu geben. Ich beschließe, erst einmal bei mittlerer Verdauungsflüssigkeitseinstellung meine Nudeln zu essen und anschließend im Handbuch nachzulesen. Wenn ich erst lese, dann werden die Nudeln kalt, und mit der mittleren Einstellung mache ich bestimmt nichts falsch.
    Es ist ein komisches Gefühl, ohne richtigen Magen zu essen. Als ich die Nudeln aufgegessen habe, fühle ich mich immer noch nicht satt, habe aber gleichzeitig das deutliche Gefühl, genug gegessen zu haben. Der Hunger jedenfalls ist weg. Der Magen ist noch lauter geworden und dröhnt nicht nur, sondern blubbert dabei auch. Manchmal klingt es so, als würde jemand den letzten Rest einer Cola mit einem Strohhalm aus einem Glas schlürfen. Mir ist das ziemlich unangenehm, auch weil Herr Sievert immer wieder zu mir rüberschaut.
    „Was machen Sie denn eigentlich?“, fragt Herr Sievert plötzlich.
    „Wie meinen Sie das, was ich mache?“
    „Beruflich“, will Herr Sievert wissen. Leider ist das Meisterschaftsfinale wohl nicht fesselnd genug, um ihn von solchen Fragen abzuhalten. „Was machen Sie von Beruf?“
    „Ich bin gerade in so einer Übergangsphase“, sage ich. „Und Sie?“
    „Ich bin Grünflächengestalter“, sagt Herr Sievert.
    Der Magen ist gerade wieder besonders laut geworden. Er rappelt und schlürft wie verrückt.
    „Also so etwas wie ein Gärtner?“, rufe ich zu ihm rüber.
    „Grünflächengestalter!“, brüllt Herr Sievert.
    „Ja, aber ich meine, dann sind Sie doch so etwas wie ein Gärtner?“
    „Ich kann Sie nicht verstehen! Können Sie um Himmels Willen endlich einmal Ihr Gerät leiser drehen!“
    Mir geht das Ding auch auf die Nerven. Es ist ja jetzt schon bestimmt zehn Minuten am Rumoren, und solange kann das doch eigentlich nicht dauern. Wahrscheinlich ist schon längst alles verdaut und der Magen ist so laut, weil er nichts mehr hat, was er verarbeiten kann. Ich drücke den Knopf und es herrscht wieder Stille.
    „Danke“, sagt Herr Sievert. „Ich habe gesagt, ich bin Grünflächengestalter. Also so etwas wie ein Gärtner.“
    „Ein Gärtner also.“ Damit hat er meine Neugier geweckt. Ich drehe meinen Kopf zu ihm und nicke zweimal langsam.
    „Was machen Sie denn da?“, fragt mich Herr Sievert misstrauisch. „Warum nicken Sie mich so an?“
    „Ich hab Sie doch gar nicht…“
    „Doch, haben Sie. Sie haben so eine langsame Nickbewegung gemacht, was sollte denn das?“
    „Ich…“
    „Heraus mit der Sprache.“
    „Ich spiele ja gerade hier dieses Spiel auf dem Gameboy…“ Ich merke schon, dass das Gespräch keine gute Richtung nimmt. Wieso musste ich ihn auch unbedingt annicken? Es hat mir doch völlig klar sein müssen, dass er damit gar nichts anfangen kann. „Und… da gibt es so ein Geheimzeichen. So ein Nicken. Der Gärtner in dem Spiel ist einer von denen, die das Zeichen verstehen, und als Sie gerade sagten, dass Sie Gärtner sind…“
    „Ich habe aber doch mit Ihrem Spielchen nichts am Hut“, stellt Herr Sievert klar. „Wofür soll dieses Zeichen denn überhaupt stehen?“
    „Das ist ein Erkennungszeichen. Für eine Diebesgilde in dem Spiel.“
    Kaum habe ich es ausgesprochen, da dämmert es mir auch schon, dass er das nicht so gut aufnehmen wird.
    „Sie wollen also andeuten, ich sei ein Dieb, wie?“
    „Wie bitte?“
    „Das haben Sie doch selbst gerade gesagt. Sie glauben, ich sei ein Mitglied Ihrer Bande von Dieben.“
    „Es war nur ein Scherz. Ich kenne Sie doch überhaupt nicht, Herr Sievert.“
    „Deshalb sollten Sie sich mit solchen Unterstellungen auch gefälligst zurückhalten, junger Herr.“
    „Es war wirklich nicht so gemeint.“
    Ich glaube, jetzt habe ich Herrn Sievert ernsthaft gegen mich aufgebracht. Mir ist das ziemlich unangenehm, aber gleichzeitig sorgt es anscheinend auch dafür, dass er nicht mehr mit mir reden möchte. Und das bedeutet, dass ich ungestört weiterspielen kann. Zumindest solange, bis sie mich in den OP fahren. Aber darüber denke ich jetzt besser noch nicht nach. Erst muss ich den sechsten Blutkelch finden und einen Sextanten auftreiben.
    Geändert von Laidoridas (22.09.2019 um 18:54 Uhr)

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    Ich wache auf, weil mein Bein schmerzt. Das ist mir schon manchmal passiert, dass ich mitten in der Nacht aufgewacht bin durch einen Krampf im Bein oder weil ein Bein eingeschlafen und gar nicht mehr zu spüren gewesen ist. Manchmal hat mich das in Panik versetzt und ich habe wie ein Wahnsinniger herumgeschrien, aber diesmal bleibe ich ganz ruhig. Das muss die Narkose sein.
    Nur langsam kehrt die Erinnerung an den Nachmittag zurück. Ich habe Jharkendar betreten, das verborgene Tal der Erbauer, und gegen Banditen und Steinwächter gekämpft. Und ich habe Raven besiegt, einen der Gardisten, die ich im ersten Abschnitt des Spiels eigentlich schon umgebracht gehabt habe, und der nun übergeschnappt ist. Ich nehme an, dass man diesen Anschlussfehler noch austilgen wird. Ich spiele ja schließlich eine Vorabversion, und dafür läuft das alles schon erstaunlich rund. Bloß der Schwierigkeitsgrad kommt mir jetzt vielleicht doch eine Nummer zu happig vor. Als ich mich der nächsten großen Aufgabe habe widmen wollen, der Jagd auf eine Reihe gefährlicher Drachen, bin ich im Minental immer wieder an Orks, Wargen und Drachensnappern gescheitert. So lange, bis ich irgendwann in den OP musste. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, dann habe ich das Gefühl, dass ich das Spiel noch nicht ganz optimal spiele. Ich habe etwa noch keinen einzigen Trank gebraut. Dabei gibt es ja Tränke, die mich dauerhaft stärker machen und mir so bestimmt einen enormen Vorteil verschaffen können. Vielleicht sollte ich lieber Tränke brauen, bevor ich mich weiter im Minental herumtreibe.
    „Bitte noch nicht aufstehen“, ertönt plötzlich eine Männerstimme rechts neben meinem Ohr. Ich habe gar nicht daran gedacht aufzustehen, aber jetzt wäre ich fast vor Schreck in die Höhe gegangen.
    „Dr. Mensenkamp, ich habe Sie gar nicht bemerkt“, nuschele ich durch meine trägen Lippen. Ich glaube nicht, dass man mir den Schreck angemerkt hat.
    „Ich bin gekommen, um auf Sie acht zu geben“, sagt der Arzt. An der Frisur hat sich nichts mehr geändert, fällt mir auf, als ich den Kopf auf dem dänischen Kissen zu ihm umdrehe. Muss ja auch nicht.
    „Wie… ist denn die OP gelaufen…?“
    „Im Großen und Ganzen sehr zufriedenstellend. Es hat nur ein kleines Problem mit Ihrem künstlichen Magen gegeben, das ist alles.“
    „Was denn für’n Problem?“
    „Wir haben während der OP festgestellt, dass Sie offenbar bereits gegessen haben, ohne uns davon zu unterrichten“, sagt Dr. Mensenkamp mit strengem Blick. „Und Sie müssen Ihren Magen ausgeschaltet haben, bevor der Verdauungsprozess abgeschlossen war. Die Folge: Verunreinigte Schläuche durch Halbverdautes. Unter diesen Umständen ist es ein großes Risiko, die Schläuche trotzdem mit dem Darm zu verbinden.“
    „Also haben Sie gar nichts gemacht?“
    „Doch, doch. Wir haben es ja erst gemerkt, als wir schon fast fertig waren.“ Dr. Mensenkamp seufzt. „Ich will ehrlich zu Ihnen sein. Sie haben eine vierzigprozentige Chance, dass alles gut geht.“
    „Und… die anderen sechzig?“
    „Wieso mussten Sie auch etwas essen? Sie wussten doch, dass noch eine Operation nötig ist.“
    „Aber Sie haben doch gesagt, es sei schon alles voll funktionsfähig“, verteidige ich mich und spüre dabei, wie die Macht der Narkose allmählich ein wenig nachlässt. „Und die Schwester hat mir doch das Essen gebracht. Sie hat mit keinem Wort erwähnt, dass ich es nicht essen darf.“
    „Nur weil etwas funktionsfähig ist, heißt das nicht, dass es auch benutzt werden sollte. Sie sehen ja jetzt, welchen Schaden Sie damit angerichtet haben. Ich habe Sie ausdrücklich darauf hingewiesen, dass zunächst eine weitere Operation notwendig ist. Das wissen Sie genauso gut wie ich, und da müssen Sie nun nicht noch unsere armen Krankenschwestern in die Verantwortung ziehen, die ohnehin schon Unzumutbares leisten für Patienten wie Sie.“
    Jetzt schwirrt mir schon wieder der Kopf, aber nicht unbedingt von der Narkose.
    „Was heißt das denn jetzt alles genau?“
    „Es ist möglich und, mehr noch, wahrscheinlich, dass sich die Verbindungsstelle am Darm entzünden wird. In vielen Fällen kommt es dabei außerdem zu Kontaminationen mit weiteren Erregern, die tödlich enden können. Um dem vorzubeugen, muss Ihr Magen ab sofort mit antibiotikahaltigen Liquiden gespült werden. Dazu haben wir diese Vorrichtung angebracht.“
    Er hebt die Bettdecke an und ich sehe, was er meint: Der Magenkasten ist jetzt in einen größeren Plastikkasten gehüllt, in dem eine gelblich-trübe Flüssigkeit vor sich hin blubbert.
    „Drücken Sie bitte alle dreißig Minuten diesen Knopf hier“, fordert mich Dr. Mensenkamp auf, und ehe ich genau weiß, welchen Knopf er meint, hat er ihn auch schon gedrückt. Das Blubbern wird sofort stärker. Wenige Sekunden später ist es ein Schäumen, dann ein heftiges Brausen. Der ganze Kasten wackelt und ein ohrenbetäubendes Dröhnen ist zu vernehmen, während die Flüssigkeit durch die Schläuche in meinen Körper und zurück gepumpt wird. Es ist nicht sehr schmerzhaft, aber ich fühle mich dabei, als hätte ich eine Waschmaschine im Schleudergang verschluckt. Es dauert ungefähr eine Minute, dann ist es vorbei.
    „Wie oft muss ich das denn machen?“, frage ich. „Ich meine, ich kann ja gar nichts essen, solange dieser Flüssigkeitskasten da drum ist, oder?“
    „Nein, das können Sie leider nicht“, bestätigt der Mediziner meine Befürchtungen. „Die Spülung muss mindestens eine Woche lang durchgeführt werden, jede halbe Stunde. Ich schlage zwei Wochen vor. Solange werden Sie intravenös ernährt.“
    „Okay“, sage ich. Eigentlich bin ich mir gar nicht mehr so sicher, ob es noch einen großen Unterschied macht, wenn ich ohnehin schon keinen richtigen Magen mehr habe. Hauptsache ich verhungere nicht, schätze ich.
    „Bitte halten Sie sich daran. Jede halbe Stunde.“
    „Und, wenn ich schlafe…?“
    „Sie werden leider immer nur eine halbe Stunde am Stück schlafen können. Es lässt sich nicht vermeiden. Bitte stellen Sie sich den Wecker entsprechend.“
    Als ich nicht direkt etwas Zustimmendes antworte, fügt er hinzu: „Ich weiß, das ist unangenehm, aber wir sind hier auf Ihre Mitarbeit angewiesen. Am Ende geht es um Ihr Leben, vergessen Sie das nicht.“
    „Ja, ich… werd das schon machen…“
    „Sehr gut.“ Die Miene des Arztes hellt sich prompt ein wenig auf. „Nachdem wir das geklärt haben, können wir ja jetzt mit dem erfreulichen Teil des Gesprächs fortfahren. Ich habe nämlich auch noch eine gute Nachricht für Sie.“
    „Ja?“ Ich überlege, was das sein könnte, aber mir fällt nicht viel ein. Er wird wohl kaum in der alten Garage das Licht ausgemacht haben.
    „Wir haben doch über Ihr Beinproblem gesprochen, wissen Sie noch?“
    „Was denn für ein Beinproblem?“
    „Ihr linkes Bein ist kürzer als Ihr rechtes. Darüber haben wir gesprochen, das können Sie nicht vergessen haben.“
    „Ach so, ja… aber…?“
    „Ich wollte Ihnen eine zusätzliche Operation ersparen, und deswegen haben wir das gleich in einem Rutsch gemacht. Ganz unbürokratisch.“
    Dr. Mensenkamp steht auf, wandert um das Bett herum und bleibt vor meinem linken Bein stehen. Dann schlägt er die Bettdecke um und ich sehe, dass das ganze Bein mit weißem Verband umwickelt ist. Irgendwo gucken auch ein paar schwarze Kabel raus, und eine Stelle sieht ein bisschen blutig aus.
    „Voilà, Ihr neues Bein. Keine Sorge, unter dem Verband sieht es aus wie immer. Ein paar Narben lassen sich natürlich nie vermeiden, aber die sind nicht der Rede wert.“
    „Was… haben Sie denn gemacht mit dem Bein?“
    „Die Prozedur ist nicht ganz unkompliziert, aber um es kurz zusammenzufassen: Wir haben Ihren Oberbeinknochen kontrolliert gebrochen, um ein Teleskopimplantat zu installieren. Der Knochen wird in Kürze wieder verheilen, und Sie können Ihr Größenproblem aus der Welt schaffen.“
    „Ich habe überhaupt kein… Größenproblem…“
    „Völlig korrekt“, stimmt mir der Doktor zu. „Sie haben jetzt überhaupt kein Größenproblem mehr. Schauen Sie, ich erkläre Ihnen alles.“
    Er hat ein schwarzes Gerät mit drei Knöpfen vom Beistelltisch aufgehoben und hält es mir vor das Gesicht.
    „Ist das sowas wie eine Fernbedienung?“
    „Ganz genau. Wissen Sie, wenn wir das Bein sofort verlängern, dann haben Muskelgewebe und Haut keine Gelegenheit, sich an den verlängerten Knochen anzupassen. Deswegen sollte die Verlängerung nach und nach geschehen, in kleinen Schritten. Und das machen Sie am besten selbst mit diesem Gerät.“
    „Ich kann mein Bein mit einer Fernbedienung verlängern?“
    „Dieser Pfeil-Knopf fährt das Teleskopimplantat aus, und dieser andere hier fährt es wieder ein. Einmal am Tag sollten Sie außerdem den großen dritten Knopf in der Mitte drücken. Dabei findet eine automatische Überprüfung auf Verunreinigungen statt. Sie sollten diese Funktion sehr gewissenhaft nutzen, damit Sie keine unerfreulichen Überraschungen erleben.“
    „Was denn für Überraschungen?“
    „So ein Implantat ist immer mit Risiken verbunden“, klärt mich Dr. Mensenkamp auf. „Aber wenn Sie die Prüffunktion verwenden, dann kann eigentlich nichts geschehen. Und denken Sie daran, die Taste zum Ausfahren des Implantats nur sehr kurz zu drücken, und höchstens einmal am Tag. Sie können sich ja sicher vorstellen, was sonst geschieht.“
    „Sie… haben mir das einfach so eingebaut…?“
    „Keine Sorge, das Finanzielle regeln wir alles mit der Krankenkasse. Wir sind hier in Germantown, vergessen Sie das nicht. Sie brauchen sich um nichts zu kümmern.“
    Das ist nicht mein Punkt, aber ich habe keine Kraft mehr zum Widerspruch. Am liebsten wäre ich gleich wieder weg gedöst, aber dazu bin ich schon wieder zu wach.
    „Wenn Sie noch fragen haben, melden Sie sich jederzeit.“ Er legt die Fernbedienung auf dem Tisch ab und schüttelt mir die Hand. „Ansonsten wünsche ich gute Genesung. In zwei bis drei Wochen sollten Sie hier wieder raus sein, und dann können Sie in Ihr neues Leben starten.“
    „Ja… ja, okay.“
    Erst als der Arzt draußen ist, fällt mir auf, dass schon wieder der Fernseher läuft. Herr Sievert schaut zum vierten oder fünften Mal dieses bescheuerte Meisterschaftsfinale.
    „Physiker mit sechs Buchstaben“, ruft er mir von seinem Bett aus zu, kaum habe ich den Gameboy in der Hand. „Wissen Sie da was?“
    Ich schaue über den Tisch zu ihm rüber, und obwohl ich nicht besonders viel sehen kann aus meiner Liegeposition heraus, glaube ich ein Heft in seiner Hand zu sehen.
    „Ich glaube, ich habe das gleiche Kreuzworträtselheft zuhause wie Sie“, sage ich.
    „Das glaube ich nicht. Dieses ist ganz frisch erhältlich.“
    „Dann ist es zumindest die gleiche Frage, die auch in meinem steht.“
    Herr Sieverts Tonfall ist schon wieder ganz schön giftig, als er sagt: „In diesem Fall können Sie mir ja sicher die Antwort nennen.“
    „Nein, tut mir leid, keine Ahnung“, gestehe ich ein. „Ich habe das Rätsel selber noch nicht gelöst.“
    Das Heft muss jetzt immer noch aufgeschlagen auf dem Sofa liegen, in der Dunkelheit. Den Fernseher habe ich ja ausgeschaltet, bevor ich raus in die Garage gegangen bin. Oder? Hoffentlich läuft der jetzt nicht drei Wochen lang durch, bis ich hier entlassen werde. Das ergibt eine ganz schöne Stromrechnung, und die kann ich mir nicht leisten.
    Kronstöckel, versuche ich mich abzulenken. Das ist jetzt mein nächstes Ziel. Ich kann keinen Fernseher ausschalten, ich kann auch nicht das Licht in der Garage ausmachen oder das Tor schließen, und ich kann Stefans Auto nicht dahin fahren, wo es eigentlich hin soll, nämlich in die neue Garage. Ich kann mir auch meinen Magen nicht zurückholen oder dieses Implantat aus meinem Bein reißen, aber immerhin kann ich genug Kronstöckelpflanzen sammeln, um mir ein paar Tränke der permanenten Attributserhöhung zu brauen. Der Gedanke hebt meine Stimmung aber nur solange, wie ich noch nicht eine halbe Stunde lang mehr oder weniger erfolglos nach Kronstöckelpflanzen gesucht habe. Diese Pflanzen gehören zu den seltensten Gewächsen des Spiels, und entsprechend schwierig sind sie auch zu finden. Schließlich verliere ich die Geduld und gebe mich mit den vier Pflanzen, die ich habe, zufrieden. Ich braue mir drei Tränke der Stärke und einen Trank der maximalen Lebensenergie, und so gestärkt kehre ich zurück ins Minental. Zwischendurch frage ich mich manchmal, ob eigentlich immer noch der gleiche Tag ist. Draußen jedenfalls ist es noch hell, oder wieder. Eigentlich spielt es aber auch keine große Rolle. Ich kann nicht zu Mittag oder zu Abend essen, und ich kann auch nicht schlafen, solange ich jede halbe Stunde auf einen Knopf drücken muss und an diesen Kabeln hänge, und solange alle paar Minuten mein Arm zugedrückt wird, um meinen Blutdruck zu messen. Gut, dass sie mich wenigstens mal narkotisiert haben, denke ich mir. Das ist ja die einzige Erholung, die ich hier bekomme.
    Ich habe gerade den Sumpfdrachen erledigt, als ich die Stimme einer Krankenschwester höre.
    „Entschuldigung“, sagt sie von der Tür aus. „Sie haben Besuch.“
    Den Gameboy lege ich sofort weg, als ich sehe, wer es ist.
    „Oh, hello, how are you?“, begrüße ich sie. „I asked the… the sisters where you are and if everything went alright with your operation, but they couldn’t tell me anything.“
    Dalia humpelt auf Krücken an mein Bett. Ihr rechtes Bein ist in schwarze Bänder eingewickelt, und an zwei Stellen zwischen den Bändern sind kleine Kästchen angebracht, auf denen von Zeit zu Zeit eine Lampe rot blinkt.
    „I’m still here, I guess“, antwortet sie mir. „They say, I might be able to skate again one day. With my inline skates.“
    „That’s… that’s great. You’ll make it to the World Games in no time.“
    „I don’t know. They did something to my leg, they installed some… robotic implant or something. They say I have to program it by moving my leg in certain ways. There’s a manual that explains how exactly, but I didn’t read it yet.“
    „Well, I guess… I guess they know what they’re doing“, sage ich.
    „Anyway. I doubt that they’ll let someone with a robotic leg implant participate in the World Games.“
    „Don’t say that. I mean, at Olympia, there’s this guy wihout feet who –“
    „It’s not Olympia. It’s not.“
    „No, of course not, but…“
    „And I don’t want to participate in the World Games for disabled people, or… robotic people or whatever. It just wouldn’t be the same.“
    „Yes… I guess I unterstand.“
    Sie ist jetzt nah an mein Bett gehumpelt, und ganz unvermittelt legt sie die Hand auf meinen Arm. Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet.
    „Look, I just wanted to say… I’m not mad at you, okay?“
    Jetzt, da sie mir so direkt in die Augen sieht und ich fast ihren Atem spüren kann, fällt mir wieder so richtig auf, wie ähnlich sie Becki sieht. Es ist nicht nur die Mimik, auch die Lippen und die Nase sind ganz ähnlich geformt. Nur die Haare sind ganz anders, und die Haut ist dunkler. Dalia könnte vielleicht Beckis Halbschwester sein, überlege ich. Vielleicht, wenn ihr Vater oder ihre Mutter nach Guatemala durchgebrannt wäre.
    „No? You’re not?“
    „No. You’re a terrible driver and whoever gave you a driving license should be punished in some horrible way, but that’s not your fault. You just made a mistake, and I know you’re feeling bad for it. You’re not a bad person, I can see that.“
    „Of course I’m feeling bad about the accident. I, I wish I could turn back the clock.“
    „Können Sie sich womöglich etwas leiser unterhalten?“, ruft uns Herr Sievert zu. „Ich verstehe gar nicht, was hier gesagt wird.“
    Jetzt geht mir Herr Sievert aber wirklich auf den Keks. Ausgerechnet jetzt, da mich Dalia gerade begonnen hat anzulächeln, gerade jetzt muss er dazwischen gehen.
    „Sie haben dieses Fußballspiel doch jetzt schon zig mal gesehen“, rufe ich zurück. „Und Sie verstehen sowieso nicht, was dieser Kommentator da erzählt.“
    „Das spielt überhaupt keine Rolle. Ich möchte bei einem Fußballspiel und einem Kreuzworträtsel entspannen, und das gelingt mir nicht, wenn Sie ständig Lärm machen. Sehen Sie, es steht auch hier auf diesem Prospekt.“
    Er wedelt mit einem Blättchen herum, auf dem geschrieben steht:
    PETER HAFFTIZ SAGT: GUT IST, WAS DIR GUT TUT.
    „Sehen Sie? Gut ist, was mir gut tut. Was Sie da tun, das tut mir nicht gut.“
    „Wir unterhalten uns doch bloß.“
    „Tun Sie das einfach etwas leiser, verstanden?“
    „Ja ja.“ Ich habe keine Lust, mich noch länger mit Herrn Sievert auseinander zu setzen. Dalia guckt schon ganz verstört, kein Wunder.
    „He said we’re talking to loud“, erkläre ich ihr. „Just ignore him.“
    „We can whisper“, sagt sie leise, und plötzlich gefällt mir das richtig gut, mit ihr zu flüstern. Ihre Flüsterstimme klingt ganz ähnlich wie die von Becki, glaube ich. Ich bin mir aber nicht sicher, weil ich Beckis Flüsterstimme erst ein oder zweimal gehört habe.
    „I just wanted to say…“, flüstert sie. „You’re a good person, and, and I like you.“
    „Th… thank you. I like you too.“
    Das wäre der Moment, in dem eigentlich mein Bauch anfangen müsste zu schmerzen, aber da ist nur gähnende Leere. Dafür klopft mein Herz umso stärker. Dabei fällt mir ein, dass ich den Ärzten gar nichts von meinen Schmerzen in der Herzgegend erzählt habe, unter denen ich häufig leide. Vielleicht ist das aber auch besser so. Und wieso muss ich ausgerechnet jetzt an irgendwelche Ärzte denken? Beckis Gesicht ist ganz nah an meinem. So direkt konnte ich noch nie in ihre Augen schauen. Am Ende könnte es sich noch als Glücksfall entpuppen, dass ich sie angefahren habe. Wenn es uns beide zusammenbringt, dann werden wir in ein paar Jahren darüber lachen.
    „That’s… nice of you to say“, sagt sie. „So, I hope you understand that it’s nothing personal. I talked to my lawyer on the phone, and, well, I’m going to press charges against you. The police is already searching your car.“
    „The… police…?“
    „This could be the end of my career, you know. Also, I don’t have health insurance. I need the compensation to pay for the robotic implant.“
    „What career? I mean, you, you didn’t even participate in these World Games a single time, so…“
    „So, I’m not a professional inline skater? Is that what you’re thinking?“ Ihre Finger haben sich auf einmal in meinen Arm gekrallt und ich versuche vergeblich, sie abzuschütteln. „I tell you something, motherfucker: I’m going to participate in the World Games, be it now or in a hundred years! You can’t stop me! Not you, not the implant, noone! Nothing can!“
    „Geht das auch bitte etwas leiser?“, schnaubt Herr Sievert.
    „Nein, verdammt!“, brülle ich zurück. „Machen Sie lieber den verdammten Fernseher aus, ich kann dieses Geplärre nicht mehr hören!“
    Sie haben mir nicht zu sagen, wann ich den Fernseher auszuschalten habe.“
    „I see you in the court room.“
    Sie wirft mir einen letzten hasserfüllten Blick zu, dann dreht sie sich mühsam um und humpelt aus dem Raum, so schnell sie kann. Ich nehme mir den Gameboy und ziehe die Bettdecke über den Kopf. Das Display hat keine Beleuchtung und es dringt nur wenig Licht zu mir durch, aber im Moment ist mir das egal. Ich habe ja das rote Licht der Batterieanzeige, und das wird genügen müssen, um die Scheißdrachen zu erledigen. Als nächstes ist der Feuerdrache dran. Den grünen Vulkan hochlaufen und grüne Echsenmenschen verkloppen, das ist jetzt genau das Richtige. Wenn nur nicht alle paar Minuten der immer gleiche Schriftzug erscheinen würde…
    BIFF: So langsam bekomme ich das Gefühl, dass ich mehr Geld von dir bekommen sollte. Ich will weitere 100 GOLDMÜNZEN.
    Ich habe Biff angeheuert, damit er mir hilft, die Drachen zu besiegen, aber so langsam frage ich mich, ob ich es nicht besser allein versuchen sollte. Bestimmt habe ich Biff schon tausend Goldmünzen gegeben, die hätte ich besser in Heiltränke investiert. Aber dass Biff die Echsenmenschen ablenkt, während ich sie von hinten erledige, das hat schon auch seine Vorteile. Wer weiß schon, ob ich es allein überhaupt hinbekommen würde. Ich gebe Biff seine hundert Münzen, und dann machen wir zusammen die nächste Gruppe Echsenmenschen platt. Bald ist nur noch einer übrig, der allein keine Chance gegen uns hat. Mit einer routinierten Tastenkombination gebe ich ihm den Rest. Begleitet vom üblichen piepsigen Todesstöhnen kippt der Echsenmensch aus den Latschen, sackt als grüner Pixelbrei in sich zusammen und –
    Mein Bein.
    Ich stoße die Bettdecke von mir weg, sitze aufrecht im Bett und starre mein Bein an. Es dröhnt, es rumort und –
    „Was machen Sie da mit der Fernbedienung?!“, röchle ich Herrn Sievert entgegen.
    „Sie haben doch gesagt, ich soll den Fernseher ausmachen, und da mir ohnehin gerade die Lust vergangen ist…“
    „Das ist nicht die Fernbedienung für den Fernseher! Das ist die für mein –“
    Ein tosender Schmerz jagt durch mein Bein, als es von innen auseinander gerissen wird. Der Rückstoß schleudert mich ein paar Zentimeter ins Bett zurück. Das ganze Laken ist voller Blut, auch Herr Sievert hat was abbekommen. Aus dem zerfetzten Fleisch an meiner Hüfte ragt ein langer, glänzender Metallstab, an dessen Ende schlaff mein Restbein baumelt. Es knallt, als der Gameboy auf dem Boden aufkommt.
    „Der Rufknopf!“, schreie ich. „Drücken Sie den Rufknopf! Es muss ein Arzt kommen!“
    Aber Herr Sievert drückt nicht. Er steht nur da, mit offenem Mund und Kreuzworträtselheft, und glotzt mein ausgefahrenes Teleskopbein an. Ich wälze mich im Bett herum, um die Wand hinter dem Bett im Blick zu haben, und suche mit den Augen nach dem Rufknopf, bis ich ihn endlich gefunden habe. Das Teleskopbein klappert am dänischen Bettrand, und irgendwo klappert und plätschert auch mein plastikummantelter Kunstmagen, als ich bäuchlings über das Bettzeug zum Knopf robbe und ihn drücke. Die Stimmen sind aber schon zu hören, kurz bevor ich ihn gedrückt habe.
    „Oh Herr im Himmel! Holt Dr. Mensenkamp!“
    „Das ist ja grässlich!“
    „Dr. Hermann, alles bereitmachen für Notfall-OP!“
    Geändert von Laidoridas (22.09.2019 um 18:59 Uhr)

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    XARDAS: Was mir im Tempel des SCHLÄFERS verwehrt blieb, ist nun endlich geschehen. BELIAR hat mich erwählt.
    HELD: Dann gehorchst du jetzt dem Gott der Finsternis?
    XARDAS: Nein. Ich gehorche genauso wenig BELIAR, wie du INNOS gehorchst! Nicht einmal die Götter wissen, was das Schicksal für uns bereit hält.

    „Hören Sie… mir… ist das wirklich ausgesprochen unangenehm, verstehen Sie?“
    „Hmm“, mache ich. Ich frage mich, ob es jetzt noch weitergeht. Bisher schien es immer irgendwie weiterzugehen, aber man kann nie wissen. Es könnte jederzeit plötzlich Schluss sein, und kein Gedanke macht mir mehr Angst. Die Esmeralda, das Schiff, es fährt jetzt über das Meer zu einem Kontinent. Ein richtiger Schlusspunkt ist das nicht, sage ich mir. Es wird schon noch weiter gehen.
    „Ich sehe nicht mehr so gut, und ich dachte wirklich, das sei die Fernbedienung für den Fernseher. Ich war schon ganz ärgerlich, dass Sie sich einfach die Fernbedienung genommen haben, obwohl Sie gar kein Fernsehen schauen. Je mehr ich darüber nachdenke, desto unangenehmer ist es mir. Ich hoffe, Sie verstehen das.“
    „Verstehe“, sage ich.
    „Gut… gut, dass Sie verstehen. Übrigens, falls es Sie interessiert, der Physiker mit sechs Buchstaben, das ist ein sogenannter Gerber. Ich bin nur mit einem Lexikon drauf gekommen, das habe ich mir aus der Krankenhausbibliothek geliehen. Da bin ich die Namen durchgegangen. Paul Gerber. Nie gehört, Sie?“
    „Nein.“
    „So sind sie, die Kreuzworträtselmacher.“
    „Ja.“
    Das Schiff ist am Festland angekommen, und ein großer Kampf mit einer ganzen Stadt voller Orks bricht los. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich glaube schon fast, den Kampf zu verlieren, aber irgendwie schaffe ich es am Leben zu bleiben. Das wäre auch ärgerlich gewesen, wenn ich mir die ganze Überfahrt der Esmeralda noch einmal hätte ansehen müssen. Sie hat zwar nicht lange gedauert, aber es ist eben nur ein kleines dunkelgrünes Pixelschiff, das von rechts nach links über ein hellgrünes Pixelmeer fährt. Das Spiel hat Spannenderes zu bieten als das. Und ich merke schnell, dass es noch einen ganzen gewaltigen Kontinent für mich auf Lager hat. Vielleicht ist es tatsächlich das Spiel, das niemals endet. Vielleicht besteht darin die große Errungenschaft dieser neuen Zukunftstechnologie.
    „Ich sehe, Sie sind wach.“
    Ich hatte damit gerechnet, dass Dr. Mensenkamp wieder bei mir aufschlagen würde, aber diesmal ist es ein anderer Arzt. Es ist Dr. Simon Budde, der Glatzkopf. Eigentlich ist es aber auch egal.
    „Wundern Sie sich nicht, dass Dr. Mensenkamp nicht hier ist“, beginnt Dr. Budde trotzdem. „Seine Schicht ist vorbei. Er hatte eine Doppelschicht und einige knifflige Operationen zu bewältigen. Jetzt hat er etwas Ruhe verdient, finden Sie nicht?“
    „Hm“, mache ich.
    „Keine Sorge, ich werde Ihnen alles so gut erklären, wie ich kann. Sie wollen ja sicher wissen, wie die Operation gelaufen ist.“
    Eigentlich interessiert mich vor allem, wo Lester abgeblieben ist.
    „Nach der… Komplikation mit Ihrem Teleskopimplantat haben wir alles daran gesetzt, Ihr Bein in einer Notfall-OP zu bewahren. Leider ist uns das nicht möglich gewesen. Unsere Untersuchung hat außerdem ergeben, dass es die Verwundung nicht zulässt, eine unserer Prothesen anzubringen. Es handelt sich um einen sehr ungünstigen und seltenen Ausnahmefall bei Ihrer Verwundung. Unser Technikerteam prüft aber gerade noch, ob Sie für einen unserer neuartigen Robotik-Prototypen infrage kommen. Wir sind zuversichtlich, Ihnen etwas anbieten zu können, aber geben Sie uns bitte noch etwas Zeit.“
    „Okay“, sage ich und hoffe, dass er jetzt endlich geht. Aber er ist anscheinend noch nicht fertig.
    „Leider ist da noch etwas, das ich Ihnen mitteilen muss. Da Sie den von Dr. Mensenkamp verordneten halbstündlichen Spülvorgang Ihres Magens nicht wie vorgeschrieben eingehalten haben, kam es bedauerlicherweise zu einer schweren Infektion Ihres Dünndarms. Glücklicherweise konnten wir Ihren Dünndarm komplikationsfrei durch einen künstlichen Dünndarm ersetzen, der im Großen und Ganzen genauso funktioniert wie Ihr gewohnter Dünndarm.“
    Er hebt die Bettdecke an und ich sehe ein unübersichtliches Knäuel aus Schläuchen über und neben meinem Bauch, rund um den künstlichen Magen herum. Wenigstens ist die klobige Spülvorrichtung wieder weg.
    „Sie müssen lediglich daran denken, Ihren Dünndarm genau zwanzig Minuten nach Beginn des Verdauungsvorgangs in Ihrem Magen einzuschalten. Der Zeitpunkt ist von großer Wichtigkeit. Wenn Sie Ihren Dünndarm zu früh einschalten, kann es zu unangenehmen Blähungen und im schlimmsten Fall zu einer Darmwandperforation oder einem Darmbruch des Dickdarms kommen. Wenn Sie ihn zu spät einschalten, werden Sie vermutlich unter Verstopfungen leiden, die, worüber ich Sie hiermit aufkläre, in seltenen Fällen zum Tode führen können. Sie brauchen sich aber keine Sorgen zu machen, wenn Sie sich einfach an das Handbuch halten. Außerdem müssen Sie in jedem Fall die Medikamente einnehmen, die ich Ihnen hier auf den Tisch gelegt habe. Wenn wir Sie entlassen, bekommen Sie natürlich noch ein Rezept von uns, damit gehen Sie dann zu Ihrem Hausarzt. Das sind vier Tabletten pro Tag, die dafür sorgen, dass Ihr Körper den künstlichen Dünndarm nicht abstößt. Die Nebenwirkungen sollten sich in Grenzen halten. Wenn es zu schlimm wird, kann ich Ihnen aber auch noch etwas verschreiben deswegen.“
    „Entschuldigung?“ Eine Krankenschwester rollt einen kleinen Rolltisch herein, auf dem ein Telefonapparat steht. Den Hörer hält sie in der Hand. „Sind Sie fertig, Herr Doktor Budde? Der Herr Patient empfängt einen Anruf.“
    „Ja, wir sind gerade fertig geworden“, sagt Dr. Budde und zwinkert mich zum Abschied lächelnd an. „Pünktlich wie die Maurer. Melden Sie sich, wenn Sie was brauchen.“
    Ich bin ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass es Herr Sievert ist, der angerufen worden ist, aber tatsächlich rollt die Krankenschwester den Rolltisch an mein eigenes Bett und drückt mir den Hörer in die Hand.
    „Hey, ich bin’s“, meldet sich Stefan. „Alles klar?“
    „Ja“, sage ich.
    „Du bist ja ganz schön schwer zu erreichen. Musste ordentlich rumtelefonieren.“
    „Hm.“
    „Und, hast du’s gemacht? Hast du den Wagen weggefahren?“
    „Ja, hab ich.“
    „Super, Mann!“, freut sich Stefan. „Ich wusste, du machst das. Und jetzt sag mir nicht, dass sich das nicht gut anfühlt, einfach mal spontan so ’ne Aktion durchgezogen zu haben. Das ist genau das, was du brauchst. Weniger denken und einfach mal mehr machen.“
    „Wenn du meinst.“
    „Hör mal, wegen Becki. Ich hab gerade mit Jan gesprochen, und er hat gesagt, dass Becki dich echt supernett findet, aber mehr jetzt auch nicht. Sie war wohl ganz schön überrascht, als sie gehört hat, dass du so in sie verschossen bist. Sorry, Mann, wir haben echt alles versucht, Jan und ich. Aber da ist nichts zu machen. Das mit Becki, das wird leider nichts.“
    „Okay.“
    „Hey, aber der Gameboy, der ist der Wahnsinn, oder? Ich wette, du legst das Ding gar nicht mehr aus der Hand. Du musst nur aufpassen, dass du im letzten Teil des Spiels nicht mehr weiterspielst, wenn du auf den Kontinent kommst. Da ist noch alles voller Fehler, haben sie gesagt. Ich musste den Leuten von Nintendo vertraglich zusichern, dass ich dann aufhöre zu spielen, also halt du dich bitte auch dran, alles klar?“
    „Alles klar.“
    „Perfekt. Ich lass dich dann mal machen. Man sieht sich.“
    Ich lege den Hörer auf und nehme den Gameboy in die Hand. Es ist mir völlig egal, was Stefan unterschrieben hat. Wegen ihm liege ich hier mit einem Bein und einem Verdauungstrakt weniger, da kann er mich wenigstens das verdammte Spiel zuende spielen lassen. Was interessieren mich irgendwelche Fehler. Ich speichere sowieso andauernd, und wenn es zu einem Fehler kommt, dann lade ich eben neu.
    LESTER: Schlechte Neuigkeiten! Es gibt keine Verstärkung!
    HELD: Hab ich gemerkt. Was ist los?
    LESTER: Such mal das Schiff. Du wirst es nicht finden.
    HELD: Was?
    LESTER: PIRATEN! Das Ganze hat nur wenige Augenblicke gedauert.

    Piraten. Polizisten. Ich frage mich, wann der erste von ihnen hier auftaucht.
    „Ich habe übrigens nachgefragt, was die Videokassette angeht“, ruft die Krankenschwester in den Raum hinein, als sie kommt, um das Telefontischchen zurückzurollen. „Das ist eine Aufnahme von 1939. Das Finale der estnischen Fußballmeisterschaft der Jahre 1938 und 1939. Eine Spende aus dem Privatarchiv von Herrn Schlehmeier.“
    „Ah“, macht Herr Sievert, und ich habe ganz den Eindruck, dass es ihn genauso wenig interessiert wie mich.
    „Die Satellitenschüssel müsste jetzt aber wieder funktionsfähig sein. Wenn Sie möchten, schalte ich den Fernseher für Sie ein.“
    „Lieber nicht“, sagt Herr Sievert. „Ich mache einfach mein Kreuzworträtsel.“
    „Einverstanden. Und Sie, Herr –“
    „Nein“, sage ich.
    „Sehr wohl. Rufen Sie mich einfach, wenn Sie etwas benötigen.“
    Mein Bein kribbelt, obwohl es gar nicht mehr da ist.
    Ich fühle mich wie ausgehöhlt.
    Ich bin ausgehöhlt.
    Mal sehen, was Lester zu sagen hat.
    LESTER: Ich werde mich nach Süden durchschlagen.
    HELD: Wir werden uns doch wiedersehen, oder?

    Ich bekomme keine Antwort. Lester ist weg. Ich bin weg. Alles auf dem Bildschirm ist weg. Und die rote Lampe leuchtet nicht mehr, nicht einmal mehr ganz schwach.
    Ich weiß nicht, wie lange es her ist, dass ich das letzte mal an die Batterien gedacht habe. Ich habe es geschafft, überhaupt nicht mehr an sie zu denken, aber jetzt ist der Gedanke wieder da, und nicht nur das, er ist zur Realität geworden.
    Den Anblick des leeren grünen Bildschirms ertrage ich nicht lange. Ich lege den toten Gameboy auf dem Bettlaken ab, richte mich auf und krame auf dem Tisch nach allem, was eine Batterie haben könnte. Der Wecker, dem ich nie Beachtung geschenkt habe, kommt mir plötzlich wie ein Geschenk des Schicksals vor. Mit zittrigen Händen drehe ich ihn um und hole eine Batterie heraus. Eine einzige Batterie nur. Das kann nicht reichen, oder?
    Ich öffne die Schiebeklappe auf der Rückseite des Gameboys und fühle mich in meinen schlimmsten Ahnungen bestätigt. Vier Batterien. Vier! Der Reihe nach tausche ich jede Batterie durch die Weckerbatterie aus, aber es reicht nicht. Ich brauche vier neue Batterien, nicht nur eine. Hastig heble ich alle leeren Batterien aus dem Fach und lasse sie zu Boden kullern, nur die Weckerbatterie bleibt drin.
    Drei Batterien noch. Drei brauche ich noch.
    „Die Fernbedienung!“, rufe ich zu Herrn Sievert herüber. „Geben Sie mir die Fernbedienung!“
    „Was machen Sie denn da drüben?“, erkundigt sich Herr Sievert.
    „Geben Sie mir einfach die Fernbedienung!“
    Es dauert eine Weile, aber dann kommt Herr Sievert endlich an und reicht mir die Fernbedienung. Er runzelt die Stirn beim Anblick des offenen Gameboys und der herumliegenden Batterien, aber er sagt nichts. Wahrscheinlich weil er auch die Stelle sieht, an der mein Bein hätte liegen müssen.
    Ich nehme stumm die Fernbedienung entgegen und klappe das Batteriefach auf. Zwei Batterien, aber es sind die falschen. Es sind kleine Batterien, AAA-Batterien. Ich brauche AA-Batterien. Vielleicht ist es auch anders herum, aber ich brauche die größeren, nicht die kleineren.
    „Haben Sie Batterien?“, frage ich Herrn Sievert, der gerade auf dem Rückweg zu seinem Bett ist. „Solche Batterien hier?“
    Herr Sievert dreht sich zu mir um. „Nein, ich fürchte nicht.“
    Keine Batterien. Ich schaue zum Fernseher, aber der hat keine Batterien, der ist ans Stromnetz angeschlossen. Die Fernbedienung für mein Beinimplantat hat wahrscheinlich Batterien enthalten, aber die ist längst wieder weg aus dem Zimmer. Nichts hier hat Batterien.
    Der Gameboy ist tot, und ich habe nichts, um ihn wieder zum Leben zu erwecken. Ich liege ganz allein im Bett, verkrüppelt und verraten, und der Gameboy ist tot.
    Der Gedanke ist nicht zu ertragen. Ich schleudere die Bettdecke von mir und stehe auf, hieve mich irgendwie aus dem dänischen Bett und stehe für einen Moment auf meinem Bein, mit der einen Hand am Beistelltisch, mit der anderen am offenen Gameboy. Aber dann, als ich losspringe, zur Tür hin, raus aus dem Raum ohne Batterien, reißen mich die Schläuche und die Kabel nach hinten. Ich gebe mich nicht geschlagen, ich versuche es noch einmal, in geduckter Stellung, aber ich verliere das Gleichgewicht. Jetzt liege ich am Boden, aber das gibt mir Kraft. Mit einem Ruck reiße ich den Infusionsständer um und höre mit Genugtuung, wie hinter mir das Flüssigkeitsbeutelchen zerplatzt. Jetzt hält mich nur noch das Blutdruckmessgerät, das ein massives Blutdruckmessgerät ist und mir unüberwindlich vorkommt. Aber ich habe schon den Infusionsständer aus dem Weg geschafft, ich kann auch das Blutdruckmessgerät besiegen. Ich brauche nicht einmal Biff dazu. Als ich mich wieder bewege, da rührt sich das Blutdruckmessgerät nicht, aber etwas anderes fällt vom Bett und landet polternd inmitten verknoteter Schläuche. Mein künstlicher Magen.
    Er ist nicht an den Strom angeschlossen, wird mir bewusst. Er hat immer gerumpelt und geschlürft wie verrückt, er muss irgendwo Energie herbekommen. Meine bebenden Hände umklammern jetzt den Magen, tasten ihn an allen Seiten ab, bis sie eine Einkerbung zu fassen kriegen, an der die Finger ziehen können. Links, rechts, rechts, links. Es klickt, und das Batteriefach liegt geöffnet vor mir.
    Fünf Batterien. Und es sind die richtigen.
    Geändert von Laidoridas (09.09.2019 um 18:40 Uhr)

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    Deus Avatar von Laidoridas
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    HELD: Ich soll für dich arbeiten?
    AGENAK: Ich würde es ja selbst erledigen, aber es ist eine etwas heikle Angelegenheit. MIRZO, dieser eingebildete Mistkerl von einem Assassinen, verhöhnt mich schon seit Tagen. Jedes Mal, wenn er eine größere Lieferung bekommt, lagert er seinen Unrat direkt vor meiner Arena. Das macht er nur, um mich zu ärgern. Ich würde ihm zu gerne mal einen Denkzettel verpassen.

    „Ich bitte Sie. Sie müssen jetzt aufstehen.“
    HELD: Warum regelst du das nicht selbst? Oder seid ihr Orks etwa nicht die Herren der Stadt?
    „Herr Sievert hat uns alles erzählt. Er ist sehr besorgt um Sie, und so geht es uns allen. Wir wollen Ihnen ja helfen, verstehen Sie, aber Sie müssen uns auch lassen. Wir können Ihnen nicht helfen, solange Sie unter Ihrem Bett liegen und auf Ihr Gerät starren.“
    AGENAK: Seit wir Orks den Bund mit dem Wüstenvolk eingegangen sind, hat sich einiges verändert. Ich kann nicht einfach hingehen und dem Assassinen die Fresse polieren. Du bist ein Morra. Bei dir ist das was anderes.
    „Es hat keinen Zweck mit ihm zu reden. Ich glaube, der hört uns gar nicht. Schwester Britta, helfen Sie mir bitte ihn zu fixieren.“
    „Glauben Sie… er wird sich wehren?“
    „Schwer zu sagen. Wir sollten auf alles gefasst sein.“
    „Am besten ziehen wir ihn auf der rechten Seite heraus. Die andere ist nass, da müssen wir ihn gleich wieder umziehen.“
    „Darauf kann ich verzichten. Also, auf drei. Eins, zwei, drei.“
    HELD: Ich kümmer mich drum.
    AGENAK: Gut! Aber töte ihn nicht! Sonst hast du mehr Ärger am Hals, als du dir leisten kannst.

    „Das wäre geschafft.“
    „Ich sage ja, er hört uns gar nicht. Doktor Mensenkamp hat recht behalten, was seine Diagnose betrifft. Sagen Sie Doktor Hermann, er soll umgehend alles für eine Notfall-OP bereitmachen.“
    „Mach ich.“
    „Und wecken Sie meinen Bruder. Diese Angelegenheit erfordert mehr als einen Budde.“
    „Wird erledigt.“
    Mirzo ist ein Assassine wie jeder andere auch. In jeder Stadt gibt es einen oder zwei von ihnen. Sie sind alle gleich. Ich habe kein Problem damit, ihn umzuhauen.
    „Hören Sie, wenn Sie mich noch hören können… Dr. Budde glaubt, niemand kann Sie mehr hören, aber ich bin mir sicher, dass Sie mich noch hören können. Ich möchte nur, dass Sie wissen, was jetzt auf Sie zukommt. Wir bringen Sie gerade in den OP-Raum, und die beiden Doktoren werden eine Operation an Ihnen durchführen.“
    Ich weiß, wo der Assassine wohnt. Sein Haus ist eingerichtet wie alle Assassinenhäuser eingerichtet sind. Er hat das typische Assassinenbett.
    „Doktor Mensenkamp ist der Meinung, dass Ihr Verhalten auf ein Blutgerinnsel zurückzuführen ist, das von Ihrer rechten Kopfseite bis in Ihren Kopf hineingewachsen ist und auf Ihre Schädeldecke drückt. Das Gerinnsel soll Ihnen gleich entfernt werden, aber die Sache ist, Sie werden dabei bei Bewusstsein sein.“
    Da steht er, Mirzo, der Assassine. Er hat keine Ahnung, was ich mit ihm vorhabe.
    „Es wird eine lokale Betäubung geben und Sie werden keine Schmerzen spüren, aber Sie sollten trotzdem darauf vorbereitet sein. Dr. Budde glaubt, dass es keinen Unterschied machen wird, dass Sie ohnehin nichts mehr wahrnehmen außer das Ding in Ihren Händen. Aber ich bin nicht dieser Meinung. Wenn Sie irgendetwas sagen, irgendein Wort… dann können wir noch einmal in Ruhe darüber reden.“
    Ich überlege, ob ich Mirzo ansprechen soll, aber wozu? Er hat bestimmt nichts Interessantes zu sagen. Ich habe all diese Texte satt. Jeder erzählt am Ende doch nur das Gleiche. Mirzo kriegt aufs Maul, ohne Vorwarnung. Da liegt er vor mir im Staub, klein und grün und plattgemacht. Er hatte nie eine Chance gegen mich.
    „Hören Sie? Wenn Sie nur ein Wort sagen würden… Sie werden… ich glaube, Sie werden bis ins Hirn…“
    „Schwester Britta, OP-Besteck bereit machen.“
    „Natürlich, Herr Doktor Budde. Schön Sie zu sehen, Herr Doktor Budde. Ich hoffe, Sie sind ausgeschlafen.“
    „Nicht ganz. Aber wenn mein Bruder mich braucht…“
    „Buddes müssen zusammenhalten.“
    HELD: MIRZO hat aufs Maul bekommen.
    „Bereit?“
    „Bereit. Ich setze jetzt den Schnitt.“
    AGENAK: Respekt! Das hätte ich dir gar nicht zugetraut, Morra. Das lass ich mich einiges kosten.
    „Siehst du das, Friedrich? Das sieht nicht gut aus.“
    „Ja. Das toxische Gewebe hat die Schädeldecke mürbe gemacht. Wir müssen tiefer. Reich mir den Bohrer.“
    „Thalamus freigelegt. Thalamus befallen.“
    „Frontallappen ebenfalls befallen. Großflächiger Befund.“
    „Schwester Britta, reichen Sie mir das Mikroskalpell.“
    „Sehr wohl, Herr Doktor Budde.“
    „Durchtrenne Nervenbahnen. Schwester Britta, stillen Sie die Blutung. Auf eins, zwei, drei.“
    HELD: Kannst du mir statt Gold auch einen Schuldschein geben?
    AGENAK: Einen Schuldschein? Wovon sprichst du, Morra?
    HELD: Ich habe Schulden bei LEHMAR, dem Geldverleiher, die ich noch immer nicht zurückgezahlt habe.

    Lehmar, der Mistkerl. Da sitzt er in seinem Sessel, ganz gemütlich hat er es sich gemacht. In seinen Händen das Schuldenbuch.

    Anamnese und Diagnostik: Fünfhundert Goldstücke
    Künstlicher Magen: Neuntausend Goldstücke
    Spülsystem: Dreitausend Goldstücke
    Künstlicher Dünndarm: Siebentausend Goldstücke
    Teleskopimplantat (Oberschenkelknochen): Zwölftausend Goldstücke
    Entgiftung (Gehirn): Zwanzigtausend Goldstücke
    Übernachtung und Pflege: Elftausend Goldstücke

    Summa summarum: Zweiundsechzigtausendfünfhundert Goldstücke. Zahlbar sofort oder in Raten
    (Monatliche Rate von eintausend Goldstücken, Zinssatz neun Prozent).

    HELD: Vergiss es, LEHMAR. Du kriegst jetzt was aufs Maul.
    Aber es ist Lehmar, der mir was aufs Maul gibt. Er prügelt alles aus mir raus, was noch drin ist. Irgendwann sind seine Fäuste ganz grün vor Blut, und ich liege am Boden und warte auf das Ende.
    LEHMAR: Du hast ja nicht mal Gold dabei.
    Bevor Lehmar nach dem Langschwert greift, muss ich an den Kaktus denken, den jetzt keiner mehr gießen wird. Und dann, als hätte ich es geahnt, sehe ich dich ein letztes Mal. Jetzt weißt du, was aus mir geworden ist. Hättest du das gedacht?
    Geändert von Laidoridas (22.09.2019 um 18:54 Uhr)

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