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    Deus Avatar von John Irenicus
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    Post [Story]Gollwitzers Erbe

    Gollwitzers Erbe

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    Spoiler:(zum lesen bitte Text markieren)
    Diese Geschichte wurde im Rahmen des Story-Wettbewerbs 2019 als sogenannte "Wikipedia-Zufallsgeschichte" geschrieben. Dabei musste ich als Autor sieben zufällige Wikipedia-Artikel und sieben zufällige Artikel aus dem Almanach der World of Gothic ziehen. Aufgabe war es, aus je fünf Artikeln - zwei Artikel pro Enzyklopädie durften außer Acht gelassen werden - eine Story zu schreiben, die die gezogenen Zufallsseiten möglichst geschickt verwertet. Das Ergebnis meiner Ziehung ist diese Geschichte hier. Meine gezogenen Begriffe waren:


    Geändert von John Irenicus (15.10.2019 um 23:20 Uhr)

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    Deus Avatar von John Irenicus
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    1. Ihr Name ist Mü.


    „Ihr Name ist Mü. Akaflieg Mü 3. Aka für das Akazienholz, das wir verwendet haben, für die Mühe, die wir bei der Konstruktion hatten, und die 3 … nunja. Das müssen wir ja nicht jedem erzählen, dass unsere ersten beiden Prototypen gescheitert sind.“
    „Klingt aber trotzdem ein bisschen so, wie wenn man ein Schiff Unsinkbar II nennt. Verstehst du, was ich meine?“
    „Natürlich nicht, denn meine Schiffe sind noch nie gesunken!“
    „Ja, weil du noch nie auch nur eines fertiggestellt hast.“
    „Ach, jetzt fang nicht wieder damit an! Wenn Monty sich nicht aus dem Staub gemacht hätte, dann …“
    „Ich fange nicht damit an, wenn du auch nicht wieder mit der Monty-Geschichte anfängst, einverstanden?“
    „Einverstanden.“
    Garvell blickte gedankenverloren auf die beiden Füße, die unter der Hebebühne hervorragten. Insgesamt gesehen war es nur gut, dass das nicht Montys Beine waren. Ihr Schiff hätten sie ja doch nie fertig bekommen. Und mit dem neuen Projekt war Garvell jetzt hochzufrieden, gescheiterte Prototypen hin oder her. Das gehörte bei so einem Konstruktionsprozess nun einmal dazu. Immerhin waren diese Prototypen zumindest ansatzweise fertig geworden, zumindest so weit, um ihre Funktionstüchtigkeit testen zu können. Davon war Garvell mit seinem Schiff weit entfernt gewesen. Allen Hindernissen und Nickeligkeiten zum Trotz hatte Garvell beim Bau ihres Fluggeräts zum ersten Mal seit Monaten wieder richtig Feuer in sich gespürt. Und jetzt, wo er es vor sich sah, dort auf der Hebebühne, konnte er die Fertigstellung kaum noch erwarten.
    „Bist du mit dem Namen denn einverstanden?“, fragte Garvell.
    Keine Antwort. Stattdessen geräuschvolles Gehämmer. Gut, Garvell wollte bei den letzten Handgriffen lieber nicht unnötig stören, zumal sie auch ein wenig in Eile waren. Er ging rüber zu einem der vielen Werktische, um sich noch einmal die Einladung anzusehen. Der Handzettel war von der hereinfallenden Meeresbrise etwas verweht worden und hatte es sich direkt neben dem großen Schraubstock gemütlich gemacht. Garvell zog das eng beschriebene Papier zu sich heran und begann, wie schon so viele Male zuvor, zu lesen. Wie, um sich ein letztes Mal zu vergewissern, dass er auch wirklich nichts missverstanden hatte, dass es Wirklichkeit war, was hier passierte.


    An alle, die sich auf den Bau und den Betrieb von Transportmitteln verstehen!

    Ich, Karl Albert Gollwitzer, habe mein Leben stets strebsam und bemüht darum verbracht, den Myrtanern – wozu ich selbstverständlich auch die Khoriner zähle, obwohl mein Wirken dort weniger bekannt ist – die Baukunst näher zu bringen. Als Architekt habe ich Manches gewagt und Manches gewonnen, habe mich auf Reisen begeben und viel von der Welt gesehen. Ich habe Häuser, Türme, Kirchen gebaut, ganze Dörfer mitgeplant und sogar Schlösser entworfen. Was viele aber nicht wissen, ist, dass ich immer auch einen Teil meiner Schaffenskraft in Überlegungen zum Bau neuartiger Transportmittel und der Erschließung neuer Wegenetze steckte, wo immer mir die Zeit dafür blieb. Für viele dieser Ideen bin ich von Kollegen wie Fachunkundigen belächelt worden, doch kein Spott war scharf genug, um mir diesbezüglich den Schneid abzukaufen. Noch immer bin ich davon überzeugt, dass die Zukunft unseres Landes in der Mobilität seiner Bürger liegt, und ich will darum kämpfen, dass diese Idee nicht in Vergessenheit gerät.

    Leider lassen mein hohes Alter und diverse körperliche Leiden – geistig bin ich noch im Vollbesitz meiner Kräfte – eine allzu aktive Arbeit an neuen Projekten nicht mehr zu. Ich hätte meine Unternehmungen längst in die Hände jüngerer Generationen gelegt, wenn mein Leben und meine Berufung es mir nicht bedauerlicherweise versagt hätten, eine Familie zu gründen und Kinder zu bekommen. Ich blicke sodenn dem nahenden Ende meines Lebens entgegen, ohne jemanden zu haben, dem ich das gewaltige Erbe, das jetzt noch auf meinen Schultern lastet, übertragen könnte. Gleichzeitig ist es aber mein Wunsch, die Leistungen, die ich in mein Lebenswerk steckte, nicht rücksichtslos durch meinen Tod verpuffen zu lassen. Ich suche jemanden, der, wenn die Zeit gekommen ist, meinen Nachlass verwaltet, und damit sind die materiellen Bestandteile des Nachlasses ebenso angesprochen wie die ideeller Natur. Kurz: Ich suche einen Erben.

    Ich habe lange überlegt, wie ich einen geeigneten Erben für mich finden könnte. Man gab mir dabei von vielerlei Seite gute wie böswillig gemeinte Ratschläge, doch jedes Verfahren, das mir angetragen wurde, schien mir höchst fehlbar zu sein. Zur Einsicht gelangte ich erst, als ich, wie so oft in meinem Leben, die Stimmen anderer ausblendete und nur auf meinen eigenen Verstand hörte. Mittlerweile ist mir klar, dass ich meinen Erben nur finden kann, wenn ich seine Suche mit derjenigen Idee verknüpfe, für die ich auch im hohen Alter noch brenne. Mein Erbe soll jemand sein, der sich besonders um Mobilität und Transportwesen verdient gemacht hat, der Ideenreichtum, Handwerk und Technik vereint, aber auch die nötige Durchsetzungsfähigkeit und den Mut zur Wagnis mitbringt, den Mut, auch neue Wege zu beschreiten.

    Ich habe mich deshalb dazu entschlossen, einen Wettbewerb auszurichten. Es ist jeder zur Teilnahme aufgerufen, der glaubt, ihn bestehen zu können. Es wird um ein Rennen gehen, ein Rennen von Silden in Myrtana nach Süden ins Umland von Mora Sul, wo ich mich in einer eigens erbauten Behausung – der Wehrkirche Walpernhain – niedergelassen habe. Derjenige, der das Rennen gewinnt, soll mein Erbe werden. Es ist den Teilnehmern erlaubt, in Teams anzutreten, doch es sei gesagt, dass ich am Ende nur eine Person aus dem Siegerteam zu meinem Erben bestimmen werde. Die Mittel der Teilnahme sind nahezu unbegrenzt, jedes nur erdenkliche Gefährt ist zugelassen. Es dürfte sich von selbst verstehen, dass man mit allzu konventionellen Transportmitteln von seinen Konkurrenten in diesem Rennen schnell ausgestochen wird. Indes: Selbst eine Teilnahme zu Fuß ist erlaubt, wenn man denn der Meinung ist, so seine Mitbewerber schlagen zu können. Einzig eine Einschränkung gilt bei der Wahl der Mittel: Teleporte oder sonstige magische Tricks, wie zum Beispiel Levitation, sind ausgeschlossen. Dies soll in erster Linie ein Wettbewerb der Technik und Konstruktionskunst sein, kein Kräftemessen der Zauberei.

    Wer sich der Aufgabe gewappnet fühlt, der nehme die umseitigen Informationen zur Kenntnis und finde sich rechtzeitig zum Start des Rennens in Silden ein. Für die Khoriner Bewerber, die ich ausdrücklich und herzlichst einlade, wird am Tage vor Rennbeginn ein eigens bestelltes Schiff die Überfahrt aufs Festland gewähren. Weitere Details dazu finden sich auf der Rückseite dieses Schreibens.

    Viel Erfolg und auf ein gutes Rennen!

    K. A. Gollwitzer


    Die Rückseite überflog Garvell lediglich, denn sie hatte er nun wirklich oft genug gelesen. Es waren allerlei detaillierte Ausführungen, wo und bei wem man sich in Silden zu melden hatte, sowie ein ganzer Absatz über die Überfahrt von Khorinis samt der Versicherung, dass das Schiff schnell und robust genug sei, um die Überfahrt zum Festland in einem Tag zu schaffen – zumindest bei normalem Seegang, das Risiko der Verspätung hatten die Teilnehmer selbst zu tragen. Tatsächlich hatte Garvell deshalb daran gedacht, schon vorher zum Festland zu reisen, aber erstens gab es noch immer keinen regelmäßigen Schiffsverkehr zwischen Khorinis und dem Festland, und zweitens hatten sie hier alle Hände voll zu tun, um ihr Fluggerät rechtzeitig zum Tag der Abreise fertigzustellen. Der Tag war auf der Rückseite des Handzettels notiert. Er war heute.
    „So – fertig!“
    Ein Schraubenschlüssel fiel fröhlich klimpernd auf den Boden und das unverkennbare Geräusch von Alejandras Rollbrett ertönte. Garvell legte den Handzettel zurück auf die Werkbank, auf einen wilden Haufen anderer Zettel voller Skizzen und Entwürfe, und blickte in das ölverschmierte Gesicht seiner Assistentin. Sie hatte sich die Haare zurückgebunden, aber ein paar Strähnen fielen ihr vor die Augen. Ihre Zähne blitzten weiß hervor, so breit wie jetzt hatte Garvell sie schon lange nicht mehr grinsen gesehen. Sie hatten die letzten Tage allerdings auch fast rund um die Uhr an ihrem Fluggerät gearbeitet, und Garvell war sich nicht zu schade, zuzugeben, dass Alejandra in dieser entscheidenden Phase die Hauptlast der Arbeiten getragen hatte. Ob Grob- oder Feinmechanik, Aerodynamik, ja selbst die zugehörigen Berechnungen, für die Garvell sich selbst hauptsächlich eingeteilt hatte – Alejandra konnte das alles, und das, was sie nicht konnte, brachte sie sich im Handumdrehen selber bei. Sie war da doch ein ganz anderes Kaliber als Monty, der bei längeren Projekten unweigerlich die Lust verlor, wobei Garvell dafür zugegebenermaßen als einziges längeres Projekt den längst aufgegebenen Schiffsbau als Beleg heranziehen konnte. So oder so: Die Energie eines ganzen Monty hatte Alejandra locker im kleinen Finger, und Garvell konnte sich keine bessere Mechanikerin als sie vorstellen. Dabei war es der Zufall, der sie zusammengeführt hatte: Kurz nachdem Monty sich aus dem Staub gemacht hatte, war sie mit einem der unregelmäßig fahrenden Schiffe von den südlichen Inseln gekommen, auf der Suche nach Arbeit, die sie in ihrer alten Heimat nicht hatte finden können. Nachdem sie es bei den Handwerkern und Meistern in der Unterstadt versucht hatte, die sie trotz ihres nicht zu übersehenden Talents nicht hatten anstellen wollen, war sie eines Tages einfach in Garvells Werkshalle im Hafenviertel spaziert und hatte ihn nach Arbeit gefragt. Garvell hatte ihr nicht viel zugetraut, aber aus einer Eingebung heraus hatte er sie bei sich angestellt. Diese Entscheidung hatte sich schnell als goldrichtig erwiesen.
    Alejandra war mittlerweile aufgestanden und klopfte sich erfolglos den Dreck von ihrer Arbeitskleidung. Sie ging ein paar Schritte von der Hebebühne weg, stemmte die Arme in ihre Seiten und betrachtete ihr Werk. Garvell tat es ihr gleich.
    Als erstes ins Auge fielen die Tragflächen. Sie waren der Teil der Konstruktion, an dem Garvell und Alejandra am meisten getüftelt hatten. Die von Garvell im spontanen Wahn angedachte Spannweite von zwanzig Metern war es zwar nicht geworden, nichtsdestotrotz waren die Tragflächen beeindruckend lang. Sie waren ebenfalls aus dünn geschliffenem Akazienholz geformt und waren hier und da mit kleinen verstellbaren Segelflächen gespickt, die man per zentraler Handsteuerung an jedwede Änderung der Windrichtung, Windstärke oder des Auftriebs anpassen konnte. Diese Anpassung funktionierte zwar nur in der Theorie und hatte noch keinen Praxistest unterlaufen, aber Garvell hatte sich geradezu die Seele aus dem Leib gerechnet bei der Konstruktion. Er war sich sicher, dass es funktionierte. Zur Unterstützung des Ganzen waren auch die – getesteten – Tragflächen selbst ein kleines bisschen beweglich, sie konnten also nicht nur starr ihren Dienst verrichten, sondern vollführten, wenn sie entsprechend eingestellt waren, kleine mechanische Flatterbewegungen. Dies war sicherlich der experimentellste Teil der Tragflächen, den Garvell nur gegenüber Alejandra hatte durchsetzen können, weil er eben ihr Chef war und nicht umgekehrt.
    Der andere große experimentelle Baustein der Mü, für den sich wiederum vor allem Alejandra verantwortlich zeichnete, war der Antrieb. Nicht nur der Flattermechanismus der Tragflächen war auf Energiezufuhr angewiesen, auch hatten Garvell und Alejandra kein reines Segelobjekt bauen wollen, sondern ein Vehikel, das grundsätzlich unabhängig von den natürlichen Windströmungen flog. Auch bei nahezu vollständiger Windstille wollten sie mit ordentlich Schub durch die Lüfte gleiten können. Quelle dieser Schubkraft war ein Kohleofen, der am hinteren Ende der Mü angebracht war. Alejandra hatte Tage und Nächte lang jede auch nur erdenkliche Idee ausprobiert, um das Gewicht dieses schwarzen Kolosses so weit zu reduzieren wie möglich. Letzten Endes hatte sie den Ofen so weit verschlanken können, dass die Mü noch flugfähig war, die Energiequelle aber weiterhin stark genug, um den nötigen Schub zu leisten. Masse und Schub hielten sich die Waage, um die Mü flugfähig zu halten – zumindest in der Theorie. Getestet hatten sie es nur am Vorgängermodell der Mü, welches allerdings aus vielen anderen Gründen nicht ihren Ansprüchen genügt hatte. Die heiße Luft aus dem Kohleofen, und das war getestet, trieb einen hinten angebrachten Propeller an, der für den nötigen Schub nach vorne sorgte, wobei ein weiteres System aus drei kleineren Propellern direkt unter der Konstruktion für direkten Auftrieb sorgte, der insbesondere für den Start auf ebener Fläche wichtig war. Die zu verfeuernde Kohle war in einem Holzfass gelagert, das an der rechten Seite der Mü angebracht war und aus dem während des Fluges immer neue Briketts entnommen werden konnten.
    Das alles engte den Platz für die Piloten relativ weit ein. Die Personenfläche war so gestrickt, dass Garvell und Alejandra sich beide unabhängig darauf bewegen konnten, wenn sie sich richtig koordinierten. Als Tanzparkett war das Ganze freilich nicht ausgelegt, sodass es zu zweit eng wurde, aber letzten Endes hatten sie auch hier entschieden, möglichst viel Gewicht und vor allem auch Material zu sparen, denn das Material war teuer, vor allem das Akazienholz, sogar mehr noch als der Kohleofen. Garvell hatte seine letzten Ersparnisse in die Entwicklung der Mü und ihre beiden Vorgänger gesteckt, und dies war nun die letzte Chance. Wie groß die Chance war, konnte Garvell natürlich nicht realistisch einschätzen, aber wenn er sich diesen futuristischen Wahnwitz auf zwei Flügeln so besah, dann konnte er sich nicht vorstellen, dass irgendein Wettbewerbsteilnehmer ein auch nur annähernd vergleichbares Gefährt ins Rennen schicken würde. Sie würden die Lufthoheit haben, und wenn, falls alles funktionierte, dann war ihr Sieg alles andere als unwahrscheinlich.
    „Was grübelst du?“, sprach Alejandra ihn von der Seite an. Sie hatte die ganze Zeit stumm neben ihm gestanden. Ihr Gesicht war noch immer fleckig vom Öl, mit der sie die ganze mechanische Flügelkonstruktion noch einmal fit gemacht hatte. „Hättest du dir vor einigen Monaten, als du noch an deinem Schiff gewerkelt hast, nicht gedacht, dass du einmal in die Lüfte steigen würdest, oder?“
    Garvells Blick ging zu dem Schiffswrack, das große Teile der Werkshalle ausfüllte. Nach Abbruch des Bauprojekts hatte er so viele Teile verwertet wie nur möglich, auch einiges an Holz wieder abverkauft, um den Bau der Mü zu finanzieren. Was übrig geblieben war, war ein hölzernes Skelett, das dort ruhte wie das Fossil eines vor langer Zeit erschlagenen Urviehs.
    „Danke“, murmelte Garvell.
    „Wie meinen?“
    „Danke … für deine Mitarbeit, Alejandra.“
    Sie sah ihn an, ihre dunklen Augen zeigten Überraschung. Garvell konnte es ihr nicht verübeln. Er hatte erst langsam gelernt, dass man sich seinem Umfeld gegenüber auch einmal dankbar zeigen konnte.
    „Jetzt werden wir aber nicht gefühlsduselig, oder?“, fragte Alejandra grinsend.
    „Natürlich nicht!“, antwortete Garvell reflexartig.
    „Na dann ist ja gut … dann sage ich mal: Bitteschön! Dafür bezahlst du mich ja auch schließlich. Ich könnte übrigens auch ständig Danke sagen, dass du mich überhaupt eingestellt hast, da hast du nämlich allen anderen Leuten hier auf Khorinis was voraus, zumindest fast allen, inklusive der ganzen Handwerksmeister. Von daher würde ich mal sagen, wir sind quitt.“
    Garvell lächelte zurück und wusste nicht, was er noch sagen sollte. Sein Blick fiel deshalb wieder auf das Fluggerät. Sie hatten es vorne an der Schnauze noch mit einem einzelnen Wagenrad versehen und hinten mit zwei Griffen, sodass es zwei Männer – oder eben ein Mann und eine Frau – über den Untergrund schieben konnten, wenn es mal über Land transportiert werden sollte. Sie hatten über das Rad viel gestritten, Alejandra war dagegen gewesen, weil es weiteres Gewicht bedeutete, Garvell war dafür gewesen, schlicht, weil es die Logistik erleichterte. Schlussendlich hatte wieder einmal der Chef entschieden, und auch wenn Alejandra ihm es nicht offen übel genommen hatte, hatte sie ihre Meinung zu dem Rad nie ganz revidiert. Garvell konnte sich schon sehr gut vorstellen, dass Alejandra bei den Handwerksmeistern nicht gut angekommen war. Wenn man als Frau, noch dazu als eine noch recht junge, so offen und energisch widersprach, machte man sich auf Khorinis nicht gerade Freunde.
    „Du hast mir aber noch gar nicht gesagt, was du jetzt vom Namen hältst.“
    „Der Name?“
    „Ja. Was sagst du zu ihrem Namen?“
    „Was soll schon damit sein?“, sagte Alejandra lächelnd. „Ihr Name ist Mü! Und jetzt holen wir uns erst einmal Fischbrötchen, und dann geht die Reise los!“
    Geändert von John Irenicus (06.10.2019 um 22:38 Uhr) Grund: Mini-Rechtschreibfehler ausgebessert

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    Deus Avatar von John Irenicus
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    2. Bitte nicht die Fische füttern!


    „Also, gehen wir das Ganze noch ein letztes Mal durch.“
    „Mann Boss, muss das sein? Wir sind doch nicht bescheuert! Wir haben das jetzt schon zweimal besprochen!“
    „Dann gehen wir es jetzt eben ein drittes Mal durch“, beschied Dexter. „Die Sache ist zu wichtig, als dass wir uns da Fehler erlauben könnten.“
    Dexter stand mit zwei seiner besten Männer einige Meter entfernt vom Kai, versteckt vor neugierigen Blicken. Das Schiff würde jeden Moment am Khoriner Hafen anlegen. Das nötigte Dexter einen gewissen Respekt ab: Nicht nur waren seine Informationen vollkommen korrekt gewesen, was aufgrund unzulässiger Quellen leider nicht immer der Fall war. Auch konnte das von Gollwitzer gesandte Schiff offenbar alle Versprechungen einhalten. Es war schnell, obwohl der Wind nach Dexters Dafürhalten gar nicht so günstig stand. Er war allerdings auch kein Seemann, ebensowenig wie seine beiden Banditenjungs, die er aber nichtsdestotrotz auf dem Schiff untergebracht hatte. Es war bereits alles beschlossene Sache: Dexter hatte seine Kontakte zum Festland spielen lassen und dem Veranstalterteam rund um Gollwitzer zwei weitere Matrosen, also insgesamt vier weitere helfende Hände vermittelt, die bei so einer Überfahrt und dem Geschleppe vor Ort doch so dringend gebraucht wurden. Und das natürlich zu einem so unschlagbaren Preis, dass man sein Angebot kaum hatte ablehnen können. Dass die Veranstalter sich damit vermutlich bis zu vier linke Hände eingekauft hatten, mussten sie ja nicht wissen. Ebenso wenig wie sie wissen mussten, dass Mick und Eddie hier tatsächlich äußerst engagiert nachhelfen und mit anpacken würden. Zumindest, wenn alles nach Plan lief. Und das musste es, denn sonst würden Dexter und seine Geschäftspartner jede Menge Gold verlieren.
    „Also, das Schiff kommt nachher an und wird dann die Teilnehmer und ihre Karren einladen“, referierte Dexter. „Ich weiß nicht, wie viele Teilnehmer es aus Khorinis sein werden. Die Handzettel wurden überall verteilt, aber wer weiß schon, ob sich da überhaupt wer meldet. Wäre gut, wenn wenigstens mehr als ein Team von hier mitkäme, dann hätte eure Hilfe als Matrosen nämlich noch ein bisschen mehr Berechtigung. Aber wir werden sehen.“
    „Warum machen wir eigentlich nicht mit?“, fragte Mick. Der untersetzte Kerl rieb sich seinen kurzen Schnurrbart, wie er es häufig tat, wenn er blöde Fragen stellte. „Wenn wir das gewinnen würden, dann hätten wir doch für immer ausgesorgt!“
    Dexter musste seinen Ärger zügeln. Das hier waren in der Tat seine zwei besten Männer. Wenn er aber an die Zeiten zurückdachte, als es in Jharkendar noch lief … da wären die beiden rasch aus seiner Bande aussortiert worden. Heutzutage jedoch …
    „Erstens“, knurrte Dexter, „Habe ich sicher keine Zeit, mich um das Erbe von Gollwitzer zu kümmern. Und da ich auf dem Festland noch immer gesucht werde, woran ich euch gerne noch einmal erinnere, bin ich wahrscheinlich sowieso nicht der Richtige dafür. Und zweitens: Womit wollten wir denn antreten? Das ist kein Schubkarrenrennen, das kann ich dir gleich sagen! Und jetzt hör zu und lass deine komischen Ideen stecken. Ich habe mir das alles schon gut überlegt. Reich werden wir schon, wenn wir die Wetten gewinnen. Und hier kommt ihr wieder ins Spiel.“
    „Weil wir die Teilnehmer sabotieren“, meldete Eddie sich zu Wort. Er überragte Mick relativ deutlich, war schlank und hatte krauses Haar. Die beiden gaben ein ziemlich ungleiches Duo ab. „Alle, bis auf den einen.“
    „So ist es“, sagte Dexter. „Aber das kommt erst später. Erst einmal müsst ihr die Überfahrt machen. Verhaltet euch so wie ganz normale Matrosen. Wenn sich nicht die todsichere Gelegenheit dafür ergeben sollte, dann versucht bei der Überfahrt noch keine krummen Dinger. Ich kann mir vorstellen, dass die Teilnehmer, aber auch das restliche Schiffspersonal ziemlich genau auf ihren Krempel achten werden. Und wenn da dann was auffliegt … im Zweifel also lieber die Finger ruhig halten, bis ihr vor Ort seid. Und: Bitte nicht die Fische füttern! Dann fliegt ihr nämlich sofort als falsche Matrosen auf. Ein echter Matrose kotzt nicht, auch nicht bei starkem Wellengang, ist das klar?“
    „Aber mein Alter meinte mal, jeder Seemann würde irgendwann auch mal seekrank“, wandte Eddie ein.
    Dexter packte den Banditen am Kragen. „Ist mir egal, was dein Alter mal gesagt hat, jetzt bin ich derjenige, auf den du hörst, klar?“
    „Schon gut, schon gut“, meinte Eddie.
    Dexter ließ wieder von ihm ab und fuhr fort: „Wenn ihr vor Ort seid, werdet ihr mehr Spielraum für den ein oder anderen Schraubendreh haben. Seht zu, dass ihr möglichst viele Teilnehmer noch vor Beginn des Rennens sabotiert. Ihr werdet währenddessen nicht mehr viel Gelegenheit haben, Hand anzulegen. Ich lasse euch von meinem Kontaktmann zwar auch einen Pferdewagen stellen, aber …“
    „Schon klar“, meinte Mick. „Die Leute, die wir dann noch einholen könnten, sind wahrscheinlich eh die, die sowieso nicht gewinnen würden.“
    „Korrekt“, meinte Dexter. „Du denkst ja mit.“
    „Aber nehmen wir mal an, wir hätten auf einmal doch die Chance, mit unserem Wagen zu gewinnen …“
    „Offenbar denkst du doch nicht mit“, schnaubte Dexter. „Das fällt doch auf, wenn ihr zuerst als Matrosen anheuert, dann weiter als Handlanger von Vengard mit nach Silden reist und dann auf einmal selber teilnehmt. Das haut doch alles nicht hin! Es ist wichtig, dass ihr einfach nur Helfer bei der Organisation des Rennens seid. Nur so habt ihr die Chance, Zugang zu den anderen Wagen zu erhalten. Als Teilnehmer würden man euch doch nur auf Schritt und Tritt beobachten, und das ist das Letzte, was wir gebrauchen können. Vertraut mir, wir machen den besseren Schnitt, wenn wir uns einfach nur auf das Wettgeschäft konzentrieren. Da kommt schon genug bei herum. Womit wir auch schon beim nächsten Schritt wären …“
    „Den Wettgewinn“, sagte Mick überflüssigerweise, wurde von Dexter aber rasch mit einem strengen Blick zum Schweigen gebracht.
    „Mein Kontaktmann Stan in Silden fungiert hinter der Fassade als einheimischer Fischer als Strohmann für die Wette. Er setzt das Gold ein, und er wird die Gewinne für mich einstreichen. Er bekommt dafür einen kleinen Batzen an Provision ab, wenn alles gut geht.“
    „Und wir holen den Gewinn dann von ihm ab“, meinte Eddie.
    „Korrekt. Geht aber davon aus, dass er euch bescheißen wird. Eventuell will er euch das Gold auch gar nicht herausgeben. Ihr wisst dann, was ihr zu tun habt. Macht ihn von mir aus direkt kalt. Ich wollte mir sowieso einen neuen Kontaktmann suchen.“
    „Geht klar“, antworteten Mick und Eddie im Zweiklang.
    „Gut“, sagte Dexter zufrieden. „Und eine Sache noch: Dieser Gollwitzer ist ein ziemlich hohes Tier. Nicht umsonst baut sich der Kerl mal eben eine Kirche mitten im Umland von Mora Sul. Er mag in seinem Schreiben zwar auf alt tun, aber nach allem, was ich so höre, ist er noch immer dick im Geschäft, nur nicht mehr so öffentlich wie früher. Ich glaube nicht, dass Gollwitzer sich einfach so komplett zurückgezogen hat und jetzt nur noch auf den eigenen Tod wartet. Was ich damit sagen will: Nehmt euch in Acht. Ich gehe davon aus, dass er fähige Leute für die Organisation dieses Rennens eingestellt hat. Das ist immerhin ein kostspieliges Unterfangen. Wenn ihm da auch nur irgendjemand reinpfuscht oder sonstwie zu bescheißen versucht, wird er sich das nicht gefallen lassen. Also seid vorsichtig. Ich kann es mir nicht leisten, noch weitere Männer zu verlieren.“

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    3. Alles war besser als Schafe zu hüten.


    Mit dem nächsten Schritt kam Opolos wieder an der Stelle an, an der er seine Suche begonnen hatte. Das war jetzt schon das dritte Mal, und er konnte nur hoffen, dass ihn niemand bei seinen Irrwegen durchs Hafenviertel genauer beobachtete. Eine wenig versöhnliche Meeresbrise wehte um seine Nase, die leider auch den Geruch nach nachlässig entsorgtem Fisch mit sich trug. Das eigentümliche Odeur verleidete ihm den angenehmen Salzgeschmack in der Luft.
    Opolos war keineswegs ein Idiot und hatte sich eigentlich auch stets für die Hafenstadt interessiert. Das Leben im Kloster hatte aber leider dazu geführt, dass er sich insbesondere im Hafenviertel überhaupt nicht auskannte. Da half auch die Karte nicht, die er sich zuvor noch halb erlaubter, halb verbotener Weise aus der Klosterbibliothek mitgenommen hatte. Sie zeigte zwar die Hafenstadt und war relativ kunstvoll gestaltet, viele Details über die Wege und Häuser verriet sie aber nicht, insbesondere die Darstellung des Hafenviertels war einfach unzureichend. Mit dieser Karte war das Lagerhaus nicht zu finden, weshalb Opolos sie auch rasch wieder zusammengerollt und in seiner Umhängetasche verstaut hatte. Er hielt es nicht für ratsam, in diesem Sündenpfuhl direkt als Auswärtiger erkannt zu werden – was freilich in einem gewissen Kontrast zu seiner Bekleidung stand, die eindeutig die eines Novizen des Innosklosters war.
    Opolos war gewissermaßen in eigener Sache unterwegs, denn er stand kurz davor, zum Feuermagier ernannt zu werden, jedenfalls war er so nah dran wie nie zuvor. Von seiner Weihe trennte ihn nur noch seine letzte Prüfung. Sein Mentor Daron, der nach langem Dienst in der Hafenstadt ins Kloster zurückgekehrt war, hatte ihm aufgegeben, eine Rune zu erschaffen, in die der Zauber zur Vernichtung von Bösem eingraviert war. Es war eine Rune, die für gewöhnlich nur an hochrangige Paladine ausgegeben wurde, traditionellerweise aber im Kloster gefertigt wurde, und das auch nur höchst selten. Grund dafür waren vor allem die Zutaten: Neben einem Runenstein und einer Spruchrolle mit dem entsprechenden Zauber, was Opolos beides mit sich führte, bedurfte es neben anderer eher nebensächlicher Ingredienzien auch eines Stücks hinreichend alten Akazienholzes. Da Akazien nun in ihren Breiten nicht wuchsen, war nur schwer an diese Zutat heranzukommen, und gerade das machte die Prüfung aus. Opolos hatte aber auch hier wie auch schon bei verschiedenen anderen Gelegenheiten das Gefühl, dass Daron ihn durch extra schwierige Aufgaben vom Bestehen der Prüfung abhalten wollte. Denn wenn Opolos zum Magier werden sollte, dann würde es erst einmal keinen mehr geben, der die Schafe hütete. Und eventuell wurde dann der Platz im Kloster auch wieder so knapp, dass sich die Leitung dazu entschied, Daron wieder auf Mission zu schicken – wozu dieser vermutlich nur bedingt Lust hatte. Dabei wäre Opolos im Zweifel sogar selbst auf Mission gegangen, wenn es denn hätte sein müssen. Alles war besser als Schafe zu hüten.
    Opolos wollte sich von dieser Schwierigkeit allerdings nicht aufhalten lassen, und so war er in die Hafenstadt aufgebrochen, um dort ein passendes Stück Akazienholz zu bekommen. Ins Obere Viertel, wo die wohlhabenden Importeure lebten und wirtschafteten, war er aber erst gar nicht eingelassen worden. Die Alchemisten in der Unterstadt arbeiteten nicht mit Akazienholz. Und die Händler auf dem Marktplatz hatten fast alle nie etwas davon gehört. Lediglich einer der Händler, Jora, hatte Opolos einen Hinweis geben können. Er sollte es mal beim Lagerhaus im Hafen versuchen, dort mal nachfragen, ob sie auch Akazienholz vorhielten und woher sie es bezogen. Je nach gebotener Summe, so hatte Jora angedeutet, konnte man dann manchmal schon einen kleinen Abverkauf direkt am Lager anleiern. Opolos hatte kurz überlegt, ob dieser Lagerverkauf etwas war, was mit dem Ethos eines Novizen und hoffentlich baldigen Magiers des Feuers vereinbar war, hatte die abschließende Entscheidung darüber aber auf den Zeitpunkt vertagt, an dem er das Lagerhaus gefunden haben würde. Dieser Zeitpunkt hatte nun schon über eine Stunde auf sich warten lassen.
    Aber vielleicht war der Zeitpunkt jetzt doch da. Opolos hatte sich nun auf die andere Seite des Hafenviertels vorgewagt, war durch Gasse um Gasse geschlichen, unterschwellig eingeschüchtert von den vielen schiefen Holzhütten. Vor dem Hafenviertel wurde ja überall gewarnt, natürlich besonders im Kloster, und auch wenn Opolos durchaus einkalkulierte, dass die klösterlichen Warnungen vor allem der Bewahrung des Seelenheils ihrer Novizen dienten, so schätzte er die Gefahr körperlicher Einbußen, wenn man zur falschen Zeit am falschen Ort war, als durchaus real ein. Umso froher war er, als er endlich vor dem Eingang einer riesigen Halle stand, die das Lagerhaus sein musste. Opolos schaute sich kurz um, in der unmittelbaren Umgebung der Halle war er alleine. Da er nicht noch mehr Zeit verlieren wollte, fasste er sich ein Herz und klopfte an die Eingangstore. Einmal, zweimal. Das dritte Mal hämmerte er mit der Faust, denn bei der Größe der Lagerhalle konnte es gut sein, dass man ihn nur auf diese Weise hörte. Aber wieder meldete sich niemand.
    Die Tore waren nur angelehnt und unverschlossen. Opolos zog den rechten Torflügel auf, obligatorisches Holzgeknarre ertönte. Er streckte zunächst nur den Kopf ins Zwielicht der Halle.
    „Hallo?“
    Lediglich der Hauch eines Echos antwortete ihm.
    „Hallo? Ist jemand da?“
    Keine Antwort. Opolos nahm seinen Mut zusammen und trat ganz in die Halle ein. Das Tor hinter ihm konnte er nicht offenhalten, es fiel langsam wieder zu. Es kam aber genug Licht in die Halle, dass er sich orientieren konnte. Nicht nur von hinten fiel das Licht ein, sondern auch aus Ritzen zum linken Ende der Halle. Dort war ein noch viel größeres Tor verschlossen worden. Opolos’ Vater, Innos hab’ ihn selig, hatte damals als Seemann gearbeitet und ihn als kleines Kind mal in eine Werft mitgenommen. Die Halle hier erinnerte ihn sehr deutlich daran. Ein Blick zur gegenüberliegenden Wand bestätigte diesen Eindruck: Dort war ein entweder gerade im Aufbau oder gerade im Abbau befindliches Schiff zu erkennen, oder jedenfalls dessen riesiger Rumpf.
    „Entschuldigung, ist hier jemand?“, versuchte Opolos es noch ein letztes Mal, aber tatsächlich war niemand außer ihm hier. Er wollte gerade schon wieder umdrehen, als ihm zwischen all den Tischen und Werkzeugen in etwa in der Mitte der Halle eine weiße Plane ins Auge fiel, unter der sich eine wirklich merkwürdige Form abzeichnete. Opolos rang ein wenig mit sich selbst, dann aber mussten die inneren Mahnungen seiner Neugier schließlich klein beigeben. Der Novize manövrierte sich vorsichtig über die vielen herumliegenden Bauteile, Holzreste und den Metallschrott, bis er bei der Plane angekommen war. Als er sie vorsichtig anfasste, bemerkte er, dass sie eigentlich ein Segel war, das an den Rändern augenscheinlich unsystematisch in Form kleinerer und größerer rechteckiger Flächen abgeschnitten war, als hätte sich jemand daran bedient, um sich größere Taschentücher, Schals oder sonstige Textilstücke daraus zu schneidern. Aus Vorsicht drehte Opolos sich noch einmal zu allen Seiten um, und als er sich wirklich sicher war, alleine zu sein, schlug er einen Teil der Plane um. Hervor kam etwas, das Opolos nach ein bisschen Nachdenken als Tragfläche identifizierte, und auf dieser Tragfläche waren tatsächlich in gewissen Abständen kleinere, rechteckige Fetzen des Segels angebracht. Damit war das Rätsel der zerschnittenen Plane schon einmal gelöst. Aber das interessierte Opolos gar nicht so sehr, vielmehr fiel sein Blick auf die Konstruktion der Tragfläche selbst und auf die Plattform, an der sie angebracht war. Er erkannte es sofort: Das war Akazienholz. Ein absoluter Glücksfund. Aufgeregt nestelte Opolos an seiner Umhängetasche herum, er benötigte Licht, um das Alter des Holzes bestimmen zu können – da knarrte es hinter ihm an den Toren.
    Sofort stieg die Panik in ihm hoch. Opolos hatte die Warnungen noch in den Ohren, was mit Leuten im Hafenviertel gemacht wurde, die auch nur aus Versehen einen Fuß in die falsche Hütte setzten. Die Leute hier hatten für gewöhnlich nicht viel, umso energischer versuchten sie, ihr Hab und Gut zu verteidigen. Opolos’ Herz schlug hart in seiner Brust. Die nächsten Augenblicke seines Handelns übernahm sein Körper ganz von alleine, er gab sich keine Zeit, zu überlegen. Binnen weniger Sekunden war Opolos unter die Plane geschlüpft und auf die Holzkonstruktion gekrochen. Im Dunkeln wagte er noch ein paar allerletzte Handgriffe, um die Plane über sich so weit aufzubauschen, dass sein Körper sich wenigstens nicht sofort unter ihr abzeichnete. Dann aber hielt er still. Kurz darauf hörte er zwei Stimmen.
    „Es macht mich trotzdem ein wenig unruhig, dass wir keinen richtigen Testflug mit ihr unternehmen konnten“, sagte ein Mann.
    „Ich hätte es anders auch lieber gehabt, aber wenn keine Zeit, dann keine Zeit“, antwortete eine Frau. „Zu wenig Zeit für einen Testflug, aber immerhin genug Zeit für ein ordentliches Fischbrötchen. Sieh es mal so.“
    „Naja, aber wenn ich hätte wählen können …“
    Ein schnaubendes, abgestopptes Lachen ertönte. Die Schritte kamen näher. Opolos schwitzte unter der Plane, als läge er in der prallen Sonne. Der Mann und die Frau mussten jetzt direkt vor ihm stehen.
    „Dann würde ich sagen, gehen wir’s an. Zum Glück können wir sie ja schieben“, sagte die Männerstimme.
    „Ich weiß schon, worauf du anspielst“, sagte die Frau spöttisch. „Aber du hast ja recht. Auch, wenn man uns ein paar Helfer geschickt hätte, wenn wir es nicht alleine geschafft hätten. Die Arbeit hätten also eh die anderen gehabt.“
    „Das konnten wir vorher ja aber nicht wissen.“
    „Ja, wie auch immer. Du links, ich rechts?“
    „Ja, aber warte, ich mache die beiden Tore vorne auf, von dort ist der Weg zum Schiff kürzer. Ich weiß nicht einmal, ob wir mit der Mü durch den Seiteneingang rauskommen.“
    „Okay.“
    Schritte ertönten, sie mussten vom Mann kommen. Aus irgendeinem Grund beschwor Opolos sich selbst, jetzt bloß nicht zu niesen oder zu husten, obwohl er gar keinen akuten Drang zu beidem verspürte. Aber wenn er jetzt zu sehr darüber nachdachte …
    Ein ohrenbetäubendes Knarren ließ ihn einen Millimeter zusammenfahren, aber ganz offenkundig hatte das niemand außer ihm mitbekommen. Das mussten die großen Tore gewesen sein, die Opolos zuvor gesehen hatte und von denen der Mann gesprochen hatte. Dann kamen die Schritte auch schon wieder zurück.
    „Alles klar, dann pack mit an“, sagte der Mann. Einen Augenblick später hatte Opolos das Gefühl zu fallen, von der Holzkonstruktion zu rutschen, aber er wurde lediglich ein bisschen angehoben, zusammen mit dem Ding, auf dem er lag. Dann spürte er, wie er sich fortbewegte, nach draußen geschoben wurde. Opolos kam sich vor wie auf einem Leichenwagen abtransportiert – zumindest stellte er sich das so vor. Und diesmal war er sich wirklich unsicher, ob Schafe zu hüten nicht doch besser gewesen wäre.

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    4. Mit einem Stück Schafswurst ist es wahrscheinlich nicht getan, oder?


    „Innos sei Dank, damit ist die erste große Hürde ja genommen“, bekundete Alejandra, während sie gemeinsam mit Garvell beobachtete, wie die Arbeiter ihr kostbares Fluggerät auf der großen Ladefläche am Heck des Schiffes vertäuten.
    „Naja, noch sind wir nicht einmal losgefahren. Da kann noch viel passieren. Aber immerhin sind wir im Zeitplan.“
    „Ganz der Bedenkenträger, was?“, gab Alejandra zurück. Sie hatte ihre verschmierte Arbeitskleidung gegen praktisches Reisezeug getauscht und tatsächlich auch daran gedacht, sich die Ölflecken aus Gesicht und Händen abzuwaschen. Die dunklen Haare hatte sie aus dem Dutt gelöst und zu einem modischen Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie sah jetzt mehr aus wie eine höhere Tochter auf Studienreise als wie eine Mechanikerin. Garvell trug dagegen seine ganz normale Straßenkleidung wie eh und je, aber ebenso wie Alejandra hatte er natürlich Ersatzkleidung im Reisegepäck. Zusätzlich dazu hatten sie noch einen großen Sack an Ersatzteilen, Werkzeugen und sonstigem Krimskrams mit an Bord genommen, wozu auch die Kohle gehörte, mit der sie den Ofen der Mü befeuern würden, zumindest bis sie in Ben Erai zwischenlandeten, um hoffentlich Nachschub einladen zu können – aber das alles war Zukunftsmusik, auch wenn deren Melodien bereits leise vor sich hin summten. Die Kohle, die sie jetzt dabei hatten, hatten sie auf Pump bei Matteo kaufen müssen, der sich als Sicherheit das halb ausgeschlachtete Schiff in ihrer Lagerhalle hatte einräumen lassen. Garvell hatte ohne mit der Wimper zu zucken eingeschlagen: Selbst wenn doch alles schief gehen sollte, den alten, unfertigen Kahn brauchte er ja so oder so nicht mehr.
    Wenn er sich das Schiff hier anschaute, dann hatte Garvell ohnehin das Gefühl, dass er die Schiffsbauerei nie wieder aufnehmen sollte. Es war zwar klar, dass er nicht über die finanziellen Mittel dieses Karl Albert Gollwitzers verfügte und in seiner kleinen Werft schon immer kleinere Brötchen gebacken hatte. Aber dieses Schiff hier war, soweit er das einschätzen konnte, ein Wunderwerk der Technik. Segelschiff war nicht gleich Segelschiff, und die Form des Schiffsrumpfs, die Zahl und Art der Masten, das Arrangement der Segel, ja selbst kleinste Details in der Takelage zeugten davon, dass jemand sämtliche Konstruktionen von Anfang bis Ende komplett durchdacht und alles auf die maximale Geschwindigkeit bei gleichzeitig bestmöglicher Stabilität ausgerichtet hatte. Und wenn ihm jemand erzählt hätte, dass dieses Schiff auch ganz ohne Wind fuhr, dann hätte Garvell das vermutlich auch noch geglaubt. Dieser Gollwitzer schien wirklich eine große Nummer zu sein.
    Beim Betreten des Schiffs hatte ihnen ein Maat gesagt, dass sie bisher die einzigen Mitreisenden aus Khorinis waren, und da das Schiff bald gen Vengard ablegen würde, würde das wohl auch so bleiben. Allerdings, und das hatte Garvell und Alejandra aufhorchen lassen, hatten sich drüben auf dem Festland angeblich zwei gebürtige Khoriner gemeinsam zum Wettbewerb gemeldet. Genauere Angaben darüber hatte der Maat aber nicht machen können. Es musste aber auch nicht viel heißen, denn Garvell wusste, dass in den letzten Jahren viele Leute aus Khorinis zum Festland hin ausgewandert waren, manche sogar noch während des Orkkriegs, und da waren Khoriner auf myrtanischem Festland nun wirklich keine Seltenheit mehr. Vermutlich kannte Garvell die Leute nicht einmal.
    „Leinen los!“, brüllte es auf einmal irgendwo vom Deck her, und in einer Windeseile machte man das Schiff vom Kai los. Wenige Augenblicke später spürte Garvell schon einen ordentlichen Zug durchs Schiff, und in der Tat, seine Erfahrung sagte ihm, dass der Wind äußerst günstig stand. Es würde nicht lange dauern, bis sie ordentlich Fahrt aufgenommen hatten. Schon jetzt waren sie so weit vom Kai entfernt, dass die Distanz nicht einmal mit einem Hechtsprung zu überbrücken gewesen wäre. Es war so weit: Sie verließen Khorinis in Richtung Festland. Zum ersten Mal in Garvells Leben.
    Andere Mitreisende – zumindest was Wettbewerbsteilnehmer anging – waren nicht mit an Bord gekommen. Lediglich ein paar vereinzelte Leute, die sich als normale Reisende auf das Schiff eingekauft hatten, aber die gingen hier im ganzen Trubel unter. Es waren deutlich mehr Matrosen als Passagiere an Bord. Als Nebeneffekt waren die meisten Passagierkabinen frei geblieben, sodass es Garvell und Alejandra gestattet war, je eine Kabine für sich alleine zu beziehen. Im Vorfeld hatte es Garvell noch umgetrieben, ob sie sich wohl eine Kabine teilen würden, aber diese Frage stellte sich ja nun nicht mehr.
    „Bist du auch so aufgeregt?“, holte jemand ihn aus seinen Gedanken.
    Garvell, der vorher in die Leere des Himmels gestarrt hatte, senkte seinen Blick zu Alejandra, die jetzt neben ihm an der Reling stand. Er hatte gerade den Mund geöffnet, um ihr zu antworten, da trat ein dicklicher Matrose an sie heran.
    „Entschuldigt, aber ich wollte gerade nochmal ans Heck zu eurem … Ding gehen, um die Taue zu kontrollieren, und dann war da dieser Typ und hat an der Plane herumgefummelt. Gehört der irgendwie zu euch?“
    Erst jetzt sah Garvell, dass in engem Abstand hinter dem Matrosen ein schlanker, gleichwohl kräftiger Kerl in Novizenkleidung herdackelte und äußerst bedröppelt dreinblickte. Garvell warf kurz einen Seitenblick zu Alejandra. Sie kannte ihn wohl auch nicht.
    „Meinte, er heißt Opolos, mehr habe ich bei seinem aufgeregten Gestammel aber kaum verstanden.“
    Garvell gingen die verschiedensten Dinge durch den Kopf, aber Alejandra war schneller.
    „Ach, hey, Oppo!“, rief sie erfreut aus. „Wird ja Zeit, dass du mal auftauchst. Wir dachten schon, wir hätten dich verloren.“ An den Matrosen gewandt fuhr sie fort: „Ja, der gehört zu uns, keine Sorge. Das hat alles seine Richtigkeit.“
    „Na gut“, sagte der Matrose, dessen Miene sich sichtlich entspannte. „Ich dachte nur … ihr hattet doch gesagt, dass ihr nur zu zweit seid?“
    „Ach, ja“, winkte Alejandra ab. „Wir wussten nicht, ob er es noch rechtzeitig schafft. Und bevor extra eine dritte Kabine freigeräumt wird und er dann doch nicht auftaucht …“
    „Na ihr seid mir ja welche“, meinte der Matrose schmunzelnd. „Dann weiß ich ja jetzt Bescheid. Nur bitte während der Überfahrt nicht auf der Ladefläche herumturnen, die ist für Passagiere eigentlich nicht freigegeben. Wenn ihr etwas braucht, meldet euch einfach bei mir.“
    „Alles klar, danke“, sagte Alejandra. Der Matrose zog ab und ließ die drei alleine.
    Garvell blickte von links, Alejandra blickte von rechts auf den Novizen, und der sah aus, als hätte er sich am liebsten rückstandslos in Luft aufgelöst.
    „Und?“, fragte Alejandra nur. Als darauf nichts kam, setzte Garvell noch hinzu: „Du hast uns ja wohl was zu erklären.“
    „Ich … ja“, begann der Novize etwas atemlos. Garvell glaubte herauszuhören, dass seine Stimme von der Aufregung getrieben etwas höher klang als gewöhnlich. Die kantigen Gesichtszüge ließen jedenfalls eine deutlich kräftigere, tiefere Stimme vermuten.
    „Also das war so, ich wollte das alles nicht!“, setzte der Mann namens Opolos noch einmal an. „Das war ein Versehen. Ich bin Novize aus dem Innoskloster, und ich stehe kurz vor meiner Ernennung zum Feuermagier, aber ich muss noch diese Prüfung ablegen und dafür brauchte ich noch Akazienholz und dann bin ich im Hafenviertel rumgeirrt und auf einmal war da diese Halle und dann habe ich gesehen -“
    „Du wolltest uns beklauen?“, warf Alejandra scharf ein. Garvell zuckte innerlich ein bisschen zusammen. Angesichts der Ideen, die Alejandra immer mal wieder so nebenbei zur Bekämpfung der Taschendiebe und sonstiger Kriminalität auf Khorinis geäußert hatte, konnte das jetzt äußerst unangenehm werden.
    „Nein“, sagte Opolos nun sehr bestimmt. „Ich beklaue niemanden. Ich weiß, ich hätte auch gar nicht in eure Lagerhalle gehen sollen. Aber ich habe mehrmals gerufen und geklopft, die Tore waren nur angelehnt. Dann bin ich einfach mal reingegangen, aber auf einmal habe ich Schritte gehört und bin unter die Plane geschlüpft, und dann kam eins zum anderen. Und an eurem Akazienholz habe ich sowieso kein Interesse, ich brauche für meine Prüfung nämlich ziemlich altes Holz, und das, was ihr verbaut habt, ist deutlich zu jung. Was ist das überhaupt für ein Ding, was ihr daraus gebaut habt?“
    „Ach, jetzt stellst du schon die Fragen?“, murrte Alejandra. Opolos sah betroffen zu Boden.
    „Tja“, sagte Garvell nach einer Weile. „Jetzt haben wir schon abgelegt. Du wirst wohl erst einmal mitkommen müssen. Das ist schon ein starkes Stück, dich als blinder Passagier an Bord so eines Schiffes zu schmuggeln …“
    Opolos blickte wieder auf, die Augen schreckgeweitet. „Ihr verratet mich doch nicht etwa, oder?“
    „Nein, machen wir nicht“, beruhigte Alejandra ihn sofort. „Bis auf weiteres gehörst du jetzt erst einmal zu unserem Team, wenn jemand fragt. Und dann sehen wir mal weiter.“
    „Was heißt schon, wir sehen dann weiter? So wie ich das verstanden habe, wird das Schiff nach Ankunft in Vengard nicht direkt wieder zurück nach Khorinis fahren. Ich fürchte, du bist dann erstmal auf dem Festland gestrandet“, sagte Garvell an Opolos gewandt.
    „Bei Innos, in was bin ich da nur hereingeraten“, murmelte der Novize mit finsterer Miene. „Meine Prüfung kann ich dann wohl erst einmal vergessen.“
    „Dann komm doch mit uns mit“, sagte Alejandra auf einmal.
    „Was?“, fragte Garvell.
    „Wie?“, fragte Opolos.
    „Es ist ja so“, fing Alejandra an zu erläutern. „Du kommst nicht mehr zurück und weißt in Myrtana wahrscheinlich auch erst einmal nicht, wo du hin sollst. Dann könntest du dich ja mit uns zusammentun. Wir machen bei einem Rennen mit, falls du das noch nicht mitbekommen hast. Du könntest dich uns anschließen.“
    „Moment, moment, da habe ich ja wohl noch ein Wörtchen mitzureden“, rief Garvell. „Teamchef bin immer noch ich. Und ich kann es mir definitiv nicht leisten, noch jemanden einzustellen. Wir haben schon Schulden, falls du das vergessen haben solltest!“
    „Es spricht ja auch keiner davon, dass du ihn bezahlst“, konterte Alejandra und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich im Wind aus ihrem Zopf gelöst hatte. „Ich denke, das wäre dann die Gegenleistung, dass wir ihn überhaupt mitnehmen.“ Sie wandte sich wieder Opolos zu. „Kannst du denn irgendwas? Also, ich meine … was uns helfen könnte?“
    „Nunja …“ Opolos war etwas überfordert. „Ich bin magiebegabt und im Prinzip fast schon Feuermagier, wie gesagt.“
    „Mit Magie können wir in diesem Rennen nicht viel anfangen“, sagte Alejandra. „Kannst du denn was Handwerkliches? Bist du zufällig Mechaniker?“
    Kopfschütteln.
    „Handwerkslehre abgeschlossen?“
    Kopfschütteln.
    „Schonmal bei einem Schmied gearbeitet?“
    Kopfschütteln.
    „Überhaupt mal irgendetwas selber zusammengebaut, geschraubt, gesägt, geschreinert oder dergleichen?“
    Nach einigem Zögern, erneutes Kopfschütteln.
    „Puh“, machte Garvell. „Hast du uns denn überhaupt etwas anzubieten?“
    „Ich … ich weiß nicht“, sagte Opolos peinlich berührt. „Mit einem Stück Schafswurst ist es wahrscheinlich nicht getan, oder? Das einzige, was ich außer magischem Kram und dem obligatorischen Kammerfegen im Kloster gemacht habe, war auf die Schafe aufzupassen. Aber das habe ich immer sehr gut gemacht!“
    „Oh weh“, sagte Garvell und blickte Alejandra an. Sie dachte wahrscheinlich genau das, was er auch dachte. Er rang noch ein wenig mit sich, dann aber nickte er ihr zu.
    „Na gut“, sagte sie. „Das ist ja immerhin etwas. Wenn ich die Nacht nicht schlafen kann, dann kannst du ja wenigstens mit mir Schäfchen zählen.“
    „Äh … wie meinen?“, fragte Opolos.
    „Wir nehmen dich mit!“, rief Garvell leicht genervt. „Aber auf ihre Verantwortung! Willkommen in unserem Team.“
    Opolos stockte kurz, dann hellte sich seine Miene aber etwas auf. „Danke, vielen Dank euch beiden!“, rief er aus. „Ich hätte sonst wirklich nicht gewusst, was ich hätte machen sollen. Ich will versuchen, euch zu helfen, wo es nur geht, und ich will auch wirklich nichts dafür haben. Und wenn ich dann irgendwann wieder in Khorinis bin und dann endlich meine Prüfung ablege, dann lege ich als Feuermagier ein gutes Wort für euch ein, das verspreche ich hoch und heilig! Und wenn …“
    „Ja, ja doch, schon gut“, wiegelte Garvell ab, konnte sich aber ein gewisses Grinsen nicht mehr verkneifen. Alles in allem passte es doch gut ins Bild. Sie waren auf dem Weg zu einem Rennen auf dem Festland, bei dem sie mit einem per Kohleofen betriebenen Fluggerät teilnehmen wollten. Was machte es dann schon, wenn sie auch noch einen schusseligen Novizen mit Schafswurst im Gepäck mitnahmen? Das würde die wahnwitzigste Reise werden, die Garvell je unternommen hatte. Er hatte seinen Werftbetrieb aufgegeben, er hatte Schulden, er wusste nicht, was er machen sollte, wenn sie das Rennen nicht gewinnen würden. Im Prinzip war alles offen. Dann sollte der Kerl doch mit ihnen mitkommen, was soll’s!
    „Aber eine Bitte hätte ich, wenn es nicht zu viel verlangt ist“, sagte Opolos dann auf einmal an Alejandra gewandt.
    „Was denn?“, fragte sie.
    „Nenn mich bitte nicht noch einmal Oppo.“
    Geändert von John Irenicus (06.10.2019 um 22:39 Uhr)

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    Deus Avatar von John Irenicus
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    5. Da wär’ ich doch mit dem Klammerbeutel gepudert, wenn ich das machen würde.


    Die Schiffsreise dauerte einen Tag und eine Nacht. In der Nacht hatten sich Garvell, Alejandra und nun auch Opolos in ihre drei Kabinen verzogen. Garvell hatte das Gefühl, dass Alejandra am liebsten die ganze Nacht an der Mü herumgeschraubt hätte statt zu schlafen, während er Opolos zutraute, dass ihn die schiere Verzweiflung darüber, seine Magierprüfung nicht ablegen zu können, wach hielt. Und Garvell selbst konnte einfach nur so nicht schlafen.
    Dementsprechend übernächtigt waren sie alle drei gewesen, als sie nach der reibungslosen Überfahrt in Vengard angekommen waren. Nachdem Opolos sich vor Ort an mehreren Stellen vergewissert hatte, dass in den nächsten Wochen sicher kein Schiff Kurs auf Khorinis nehmen würde, war er weiter bei ihnen geblieben. Er hatte ihnen mehrfach seine Dankbarkeit darüber versichert, mit ihnen mitreisen zu dürfen, aber es war unübersehbar, dass Opolos das Ganze doch eher belastete, allen Aufmunterungsversuchen Alejandras zum Trotz.
    Von Vengard aus hatte man sie in eine große, sehr moderne Kutsche geleitet, die sie mangels weiterer Teilnehmer aus Khorinis ganz für sich hatten – die paar Leute von der Schiffscrew, die offenbar auch anderweitig bei der Organisation des Rennens eingesetzt waren, waren in separaten Kutschen untergebracht, die aber deutlich weniger luxuriös ausgestattet schienen. Ihre Kutsche und ihr Anhänger, auf dem die Mü transportiert wurde – Alejandra hatte sich unter genervten Blicken von Gollwitzers Angestellten nochmal selbst vergewissert, dass ihr Fluggerät richtig festgezurrt war – wurde von einem Sechsergespann aus Rassepferden gezogen. Die Fahrt war schnell, aber ruppig verlaufen, sodass Garvells Plan, in der Kutsche noch ein wenig Schlaf nachzuholen, von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen war. Ab und zu hatten Alejandra und Opolos kurze, belanglose Gespräche geführt, gesprochen wurde auf der Fahrt insgesamt aber nicht viel. Garvell hatte die meiste Zeit gedöst und aus den Fenstern gestarrt.
    Irgendwann nach einigen Stunden waren sie in Silden angekommen, einem kleinen, nebeligen Fischerdorf. Bei den klapperigen Booten, die er bei ihrer Einfahrt gesehen hatte, hatte er fast schon wieder den Gedanken gefasst, doch wieder in den Boots- und Schiffsbau einzusteigen. Garvells kleine Markterkundung war dann aber zwiespältig ausgefallen: Die abgenutzten Boote konnten einerseits heißen, dass dringend Bedarf für neue bestand, andererseits konnten sie auch lediglich bedeuten, dass die Fischer hier schlicht und ergreifend ihre alten Boote lieber hundertmal flickten als sich einmal ein neues bauen zu lassen. Garvell hatte seine diesbezüglichen Gedanken also recht schnell wieder verworfen.
    Das relativ kleine Dorf war in Aufruhr geraten, als ihre Kutsche und die Begleitkutschen des Organisationsteams eingefahren waren. Man hatte sie offenbar erwartet, und Garvell konnte sich vorstellen, dass Gollwitzer dem Ort einiges an finanzieller Unterstützung dafür geboten hatte, den Start seines Rennens hier ausrichten zu dürfen. Besonders euphorisch hatten die Leute dennoch nicht gewirkt, als sie ins Dorf eingefahren waren, obwohl einige an der Straße gestanden hatten. Garvell führte dies auf eine ohnehin eher reservierte Grundhaltung der Sildener zurück.
    Nach ihrer Ankunft hatten sie nicht so viel Zeit gehabt, wie Garvell sich erhofft hatte. Der Wettbewerb war straff durchorganisiert, und so hatten sich die Leute vom Veranstaltungsteam nach ein paar Formalitäten direkt daran gemacht, ihr Fluggerät auszuladen und zu einem kleinen Hügel zu bringen, auf dem bereits die anderen Teilnehmer warteten. Das war für Garvell, Alejandra und Opolos ein wirklich spannender Moment, denn jetzt, nachdem man ihnen noch einmal die Regularien des Rennens erklärt hatte und das Veranstalterteam die Mü genauestens inspizierte, konnten sie sich ein wenig unter die anderen Teilnehmer mischen, die ihrerseits mit ihren Rennvehikeln an der Startlinie warteten.
    Dabei fielen zuerst die einzigen beiden Frauen außer Alejandra auf, und das nicht etwa nur, weil sie ihrer bunten Kleidung nach zu urteilen aus Varant kamen, sondern weil um sie herum ein imaginärer Bannkreis gezogen schien, in den sich niemand außer ihnen selbst hereintraute. Grund dafür war wiederum, dass die beiden ihren schnittigen, schlanken Wagen nicht etwa mit Pferden oder, wie man es bei Varantinerinnen noch hätte vermuten können, Kamelen bestückt hatten, sondern tatsächlich mit zwei ausgewachsenen weiblichen Löwen. Die Tiere wirkten aufmerksam und ruhig, dadurch aber nicht weniger einschüchternd. Den beiden Wagenlenkerinnen schien das ganz recht zu sein, auch sie standen, ihren Löwinnen ähnlich, ganz ruhig und für sich vor ihrem Wagen und wechselten nur dann und wann ein paar Worte miteinander.
    Abgesehen von dieser Ruhezone herrschte dann aber doch ein angemessener Trubel, und nach und nach taute auch die reservierte Bevölkerung aus Silden auf, wobei Garvell vermutete, dass durchaus auch Leute aus anderen Städten und Dörfern gekommen waren, um dem Spektakel beizuwohnen. Nicht weit vom Start betrieben die Veranstalter ein offizielles Wettbüro, das durchaus seinen Zulauf fand. Gerade diskutierte ein glatzköpfiger Fischer mit dem Buchmacher hinter dem Tresen. Für viele Leute würde das Rennen vermutlich ein riesiges Geschäft sein. Wenn alles gut ging, wurde es das für Garvell auch.
    „Na, ihr habt euch da ja einen heißen Ofen zusammengebastelt.“
    Garvell wandte sich um. Hinter ihm standen die zwei Nordmänner, die er schon vorher kurz gesehen hatte. Sie traten mit einem Gefährt an, das ein umgebauter Holzschlitten sein musste. Er war statt mit Kufen mit mit großen Rädern versehen. Ganze acht schneeweiße Hunde waren in Zweierreihen vor den Schlittenwagen gespannt. Momentan schienen sie allesamt friedlich zu schlafen oder vor sich hinzudösen.
    „Kann man wohl sagen“, übernahm Alejandra die Gesprächsführung. „Ihr scheint mir dagegen ja eher auf Natur pur zu setzen. Ihr kommt aus Nordmar, nehme ich an?“
    „Wie hast du das nur erraten?“, sagte der größere von den beiden und fuhr sich demonstrativ durch den roten Bart. Der andere lachte nur und streckte seinen Bauch aus. Über seinem einfachen Wams trug er eine Art Schürze, auf der ein stilisierter Hammer abgebildet war, und auch am Gürtel seines Kollegen fand sich dieses Symbol wieder. Garvell schloss daraus, dass die beiden vom Hammerclan sein mussten – das war einer der Clans, die Garvell vom Namen kannte.
    „Ich bin Hauke, und das ist mein Kumpel Hjalte“, sagte der Größere. Dann wurden erst einmal Hände geschüttelt.
    „Heißt ihr da oben alle so komisch?“, rutschte es Alejandra raus. Garvell sog unhörbar Luft ein. Mit zwei Nordmännern wollte er sich lieber nicht anlegen, zumindest nicht vor Rennbeginn. Auch Opolos schien gespannt zu sein, was die beiden darauf antworteten und hielt sich vorsichtshalber schonmal ein wenig abseits vom Grüppchen.
    „Was heißt hier komisch?“, fragte Hauke lachend. „Das sind bei uns ganz normale Namen, sogar ziemlich schöne! Wie heißt ihr denn?“
    „Das hier ist Garvell, unser Teamchef, der andere ist Opolos und ich bin Alejandra.“
    „Und ihr erzählt uns was über komische Namen“, lachte Hjalte in sich hinein.
    Alejandra zuckte darauf mit den Schultern. Garvell entspannte sich, offenbar waren die ganzen Geschichte über die unantastbare Ehre der Nordmänner deutlich überzogen – oder eben doch gerade wahr. Es hätte ihn allerdings auch gewundert, wenn sich diese zwei Bäume von Männern als Mimosen entpuppt hätten.
    „Schöne Hunde habt ihr da“, sagte Alejandra dann. Da hatte sie wohl einen Nerv getroffen, denn Hjalte, der kleinere, nickte stolz.
    „Das Beste, was Nordmar in Sachen Hunden zu bieten hat. Sie mögen gerade noch ein wenig faul aussehen, aber lasst euch da nicht täuschen. Sobald es drauf ankommt, kann man sich hundertprozentig auf sie verlassen. Das ist ein eingespieltes Gespann, und jeder einzelne Hund kommt aus einer makellosen Zuchtlinie. Nämlich aus ein und derselben. Die sind alle miteinander verwandt.“
    Garvell nickte anerkennend. Er wusste nicht, was er dazu groß sagen sollte. Von Hunden hatte er keine Ahnung.
    „Und euer Ding da soll jetzt fliegen können, oder wofür sind die Tragflächen?“, fragte Hjalte. Er wies auf die Mü ein paar Meter weit weg von ihnen, die gerade von zwei Angestellten der Rennleitung akribisch begutachtet wurde. Sie trugen allesamt rot-weiß gestreifte Kleidung, die Garvell ein bisschen an die Uniformen der Miliz von Khorinis erinnerte, nur als Karikatur.
    „Lasst euch mal überraschen“, sagte Alejandra. „Wir wollen ja nicht alles schon vorher verraten.“
    „Na, meinetwegen“, meinte Hjalte.
    „Die gucken sich das echt alles ganz genau an“, sagte Hauke mit Blick auf die rot-weißen Inspekteure. „Bei unserem Schlitten waren die ja eigentlich schnell fertig. Aber ’ne halbe Stunde danach sind nochmal zwei gekommen und haben sich alle Hunde einzeln angeschaut, bis in den Mund hinein. Als hätten wir die mit irgendwelchen Zaubern verhext oder mit Manatränken gedopt oder was weiß ich. Man kann’s auch übertreiben. Da wäre vielleicht was los gewesen, wenn da einer unserer Kollegen bei der Mundbeschau mal ordentlich zugebissen hätte.“
    „Wir wären sofort disqualifiziert worden, aber das wär’s mir dann auch irgendwo wert gewesen“, lachte Hjalte.
    „Ist denn schon irgendjemand disqualifiziert worden?“, fragte Garvell nach.
    „Na aber hallo!“, sagte Hauke. „Das ganze Theater habt ihr ja gar nicht mitbekommen. Das war ein Team aus zwei Alchemisten, aus Geldern. Die hatten sich so einen ganz ausgefallenen Wagen zusammengebaut, ohne Gespann, und hintendran so ein Kessel, ein bisschen ähnlich wie bei eurem Ofen. Und dann kamen die Inspekteure und haben sich das genau angeschaut, und dann ging das aber los, ein einziges Gezeter und Geschimpfe. Die haben sich dann wohl über den Stoff gestritten, mit dem die den Kessel hinten befüllt haben, und ob das jetzt noch zulässige Alchemie oder schon unerlaubte Magie ist, was die beiden da verwenden. Ich kann’s natürlich nicht einschätzen, aber die Inspekteure haben die beiden ganz konsequent direkt rausgeschmissen. Ob das jetzt berechtigt war, weiß ich nicht. Ich war nur froh, dass das Gejanke der beiden Alchemisten endlich aufgehört hatte.“ Er lachte. „Ihr seid gerade erst aus Khorinis gekommen, stimmt’s?“
    Garvell nickte. „Direkt aus der Hafenstadt. War eine ganz schöne Überfahrt, aber mit deren Schiff ging das eigentlich ganz schnell. Wir sind erst gestern gegen Mittag losgefahren und sind heute schon hier.“
    „Ja, der Gollwitzer fährt hier ganz schön was auf“, sagte Hauke. „Der ist ja gebürtiger Sildener, habe ich gehört. Und dann baut der sich irgendeine Kirche in den Sand. Verstehe wer will. Dass die dem seinen Schuppen noch nicht abgerissen haben da unten. Das letzte, was ich aus Varant gehört habe, war, dass die mit Innoskram jetzt nicht ganz so viel am Hut haben. Aber naja, wenn man reich ist, dann kann man sich wohl alles leisten. Nicht, dass wir den Kram unbedingt erben wollen. Wir machen das in erster Linie für die Clansehre. Und um allen zu beweisen, dass die Nordmarer Schlittenhunde unschlagbar sind!“
    Garvell verkniff sich ein Schmunzeln. Da kam sie doch noch durch, die Ehre der Nordmänner.
    „Es machen ja auch noch zwei andere aus Khorinis mit“, sagte Hjalte. „Die waren aber schon länger hier, sind wohl Auswanderer oder so. Vielleicht kennt ihr die ja?“
    „Haben wir auch schon gehört“, meinte Garvell. „Was wisst ihr denn so über die? Das ist jetzt auch nicht so, dass alle aktuellen und ehemaligen Khoriner sich gegenseitig kennen würden.“
    „Wir haben das auch nur am Rande mitbekommen“, erklärte Hjalte. „Der eine war vor langer Zeit wohl mal Kapitän oder was, und der andere … ach Innos, jetzt geht’s da vorne mit den beiden schon wieder los.“
    Hjalte wies auf zwei Männer in der Nähe zweier fremdartig aussehender Wagen, einige Meter entfernt vom Löwengespann der beiden Frauen aus Varant. Sie schienen lautstark um irgendetwas zu streiten, aber die genauen Worte schafften es nicht durch die belustigte Menschenmenge hindurch zu ihnen herüber.
    „Das geht schon den ganzen Tag so“, seufzte Hauke. „Darf ich vorstellen? Der große Glatzkopf mit den matschbraunen Klamotten und der grünen Schärpe ist Sanford. Der etwas Kleinere mit den umso größeren Geheimratsecken und der blauen Jägerkleidung ist Ford, sein Rivale.“
    „Das klingt doch wie ausgedacht“, sagte Alejandra belustigt.
    „Kann schon sein“, stimmte Hauke ins Lachen ein. „Aber so ist es nunmal! Die beiden gehen mit hochmodernen Wagen ins Rennen, die zwar an sich relativ herkömmlich von Pferden gezogen werden, aber allerlei technischen Krimskrams eingebaut haben, um schneller zu sein. So behaupten die beiden das jedenfalls. Wer weiß, vielleicht haben die hinten in diesem Verschlag auch einen Ofen wie ihr eingebaut, sie zeigen’s ja niemandem außer Gollwitzers Inspekteuren.“
    Garvell sah, was er meinte. Bei beiden Wagen bestand der hintere Teil aus einem Kofferraum ähnlich wie bei einer Kutsche. Der war vermutlich wirklich nicht für Reisegepäck gedacht. Sanfords Wagen hatte eine äußerst geschwungene Form, und bei genauerem Hinsehen war er nicht einmal vorne offen, stattdessen war in das geschwärzte Holz eine Scheibe aus Glas eingelassen, und direkt dahinter sollte wohl der Fahrersitz sein, denn die Zügel zum zugehörigen Gespann – die zwei Pferde grasten gerade friedlich auf einem kleinen Hügel ein paar Meter nebendran – waren offenbar durch zwei Löcher ins Innere hinter die Scheibe gefädelt worden. Den Einstieg vermutete Garvell wie bei einer Kutsche an den Seiten, er zählte an der ihm zugewandten Wagenseite zwei Griffe, sodass der Wagen insgesamt vier Türen haben mochte. Der Wagen des Mannes namens Ford wirkte dagegen deutlich weniger modern. Er war zwar an den Seiten auch teils wie eine Kutsche gestaltet, im Gegensatz zu Sanfords Wagen aber oben offen. Die Seitenwände hatte Ford rot lackiert, was dem Ganzen das Aussehen eines überdimensionierten Kinderspielzeugs verlieh. Auch Fords Wagen war auf ein Doppelgespann ausgerichtet, die Pferde grasten auf dem selben Hügel wie Sanfords Pferde, offenbar verstanden sich die Tiere untereinander besser als deren Lenker es taten.
    „Ford nennt seinen Wagen das Fordmobil“, erklärte Hauke weiter. „Zum Totlachen, der Kerl. Und Sanford hat seinen Wagen nach seiner Nichte benannt. Mercedes. Seine Schwester hat sich wohl irgendwo im Süden eingeheiratet, daher der Name. Und ja, das weiß ich alles auswendig, weil der das heute bestimmt schon dreimal durch ganz Silden gebrüllt hat. Die beiden sind ohne Unterbrechung am Zanken, beschuldigen sich gegenseitig, voneinander die Idee für den Wagen geklaut zu haben. Dabei sehen die doch komplett anders aus. Aber die werden wohl die mysteriöse Technik meinen, die hinten unter der Haube steckt.“
    „Eine Cousine dritten Grades von mir hieß Mercedes. Die ist aber noch bevor ich nach Khorinis gekommen bin von einem Alligator gefressen worden, meine ich“, erklärte Alejandra in nüchternem Tonfall.
    Alejandra hatte schon desöfteren teils bizarre Geschichten aus ihrer alten Heimat erzählt, aber diese Anekdote kannte Garvell auch noch nicht. Leicht betretenes Schweigen folgte, das Garvell für ein paar weitere neugierige Blicke hinüber zu den Löwenfrauen nutzte.
    „Und du?“, fragte Hjalte nach einer Weile an Opolos gewandt. „Erzählst du auch mal was oder stehst du hier nur stumm rum?“
    „Was soll ich denn -“
    „Das da vorne ist doch Monty!“
    Garvell hatte etwas zu laut gerufen, denn es hatten sich einige unbeteiligte Zuschauer zu ihm umgedreht, aber das war ihm ziemlich egal. Alejandra, Opolos und ihre beiden Bekanntschaften aus Nordmar versuchten Garvells Blick zu folgen, aber da sie alle Monty nicht kannten, wussten sie nicht, wen Garvell meinte. Nachdem Garvell sich dann aber in eine unbestimmte Richtung in Bewegung setzte und sich seinen Weg kreuz und quer durch die Menschenansammlung bahnte, dackelten Alejandra und Opolos hinter ihm her.
    „Er trägt ja sogar noch genau die selbe Arbeitskleidung wie damals“, sagte Garvell mit einem Hauch Empörung in der Stimme zu Alejandra gewandt, die rasch zu ihm aufgeschlossen hatte. Als er sich seinem Bekannten auf wenige Meter genähert hatte, bestand kein Zweifel mehr. Diese Frisur, der kurze Bart, das kantige Kinn, die stämmige Figur: Das war in der Tat Monty. Er war in Begleitung eines großen, blonden Mannes unterwegs und sprach gerade mit einem von Gollwitzers Angestellten. Garvell war noch nicht ganz auf Gesprächsnähe an Monty herangekommen, da drehte sich dieser zufällig in seine Richtung. Ihre Blicke trafen sich sofort, Monty lächelte verschmitzt.
    „Na sieh mal einer an!“, rief nun auch Monty etwas zu laut. „Wenn das mal nicht Garvell ist! Das ist ja eine Überraschung!“
    Garvell hatte das Gefühl, dass in diesem Moment alle Leute sie beide ansahen, und auf natürliche Weise bildete sich eine Art Spalier um sie herum. Offenbar hofften die Zuschauer auf den ersten Höhepunkt dieser Veranstaltung, noch bevor das Rennen überhaupt begonnen hatte.
    „Das ist es wirklich“, entgegnete Garvell nun sehr kühl. „Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns so schnell nochmal wiedersehen.“
    Monty zuckte nur mit den Schultern. Seine Begleitung hatte nun das Gespräch mit dem Mann von der Rennleitung wieder aufgenommen, hörte aber erkennbar mit halbem Ohr der Auseinandersetzung zu.
    „Jetzt sag nicht, du bist gekommen, um mich zurückzuholen“, ätzte Monty. „Das kannst du vergessen. Ich gehe jetzt meinen eigenen Weg.“
    „Das ist ja interessant, dass du allen Ernstes denkst, ich würde bis zum Festland fahren, nur um dich faulen Hund wieder einzustellen“, konterte Garvell. „Da wär’ ich doch mit dem Klammerbeutel gepudert, wenn ich das machen würde.“
    „Achja?“
    „Ja! Ich habe jetzt nämlich jemand viel besseres. Darf ich vorstellen: Alejandra Monteverde. Sie arbeitet jetzt schon seit einiger Zeit für mich, und ich habe es keine Sekunde bereut.“
    Alejandra sank ein wenig in sich zusammen, aber das bemerkte Garvell gar nicht so richtig. Sein Blick war auf Monty fixiert, der jetzt wiederum Alejandra von oben bis unten musterte und sein Gesicht zu einem spöttischen Lächeln verzog.
    „Ach, du machst jetzt in Frauen?“, fragte er. „Oder wie darf man das verstehen? Bist du jetzt schon so verzweifelt, dass du eine Frau bei dir arbeiten lässt? Was musste sie denn machen, damit sie bei dir eingestellt wird?“
    „Sag das noch einmal und ich zeig dir, was ich mit dir mache!“
    „Hey hey hey!“
    Garvell und Alejandra hatten beide einen Satz nach vorne auf Monty zu gemacht, der schon seine Fäuste zur Abwehr gehoben hatte, als sein blonder und deutlich älterer Begleiter dazwischenging.
    „Reicht jetzt“, sagte er nur. „So eine Scheiße können wir vor dem Start nicht gebrauchen. Wenn ich Faustkämpfe will, kann ich auch zu Onars Hof zurückgehen. Den Mist mache ich nicht mehr mit. Wenn du so ’ne Scheiße anfängst, bin ich sofort weg.“
    Monty ließ die Hände sinken und auch Garvell und Alejandra machten wieder einen Schritt zurück, wobei Alejandra den unbeteiligt hinter ihr stehenden Opolos versehentlich anrempelte.
    „Was auch immer“, sagte Monty dann kleinlaut. „Hast du jetzt alles geklärt, Torlof?“
    Sein blonder Begleiter nickte. „Die geben hier gleich das Startsignal. Ich warte drüben beim Boot auf dich. Du stellst dich an die Startlinie, und sobald sie das Signal geben, kommst du nach. Wobei ich mir fast schon überlege, ob wir die Positionen nicht tauschen sollten, damit es hier kein Unglück gibt.“
    „Nein“, wiegelte Monty ab. „Alles gut. Das ging bei uns damals auf der Arbeit auch immer so, aber wir würden uns doch nie schlagen. Versprochen.“
    „Dein Glück“, sagte der Mann namens Torlof nur, spendierte Monty noch einmal einen eindringlichen Blick und stapfte dann davon.
    „Ihr seid mit einem Boot unterwegs?“, fragte Garvell dann, als Torlof weg war. „Ihr wisst aber schon, dass das Rennen durch die Wüste geht? Nach Varant?“
    „Tu nicht immer so, als sei ich blöd“, schnappte Monty. „Natürlich wissen wir das. Nur weißt du nicht, was für ein Boot wir haben. Es ist mein Entwurf. Das ist keins von den klapperigen Fischerbooten, die man sonst so kennt, und ganz sicher auch kein unfertiger Kahn wie aus deiner Werft.“
    „Woran du nicht ganz unschuldig bist“, warf Garvell ein.
    „Pah“, machte Monty. „Dass ich dieses Boot in wenigen Wochen selbst entworfen und getestet habe, sollte ja Beweis genug sein, wer von uns beiden damals der Bremser war. Es ist ein Schnellboot, Garvell. Schnell gebaut und schnell unterwegs. Rein baulich ein ganz normales Boot, nur mit ein paar kleinen, entscheidenden Extras hinten dran.“
    „Ich erkenne da ein gewisses Muster“, sagte Opolos auf einmal. Die anderen wandten sich erstaunt zu ihm um. Er blickte etwas überfordert zurück. „Schon gut“, meinte er dann schnell. „Redet ruhig weiter.“ Sie wandten sich wieder von ihm ab.
    „Noch dazu habe ich mir mit Torlof einen erfahrenen Kapitän ins Boot geholt“, fuhr Monty fort. „Ich rechne uns gute Chancen aus. Das einzig Blöde ist, dass laut Regularien mindestens ein Teammitglied an der Startlinie stehen muss, wenn das Rennen losgeht. Und der See ist als Startzone leider tabu. Aber gut, was soll’s. Die eine Minute wird uns den Sieg auch nicht kosten. Unser Plan ist, über den Fluss gen Süden zu fahren, Trelis zu passieren und von da aus ins Meer zu kommen. Und dann umsegeln wir Varant, bis wir genau südlich von Mora Sul an der Küste ankommen. Da gehen wir dann an Land. Das kann ich dir übrigens alles so haarklein verraten, weil ihr eh nichts davon mitbekommen werdet. Bis ihr da ankommt, sind wir wahrscheinlich schon wieder auf dem Rückweg, mit dem Testament von Gollwitzer in den Händen.“
    „Ach, so ist das.“
    „Ja, so ist das.“
    Garvell und Monty standen sich nun gegenüber, beide die Hände in die Seiten gestemmt. Beide lächtelten eisig.
    „Und ihr“, sagte Monty dann, „ihr tretet dann wohl mit dieser überdimensionalen Schubkarre da drüben an, oder was das ist? Kriegt ihr die überhaupt ’nen Meter durch den Sand geschoben?“
    „Werdet ihr dann ja sehen“, schnaubte Garvell belustigt. „Wenn wir uns auf dem Rückweg begegnen.“
    „Dann sind wir wohl verabredet“, meinte Monty und wandte sich zum Gehen ab. „Viel Glück! Ihr werdet’s brauchen …“ Er trottete davon und verschwand irgendwo in der Menge, aus der einige Schaulustige ihm noch interessiert nachsahen. Die Leute, die ihnen die ganze Zeit über noch zugehört hatten, verstreuten sich ebenfalls allmählich und hinterließen plattgetretenes Gras.
    „Was war das denn gerade bitte für eine Szene?“, sagte Alejandra kopfschüttelnd.
    „Dieser Monty hat mal für dich gearbeitet, Garvell?“, fragte Opolos.
    „So sieht’s aus“, antwortete Garvell knapp. „Aber dann hat es einfach nicht mehr so gepasst, wir haben uns zerstritten und er ist, wie ich mir jetzt zusammenreime, danach offenbar aufs Festland gereist. Hätte ich auch nicht gedacht, dass ich mal für mich beanspruchen kann, jemanden von der Insel getrieben zu haben.“
    „Aber über was habt ihr denn gestritten?“, fragte Opolos weiter.
    „Ach, da gab es jetzt nicht die eine große Sache“, meinte Garvell eher desinteressiert. „Wir hatten halt einfach unterschiedliche Vorstellungen von der Arbeit. Er wollte dieses Holz, ich wollte jenes, dann hatte ich mir schon einen Namen für unser Schiff ausgesucht, der ihm gar nicht passte, dann war er ständig unpünktlich, er hat mir vorgeworfen, ich würde mich zu sehr in seinen Kram einmischen, dann hat er ständig die Hämmer irgendwo liegenlassen und nicht zurück an ihren Platz auf der Werkbank gebracht …“
    „Er hat die Hämmer nicht zurückgebracht?“, fragte Opolos. „Und wegen so Kleinkram habt ihr euch zerstritten? Das kann doch nicht alles gewesen sein!“
    Alejandra lachte von der Seite. „Ich weiß nicht, wie das bei euch im Kloster so ist“, sagte sie. „Aber wenn du mal längere Zeit mit Männern verbracht hast, dann weißt du eigentlich, dass solche Kleinigkeiten sehr wohl reichen, dass die ihr Leben lang nicht mehr miteinander reden. Glaub mir.“
    „Achtung, Achtung!“, schallte es auf einmal über Silden. Garvell, Alejandra und Opolos drehten sich um, in der Nähe der Startlinie stand jemand von der Rennleitung und brüllte in ein Sprachrohr hinein.
    „Das Rennen wird in wenigen Augenblicken beginnen! Wir bitten die Teilnehmer, mit ihren Vehikeln an die Startlinie zu gehen und sich bereit zu machen! Alle Zuschauer machen den Bereich um die Startlinie bitte frei und bleiben in deutlichem Abstand hinter ihr! Wetteinsätze werden ab dem Startschuss nicht mehr entgegengenommen! Ich wiederhole: Wetteinsätze werden ab dem Startschuss nicht mehr entgegengenommen!“
    Alejandra und Garvell nickten sich gegenseitig zu. Jetzt wurde es so langsam ernst. Zügig und mit Opolos im Schlepptau kehrten sie zurück zum Teilnehmerfeld, wo an der Startlinie noch ein paar besonders uneinsichtige Schaulustige von der Rennleitung weggejagt werden mussten. Das Veranstalterteam hatte die Inspektion ihres Vehikels zum Glück abgeschlossen, zwei von ihnen, ein großer schlanker mit krausen Locken und ein kleiner, breiter mit Schnurrbart, schoben die Mü gerade zur Startlinie, wurden aber ihrerseits von der herbeieilenden Alejandra verscheucht, die es einfach nicht haben konnte, wenn fremde Leute Hand an ihr Fluggerät legten. Garvell konnte es ihr nicht verübeln, denn auch wenn sie die Mü durchaus stabil gebaut hatten, so kam sie ihm in den Händen Fremder so fragil vor wie eine Schneeflocke.
    „Da seid ihr ja wieder“, sprach Hjalte sie von der Seite an. Die beiden Nordmarer bildeten mit ihrem Schlittenwagen den Abschluss der Startlinie. Ihre Hunde dösten noch. Garvell war mittlerweile zu nervös, um noch viel zu sagen, und nickte ihnen nur zu. Alejandra war damit beschäftigt, die erste Fuhre Kohle aus dem Lagerfass der Mü in den Ofen zu befördern und wies Opolos gestenreich an, ihr dabei zu helfen. Er sah so aus, als hätte er noch nie eine Schaufel in der Hand gehabt und machte sich nur zögerlich ans Werk. Rechts neben ihrer Startposition waren, zum Glück in einem gewissen Sicherheitsabstand, die Frauen aus Varant mit ihrem Löwenwagen aufgestellt. Die beiden Löwinnen scharrten mit den Tatzen und schienen entweder aufgeregt auf das Rennen zu sein oder einfach nur Hunger zu haben. Die beiden Frauen dagegen wirkten gewohnt ruhig und entschlossen. Garvell kam nicht umhin, zu bemerken, dass er sie hübsch fand, und sein Blick kehrte in unregelmäßigen Abständen immer mal wieder zu ihnen zurück.
    An das Frauenteam schlossen sich die modernen Wagen von Ford und Sanford an, die je noch einen Begleiter dabei hatten. Garvell fiel jetzt erst richtig auf, dass es keinen einzigen Einzelstarter gab und außer ihnen auch niemanden mit drei Leuten. Monty wiederum stand alleine am anderen Ende der Startlinie herum und diskutierte noch lautstark mit jemandem von der Rennleitung, offenbar passte ihm der ihm zugewiesene Startplatz nicht. Selbst schuld, dachte Garvell, wenn er unbedingt mit einem Boot teilnehmen wollte. Das geschah ihm alles nur ganz recht.
    „Garvell!“
    Garvell wandte sich um, dem Tonfall nach zu urteilen hatte Alejandra ihn nicht zum ersten Mal gerufen. Ihr Gesicht war von der Kohle rußverschmiert, Alejandra hatte ein Talent dafür, sich während der Arbeit zu schmutzig zu machen. Sie hatte das Zündzeug in der Hand und reichte es Garvell. Für einen Moment fühlte er sich ein wenig schuldig, nicht daran gedacht zu haben, andererseits musste er als Teamchef aber natürlich auch den Überblick über die anderen Teilnehmerinnen haben.
    Der Kohleofen war mittlerweile gut gefüllt. „Das reicht erstmal!“, kommandierte Garvell und machte sich daran, mit dem Zündzeug die Glut zu entfachen. Wenn alles gut ging, dann würden sie die Kohle rechtzeitig zum Startschuss entfacht haben, vielleicht hingen sie gerade nur ein bisschen hinterher.
    „Geht’s? Geht’s?“, fragte Alejandra hinter Garvell aufgeregt. Sie hatte die ganze Zeit Sorge gehabt, dass Kohle oder Zündzeug während der Überfahrt zu feucht geworden waren, zumal die Witterung hier in Silden auch nicht gerade günstig war.
    Aber der Funke sprang über. Garvell tat sein Bestes, um die Glut am Leben zu erhalten, und nach einiger Zeit waren sie sich sicher, dass sie von alleine weiterbrennen würde.
    „Sehr gut“, befand Alejandra hörbar erleichtert. „Das war dann wohl die nächste Hürde.“
    „Die größte kommt noch“, sagte Garvell daraufhin nur. „Wollt ihr schon einmal einsteigen?“
    Alejandra sagte irgendetwas, wurde aber direkt von Opolos unterbrochen.
    „Ähm, eine Frage noch“, sagte der Novize sichtlich beunruhigt. „Habe ich das jetzt wirklich richtig verstanden, dass wir … also, das Ding kann fliegen? Wir werden fliegen, richtig hoch in der Luft?“
    „Na klar!“, sagte Alejandra. „Das ist dein Glückstag, dass du hier mitmachen darfst! Oder hast du etwa ein Problem damit?“
    „Es … ich …“
    „ACHTUNG!“, brüllte der Rennleiter nun von einem kleinen Sockel her, den man am Rande der Startlinie aufgebaut hatte, in sein Sprachrohr.
    „Verflucht, wir sind doch noch nicht so weit“, fluchte Garvell. „Egal, steigt schonmal ein.“ Er fischte eine zusammengedrückte Lederkappe aus seiner Hemdtasche, die er sich aufsetzte und bis über die Ohren zog. Aus der anderen Hemdtasche zog er dann Augengläser hervor, die er mit einem Band an seinem Kopf festmachte. Alejandra verknotete ihre Haare zu einem Dutt, und nachdem sie ebenfalls Lederkappe und Augengläser aufgesetzt hatte, stieg sie schon einmal in die Mü.
    „FERTIG!“
    Opolos, der in seiner Novizenkleidung nun mehr als fehl am Platze wirkte, schien noch zu überlegen, was er jetzt tun sollte. Alejandra nahm ihm die Entscheidung ab, indem sie ihn zu sich in die Mü winkte, einen weiteren Satz Augengläser in der Hand, den sie als Ersatz mitgenommen hatte. Sie befestigte das zugehörige Band an Opolos’ Kopf. Der Novize ließ die Prozedur duldsam über sich ergehen. Garvell ärgerte sich ein wenig, dass sie Opolos’ Aufnahme in ihr Team nicht noch einmal in Ruhe diskutiert hatten, aber dafür war es nun zu spät.
    „LOS!“, brüllte es, aber im gleichzeitigen Kanonendonner ging der Ausruf des Rennleiters beinahe völlig unter. Man hatte tatsächlich eine Kanone neben sein Podest gestellt. Garvell hoffte, dass es auch wirklich nur ein Salutschuss gewesen war, anderenfalls brauchte irgendein unglücklicher Sildener Fischer nun vermutlich wirklich ein neues Boot.
    Rechts von ihm hörte Garvell ein lautes Knattern, das mussten die Wagen von Ford und Sanford sein, die sich nun auch direkt in Bewegung setzten und tatsächlich mit einem beeindruckend flotten Tempo davonrollten. Ob das wirklich an ihren Öfen im Kofferraum lag oder ob das doch nur das Resultat besonders gut trainierter Pferde war, wusste Garvell nicht zu beurteilen. Tatsächlich schienen die Löwinnen im ersten Ansatz schneller zu sein – der Wagen mit den beiden Frauen peitschte so schnell los, dass er beinahe noch einen greisen Dorfbewohner erwischte, der den Start allen Ernstes nicht mitbekommen zu haben schien.
    Für all das Geschehen um sie herum hatte Garvell jetzt aber eigentlich keine Zeit. Er wurde etwas hektisch. Die Glut war bereits auf gutem Weg, aber ein bisschen fehlte noch, bevor er einen Versuch starten wollte, abzuheben.
    Plötzlich traf Garvell ein Stoß an der Schulter. Als er sich umwandte, war Monty schon an ihm vorbeigerannt. „Viel Spaß noch beim Rumstehen“, rief er hämisch. „Wir schippern jetzt los!“ Garvell ignorierte es einfach und wünschte Monty in Gedanken Schiffbruch.
    „Was ist mit euren Hunden?“, hörte er nun Alejandra neben sich fragen. Sein Blick wanderte zum Wagen der beiden Nordmänner, die alle Hände voll damit zu tun hatten, ihr Hundegespann irgendwie auf Trab zu bringen. Sämtliche der Tiere lagen aber faul am Boden herum und leckten sich allenfalls schläfrig die Pfoten.
    „Ich verstehe das einfach nicht!“, rief Hauke verärgert, weniger an Alejandra als an die Allgemeinheit gerichtet. „Normalerweise sind die vor ’nem Rennen so scharf, da müssen wir eher aufpassen, dass die nicht schon vor dem Start losstürmen.“
    „Die schlafen uns hier ein!“, fügte Hjalte unter dem anschwellenden Gelächter einiger Zuschauer hinzu. „Das darf doch einfach nicht wahr sein …“
    Garvell wusste keine aufmunternden Worte, die nicht zugleich vollkommen überflüssig gewesen wären, deswegen sagte er dazu nichts und konzentrierte sich wieder auf den Kohleofen. Er wagte einen letzten Blick hinein, dann schmiss er die gusseiserne Tür zu.
    „Alles klar!“, rief er. „Wir versuchen es!“
    Alejandra und Opolos hatten mittlerweile auf der offenen Personenfläche der Mü Platz genommen. Alejandra hockte vorne und hatte bereits die Hände an den Schaltern, die es in wenigen Momenten zu bedienen gab.
    „Sollen wir vorher noch ein Gebet sprechen?“, fragte Alejandra ihn grinsend. Aus ihr sprach die reine Nervosität, sie wurde dann gerne mal ein bisschen albern.
    „Quatsch“, meinte Garvell. „Die Götter können uns jetzt auch nicht mehr helfen! Bereit für den Auftriebspropeller?“
    „Bereit“, gab Alejandra nun sehr ernst zurück.
    „Dann: Auftriebspropeller an!“
    Alejandra drückte den entsprechenden langen Holzschalter und setzte die Mechanik in Gang. Sofort setzte sich das an der Unterseite der Mü eingelassene Propellersystem in Bewegung. Garvell eilte zur Mü und quetschte sich zwischen Alejandra und Opolos auf die Personenfläche. Es dauerte ein wenig, ein paar bange Sekunden, dann spürte Garvell den ersten leichten Schub von unten. Zu leicht. Oder besser gesagt: Zu schwer.
    „Wir schaffen es nicht!“, rief Garvell verzweifelt. Die Schaulustigen um sie herum, die Rennleitung, die verzweifelten Nordmänner neben ihnen, all das war für Garvell nur noch Hintergrundrauschen.
    „Stell die Schubkraft auf Maximum!“
    „Sicher?“, fragte Alejandra. „Das wollten wir doch nur für Notfälle -“
    „Es reicht sonst nicht!“, schnitt Garvell ihr das Wort ab. „Los!“
    Opolos machte auf sich aufmerksam, weil er irgendetwas sagen wollte, aber dafür hatten sie nun keine Zeit mehr. Mit entschlossener Miene griff Alejandra zu dem großen Drehschalter vorne am Armaturenbrett und drehte ihn ganz nach rechts. Die Propeller unter ihnen flirrten ohrenbetäubend, aber binnen weniger Sekunden machte sich die Wirkung des Ganzen bemerkbar. Garvell erkannte es, das Gefühl, wenn man den Boden verließ, zunächst nur weniger Zentimeter, dann immer mehr.
    „Wir schweben!“, erkannte nun auch Alejandra. Sie setzte den Flügelmechanismus ihrer Tragflächen in Gang, die anfingen erst langsam, dann etwas schneller zu flattern. Mittlerweile waren sie schon gute zwei Ellen vom Erdboden entfernt, ein Raunen ging durch die umstehende Zuschauerschaft, mehrere Mitglieder der Rennleitung blickten vergleichsweise gefasst, aber gleichwohl anerkennend zu ihnen herüber.
    Was Garvell noch beunruhigte, war, dass ihre Schwebe deutlich zu wackelig war. Gefühlt konnte die Mü jeden Moment seitlich kippen, und das war genau das, was nicht passieren durfte. Hier half wohl nur der alte Grundsatz: Geschwindigkeit bringt Stabilität.
    „Bereit für den Schubpropeller?“, rief Garvell Alejandra durch den Lärm hindurch zu.
    „Bereit!“, sagte sie und reckte den Daumen in die Höhe.
    „Okay: Schubpropeller an!“
    Alejandra betätigte einen weiteren Hebel, der etwas gedrungen aus dem Armaturenbrett hervorragte. Die Kraft des Schubpropellers war nur grob einstellbar, aber viel Feinjustierung war auch gar nicht nötig. Die Mü setzte sich sofort vorwärts in Bewegung. Recht schnell senkte sich dadurch aber auch die Nase des Flugzeugs nach unten. Hastig drängelte sich Garvell neben Alejandra und ergriff den Steuerknüppel. Er zog – und brachte die Mü so wieder in die Waagerechte. Unterdessen waren sie schon mehrere Meter vom Boden entfernt, manche der kleiner werdenden Leute unten winkten zu ihnen hinauf. Sie gewannen nun sehr rasch an Höhe. Der Wind strömte ihnen um die Nasen und Ohren. In nicht allzu großer Ferne wurde ein Vogelschwarm auf sie aufmerksam und drehte vorsichtig ab. Die Welt unter ihnen wurde immer kleiner, die Verläufe von Flüssen, die Grenzen von Wäldern und Gebirgsketten wurden sichtbar.
    „Wir fliegen!“, rief Garvell nun und reckte die Faust in die Höhe, die andere Hand zur Sicherheit am Steuerknüppel. „Wir haben es geschafft, wir fliegen!“
    „Wir fliegen!“, stimmte nun auch Alejandra mit ein. Sie klatschte sich mit Garvell ab. Am liebsten hätten sie einen Freudentanz mitten in der Luft durchgeführt.
    „Opolos, wir fliegen!“, wandte sie sich nun an ihr drittes Teammitglied, doch der schien gar nicht so begeistert zu sein.
    „Warum freut ihr euch denn so sehr?“, fragte er mit bleicher Miene, während er sich an seiner Umhängetasche festklammerte. „Wusstet ihr vorher nicht, ob das klappt, oder wie?“
    „Nicht so wirklich!“, brüllte Alejandra durch das Propellergelärm und das Windrauschen hinweg. „Wir hatten mit diesem Modell keine vollständige Testphase. Leider keine Zeit!“
    „Oh weh …“, machte Opolos nur betroffen. Alejandra legte ihm ermunternd eine Hand auf die Schulter. „Dir wird doch nicht schlecht, oder? Und selbst wenn: Einfach runter damit. Wenn du Glück hast, dann trifft’s genau den Richtigen.“ Sie lachte, und Opolos konnte sich immerhin zu einem schmalen Lächeln durchringen.
    „Wir haben ein Problem“, rief Garvell von vorne.
    „Bitte was?“, rief Alejandra zurück. „Ich versuche ihn hier gerade zu beruhigen!“
    „Die Mü zieht es ständig nach unten“, fuhr Garvell ungerührt fort. „Und wenn ich den Schubpropeller runter regle, verlieren wir sofort an Höhe. Wir können den aber nicht dauerhaft auf Maximum lassen. Der fliegt uns noch auseinander. Und die Kohle reicht dann auch nicht bis Ben Erai!“
    „Wir sind zu schwer“, zog Alejandra den offensichtlichen Schluss.
    „Danke, dass du es sagst“, meinte Garvell. Für die Austarierung des Gewichts war Alejandra zuständig gewesen. Ihr musste ebenso klar sein wie ihm, dass die Mü auf den Transport von drei Personen nicht ausgelegt war. Dabei war sie es gewesen, die Opolos ins Team eingeladen hatte. Das wollte Garvell so aber nun nicht aussprechen.
    „Ich habe eine Idee“, sagte Alejandra schließlich. „Eigentlich sogar zwei Ideen.“
    „Also, wenn wir noch einmal landen könnten, dann kann ich auch gerne von Bord gehen“, sagte Opolos kaum hörbar über den Lärm hinweg.
    „Kommt gar nicht in Frage“, kam es von Alejandra postwendend zurück. „Ich weiß was Besseres!“
    Sie bahnte sich ihren Weg ganz nach vorne, was die Gleichgewichtsprobleme der Mü nicht gerade verbesserte. Garvell wollte gerade etwas dazu sagen, da fuhr Alejandra ihm schon über den Mund.
    „Garvell, versuch die Mü jetzt so stabil wie möglich zu halten! Hast du verstanden? So stabil wie möglich!“
    „Was glaubst du denn, was ich die ganze Zeit schon versuche?“, gab Garvell zurück.
    Alejandra antwortete nicht darauf sondern kletterte an Garvell vorbei auf die Schnauze der Mü, in der linken Hand eine der beiden Kohleschaufeln.
    „Bist du verrückt?“, rief Garvell so erschrocken aus, dass er beinahe den Steuerknüppel verrissen hätte. „Zum Kohleofen geht’s in die andere Richtung!“
    „Vergiss nicht: Die Mü so stabil wie möglich halten!“, rief sie ungerührt. „Opolos! Komm mal ein bisschen näher ran, du musst mich gleich an den Beinen festhalten.“
    „Ich muss was?“, rief Opolos, leistete der Aufforderung aber sofort Folge.
    „Mich an den Beinen festhalten“, rief Alejandra erneut. „Und jetzt erzähl mir nicht, du kannst das nicht. Du bist stark genug, das weiß ich! Mach jetzt! Und auf keinen Fall loslassen!“
    Opolos kam näher und legte beide Arme und ein Teil seines Gewichtes auf die Unterschenkel Alejandras.
    „Was bei Beliar hast du denn vor?“, fragte Garvell.
    „Wirst du gleich sehen!“
    Alejandra lag nun bäuchlings auf der Schnauze der Mü und lehnte sich, die Schaufel noch immer in der Hand, zur Seite herunter. So langsam begriff Garvell, was ihr Plan war. Er hätte sich trotzdem gewünscht, dass sie nicht ausgerechnet auf geschätzt hunderten Metern Höhe ihre Akrobatikeinlagen auspackte.
    „Garvell!“, rief sie auf einmal von unten herauf. Sie sagte noch etwas, war aber kaum zu verstehen.
    „Was ist?“, rief Garvell zurück und lehnte sich ein bisschen nach vorne. Er war sich bei dem Trubel mittlerweile gar nicht mehr sicher, ob er überhaupt in die richtige Richtung flog, aber das ließ sich später noch klären.
    „Angesägt!“, schallte es nur zu ihm rauf.
    „Wie bitte?“
    „Das Rad wurde angesägt, die Aufhängung!“, drang es jetzt endlich zu ihm durch. „Einen Moment noch!“
    Zwei, drei Schläge gingen durch die Mü, dann krachte es einmal laut. Garvell sah nach unten: Das war ihr großes Rad, das nun gen Boden rauschte. Wenig später arbeitete Alejandra sich wieder in die Mü hinein. Opolos ließ ihre Beine erst los, als Alejandra ihn ausdrücklich darum bat.
    „Jemand hat das Rad angesägt“, erklärte sie nun nochmal. „Das wäre irgendwann auch von alleine abgebrochen, glaube ich.“
    „Angesägt?“, wiederholte Garvell ungläubig, während er eisern nach vorne starrte. Er glaubte zwar, noch auf dem richtigen Kurs zu sein, aber gleich musste mal jemand in die Karte schauen. Was im Augenblick aber viel wichtiger war: Die Mü zog jetzt immerhin nicht mehr die ganze Zeit nach unten.
    „Wenn ich es doch sage“, meinte Alejandra, die gerade ihre Kappe richtete.
    „Meinst du, das war einer von den anderen Teilnehmern?“
    „Was weiß ich … wir können nur froh sein, dass derjenige so blöd war, nur das Rad anzusägen. Der Rest funktioniert ja, oder?“
    „Wenn es irgendwo bei den Tragflächen oder bei den Propellern beschädigte Stellen gegeben hätte, dann wären die uns schon längst auseinandergeflogen“, beschied Garvell und gebot dem letzten Rest Zweifel in seinem Kopf Schweigen.
    „Wo hast du denn die Schaufel gelassen?“, fragte er dann, als er sah, dass Alejandra mit leeren Händen zurückgekehrt war.
    „Die habe ich direkt hinterhergeschmissen“, meinte Alejandra. „Das war halt meine zweite Idee. Und wir haben ja noch eine.“
    „Und das reicht jetzt?“, fragte Garvell.
    „Musst du doch selber merken, oder?“
    „Du bist die Gewichtsexpertin!“
    „Es müsste jetzt klappen“, dozierte Alejandra über das Windrauschen hinweg. „Das Rad war ziemlich schwer. Das ist jetzt zwar kein vollständiger Ausgleich für die Überbelegung mit drei Personen, aber immerhin annähernd. Ein ganz kleines bisschen Toleranz hatten wir ja noch. Außerdem hatte ich das Ganze auf der Grundlage berechnet, dass wir den Auftriebspropeller auf Standardstellung lassen. Aber ein bisschen können wir den ja überdrehen. Wenn du den irgendwo zwischen halber Kraft und Dreiviertel einstellst, dann sollten wir auch mit drei Personen gut durch die Lüfte kommen. Und den Propeller zerlegt es dann eher nicht, oder was meinst du?“
    „Ich sag mal sechzig Prozent, maximal fünfundsechzig“, meinte Garvell nach einigem Überlegen. „Mehr geb’ ich dem Propeller nicht. Die Kohle müsste dann auch bis Ben Erai reichen.“
    „Dann probier mal aus“, sagte Alejandra.
    Garvell hielt eine Hand am Steuerknüppel und drehte mit der anderen Hand den Drehknopf langsam zurück, bis er ein Stück über der Normstellung war. Es war deutlich zu spüren, dass sie nun weniger Auftrieb bekamen, aber die Mü brach nicht ein.
    „Klappt“, sagte Garvell.
    „Sehr gut!“, rief Alejandra erfreut aus. „Ich habe ja von Anfang an gesagt, dass wir dieses dumme Rad nicht brauchen.“
    „Lass mal gut sein“, sagte Garvell, musste sich aber selber ein Grinsen verkneifen.
    „So“, sagte er dann nach einer Weile etwas lauter, damit auch Opolos ihn gut hören konnte. „Dann geht es jetzt daran, den Kurs zu halten und heile in Ben Erai anzukommen. Opolos, kannst du Karten lesen?“
    „Ich?“, fragte Opolos erschrocken und wurde schon wieder ganz bleich.
    „Heißt hier sonst noch jemand Opolos?“, fragte Garvell zurück.
    „Nunja …“, sagte der Novize dann nach einigem Zögern. „Wenn die Karte gut ist … ich kann es zumindest mal versuchen. Aber nur, wenn Alejandra auch ein bisschen drüberschaut!“
    „Na gut“, sagte Alejandra ganz mütterlich. „Aber dafür musst du dann ab und an Kohlen nachlegen, einverstanden?“
    „Einverstanden“, sagte Opolos, und es kehrte schon wieder ein bisschen Farbe in sein Gesicht zurück.
    „Alles klar“, rief Alejandra daraufhin vergnügt aus. „Nächster Halt: Ben Erai!“
    Geändert von John Irenicus (06.10.2019 um 22:42 Uhr)

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    6. Er fuhr fort und kam nie wieder …


    So langsam konnte Garvell sich entspannen. Die Mü lief sauber und stabil, Kohle war noch ausreichend vorhanden und sie hatten gerade Trelis überflogen. Unter ihnen erstreckten sich noch Ausläufer der Felder von Trelis, die in allen möglichen Schattierungen der Farbe Gelb zu ihnen hinauf leuchteten. Der Nebel, der Silden umgeben hatte, hatte sich rasch verzogen, die Sicht war jetzt klar, die Windverhältnisse gut. Garvell und Alejandra hatten noch einmal alles an der Mü gecheckt, soweit es während des Fluges ging, und hatten keine weiteren Beschädigungen an ihr feststellen können. Wer auch immer ihnen ein Beinchen hatte stellen wollen, es war ihm nicht gelungen, sie aufzuhalten. Sie waren flott unterwegs und würden in nicht allzu langer Zeit Ben Erai erreichen, wo sie ihr Kohlefass neu auffüllen und die Mü eventuell noch ein letztes Mal durchchecken würden. Alles lief gut, viel besser als erwartet. Das hatte dazu beigetragen, dass sogar Opolos seine Flugangst abgelegt oder zumindest eingedämmt hatte, und Garvell war im Stillen ziemlich überrascht bis beeindruckt darüber, dass der bis dato schwer verängstigte Novize seinen Mageninhalt konsequent bei und vor allem in sich behalten hatte. Er war nun auch nicht mehr so blass, sein restliches Unwohlsein wurde einzig durch seine etwas angespannte Sitzpose verraten. Alejandra war dagegen ohnehin gänzlich unbekümmert, blickte durch die Gegend, sprach vergnügt mit Garvell und ging mit Opolos Details der Navigationskunst durch, nachdem ihre Versuche, ihm lustige Anekdoten aus seiner Klosterzeit zu entlocken, zu keinen zufriedenstellenden Ergebnissen geführt hatten.
    Die meiste Zeit aber spekulierte sie mit Garvell darüber, wo die anderen Rennteilnehmer gerade waren. Naturgemäß hatten sie sie nicht mehr zu Gesicht bekommen, bis …
    „Da!“, rief Alejandra auf einmal aus. „Dort unten!“
    „Ich seh’s“, antwortete Garvell knapp. Unter ihnen, westlich der Felder und südlich der Stadt von Trelis, nahe dem Ufer, waren zwei Wagen auf der schmalen Straße unterwegs, nicht hintereinander, sondern nebeneinander. Garvell brauchte nicht durchs Fernrohr zu blicken um zu erkennen, dass es sich um den roten Wagen von Team Ford und den schwarzen Wagen von Team Sanford handelte. Sie fuhren dicht an dicht und es hatte den Anschein, als wollten sie sich gegenseitig von der Straße drängen.
    Auch Opolos war nun neugierig geworden und wagte sich, ganz entgegen seiner sonstigen Vorsicht, an den Rand des Flugzeugs, um das Geschehen zu beobachten.
    „Ist das denn überhaupt erlaubt?“, fragte er.
    „Es stand zumindest nichts dagegen in den Regeln“, meinte Garvell. „Und auch sonst hat mir keiner was davon gesagt. Jeder so, wie er kann, denke ich mal.“
    „Das heißt, wenn wir hier auf einen anderen Flieger treffen, dann können wir ihn einfach wegrammen!“, scherzte Alejandra.
    „Dann aber ohne mich“, gab Garvell zurück. „Dann nehme ich den Fallschirm und springe ins Meer.“ Er warf noch einen Blick nach unten. Die Wagen von Ford und Sanford fuhren jetzt wirklich Rad an Rad.
    „Wir haben Fallschirme?“, fragte Opolos erstaunt. Er hatte sich jetzt wieder mehr in die Mitte der Mü begeben, zumindest so weit, wie das der beengte Raum eben zuließ.
    „Na klar, wie sollen wir sonst landen?“, fragte Alejandra zurück. „Aber keine Sorge, wir springen nicht von Bord oder so. Siehst du diese drei Metallösen, die wir hier in der Mitte, da vorne und hinten neben dem Ofen drangemacht haben? Wenn wir landen wollen, regeln wir erst den Schubpropeller und dann den Auftriebspropeller langsam bis auf Null runter und spannen die Schirme auf, damit sie unsere Landung abfedern. Und bevor du fragst: Ja, das haben wir vorher schon einmal mit Mü 1 getestet.“
    „Und was ist mit Mü 1 passiert?“
    „Die hat’s bei der Landung zerlegt.“
    „Wie bitte?“
    „Aber das lag an was anderem!“, bemühte sich Alejandra, das schnell richtigzustellen. „Wird schon alles gutgehen. Hat es bis jetzt ja auch.“
    „Na wenn du das sagst“, meinte Opolos nur. „Und wo sind diese Fallschirme? Ich sehe keine.“
    „Du sitzt seit Beginn des Flugs auf ihnen drauf.“
    Opolos sah nach unten. Tatsächlich lagen dort leicht verdreckt anmutende Segelschirme in drei Lagen.
    „Bleib nur darauf sitzen“, sagte Alejandra. „Wenn die uns hier weggeweht werden, haben wir vielleicht doch ein Problem.“
    „Jetzt hat’s gekracht“, sagte Garvell auf einmal. Alejandra und Opolos blickten wieder nach unten zu den Wagen, die wie zwei Spielzeuge nebeneinander herfuhren. Wobei das rote der beiden Spielzeuge offenbar ordentlich gelitten hatte, wie sie nun sahen. Der Wagen von Ford fiel nun hinter dem schwarzen Wagen zurück und geriet kurzzeitig ins Schleudern, bevor er gerade noch vor einer Böschung zum Stehen kam. Alejandra zückte das Fernrohr.
    „So schief, wie der jetzt steht, würde ich auf einen Achsbruch tippen“, erklärte sie fachmännisch.
    Garvell war sich sicher, dass Alejandra den Verdacht, der nun in ihm aufkam, teilte.
    „Sabotage?“
    Alejandra spähte weiterhin durchs Fernrohr nach unten. „Es kommt der Tag, da will die Säge sägen“, sagte sie. „Ich würde jetzt eher nicht davon ausgehen, dass der bei seinem Wagen einen so heftigen Konstruktionsfehler begangen hat. Hatten wir bei unserem Rad ja auch nicht.“
    „Wenn ich etwas im Kloster gelernt habe, dann, dass der Mammon die Leute ins Verderben führt“, meldete sich Opolos zu Wort. „Wenn man überlegt, was bei diesem Rennen auf dem Spiel steht und um wie viel es geht …“
    „Und das hast du im Kloster gelernt oder anhand des Klosters?“, fragte Alejandra zurück.
    „Beides.“
    Alejandra nahm das Fernrohr ab und lächelte Opolos milde an. Der Novize hatte beim Antworten keine Miene verzogen.
    „Dieser Ford hat’s jedenfalls hinter sich, wenn er das nicht in Windeseile repariert kriegen sollte“, sagte Alejandra. „Was ich bezweifle.“
    „Daher wohl auch der Ausspruch: Er fuhr fort und kam nie wieder …“, resümierte Garvell. „Egal, wir schauen nur auf uns. Wenn unser angesägtes Wagenrad die einzige Sabotage an der Mü war, dann haben wir massig Glück gehabt. Wir überprüfen das nochmal, wenn wir in Ben Erai Halt machen.“
    „Wo wir gerade beim Thema sind, wie lange noch?“, fragte Alejandra. Sie hatten gerade den kleinen Meerbusen bei Trelis überquert und flogen nun wieder über Landmasse. Das grüne Weideland verwandelte sich in Steppengelände, statt saftiger Marsch erblickten sie die ersten Dünen.
    „Kann nicht mehr lange dauern“, antwortete Garvell. „Wir müssten jetzt knapp über der Hälfte sein. Wird die Kohle reichen?“
    Alejandras Blick ging zu Opolos, aber der zuckte nur mit den Schultern und ließ sie vorbei zum Kohlefass.
    „Knapp“, sagte Alejandra nach einem kurzen Blick ins Lagerfass. „Knapp, aber es wird auf jeden Fall reichen. Oppo muss also keine Gebete sprechen.“
    „Ey!“, rief der Novize empört. „Darüber hatten wir doch schon gesprochen!“
    „Muss ich wohl vergessen haben“, erwiderte Alejandra und grinste ihr schönstes Grinsen.
    Geändert von John Irenicus (06.10.2019 um 22:43 Uhr)

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    7. Wer das Paradies nicht im Kopf hat, der wird es nirgends finden.


    Wo Sand und Berge das Land ausfüllten, wurde die Welt gelb. Für Garvell war diese Art von Landschaft eine völlig neue Erfahrung, und auch Opolos und Alejandra hatten die Wüste von Varant bisher nur aus Erzählungen gekannt. Ein Blick in den Himmel verriet, dass der Mittag schon vorüber war, aber Garvell wusste nur zu gut, dass der Mittag nicht etwa die heißeste Stunde des Tages war, sondern lediglich der Moment, ab dem es kontinuierlich immer heißer wurde. Auch der Fahrtwind hier oben trug zunehmend das Klima der Wüstenluft mit sich, ihr Kohleofen tat das Übrige. Garvell schwitzte von allen am meisten, die Augengläser beschlugen ihm vor Feuchtigkeit. Seine Lederkappe wollte er trotzdem nicht vom Kopf nehmen, dafür war es im Grunde schon zu spät.
    „So langsam sollten wir uns für die Landung bereitmachen“, sagte Garvell. „Direkt hinter dem Ende der Gebirgskette liegt Ben Erai. Ich werde dann noch einmal eine Schleife fliegen, und dann gehen wir in den Landeanflug.“
    „Gut“, sagte Alejandra, die die ganze letzte Zeit stumm die Landschaft unter ihnen bewundert hatte. „Opolos, dabei könntest du mir helfen.“
    Der Novize brauchte einen Moment, bis er sich daran erinnerte, dass er auf den Fallschirmen saß, die ihnen bei ihrer Landung helfen sollten. Etwas umständlich bewegte er sich zur Seite und half, die drei Segel unter ihm zu befreien.
    „Geh du ruhig hinten zum Ofen, ich mache einen vorne an der Schnauze und einen hier in der Mitte fest. Aber mach erst, wenn ich es dir sage. Solange der Auftriebspropeller noch Stoff gibt, blähen sie sich nicht auf, aber bei dem Schub, den wir noch haben, könnte das auch anders sein. Und beim ganzen Wind hier.“
    „Es ist gleich soweit, aber ein bisschen muss der Ofen noch laufen“, sagte Garvell. „Ist noch genug Kohle drin?“
    „Ich denke schon“, sagte Opolos, der jetzt am nächsten am Ofen dran war, zögerlich.
    „Auf jeden Fall“, fügte Alejandra hinzu. „Das ist wirklich alles sehr großzügig berechnet.“
    „Gut“, meinte Garvell. „Dann jetzt bitte so langsam festhalten. Sobald ihr Ben Erai unter uns sehen könnt, fliege ich die Schleife, dann regele ich die Propeller langsam runter und genau dann müsst ihr die Schirme einhängen. Alles klar?“
    „Klar!“, rief Alejandra.
    „Bei dir auch, Opolos?“
    „Klar“, sagte der und klang dabei gar nicht mal so unsicher wie erwartet. Vielleicht, so fantasierte Garvell, war der Novize doch fürs Fliegen geboren und wusste es nur noch nicht. Vielleicht war der Mensch auch generell zum Fliegen geboren und fristete lediglich aus göttlicher Strafe sein tristes Leben am Erdgrund. Vielleicht aber stieg ihm, Garvell, auch gerade nur die Höhenluft zu sehr ins Hirn.
    Noch eine sehr lange, gespannte Minute verging, da tat sich Ben Erai unter ihnen auf. Das Minendorf war eng an die Rückseite des Gebirges geschmiegt. Von hier oben konnte man zahlreiche Stolleneingänge erkennen, und da sie ohnehin nicht so hoch flogen, wurden auch rasch die ersten Menschen auf sie aufmerksam. Die allermeisten Bewohner und Arbeiter Ben Erais waren aber zu beschäftigt um das Luftschiff über ihnen zu bemerken.
    Garvell ließ die Mü noch ein bisschen über Ben Erai davongleiten, bis sie die Siedlung in ihrem Rücken hatten. Dann gab er die Anweisung.
    „Festhalten jetzt!“
    Alejandra und Opolos taten wie geheißen, während Garvell in scheinbar wilder Folge an diversen Hebeln am Steuerraum zog. Mit ihnen bediente er die beweglichen Segelklappen an den Tragflächen, sein persönliches Projekt, und tatsächlich schaffte er es so, die Mü zu einer erstaunlich scharfe Flugkurve zu bewegen. Die Schneise, die sie flogen, war eng, innerhalb weniger Augenblicke änderten sie ihre Richtung zurück auf Ben Erai zu.
    „Schirme einhängen, ich reduziere jetzt den Schub!“, rief Garvell. Während Opolos hinten am Ofen noch nach der Aufhängung suchen musste, reagierte Alejandra sofort. In Windeseile hatte sie den ersten Schirm vorne und den zweiten Schirm in der Mitte eingehängt und konnte Opolos hinten noch ein wenig helfen. Die Schirme flatterten nun heftig im Wind.
    „Schub aus!“, rief Alejandra zu Garvell nach vorne, und der reagierte sofort. Langsam, aber stetig reduzierte er in mehreren groben Schritten den Schub, bis der Propeller nur noch auf einem Minimum seiner Drehzahl drehte. Sie verloren deutlich an Kraft, bewegten sich aber immer noch weiter vorwärts.
    „Ich nehme jetzt Auftrieb weg!“, rief Garvell, während er bereits zur Tat schritt. „Tragflächen lasse ich aktiv!“
    Garvell regelte langsam das Auftriebspropellersystem herunter. Das war ein kritischer Moment: Wenn er zu hastig wurde, dann verloren sie die Balance, und dann würden eventuell auch die Sicherheitsschirme überfordert sein. Zu langsam wollte er aber auch nicht sein, denn mangels Schubkraft nach vorne waren sie nun anfällig gegenüber den Winden und konnten mit nicht allzu viel Pech ordentlich durchgeschüttelt werden. Garvell wagte einen Blick nach unten, der Erdboden war nicht mehr allzu weit weg, auch wenn das beim gleichförmigen Sand nicht immer einfach einzuschätzen war. Die Geschwindigkeit war in Ordnung, wenn das so weiterging, würden sie direkt am Rande von Ben Erai -
    „Vorsicht!“
    Garvell hatte es vor Alejandras Ruf bemerkt, der Schirm vorne an der Mü war nicht straff genug gebunden gewesen und hatte sich inmitten einer Windböe gelöst. Er flatterte nun wie ein einsames Friedensband unter der Sonne von Varant durch die Lüfte. Garvell bemühte sich schnell zu reagieren und entschied sich dafür, die Schubkraft wieder zu erhöhen, aber bevor er den Hebel erreichte, kippte die Mü bereits aus dem Gleichgewicht und neigte sich nach vorne.
    „Fahr den Auftrieb runter, fahr den Auftrieb runter!“, rief Alejandra. Auch Opolos schien etwas gerufen zu haben, aber Garvell hatte es nicht verstanden. Er musste sich jetzt darauf konzentrieren, die Kontrolle über die Mü zurückzugewinnen. Alejandra hatte recht: Bei dieser Neigung würden die Auftriebspropeller nun wieder Schub geben, der hinten angebrachte Schubprobeller aber gleichzeitig nach unten drücken – und das war in der Nähe eines besiedelten und vor allem bebauten Ortes gar nicht gut. Wenn er es wenigstens schaffen würde, in dieser großen Sanddüne vor dem Ortseingang zu landen …
    „Aus dem Weg!“, rief Opolos, und diesmal verstand Garvell. Aus dem Augenwinkel sah er, dass sich unter ihnen Schaulustige eingefunden hatten, die möglicherweise nicht verstanden, dass auch sie in Gefahr waren. Garvell entschied sich nun für die radikale Lösung und nahm den Auftrieb fast vollständig weg, während er den Schub auf Null reduzierte. „Festhalten!“, rief er noch, dann sackten sie schon ein, die beiden verbliebenen Fallschirme blähten sich hörbar auf. Der Sand war jetzt auf einmal nah, in Garvells Ohren rauschte es, seine Eingeweide zogen sich zusammen, Leute brüllten, alles ging auf einmal ganz schnell, zu schnell, um noch den einen letzten Atemzug zu machen, bevor sie

    Nurnichtatmennurnichtatmennurnichtatmennurnichtatmen. Alles wirkte gedämpft, seine Augen hielt er geschlossen, auf ihm, neben ihm, und unter ihm wirkte alles schwer und doch sanft, auf seinen Ohren lag Druck, er glaubte, Stimmen zu hören, doch, er hörte sie wirklich, Sand rieselte, seine Lunge schien kurz vor dem Explodieren, und dann traf Licht auf ihn, er stieß sich mit den Beinen ab – und steckte den Kopf aus dem Sand. Geblendet, wie er war, schnappte er zunächst nach Luft, bis Hände neben ihm und über ihm dabei assistierten, sich aus dem Sandloch zu befreien und auf eine stabilere Düne zu setzen.
    Garvell musste ein paarmal blinzeln und noch viel mehr keuchen, bis er überhaupt wahrnehmen konnte, wer da vor ihm stand. Es war eine Frau, aber es war nicht Alejandra. Die Frau war im Stile der Varantinerinnen gekleidet, in einem Gewand in verschiedensten Farben, zu dem auch noch ein Schleier gepasst hätte, den sie aber nicht trug. Die langen, rötlichen Haare und die vollen Lippen erinnerten Garvell an jemanden – und dann verstand er. Er hatte mit dieser Frau noch nie gesprochen, aber er hatte sie vorher einmal gesehen. Sie war eine der Frauen aus Varant, die auch an dem Rennen teilnahm.
    „Geht es dir gut?“, fragte sie in reinstem, akzentfreien Myrtanisch. „Lass mich dir etwas Wasser geben.“
    Sie zückte ein Fläschchen von der Kordel, die sie um ihr Gewand gelegt hatte, aber so trocken Garvells Kehle auch war, das interessierte ihn gerade nicht.
    „Alejandra“, rief er durch seinen Husten hinweg durch, „wo sind die anderen? Wo ist -“
    „Alles in Ordnung, wir sind hier hinten!“, rief eine vertraute Stimme, und als Garvell sich umwandte, sah er sie, Alejandra und auch Opolos, beide auf ihren eigenen Beinen, anscheinend unversehrt oder jedenfalls so unversehrt, wie man es nach so einer Landung eben sein konnte. Bei ihnen war eine andere Frau, mit kürzeren Haaren, und diesmal brauchte Garvell nicht so lange um zu verstehen, dass sie die andere aus dem Team der Varantinerinnen sein musste. Langsam rappelte Garvell sich auf, und bis auf ein paar Zipperlein in Armen und Beinen und diversen Stellen voller Sand ging es ihm den Umständen entsprechend gut. Ab sofort wollte er Bruchlandungen nur noch in der Wüste durchführen. Also, am liebsten gar keine, aber wenn, dann nur in der Wüste.
    „Wie lange war ich denn da drin?“, sagte Garvell und wies auf die Stelle, aus der man ihn herausgebuddelt hatte.
    „Nicht besonders lange“, sagte die Frau bei ihm. „Als klar war, dass ihr fallen würdet, sind erst einmal alle Leute hier weggerannt, aber mir war relativ klar, dass ihr noch vor den ersten Gebäuden Ben Erais zum Stehen kommen würdet. Das war geplant, in die Düne zu steuern, oder?“
    Garvell kratzte sich verlegen am Kopf. „Ja … nein … irgendwas dazwischen, glaube ich.“
    „Glaube ich dir gern“, sagte die Frau schmunzelnd. „Du hast immerhin einen spektakulären Abflug aus eurem Fluggerät raus gemacht.“
    „Garvell, alles in Ordnung bei dir?“, fragte Alejandra, die mit Opolos und der anderen Frau im Schlepptau nun bei ihm angekommen war.
    „Ich denke schon, bei euch auch?“
    „Ja“, antwortete Alejandra nur, und Opolos nickte. Der Novize war wieder einmal sehr bleich geworden, wirkte ansonsten aber doch recht gefasst.
    „Wo ist denn …“
    „Die Mü?“, las Alejandra seine Gedanken. „Dort hinten, wo wir hergekommen sind. Sie steckt ein bisschen tiefer im Sand, aber ich denke, wir bekommen sie schon noch freigebuddelt. Und wenn wir sie dann ordentlich vom Sand befreien, dann …“
    „Ich bin erst einmal froh, dass wir alle heile sind“, sagte Garvell. „Aber du hast recht, wir sollten uns so bald wie möglich daran machen, die Mü wieder auf Kurs zu bringen. Der Scheiß hier soll nicht umsonst gewesen sein.“
    „Ich gehe davon aus, dass ihr uns dann nicht mehr braucht?“, fragte die Frau bei Alejandra und Opolos nun. „Wir wollen euch nicht aufhalten.“
    „Nein, nein nein, ich meine, ja, also …“
    „Was Garvell hier sagen will“, übernahm Alejandra lächelnd. „Vielen Dank für eure Hilfe. Das unterscheidet euch von den Schaulustigen da drüben.“ Sie wies auf kleine Grüppchen von Leuten, die sie in einigen Metern Abstand beobachteten, neugierig tuschelnd, was es wohl mit ihrem Absturz auf sich gehabt haben mag. „Und dabei nehmt ihr doch selber am Rennen teil. Wie heißt ihr eigentlich?“
    „Ich bin Alima, und das ist meine Partnerin Yasmin“, sagte die Rothaarige. „Und nein, wir nehmen nicht am Rennen teil. Nicht mehr. Wir haben aufgegeben.“
    „Aufgegeben?“, fragte Alejandra mit Entsetzen in der Stimme. „Aber wieso? Nicht einmal wir geben auf, und wir sind vor ’ner Minute oder so abgestürzt!“
    „Unsere Löwinnen“, sagte nun die andere, Yasmin. „Sie können nicht mehr. Wir wollen sie nicht zu Tode hetzen.“
    „Löwen sind Sprinter, müsst ihr wissen“, übernahm Alima wieder. „Wir dachten zwar, mit dem nötigen Training können wir die Erholungsphasen zwischen den einzelnen Sprints so weit verkürzen, dass wir eine Chance im Rennen haben. Aber das Risiko ist uns zu groß. Wir sind schneller nach Ben Erai gekommen, als wir dachten, aber zu was für einem Preis? Wir können mit ihnen nicht noch quer durch die Wüste hetzen, noch dazu mit einem Wagen hintendran, der es auf dem Sand sowieso schwer haben wird. So gern ich das Rennen auch gewonnen hätte … aber unsere treuen Gefährtinnen riskieren wir dafür nicht.“
    „Und was werdet ihr jetzt tun?“, fragte Alejandra weiter. „Kommt ihr gebürtig aus Ben Erai?“
    „Wir kommen aus Mora Sul“, sagte Alima. „Nicht … gebürtig zwar, aber wir haben lange dort gelebt. Viel zu lange. Wir dachten, es wäre beim Rennen von Vorteil, dass wir die Wüste kennen. Aber letzten Endes sind unsere Mittel doch begrenzt.“
    „Wir sind Flüchtige“, schaltete Yasmin sich ein. „Wenn ihr wisst, was das bedeutet.“
    Garvell blickte Alejandra ratlos an, aber auf einmal räusperte sich Opolos und meldete sich zu Wort.
    „Ihr meint, ihr seid zwei entflohene … Haremsdamen?“ Der Novize war ein paar Schritte vorgetreten, schien nun aber von seiner eigenen Courage ein bisschen überfordert zu sein. „Ich meine … in der Bibliothek des Klosters kann man auch einiges über Varant lesen. Berichtet wird von Haremsdamen, Tänzerinnen, Dienerinnen, nur selten aber von Frauen außerhalb dieser Positionen. Deshalb dachte ich …“
    „Du liegst nicht falsch“, sagte Alima. „Auch wenn ich das, wo wir herkommen, nicht unbedingt einen Harem nennen würde. Eher das, was ein aufgeblasener und verschuldeter Händler, der sich als Emporkömmling aufspielen wollte, gerade noch so mit seinem Geld kaufen konnte. Ja, wir waren lange Zeit nicht frei, aber dann haben wir uns die Freiheit irgendwann genommen und sind nach Norden geflohen. Mit unseren Löwinnen, die nach dem Recht des Landes Varant ebenfalls dem Eigentum unseres ehemaligen … Herrn zugehören, dabei aber stets unserer Pflege unterstanden haben. Sie haben sich uns als Gefährten ausgesucht, nicht ihn. Deshalb sind sie mitgekommen.“
    „Und ich kann sagen, dass es einem auch als Frau im Norden hilft, wenn man selber nicht das einzige wehrhafte Biest ist, die haben uns ja auch die Renninspekteure vom Leib gehalten“, warf Yasmin nun in deutlich unernsterer Note ein.
    Opolos schien auf einmal eine Idee zu bekommen. „Habt ihr euren Herrn etwa …?“, fragte er, aber Alima wehrte bereits ab.
    „Nein“, sagte sie. „Wir haben ihn nicht getötet. Das heißt, er muss jetzt mit der Schmach leben, dass ihm zwei Frauen entlaufen sind. Davon wird er sich, zumal in einer Stadt wie Mora Sul, nie wieder erholen. Ein Herr, der seine Damen nicht im Griff hat, gilt dort nichts, weniger noch als ein Esel. Deswegen wäre es für uns kein großes Problem gewesen, im Zuge des Rennens wieder in die Nähe von Mora Sul zurückzukehren. Er hätte keine Gewalt mehr über uns gehabt. Und ich denke, wir werden tatsächlich wieder nach Mora Sul zurückkehren. Wir überlegen aber noch.“
    „Nach Mora Sul zurückkehren?“, fragte Alejandra erschrocken. „Dahin, wo man euch wie Dreck behandelt hat?“
    „Niemand hat gesagt, dass man uns dort wie Dreck behandelt hat“, antwortete Alima gelassen. „Wir hatten zu essen und zu trinken, eigene Gemächer, durften Wünsche äußern und wurden hofiert.
    Die Behandlung war nie das Problem. Die Freiheit war eines – oder eben ihr Fehlen.“
    „Wer das Paradies nicht im Kopf hat, der wird es nirgends finden“, sagte Yasmin ruhig. „Wer sagt uns, dass es im Norden unbedingt besser sein soll? Der Norden ist nicht besser als der Süden, der Westen ist nicht besser als der Osten. Es kommt drauf an, was man daraus macht. Viele werden sagen, in Varant hat man es als Frau immer schlechter, doch ich habe noch nie von einer Frau aus der Mitte Myrtanas gehört, der man mehr zugetraut hat als das Führen eines Haushalts und die Geburt von Kindern, und selbst damit scheint es ja nicht mehr weit her zu sein. Und selbst wenn: Wer sagt einem, dass es unter Frauen besser ist? Auch da haben wir unsere Erfahrungen gemacht. Nein, der Ort ist egal. Wir können an jedem Ort glücklich wie unglücklich sein. Und vielleicht ist es besser, dass wir noch länger auf Reisen bleiben. Aber das müssen wir wohl noch diskutieren.“ Sie blickte zu Alima und sie lächelten sich an.
    „Das ist wirklich eine … ziemliche Geschichte“, sagte Garvell, bevor überhaupt angestrengtes Schweigen auftreten konnte. „Und wir sind einfach nur drei Typen, die ein Rennen gewinnen wollen, nicht mehr und nicht weniger. Naja, ein bisschen was gäbe es schon zu erzählen, aber das fällt gegenüber eurer Geschichte ja ab.“
    „Das ist eigentlich ein Grund zur Freude“, meinte Yasmin. „Euer Fluggerät … Mü heißt es? Es wird von einem Kohleofen angetrieben, habe ich verstanden.“
    „Ja, und bisher lief es auch ganz gut“, sagte Alejandra. „Das hier ist ein geplanter Halt, auch wenn es jetzt vielleicht nicht danach ausgesehen hat. Wir wollen hier neue Kohle nachladen, damit wir es bis ganz nach Süden schaffen. Und jetzt müssen wir wohl noch ein bisschen was an der Mü reparieren. Aber dann geht es weiter.“
    „Wir haben gehört, dass Ben Erai berühmt für seinen Bergbau ist und gingen deshalb davon aus, dass hier auch Kohle abgebaut wird?“, forschte Garvell nach.
    „Das ist in der Tat so“, sagte Alima nun auf einmal sehr ruhig. „Wenn ihr wollt, dann können wir euch dabei helfen, Kohle zu bekommen, damit ihr hier nicht vollkommen übers Ohr gehauen werdet. Und vielleicht Kohle, an der kein Blut klebt, oder zumindest nicht so viel.“
    „Wie meinst du das?“, fragte Alejandra.
    „Ben Erai ist berühmt für seinen Bergbau, ja“, knüpfte Yasmin an das Gesagte an. „Aber viel weniger bekannt ist leider, wie die Bergschätze hier abgebaut werden. Oder unter welchen Bedingungen und von wem. Die meisten Leute schimpfen sie Arbeiter, aber wer einmal länger in Unfreiheit gelebt hat, der kennt den Ausdruck in den Augen eines Sklaven.“
    Garvell öffnete den Mund um etwas zu sagen, wusste dann aber nicht, was. Ein bisschen schämte er sich, dass er darüber noch gar nicht nachgedacht hatte.
    „Das … das wussten wir nicht“, sagte Alejandra. „Also, wenn das so ist …“
    Alima schüttelte den Kopf. „Die meisten wissen das nicht. Und wir wollen euch nicht davon abhalten, eure Kohle zu kaufen. Mit einem Boykott befreit ihr keinen einzigen Sklaven. Ich habe nur einen Vorschlag: Wenn ihr das Rennen gewinnen solltet und einer von euch Reichtum und Macht des Mannes namens Gollwitzer erbt … dann denkt vielleicht an diesen Ort hier und an die vielen anderen Ben Erais auf dieser Welt.“
    Die Worte wirkten eine Weile. Garvell spürte, dass er von der Sonne schwitzte. Seine Lederkappe und seine Augengläser hatte er verloren, Schweiß lief ihm über die Stirn.
    „Das werden wir“, sagte Alejandra schließlich, und Garvell wusste nicht, was er anderes hätte sagen sollen.
    Geändert von John Irenicus (06.10.2019 um 22:44 Uhr)

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    8. Immer feste drauf!


    Garvell war ganz in seinem Element. Man sagte das über viele Leute, aber jetzt, wo Garvell wieder den Wind um seine Ohren und in seinen Augen spürte, die Wüstenvögel in Schwärmen beobachtete, die Wolken so nah und den Erdboden so fern wähnte, stetig zwischen Aufstieg und Fall begriffen war und das alles auch noch genoss, da konnte er mit Fug und Recht behaupten, dass das Fliegen und die Luft, dass das wirklich sein Element war, und dass es eventuell sogar göttliche Fügung gewesen sein mochte, dass er sich ausgerechnet dazu entschieden hatte, ein Fluggerät zu entwerfen, etwas, was außer ihm wenn überhaupt nur wenige andere Leute zuvor getan haben mochten, die zudem aller Wahrscheinlichkeit nach auch noch Verrückte waren, aber vielleicht, so dachte er, während er nach unten in den gelben Wüstensand stierte und das Steuer dabei umklammerte wie ein Paladin seine geweihte Erzklinge, vielleicht war er ja auch selber verrückt, aber wenn das Verrücktsein war, dann liebte er es.
    „Dein Grinsen ist so breit, das sehe ich sogar von hier hinten!“
    Garvell hob auf Alejandras Worte nur die Hand und lächelte weiter. Erneut war es ihr zu verdanken gewesen, dass sie überhaupt wieder in die Lüfte gestiegen waren. Während Garvell gemeinsam mit Alima einen möglichst wenig dubiosen Kohlehändler aufgetrieben hatte – und das hatte sich nach dem eindringlichen Gespräch über die Sklavenhaltung in Ben Erai nicht bloß nach dem Preis pro Kilo bemessen –, war Alejandra zusammen mit Opolos bei der Mü geblieben und hatte sie zunächst aus dem Sand gezogen. Als Garvell dann mit einem prallen Sack Kohle, gekauft mit ihren letzten verbliebenen Ersparnissen, zurückgekehrt war, hatte Alejandra auch schon im Sand unter der aufgebockten Mü gelegen und mit denjenigen Werkzeugen, die bei ihrer Bruchlandung nicht in alle Winde und Sände verstreut worden waren, das getan, was sie am besten konnte. So lange Garvell sie auch kannte, er konnte über Alejandras Ideen, Einfälle und vor allem ihre Fähigkeiten doch immer wieder staunen. Im Grunde war Opolos nicht der einzige Magier in ihrem Team, denn was Alejandra mit bloß einem Hammer und einem Schraubenschlüssel hinbekommen hatte, das grenzte an Zauberei. Bis auf die Schäden an den Tragflächen – Garvells innovatives Segelsystem hatte einiges abbekommen – waren die meisten Schäden reparabel gewesen, und trotz des größeren Zeitverlustes durch Landung und Reparatur waren sie nun wieder frohen Mutes, eine reelle Chance im Rennen zu haben.
    Alejandra und Opolos saßen hinter Garvell dicht gedrängt um die Karte herum. Mittlerweile hatte sich dabei eine regelmäßige Aufteilung ergeben: Opolos tat sein Bestes, die Karte im Flugwind fest- und glattzuhalten, Alejandra las. Mora Sul und damit auch die Wehrkirche Walpernhain in dessen Umland lag südwestlich von Ben Erai, aber sie flogen auf Anraten von Alima und Yasmin zunächst mehr westlich als südlich. Die lokalen Wetterdeuter hatten Stürme im Süden vorgesehen, und auch wenn Garvell den Vorhersagekünsten nicht zu einhundert Prozent traute, so hielt er es doch für vertretbar, zur Sicherheit ihre Route anzupassen, ohne freilich zu viel Zeit zu verlieren.
    Sie überflogen nun gerade Braga zu ihrer Rechten, eine bei Handelskarawanen beliebte Oase. Garvell hätte am liebsten länger über dem Ort gekreist, um herauszufinden, ob einer der anderen Teilnehmer dort weilte, aber so langsam mussten sie gen Süden abdrehen, um nicht zu viele unnötige Meilen zu fliegen. Von hier oben sah in Braga jedenfalls alles nach dem gewohnten Lauf der Varantiner Dinge aus. Sanford musste mit seinem Wagen wohl schon über Braga hinaus sein, wenn er denn wirklich eine praktikable Lösung hatte, über Sand zu fahren. Und ob die anderen Teilnehmer, namentlich Ford und die beiden Nordmänner, ob die noch einmal zu Potte gekommen waren, das wusste Garvell natürlich auch nicht. Möglicherweise war Sanford also ihr einzig verbliebener Konkurrent zu Lande. Wo Monty und sein Kollege gerade waren, das wusste Garvell demgegenüber gar nicht einzuschätzen. Je nachdem, was ihr Boot alles konnte, waren sie womöglich deutlich schneller unterwegs als Sanfords Wagen, dafür aber mussten sie eine Lösung finden, wie sie nach dem Landen an der Küste schnell genug nach Norden ins Landesinnere kamen, um den Zielort des Rennens zu erreichen. Garvell hielt seinen Optimismus, eine Chance auf den Sieg zu haben, demnach für gut begründet.
    Garvell wollte gerade die Hebel für die Tragflächen bedienen, um den Schwenk gen Süden einzuleiten, als mehrere schwarze Punkte am Horizont seine Aufmerksamkeit weckten. Mitflieger, wie er sie nannte, waren auf dieser Reise an sich nichts Ungewöhnliches, tatsächlich war Garvell auf dem Flug zur Meinung gekommen, dass man nur von oben die Vielzahl an Vogelschwärmen wirklich wahrnahm. Diese Punkte aber, die sich ihnen von nordwestlicher Richtung aus näherten, waren größer als üblich, und sie wuchsen mit einer geradezu rasanten Geschwindigkeit an. Schnell war klar, dass es sich nicht um gewöhnliche Vögel handeln konnte. Garvell wollte seinen Teammitgliedern gerade einen Hinweis darauf geben, aber Alejandra hatte es schon bemerkt.
    „Was bei Beliar ist das?“, fragte sie.
    Opolos neben ihr wurde sichtlich unruhig, und auch wenn er mittlerweile eigentlich die Angewohnheit, ständig seine Farbe im Gesicht zu verlieren, abgelegt hatte, so wurde er nun doch ein wenig blass um die Nase.
    „Ich würde gerne sagen, dass ich mir nicht sicher bin“, sagte Opolos mit vergleichsweise ruhiger Stimme, „aber wenn ich mir die Form dieser Gestalten so ansehe, die Größe der Flügel und der Beine und Füße, wie schnell sie sind, und … hört ihr diese Laute? Man hört es bis durch den Wind. Doch, ich bin mir sicher, und wir haben ein Problem. Das können nur Harpyien sein.“
    „Harpyien?“, entfuhr es Garvell, der sich flugs daran machte, ihren Wendevorgang Richtung Süden zu beschleunigen. „Du meinst, richtige Harpyien? Diese fliegenden Viecher? Diese Frauenbiester?“
    „Harpyien, ja“, sagte Opolos. „Genau die. Sieh nur!“
    Die schwarzen Gestalten stellten sich jetzt beim Näherkommen vielmehr als grau in verschiedensten Schattierungen heraus, und tatsächlich konnte Garvell nun auch sehr genau die unablässig schlagenden Flügel erkennen. An ihnen hingen Frauenleiber, einer unförmiger als der andere, mit riesigen bekrallten Füßen an ihrem Ende und bedrohlichen Klauenhänden vor ihnen. Die Köpfe waren allesamt eingerahmt von grauschwarzen Mähnen, die nur noch ganz leichte Ähnlichkeit mit menschlichem Haar aufwiesen. Die Gesichter, soweit Garvell sie aus der Distanz erkennen konnte, schienen reglos, wie eingefroren, starr vor Hass und Wut, nur die Augen bewegten sich, stachen meilenweit in die Ferne. Und dann die Schreie: Salvenartig rissen sie durch die Luft wie Sensen durch ein Weizenfeld, bereit, jegliches Leben grausam zu Boden zu schicken. Garvell widerstand dem Impuls, sich die Hände an die Ohren zu pressen und bemühte sich stattdessen, das bereits eingeleitete Wendemanöver zu Ende zu führen. Sie gerieten dabei in ihren eigenen Kohlerauch, was Garvell sonst immer zu vermeiden versucht hatte, aber das war nun wirklich egal.
    „Schub rauf“, sagte er mehr für sich selbst, denn er hatte jetzt nicht den Nerv, über das anschwellende Harpyiengekreisch hinweg zu brüllen.
    „Wo kommen die denn her?“, rief Alejandra dagegen aus voller Lunge von hinten.
    „Ich habe nur eine Vermutung“, antwortete Opolos, ebenfalls rufend. „Wir sind nicht weit entfernt von der Grenze zum unbekannten Land. Dort hinter der Bergkette. Möglicherweise sind sie von da gekommen. Mehr kann ich dazu nicht sagen, die Studien über magische Kreaturen habe ich im Kloster immer vernachlässigt. Ich dachte immer, ich bekäme die sowieso nie zu sehen …“
    „Wie auch immer“, meinte Alejandra, die sich eisern an der Mü festhielt, die von Garvell während des Wendemanövers bis ans Äußerste getrieben wurde. „Wir haben jetzt wohl wirklich ein ziemliches Problem. Die haben es auf uns abgesehen!“
    Sie kramte wild in dem Werkzeugsäckchen herum, das mit mehreren Schnüren an der Mü festgebunden war und im Innenraum lag, bis sie den Hammer gefunden hatte.
    „Den nimmst du!“, sagte sie zu Opolos und reichte das Werkzeug weiter. Dann stapfte sie bis ganz ans Heck der Mü.
    „Bitte was?“, sagte der Novize und wurde nun doch wieder ganz bleich. „Ich kann doch nicht …“
    „Hilf mit so gut du kannst, aber bleib in der Mitte!“
    Garvell hatte die Mü nun gewendet, sodass sie in gerader Linie gen Süden flogen. Den Schub hatte er noch einmal erhöht, die Mü vibrierte an allen Stellen. Ein Blick nach hinten verriet ihm, dass das nur wenig Zeit erkaufte. Die Harpyien waren schnell, sehr schnell. Sie stürmten in einer Sechserformation heran und würden sie bald erreicht haben.
    „Sie sind bald da!“, brüllte Garvell über die Schulter und sah, wie Alejandra nach der Kohleschaufel griff. Erst einige Momente danach verstand er, was sie vorhatte. Statt den Offen zu befüllen, hielt sie die Schaufel wie ein klobiges Einhandschwert in ihren Händen.
    „Alejandra!“, rief Garvell. „Das ist doch verrückt! Die werden dich zerfetzen! Oder entführen oder was weiß ich!“
    „Ach was“, sagte Alejandra, die nun einen waghalsigen, breitbeinigen Stand auf der Mü eingenommen hatte. „Immer feste drauf! Dann werden die schon sehen, was sie davon haben! Sieh du nur zu, dass du das Tempo hältst!“
    Die Schreie der Harpyien wurden immer lauter, die Biester waren nun auf wenige Flügelschläge an sie herangekommen.
    „Du musst den Auftrieb erhöhen!“, rief Alejandra. „Wenn sie zu steil von oben attackieren, sieht’s übel aus!“
    Garvell tat, wie ihm geheißen. Das Propellersystem an der Unterseite der Mü gab alles, der Kohleofen ackerte. Garvell selbst hielt schon seit geraumer Zeit unwillkürlich die Zähne zusammengebissen. Das war jetzt wirklich der vielbeschworene Ritt auf der Kanonenkugel.
    Die sechs Harpyien hatten nun einen Halbkreis rund um das Heck der Mü gebildet. Ihre Flügelschläge waren synchron, ihre Schreie hingegen ein wildes Durcheinander. Garvell wagte es nun nicht mehr, sich umzudrehen. Er konnte jetzt nicht viel anderes tun als zu hoffen, dass Alejandra die Harpyien auf Distanz halten konnte, bis … ja, bis was eigentlich? Würden sie die geflügelten Frauen überhaupt abschütteln können?
    Ein eigentümliches Zischen ertönte, als sich eine der Harpyien aus dem Halbkreis löste und direkt ans Heck der Mü stürmte. Alles ging blitzschnell, Garvell hörte nur ein immenses Scheppern wie von Metall auf Metall und dann ein markerschütterndes Kreischen. Garvell wagte nun doch einen kurzen Blick über die Schulter. Alejandra hatte getroffen, offenbar mit voller Wucht, denn die Harpyie fiel nun zurück und musste sich schütteln, bevor sie langsam wieder zu ihren Schwestern aufschließen konnte.
    „Eins zu null für mich!“, rief Alejandra fordernd, aber Garvell kannte sie gut genug, um die Nervosität in ihrer Stimme herauszuhören. Kurz darauf wagte eine weitere Harpyie einen Ausfall. Dieses Mal ging Alejandras Schlag ins Leere, aber nur, weil die Harpyie ihren Angriff abbrach und wieder zurückwich. Der Schwung riss Alejandra beinahe von den Füßen.
    „Sei vorsichtig!“, rief Garvell über seine Schulter, bemerkte dann aber, dass dieser Hinweis angesichts eines sechsfachen Harpyienangriffs irgendwie blöde war. Er konzentrierte sich daher lieber wieder auf den Flug. Unter ihnen rauschten Sanddünen, Hügel und kleine Berge vorbei wie im Zeitraffer. Winde erfassten die Mü von links und rechts, und Garvell glaubte, dass es auch die Flügelschläge der Harpyien waren, die das fein austarierte Gleichgewicht der Mü immer wieder in Schieflage brachten. Garvell war die ganze Zeit damit beschäftigt, Ausgleichsbewegungen mit der Mü zu vollführen, um das Flugschiff vor dem Kippen zu bewahren. In gerader Linie nach Süden flogen sie längst nicht mehr, und wenn, dann nur durch bloßen Zufall.
    Ein erneutes Kreischen, ein erneutes Scheppern, ein erneuter noch lauterer Schrei. Alejandra hatte wieder eine von ihnen erwischt, aber ganz offensichtlich fühlten sich die Harpyien davon nur noch mehr angestachelt. Jetzt versuchten es zwei von ihnen auf einmal, wollten Opolos packen, gruben sich mit ihren immensen Fußklauen in die blanken Oberarme, die seine Robe offenbarte. Der Novize schrie auf und schlug wild mit dem Hammer in seiner rechten Hand um sich und auf sich selber, bis er tatsächlich den Fuß zumindest einer der beiden Harpyien erwischte, die daraufhin ein infernalisches Kreischen ausstieß. Alejandra war unterdessen zu Opolos geeilt und verteilte mächtige Schwünge mit der Kohleschaufel. Es gab einiges Gerangel, bis sie die Harpyien halbwegs unter Kontrolle hatte. Es kam sogar zeitweilig noch eine dritte dazu, die Opolos den Hammer aus der Hand fischte und ihn sodann aus der Luft einfach fallen ließ, dann aber zogen sich die insgesamt drei geflügelten Frauen erst einmal wieder zurück, weil Alejandra mit der Schaufel immer kompromissloser vorging.
    „Alles in Ordnung, Opolos?“, fragte sie hektisch und beugte sich zum Novizen runter. Der jedoch winkte nur ab und hielt sich seinen Arm, dann wurden seine Augen ganz groß.
    „Alejandra, Vorsicht!“
    Noch im Umdrehen machte Alejandra eine schwungvolle Schlagbewegung, und tatsächlich traf sie die hinterrücks herangeeilte Harpyie so heftig, dass diese in der Luft den Halt verlor und zu Boden segelte, begleitet von einem kreischenden Jammern.
    „Da waren’s nur noch fünf“, kommentierte Alejandra lakonisch. Die restlichen Harpyien zogen den Kreis um die Mü nun wieder etwas weiter, flogen mal aus der Formation heraus und wieder herein. Es war kaum zu beurteilen, ob sie sich überhaupt nach irgendeinem sinnvollen Plan koordinierten.
    Garvell spürte ein Stottern durch die Mü gehen, das sich von den üblichen Symptomen der Maschinenüberlastung unterschied. So sehr, wie er Schub und Auftrieb aufgedreht hatte, ließ das alles nur einen Schluss zu.
    „Schaufelt noch jemand Kohle?“, rief er etwas hilflos über seine Schulter hinweg, während er gleichzeitig versuchte herauszufinden, wo sie überhaupt waren. Unter ihnen war eine kleinere Gebirgskette zu sehen. Wenn sie jetzt notlanden mussten, dann würde das nicht gut ausgehen.
    „Ich schiebe schnell was nach!“, rief Alejandra, die Schaufel weiter in der Hand, und beugte sich hinüber zum Fass, um von dort ein paar Kohlen herauszuholen, die bei der wilden Hetzjagd noch nicht über Bord gegangen waren. Der Kohleofen stöhnte auf, die Mü schien kurz das Gleichgewicht zu verlieren, geistesgegenwärtig steuerte Garvell mit den nur noch halb funktionsfähigen Minisegeln auf den Tragflächen gegen. Der Ruck, der daraufhin durch die Mü ging, schleuderte Alejandra jedoch auf den Boden der Passagierfläche, und als sie sich reflexartig am Ofen festhalten wollte, verbrannte sie sich die Handfläche. Sie schrie auf und ließ reflexhaft die Schaufel fallen.
    Garvell, obwohl alle Hände voll zu tun, wagte einen kurzen Blick nach hinten. Alejandra kniete auf dem Holzboden und hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Hand, aber was Garvell noch viel mehr beunruhigte, war die Harpyie ein paar Meter hinter Alejandra, die nun mit einem Zornesschrei durch die Lüfte in ihre Richtung stieß. Garvell wollte irgendetwas tun, wollte schreien, wollte die Mü noch einmal herumreißen, aber er sah, dass es schon zu spät war. Unter lautem Geschrei brachte die Harpyie im Sinkflug ihre Klauen an den Füßen in Angriffsposition, bis sie nur noch eine Elle von Alejandra entfernt waren, die sich nicht mehr wehren konnte und jeden Moment -
    Dann auf einmal ein Kreischen, Feuerfunken flogen durch die Luft und ein nicht viel mehr als pflaumengroßes Geschoss durchbohrte mit flammendem Strahl den rechten Flügel der Harpyie. Wieder dieses jämmerliche Kreischen, während die Harpyie ins Trudeln geriet und endgültig den Halt verlor, hinter der Mü zurückfiel und das noch schmorende Feuer mit hilflosen Krallenschlägen zum Erlöschen bringen wollte. Garvells Blick ging zu Opolos, der immer noch auf dem Holzboden hockte und sich jetzt wieder den blutüberströmten Arm hielt.
    „Feuerpfeil“, keuchte der Novize. „Eine Rolle hatte ich noch. Alles in Ordnung bei dir, Alejandra?“
    „So weit, so gut“, sagte Alejandra mit schweißnasser Stirn. „Du hast mir wahrscheinlich gerade das Leben gerettet, weißt du das eigentlich? Und schau, die Harypien! Sie drehen ab! Wir haben sie verjagt! Du hast sie verjagt!“
    Tatsächlich ließen sich die übriggebliebenen Harpyien nun langsam zurückfallen und ließen von der Mü ab. Langsam aber sicher wurden sie wieder zu bloßen dunklen Flecken am Himmel, und auch ihr Gekreisch verlor sich allmählich im Rauschen des Windes und im Klappern der Mü.
    „Ich fürchte, das ist nicht der wahre Grund“, sagte Garvell, den Blick starr nach vorne gerichtet. „Seht nur.“
    Die anderen leisteten der Aufforderung Folge, und zusammen sahen sie, was vor ihnen lag. Vom Erdboden aus zog sich eine riesige, wirbelnde Spirale bis hoch zu ihnen in die Luft, und sie waren nur noch wenige Augenblicke davon entfernt, in diesen chaotischen Vortex hineinzugeraten. Panisch versuchte Garvell abzuschätzen, ob sie noch abbremsen oder abdrehen konnten, ohne sich in die sichere Gefahr des Absturzes zu bringen.
    „Das muss eine dieser Windhosen sein, von denen Alima und Yasmin erzählt haben“, hauchte Alejandra, den verletzten Opolos an ihrer Seite. „Scheiße … was machen wir jetzt, Garvell?“
    „Ausweichen ist nicht mehr möglich“, raunte Garvell. Bitterkeit lag in seiner Stimme. „Ich glaube, wir haben die besten Chancen, wenn wir versuchen, direkt durchzufliegen. Wir werden ein wenig durcheinandergewirbelt werden, aber vielleicht, wenn wir Glück haben …“
    „Das ist doch Wahnsinn!“, rief Alejandra. „Wir könnten dabei draufgehen!“
    „Das können wir so oder so, egal was wir machen!“, blaffte Garvell zurück. „Wenn ich eine bessere Idee hätte, dann … wir müssen uns jetzt alle gut festhalten. Es ist nicht unmöglich, dass wir es schaffen! Wenn wir im richtigen Winkel einfliegen, können wir den Sandsturm vielleicht einfach durchschneiden, wie ein heißes Messer durch Butter! Alejandra! Kümmere dich um Opolos, seht mir zu, dass ihr nicht über Bord geht! Und schließt eure Augen, bevor es der Sand mit ihnen tut! Hier wird gleich einiges an Dreck aufgewirbelt!“
    Sie hatten den Rand des Sandsturms nun schon beinahe erreicht. Es rauschte wie im Meer bei Sturm, Sandkörner flogen durch die Luft, stachen wie kleine Nadeln in ihre Gesichter.
    „Scheiße!“, brüllte Garvell. „Ich kann schon überhaupt nichts mehr machen! Die Luftverwirbelungen sind zu stark!“
    „Können wir nicht mit den Fallschirmen -“
    „Zu spät!“, unterbrach Garvell brüllend. „Es gibt jetzt kein Zurück mehr! Haltet euch fest! Haltet euch verdammt noch mal fest!“
    Die Mü wurde bereits hin und her geschleudert wie eine einsame Planke auf einem gewaltigen Ozean. Garvell konnte seine Hände nicht mehr an den Steuerapparaturen halten und hielt sich nur noch an der Mü selbst fest. Ihr Lagerfass hinter ihnen drohte abzubrechen, der Rauch des Ofens wurde mit ihnen in den Sturm gesogen. Binnen weniger Sekunden konnten sie nichts mehr sehen, alles war eine Mischung aus gelbbraunem Sand und Lichtblitzen vor ihren Augen. Garvell rutschte das Herz in die Hose. Das war vielleicht das Ende.
    „Alejandra!“, rief er noch einmal hinter sich, er konnte schon keinen mehr sehen.
    „Was?“, kam es zurück, glaubte er zumindest, aber bevor er antworten konnte, war er schon so durchgewirbelt, der Sand und der Wind erfassten seinen Körper, er wusste nicht mehr, wo oben und unten lagen, reden ging nicht mehr, atmen ging nicht mehr, nur noch festhalten, die Augen schließen und ausharren. Garvell sperrte die ganze Welt aus sich aus und hoffte einfach nur noch, dass es irgendwann vorbei war.
    Geändert von John Irenicus (06.10.2019 um 22:45 Uhr)

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    Deus Avatar von John Irenicus
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    9. Möchte denn jetzt jemand ein Stück Wurst?


    „Garvell? Garvell? Garvell! Du kannst die Augen wieder aufmachen. Es ist vorbei. Oder lass bitte wenigstens mich ans Steuer.“
    Langsam, nur sehr, sehr zögerlich kam Garvell der Bitte nach. Seine Lider waren schwer als hätte jemand zehn Tonnen Sand darauf abgeladen. Er sah zuerst Blau, dann das gleißende Weiß der Sonne. Es dauerte ein wenig, bis er sich an die neu einstrahlende Helligkeit gewöhnt hatte. Alejandra kauerte neben ihm und hielt eine Hand auf dem Steuerknüppel. Ihre Haare waren vollkommen zerzaust und standen in alle Richtungen ab, an einigen Strähnen hatten sich Sandkörner festgesetzt. Garvell ließ seinen Blick nach links und rechts schweifen. Sie flogen. Der Sandsturm hatte sich anscheinend in Luft aufgelöst wie ein lästiger Albtraum.
    „Du bist ganz weiß im Gesicht“, sagte Alejandra ernst. Garvell glaubte es ihr aufs Wort, er fühlte sich nämlich auch so.
    „Du nicht“, gab er zurück. „Aber das bist du ja nie.“ Er zwang sich zu einem Lächeln.
    „Naja, Opolos schafft es ja auch“, sagte sie nur. „Wir haben den Sturm überstanden. Du wirktest ganz schön … verängstigt.“
    „Wart ihr das etwa nicht?“, fragte Garvell. Er bemühte sich, an Alejandra vorbei zu blicken und erspähte Opolos. Der Novize saß in der Hocke, wirkte etwas derangiert und spuckte gerade in einen Textilfetzen, um sich dann damit über seinen Oberarm zu reiben.
    „Er pult sich gerade den Sand aus seiner Wunde“, erklärte Alejandra, die Garvells Blick aufgefangen hatte. „Unseren Wasserschlauch hat es leider von Bord geweht. Aber Spucke soll ja desinfizieren, habe ich gehört.“
    „Es soll noch aller möglicher anderer Kram desinfizieren, deswegen mache ich’s trotzdem nicht“, bemühte sich Garvell um eine weitere witzige Bemerkung. Ihm war ein wenig übel, aber so langsam kam er wieder zu Kräften. „Wie lange hat der Sturm denn gedauert?“
    „Das kann ich dir auch nicht sagen“, meinte Alejandra. „Ich hatte Besseres zu tun als die Sekunden zu zählen. Das ging ganz schön zur Sache, bei mir dreht es sich immer noch. Ich hab auch nur mich und Opolos festgehalten und gehofft, dass es vorbeigeht. Und dann, auf einmal, zack, waren wir aus dem Sturm draußen oder der Sturm weg, ich weiß es nicht. Ich glaube aber, wir haben ein Schweineglück gehabt. Die linke Tragfläche ist zwar ganz schön am Eiern, das Kohlefass hängt auf Halbacht, der Schubpropeller macht nicht so angenehme Geräusche … aber sonst. Ich bin nur froh, dass es den Ofen nicht abgerissen hat. Hat sich also doch gelohnt, den zigfach redundant zu vernieten. Hörst du mir überhaupt zu, Garvell?“
    „Ja, doch, sicher höre ich dir zu“, erwiderte Garvell rasch.
    „Dich hat das ganz schön mitgenommen, oder?“, fragte Alejandra.
    Garvell atmete ein paarmal tief ein und aus und nickte dann. „Ich dachte, jetzt ist es aus.“
    „Dachte ich für einen kurzen Moment auch“, bekundete Alejandra. „Aber du weißt ja, Unkraut vergeht nicht. Die Mü auch nicht. Wir leben nicht nur, wir fliegen sogar noch!“
    Alejandra setzte ein breites Grinsen auf. Garvell grinste mit, so gut es ging. Sie hatte ja recht. Sie flogen noch!
    „Wo sind wir denn jetzt eigentlich?“, fragte er.
    „Das wollte ich gerade zusammen mit dir herausfinden. Unsere Karte hat es auch weggeweht. Also, eigentlich hat es so gut wie alles weggeweht, was nicht niet- und nagelfest ist. Ich weiß nur, dass wir südlich von Braga unterwegs waren, als wir den Harpyien begegnet sind. Und dann ging es … weiter nach Süden?“
    „Ja, richtig“, meinte Garvell, der versuchte sich einen Überblick zu verschaffen. Sie flogen gerade Richtung Küste, aber er war noch zu durcheinander um zu wissen, ob sie im Westen, im Süden oder gar im Osten von Varant waren.
    „War übrigens ein grandioser Auftritt von dir, gegen die Harpyien“, sagte Garvell, um seine Denkpause zu überbrücken. „Du hast ja einen ganz schönen Schwung drauf mit der Schaufel.“
    „Ja, in der Heimat meiner Eltern haben wir so einen speziellen Sport mit Schlägern, daher muss das kommen. In meiner Kindheit konnte ich den sogar mal ganz gut, aber dann habe ich den fürs Basteln aufgegeben. Du weißt schon, Schrauben und so weiter.“
    „Klar“, sagte Garvell. „Was sonst.“ Er schaute sich noch einmal um. „Ich glaube, wir fliegen gerade auf die südliche Küste von Varant zu. Das ist nicht das Allerschlechteste. Wir hätten auch sonstwo landen können, vom Absturz in eine Gebirgskette mal abgesehen.“
    „Das heißt, wir haben unseren Zielort wahrscheinlich schon überflogen?“
    „Das weiß ich nicht, aber es könnte sein. Aber wer weiß, was für Irrwege der Sturm mit uns genommen hat. Ich hoffe nur, wir geraten nicht direkt wieder in so einen rein …“
    „Wird schon nicht passieren.“
    „Hey, da vorne im Wasser ist etwas!“ Opolos war aus der Hocke gegangen und zeigte nun ins Meer, wo in einiger Entfernung zur Küste ein brauner Fleck zu sehen war. Garvell ließ die Mü ein wenig näher heranfliegen, er hatte ohnehin noch nicht entschieden, wie er mit dem mitgenommenen Fluggerät möglichst schadlos wenden sollte. Und in der Tat: Dort im Wasser schwamm etwas, und als sie nah genug dran waren, konnte Garvell erkennen, dass dort offenbar sogar jemand schwamm. Garvell hatte einen Verdacht.
    „Kannst du mir das Fernrohr geben?“, fragte er.
    „Ist im Sturm über Bord gegangen“, antwortete Alejandra.
    Garvell gab ein gleichgültiges Murren von sich. Er richtete seinen Blick zunächst auf die nähere Umgebung, während er die Mü weiter Richtung Meer gleiten ließ. Der Wüstensand, die sonst so karge Landschaft, wirkte in der Nähe der Küste golden, ja, wie ein Strand, und Garvell fand es faszinierend, wie sehr Ödnis und Meer beieinander liegen konnten. Varant wirkte trotz der brennend heißen Sonne und der Gefahr überraschend auftauchender Windhosen auf einmal wie Urlaub.
    „Das ist ein Mann auf einer Planke“, bemerkte nun auch Opolos.
    „Ich glaube, er hat uns jetzt gesehen“, sagte Alejandra.
    Die Gestalt, die dort auf dem Meer trieb und viele Meter unter ihnen war, hob einen Arm um zu winken. Der Mann machte es einmal, zweimal, dreimal. Dann klammerte er sich wieder an seinem hölzernen Untersatz fest. Garvell erkannte ihn nun definitiv, auch ohne Fernrohr. Noch bevor er sich überlegen konnte, ob er das den anderen gegenüber zugeben sollte, hatte es auch Opolos erkannt.
    „Das ist dieser Typ, mit dem du vor dem Start geredet hast. Der mal für dich gearbeitet hat. Monty, oder?“
    „Stimmt!“, rief nun auch Alejandra aus. „Garvell, das ist doch Monty, oder? Die waren doch mit einem Boot unterwegs, hatten sie gesagt! Da ist aber nicht viel von übrig geblieben. Ich glaube, er ist in Schwierigkeiten. Wir müssen ihm helfen!“
    „Ach, müssen wir das“, murrte Garvell.
    „Das ist doch jetzt nicht dein Ernst! Natürlich müssen wir das! Du willst ihn doch wohl nicht auf offener See versauern lassen?“
    „Verdient hätte er es“, antwortete Garvell unbekümmert. Er wusste auch nicht, warum er das sagte, aber seine Lust, Monty zu retten, hielt sich wirklich in Grenzen. Vor Gericht und auf hoher See waren sie alle in Adanos’ Hand. Aber war er, Garvell, etwa der Gott, der den Schiffbrüchigen retten musste?
    „Wieso? Weil ihr euch gestritten habt?“ Alejandra war nun ernsthaft außer sich. Hektisch wischte sie sich immer wieder die ihr ins Gesicht fallenden Haarsträhnen weg, um Garvell möglichst effektiv anstarren zu können. „Opolos, sag doch auch mal was!“
    „Was soll ich denn sagen?“
    „Ja wie, was soll ich denn sagen?“, fuhr Alejandra ihn an. „Lernt man denn bei euch im Kloster sowas nicht, dass man Menschen in Not helfen muss?“
    „Er geht doch schon in den Sinkflug.“
    In der Tat hatte Garvell bereits einiges an Auftrieb herausgenommen um langsam näher an die Wasseroberfläche zu gelangen. Sie waren nun direkt über dem Meer. Monty auf seiner Planke war deutlich zu weit vom Ufer entfernt, um noch eigenständig an Land schwimmen zu können, zudem schien er von diversen Strömungen mal nach links, mal nach rechts getrieben zu werden. Alleine hatte er keine Chance. Jetzt hörten sie ihn auch rufen.
    „Hilfe! Ich kann bald nicht mehr!“
    „Wir kommen!“, rief Garvell zurück, und in diesem Moment tat es ihm innerlich weh, dass er überhaupt nur eine Sekunde mit der Rettung gezögert hatte. Er beruhigte sich damit, dass das, was ein Mensch zunächst dachte und das, was ein Mensch schließlich machte, nur allzu häufig zwei verschiedene Dinge waren.
    „Ich weiß aber nicht, wie ihr euch das vorstellt, dass wir hier zu viert auf der Mü fliegen“, nahm Garvell das Gespräch mit Alejandra wieder auf, während er das Flugschiff behutsam immer weiter sinken ließ. Dem Propellersystem schien diese Entlastung ganz gut zu tun, auch der Ofen röhrte nicht mehr so quälend vor sich hin.
    „Allein schon aus Platzgründen.“
    „Es muss gehen“, sagte Alejandra bestimmt. „Dann quetschen wir uns eben noch ein bisschen mehr.“
    „Also auf meinen Schoß kommt er aber nicht“, entschied Garvell. Sie waren nun nur noch wenige Meter von Monty entfernt. Sein ehemaliger Angestellter klammerte sich an eine breite Planke, auf die er einen Teil seines Oberkörpers gelegt hatte, und paddelte ziellos mit den Füßen umher. Er sah ziemlich mitgenommen aus. Seine kurzen, braunen Haare, die sonst immer auf natürliche Weise nach oben abstanden, klebten wie ein totes Stück Seetang auf seiner Stirn, sein Bart war verfilzt. Vereinzelte Wellen ließen ihn Wasser schlucken. Trotz der prallen Sonne schien es so, als würde er frieren.
    „Halte aus, Monty!“, rief Alejandra jetzt, wo der Schiffbrüchige definitiv in Hörweite war.
    „Das will ich aber doch hoffen!“, krächzte Monty zurück, offenbar bemüht darum, nicht allzu hilflos zu wirken. Sie flogen nun tief genug, dass Garvell die Mimik seines ehemaligen Kollegen deuten konnte. Ihm war die nackte Angst ins Gesicht geschrieben.
    „Ist jetzt nur die Frage, wie wir ihn in die Mü reinkriegen“, sagte Garvell an seine beiden Mitstreiter gewandt.
    „Wir bilden eine kleine Kette“, sagte Alejandra sofort. „Ich lehne mich aus der Mü heraus und Opolos hält mich fest. Das hat doch schonmal geklappt. Und du fliegst mit der Mü so tief wie es geht.“
    „Alles klar, gehen wir’s an“, sagte Opolos. Garvell war vom Optimismus des Novizen so überrascht, dass er gar nicht mehr an Alejandras Plan herummäkeln konnte. Dann war es also beschlossene Sache.
    „Monty“, rief er, als sich sein Blick mit dem des Schiffbrüchigen traf. „Ich fliege jetzt so tief wie es nur geht, aber dann muss es schnell gehen. Sobald Alejandra ihre Hand rausstreckt, musst du sie ergreifen. Wir ziehen dich dann rein. Mach dich so lang wie es geht, hörst du?“
    „Einverstanden“, rief Monty zurück. Sie waren jetzt vielleicht nur noch zwei Meter voneinander entfernt. Alejandra hatte sich bereit gemacht und hing schon zur Hälfte aus der Mü heraus, während Opolos sich mit seinem Gewicht auf ihre Beine stemmte. Garvell kam erneut der Gedanke, dass sie vielleicht besser einen Wanderzirkus gegründet hätten.
    „Ich gehe jetzt ganz runter!“, rief Garvell, der hoffte, dass der schwache Auftrieb die Stabilität der Mü nicht vollends ins Wanken bringen würde. Aber jetzt war der beste Moment, die Ausrichtung war perfekt, damit Alejandra Monty an Bord ziehen konnte.
    „Monty, heb deinen Arm!“
    Der Angesprochene tat, wie ihm geheißen. Sie flogen nun so tief, dass Garvell schon das Salz auf der Zunge spüren konnte. Einzelne Wassertropfen, hochgeschleudert durch Wellen oder durch Montys ungelenke Paddelei, trafen auf ihren Kohleofen und zischten laut auf, als sie verdampften.
    Die Fingerspitzen von Alejandra und Monty berührten sich mittlerweile, aber es reichte noch nicht.
    „Du musst noch tiefer, Garvell!“, ächzte die Mechanikerin. „Ich kann nicht weiter raus!“
    „Wenn ich noch mehr Auftrieb wegnehme, dann stürzen wir ins Meer!“, rief Garvell.
    „Dann nimm ihn kurz weg und schalte ihn direkt wieder an!“, rief Alejandra zurück. „Du bist doch hier der Meisterpilot!“
    Garvell nickte. Dann wollte der Meisterpilot es eben versuchen.
    „Ich zähle bis drei“, sagte er. „Eins. Zwei. Drei!“
    Er drehte den Regler auf Null, die Mü sackte kurz ab, dann drehte er den Regler wieder auf. Die Propeller stotterten kurz, aber sie liefen, lagen indes leicht auf dem Wasser auf, das bereits gierig an der Mü leckte. Sie gewannen nur leicht an Höhe.
    „Mein Arm, mein Arm!“, rief Monty, und auch Alejandra gab Schmerzenslaute von sich. Sie hatten es geschafft, sich an den Händen zu packen – gerade so.
    „Zieh ihn rein, zieh ihn rein!“, rief Garvell, begriff aber, dass Alejandra alleine dafür nicht stark genug war. Gleichzeitig drohte die Mü weiter abzusacken, Monty war einfach zu schwer, zog sie beinahe ins Meer. Der Propeller ächzte, Garvell war einen Moment lang überfordert, musste dann aber reagieren. Er drehte den Auftrieb noch ein gutes Stück weiter auf und gab dann wieder Schub dazu, damit sie stabil blieben und wenigstens nicht senkrecht wie ein Stein ins Wasser fliegen würden. Die Mü setzte sich ein bisschen in Bewegung, Alejandra und Monty schrien auf, aber Garvell verließ das Steuer und kam sofort herbeigeilt, um Montys Handgelenk zu umgreifen. „ZIEH!“, brüllte er an niemand Bestimmten gewandt, beugte sich dann noch weiter runter um auch die andere Hand zur Hilfe zu nehmen, fiel fast raus, gewann das Gleichgewicht zurück und schaffte es mit einem Gewaltakt, Monty gemeinsam mit Alejandra von der Planke zu heben und wenigstens ein Stückweit in die Mü hinein zu hieven, überließ den Rest Alejandra und sprang geradezu zurück zu den Armaturen, hörte und spürte das Wasser um sie herum, riss den Auftrieb hinauf und drehte am Schub. Ein ekelig fiepender Ton war in seinem Kopf entstanden, er kannte das, er bekam das, wenn er großem Stress ausgesetzt war.
    „Wir schaffen es nicht!“, rief er verzweifelt, während er den Auftrieb auf das Maximum hochriss, bis sie endlich wieder langsam an Höhe gewannen und das Wasser, das schon bis in die Passagierfläche der Mü hineingeschwappt war und ihre letzten verbliebenen Kohlen benässt hatte, langsam wieder aus ihrem Flugschiff heraustropfte. Der Ofen zischte, sämtliche Propeller stöhnten, auch das so kostbare Akazienholz knarrte, als wollte es jeden Moment auseinanderfliegen. Die linke Tragfläche schien sich langsam zu verabschieden, die rechte aber auch, ihr Flattern ging nur noch stockend, die kleinen Segelflächen hatten sich bereits verheddert.
    „Steuer auf die Küste zu!“, forderte Opolos auf, während er den noch halb aus der Mü heraushängenden Monty unter großem Geächze und mit Hilfe von Alejandra nun endgültig in ihr Flugschiff hineinzog, bis er irgendwie auf ihnen drauf lag.
    „Ich versuch’s!“, rief Garvell zurück, das Fiepen in seinem Kopf nun unerträglich, als würden viele kleine Harpyien durch seine Ohren sausen. In dem Chaos und mit der am Rande des Zusammenbruchs befindlichen Mü schaffte er es gerade noch so, einen großen, ruckeligen Bogen zu fliegen, bis sie wieder auf die Küste zusteuerten. Aber sie war noch ein gutes Stück entfernt, vielleicht zu weit.
    „Schmeiß einer noch die restlichen Kohlen in den Ofen, jetzt ist alles egal! Wir müssen nur an Land kommen! Ich stelle Schub und Auftrieb jetzt auf Maximum, und dann hol uns doch Beliar!“
    Garvell wusste nicht, ob seine Passagiere überhaupt noch organisiert genug waren, um ihn zu verstehen oder der Anweisung Folge zu leisten, aber er selber tat seinen Teil. Es krachte, als er die Hebel in Bewegung setzte. Die Tragflächen quietschten nun wie Möwen und bereiteten ihren letzten Abgesang vor. Kurzzeitig gewannen sie ganz respektabel an Höhe, dann aber schienen sie wieder wie durch Luftlöcher zu fliegen, sackten einmal ab, zweimal ab, stiegen dann wieder langsam auf und immer so weiter. Die Mü neigte sich zeitweise nach vorne, was Garvell verhindern wollte, aber nicht mehr wusste, wie. Dann schien sie zur Seite zu kippen, aber auch das konnte Garvell nicht mehr kontrollieren. Sie kamen dem rettenden Ufer näher, sogar schneller als gedacht, sie konnten es also noch schaffen, wenn auch mit letzter Kraft, aber das war egal. Hinter Garvell knallte es, vielleicht war das der Ofen, aber auch der war jetzt nicht mehr zu retten. Es gab jetzt nur noch eines: Vorwärts immer, rückwärts nimmer.
    „Wir schaffen es, wir schaffen es!“, rief Garvell aus, als sie nur noch wenige Meter vom Ufer entfernt waren, sogar noch einmal an Höhe gewannen. Dann aber neigte die Mü ihre Schnauze endgültig nach unten und geriet in einen Sturzflug, Garvell riss am Steuerknüppel, bis er ihn auf einmal losgelöst in den Händen hielt. Garvell wollte die anderen zum Festhalten anweisen, aber alle brüllten schon so sehr durcheinander, dass niemand mehr irgendwen verstand. Vor sich sah Garvell eine goldgelbe Wand auftauchen, er hielt die Luft an und tauchte mit Karacho in das heiße Bett aus Körnern ein.
    Ganz kurz war Stille, dann zischte es, und dann ging allerorts Geraschel los. Garvell war mit dem Kopf in einem Sandhaufen gelandet, aber anders als bei ihrer ersten Bruchlandung dieser Art konnte er sich leicht von selbst befreien. Sein linker Oberschenkel tat weh, wo ihn die Reste der Steuerhebel erwischt hatten, aber sonst schien alles in Ordnung. Bis auf den lästigen Sand in Mund, Nase, Ohren, Hose und sonstwo natürlich. Er stapfte aus dem Sandhaufen hinaus, irgendwo unter ihm spürte er eine abgebrochene Tragfläche der Mü. Links von ihm war Opolos, der auf Knien vom Einsturzort wegrobbte. Garvell wandte sich um und sah, dass Monty und Alejandra auf unmögliche Weise ineinander verkeilt waren, sich aber so langsam gegenseitig aufzuhelfen versuchten. Er eilte zu ihnen hinüber, aber Alejandra hatte sich schon von der unfreiwilligen Umklammerung befreit. Monty lag jetzt mit dem Rücken auf dem heißen Sand und streckte seinen Bauch in die Höhe, er atmete schwer und wirkte im Allgemeinen wie ein Fisch auf dem Trockenen. Als er Garvell sich ihm nähern sah, reckte er jedoch den Daumen in die Höhe.
    Das Zischen, das Garvell vorhin noch gehört hatte, trat wieder in sein Bewusstsein, es wurde lauter, es gab einen kleinen, abgedämpften Knall im Sand, dann verebbte es. Es war der Kohleofen, der in einem eigenen Sandhaufen gesteckt, mitsamt einer Holzplatte von der Mü abgebrochen war und nun offenbar endgültig den Geist aufgegeben hatte. Der Sand um die Einsturzstelle drum herum hatte nun einen merkwürdigen Glanz angenommen.
    „Und das, liebe Leute, ist, wie Glas hergestellt wird.“ Monty hatte sich aufgesetzt und lachte nun. Sein Bart war mit Sand paniert, sein linkes Auge war blutunterlaufen und seine Lippen trugen einen blauen Schimmer. Seine Wangen waren aber schon wieder ganz rosig, als hätte er ein, zwei Wacholder getrunken.
    Alejandra hatte sich unterdessen schon ganz aufgerichtet und klopfte sich und ihre Arbeitskleidung vom Sand ab. Ihre verklebten Haare band sie neu zu einem Pferdeschwanz zusammen. Dann nickte sie entschlossen, als hätten sie gerade ein kompliziertes Manöver ganz nach Plan beendet. Aber vielleicht war es ja auch so.
    Garvell ließ seinen Blick über die Ebene schweifen, auf der sie gelandet waren. Der Sturz war nicht allzu heftig gewesen, wieder einmal hatte der Sand sie gerettet, aber für die Mü war es endgültig zu viel gewesen. Halb steckten die Teile im Sand, halb lagen sie obenauf, aber kaum noch etwas war dort, wo es hingehörte. Holzteile waren abgerissen, der Ofen schmorte weiter sein Glas zusammen, die Tragflächen waren entzwei, die herausgerissenen Hebel und Armaturen krönten einem Dornengebüsch gleich eine nicht weit entfernte Düne. Es war ein vernichtender Anblick.
    „Unsere Mü …“, murmelte Alejandra, dem Schluchzen nahe. „Unser kleines München …“
    Opolos kam nun auch zu ihnen herübergestapft um sich das Ausmaß der Zerstörung anzusehen. Man hätte wirklich niemandem erzählen können, dass sie mit dem herumliegenden Schrott kurz vorher noch geflogen waren, über halb Myrtana und ganz Varant hinweg.
    „Leute, vielen Dank“, sagte Monty nun, vielleicht auch, um die Beerdigungsstimmung zu unterbrechen. „Ohne euch wäre ich höchstwahrscheinlich irgendwann abgesoffen.“ Er sah zu seinem ehemaligen Arbeitgeber herüber. „Garvell“, sagte er nur, und nickte anerkennend. Garvell nickte zurück. Es war ein seltsamer Moment.
    „Was ist denn überhaupt passiert?“, fragte Alejandra nun. „Also, mit euch … eurem Boot und deinem Freund. Wo ist er?“
    „Tja, wenn ich das alles wüsste“, sagte Monty und klopfte sich umständlich die Knie vom Sand frei, bis aufs letzte Körnchen. Erst dann schaute er wieder auf und blickte in die Runde.
    „Wo Torlof gerade ist, weiß ich nicht, und das beunruhigt mich gerade auch am meisten“, sagte er nüchtern. „Er ist aber weit vor mir von Bord gegangen … als es noch ein Bord gab, meine ich. Wir sind die Küste entlanggesegelt und waren gerade an der Bucht vor Mora Sul, da hat uns plötzlich dieser Sturm erwischt. Eine Windhose, wie aus dem Nichts. Man hatte uns zwar gewarnt, dass sowas in Varant mal vorkommen kann, aber naja … hätte ich ja trotzdem nicht gedacht.“
    Garvell und Alejandra tauschten kurz wissende Blicke.
    „Wir waren wirklich nah an der Küste und wollten erst an Land gehen, aber dann haben wir vollkommen die Kontrolle über das Boot verloren. Da taten sich Wellen auf, mein lieber Scholli. Ich habe mich nur noch festgehalten, wo es ging. Und dann höre ich hinter mir nur noch ein Brüllen, und Torlof ist weg. Ich habe ihn dann noch im Wasser gesehen, aber dann wurde ich in einem Affenzahn aufs Meer hinausgetrieben. Was mir aber Hoffnung gibt, ist, dass es wirklich nahe an der Küste war und nicht weit von Mora Sul entfernt. Wäre doch gelacht, wenn sich so ein Haudegen wie er nicht dahin gerettet hat. Wahrscheinlich hat er es damit sogar besser getroffen als ich, denn kaum bin ich so richtig schön weit aufs Meer abgetrieben worden, da bricht mir das Boot der Länge des Kiels nach einfach unter dem Arsch weg. Einfach so! Ich sage mal so, der Sturm war schon echt heftig, aber dass der mir unser Boot der Länge nach spaltet? Mir war das eher, wie … ja, wie …“
    „Als hätte jemand ein bisschen was angesägt“, half Alejandra nach. „Oder?“
    Montys Augen leuchteten vor Überraschung auf. „Ja, ja, stimmt! Als hätte da jemand gesägt!“ Er wurde kurz still. „Moment mal, ihr habt doch wohl nicht …“
    „Klar“, sagte Garvell gehässig. „Und dann haben wir bei unserem eigenen Flugzeug direkt weitergemacht. Natürlich nicht! Aber ihr seid dann nicht die einzigen, bei denen da irgendwas merkwürdig war. Bei uns ist ein Rad angesägt worden. Das war nicht weiter schlimm, aber … der eine im roten Wagen, Ford, das haben wir von oben direkt miterlebt, dem ist die Achse gebrochen, und Alejandra vermutet, dass das auch nicht einfach so von alleine gekommen sein kann.“
    „Und dann waren die Hunde der beiden Männer aus Nordmar auch auf einmal so schläfrig, das hat doch bestimmt auch was damit zu tun“, fügte Opolos hinzu. Garvell gab dem Novizen innerlich recht, so hatte er noch gar nicht darüber nachgedacht.
    Monty schüttelte verächtlich den Kopf. „War ja klar, dass bei sowas nicht fair gespielt wird. Andererseits, da hat unser Boot ja noch recht lange durchgehalten. Waren wahrscheinlich nicht die hellsten Saboteure.“
    „Bei jemandem, der ein Wagenrad ansägt um ein Fluggerät lahmzulegen, ist das zu vermuten, ja“, stimmte Garvell zu. „Aber letzten Endes hat es unsere Mü ja auch zerlegt, wenn auch aus anderen Gründen.“ Er ließ den Blick noch einmal über die im Sand verstreuten Einzelteile schweifen. „Das war’s dann wohl endgültig …“
    „Wo sind wir denn gerade?“, fragte Alejandra nun auf einmal sehr ungerührt, während sie den Sonnenstand zu ermitteln versuchte. „Wenn Mora Sul in der Nähe ist, kann die Kirche vom ollen Gollwitzer ja nicht weit sein. Wir müssen von hier aus nach Norden, oder?“
    Garvell starrte sie fassungslos an. „Du willst doch jetzt nicht allen Ernstes vorschlagen -“
    „Doch, will ich“, schnitt Alejandra ihm das Wort ab und baute sich lächelnd vor ihm auf. Sie war nur ein wenig kleiner als Garvell. „Oder hast du einen besseren Vorschlag? Weg von hier müssen wir so oder so.“
    „Ja klar“, sagte Garvell überrumpelt, „aber …“
    „Ja was, aber?“
    „Wir sind hier in der Wüste, die Sonne knallt, wir haben kein Trinkwasser …“
    Ein kurzes, seltsam schleifendes Geräusch ertönte hinter Garvell. Monty nestelte an seinem Hosenbund herum, schien gerade etwas abzubinden, das um seine Hüfte gelegt war. Dann hielt er ihm den Wasserschlauch unter die Nase.
    „Da sind für jeden von uns noch ein paar gute Schlücke drin“, sagte er. „Und wenn dir das nicht reicht, kenne ich noch ein paar Tricks, wie man Meerwasser in geringen Mengen trinkbar macht. Bei der Hitze kein Problem, das kriegen wir schon hin.“
    „Ja gut, aber wir bräuchten ja auch sonst noch Verpflegung“, sagte Garvell, der von dem Optimismus seiner Mitstreiter ein bisschen überfallen war. Er selbst hatte mit Blick auf die Mü eigentlich schon komplett aufgegeben, aber nun …
    „Ist jetzt sicher ein bisschen trocken geworden, aber besser als nichts“, sagte Opolos, während er in seiner Umhängetasche herumkramte. Einen Augenblick später zog er ein eingepacktes Etwas hervor. Als er das Papier drumherum löste, kam ein dunkles Stück Wurst zum Vorschein.
    „Schafswurst“, sagte er. „Ich habe die noch aufbewahrt. Einmal gepökelt hält die drei Jahre und länger, da ist das Stück hier im Vergleich noch frisch gegen.“
    Garvell blickte zurück zu Alejandra und Monty, die beide die Arme verschränkt hatten und ihn angrinsten. Sie wirkten in diesem Moment, als kannten sie sich schon ewig. Für Garvells Geschmack verstanden sich die beiden sogar einen Tick zu gut, zumal er offiziell ja noch immer einen Groll gegen Monty hegen sollte.
    „Aber eins sage ich euch“, meinte er nach einigem Überlegen. „Das hier ist immer noch mein Team, unser Team. Wenn du mitkommst, Monty, dann heißt das nicht, dass dein Team das Rennen auch gewonnen hat!“
    Monty lachte rau und winkte ab. „Zur Erinnerung, ich habe kein Team mehr. Wenn überhaupt, dann bin ich ab jetzt in deinem Team.“
    Garvell blickte der Reihe nach hilflos zu Alejandra, dann zu Opolos und dann wieder auf Monty. Es lag jetzt wohl an ihm. Wieder einmal.
    „Na gut“, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. „Aber dass das klar ist: Das gilt nur für jetzt und für diese Verstaltung hier begrenzt! Nicht, dass du denkst, ich würde dich wieder bei mir einstellen. Sobald das hier zu Ende ist, hat sich’s damit wieder!“
    „Ja klar, bist du denn bescheuert?“, entgegnete Monty. „Du kommst ja auf Ideen. Meinst du, ich schwing auch nur noch für einen Tag lang ’nen Hammer für dich, oder was? Nur für jetzt, nur für das Rennen hier. Und danach trennen sich unsere Wege und wir sehen uns am besten nie wieder. Einverstanden?“
    Garvell und Monty sahen sich in die Augen. Der stämmige Kerl war ein bisschen kleiner als Garvell, vielleicht sogar noch ein Stück kleiner als Alejandra. Eine ganze Zeit lang sagten sie nichts, standen sich nur gegenüber.
    „Naa? Naaa?“, machte Alejandra neckisch von der Seite.
    Es dauerte noch einen Moment, aber dann, wie auf Kommando, streckten sie beide die Hand aus und ergriffen sie gegenseitig.
    „Na also!“, rief Alejandra verzückt aus, während sich die beiden Männer die Hände schüttelten. Lange, ausgiebig und fest. Zu fest. Garvell spürte die Schwielen in den Händen seines Gegenübers, wagte es nicht, den Blick zu senken. Erst nach einer halben Ewigkeit einigten sie sich im stillen Verständnis darauf, sich wieder voneinander zu lösen.
    „Dann ist es also beschlossene Sache“, resümierte Alejandra. „Team Garvell ist nun komplett und legt die letzten paar Meilen zu Fuß zurück. Wäre doch gelacht, wenn wir dieses Rennen nicht doch noch gewinnen!“
    Ohne weiter abzuwarten setzte sie sich in Bewegung und stapfte durch den Sand davon. Garvell und Monty sahen sich noch einen Moment an, gingen ihr dann aber nach, bemüht, zu ihr aufzuschließen.
    Opolos sah ihnen verwirrt nach. „Also“, sagte er halblaut, während er begann, ihnen hinterherzutrotten. „Möchte denn jetzt jemand ein Stück Wurst?“
    Geändert von John Irenicus (06.10.2019 um 22:46 Uhr)

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    Deus Avatar von John Irenicus
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    Der Marsch durch die Wüste war anstrengender als Garvell vorher gedacht hatte. Der Sand hatte sich durch die mittlerweile zwar untergehende, aber noch immer unerbittlich knallende Sonne immens aufgeheizt, wenn Winde kamen, dann waren sie warm und trugen Sand mit sich, der Untergrund saugte ihre Schritte gierig auf und offenbarte so manches Mal versteckte Fallgruben, sodass Garvell nicht nur einmal bis zum Bauchnabel im Sand steckte und sich von den anderen wieder herausziehen lassen musste. Die von Monty eingebrachten Trinkwasservorräte hatten sie im Nu auf etwas weniger als ein Drittel reduziert, von der von Opolos angebotenen Schafswurst hingegen war noch jede Menge übrig, und auf dem kleinen Teil, der von ihr fehlte, kaute Garvell immer noch herum. Und er hatte Sonnenbrand, vor allem im Nacken, wirklich schlimmen Sonnenbrand.
    Die meiste Zeit des Weges hatten sie schweigend zugebracht. Alejandra und Monty an der Spitze, direkt dahinter Garvell, hinter ihm wiederum Opolos. Sie alle waren erschöpft, und Garvell hatte zur Sicherheit aufgehört ausrechnen zu wollen, wann er das letzte Mal richtig geschlafen und wie lange er infolgedessen am Stück wach war. Gleichzeitig hatte er trotzdem Hummeln in Hintern, und die noch immer nicht vollkommen ausgeschlossene Möglichkeit, das Rennen doch noch gewinnen zu können, trieb ihn an. Er musste nur sicherstellen, dass sie ihr Ziel nicht verfehlten. Nachdem sie kurz nach der Küste zwischen ein paar kleineren Bergen hindurchgeschritten waren, hatten sie Richtung Osten große Gebäude aufragen sehen, die auch jetzt noch dann und wann in ihr Blickfeld gerieten, das musste Mora Sul sein. Im Westen kam lange nichts, in der Ferne aber waren die Ausläufer einer Gebirgskette zu erkennen. Hinter ihnen im Süden lag das Meer, von dem sie gekommen waren. Garvells Berechnungen nach mussten sie also irgendwann zwangsläufig auf ihren Zielort, die von Gollwitzer erbaute Kirche, treffen, und wenn sie das nicht taten und stattdessen auf eine weitere Gebirgskette trafen, dann waren sie zu weit gelaufen. Garvell setzte allerdings darauf, dass sie die Wehrkirche schon von weitem sehen würden, denn er traute es dem stinkreichen Veranstalter und offenbar ja weltberühmten Architekten nicht zu, im Miniaturformat zu residieren. Das Bauwerk musste also jeden Augenblick hinter irgendeiner Düne zum Vorschein kommen, mochte die Sicht beim nun eingetrübten Sonnenlicht und den unregelmäßig umherziehenden Sandschleiern in der Luft auch nicht mehr die beste sein.
    Dann sahen Alejandra und Monty aber etwas ganz anderes, und kurz danach sahen es auch Garvell und Opolos.
    „Ist das nicht der Wagen von diesem einen Glatzkopf?“, fragte Alejandra und zeigte in die Ferne. Dort, mitten in der sandigen Ebene, beschienen von der untergehenden Sonne, stand tatsächlich ein modern aussehender Wagen. In seinem Schwarz hob er sich deutlich von der Umgebung ab, die geschwungene Form wirkte hier in dieser eintönigen Umwelt völlig fehl am Platze, die Sonnenstrahlen reflektierten von der Frontscheibe.
    „Sanford“, sagte Monty, und wie, als hätte er das Kommando dazu gegeben, traten neben dem Wagen nun zwei Gestalten hervor. „Offenbar scheint es da Probleme zu geben.“
    „Gut für uns, oder?“, meinte Alejandra.
    „Sie haben immer noch ihren Wagen“, merkte Monty an. „Ich gehe mal nicht davon aus, dass wir einfach an denen vorbeigehen können und das Rennen dann gewinnen. Vielleicht legen die auch gerade nur eine Rast ein.“
    „Und wir waren so kurz davor …“, murmelte Garvell.
    „Hey, ihr da drüben!“, gellte nun die Stimme Sanfords herüber. „Kommt mal her!“
    Alejandra und Monty blickten Garvell an, aber der wusste nicht, was er entscheiden sollte. Deshalb zuckte er nur mit den Schultern und marschierte auf Sanford und dessen Kompagnon zu. Die anderen drei trotteten ihm hinterher.
    „Gibt wohl Probleme, was?“, fragte Monty, als sie in Hörweite waren. „Gib niemals einem Fahrzeug einen Frauennamen, das ist meine goldene Regel. Zicken doch sonst nur rum.“
    Sanford reagierte darauf nicht und auch sonst schien Monty der einzige zu sein, der über den Witz schmunzeln konnte.
    „Ihr gehört auch zu den Teilnehmern“, schloss Sanford, nachdem er die Neuankömmlinge gemustert hatte. Garvell wiederum leitete aus seinem Auftreten und vor allem seinem Aussehen ab, dass die Fahrt bis hierhin für ihn und seinen Teampartner – ein großgewachsener Kerl mit rotem Vollbart und Topfhaarschnitt, der durchaus auch einen guten Nordmann abgegeben hätte – auch alles andere als reines Zuckerschlecken gewesen sein musste. Sanford wirkte vielmehr, als hätte er auf der Reise jede Menge Sand geschluckt: Die Augen waren blutunterlaufen, die Nase und diversen Flecken auf seinem Kopf vom Sonnenbrand gezeichnet, die Unterlippe in der Mitte aufgeplatzt. Er trug noch immer seine matschbraunen Klamotten, die hier in der Wüste einen ganz guten Tarnanzug abgegeben hätten, wäre da nicht seine auffällige grüne Schärpe gewesen, die allerdings an der Längsseite etwas eingerissen war. Alles in allem sah Sanford ganz schön abgekämpft aus, aber das fiel Garvell wohl nur so auf, weil er sich selbst seit längerem nicht im Spiegel gesehen hatte. Vermutlich gaben sie beide, wie überhaupt alle Beteiligten hier, ein eher klägliches Bild ab.
    „Wir gehören auch zu den Teilnehmern, ja“, sagte Garvell schließlich. „Und weiter?“
    „Trano und ich haben hier gerade Probleme mit unserer Mercedes, wie ihr vielleicht seht“, führte Sanford aus, mit einem Tonfall, als seien Garvell und die anderen insgeheim daran schuld. „Unser letztes verbliebenes Pferd ist uns während eines Sturms davongelaufen, das andere mussten wir schon vorher in Braga lassen, weil es sich wohl den Knöchel verstaucht hatte oder was weiß ich. Ich bin kein Pferdenarr, aber für den Kollegen ging’s jedenfalls nicht weiter. Und bekomm in Braga mal ein neues Pferd, wenn du nicht gerade ein Vermögen mit dir herumschleppst! Jetzt stehen wir jedenfalls ganz ohne da, und unser Antrieb hintendrin hat auch den Geist aufgegeben. Überhitzt. Mit dem Klima hier in Varant haben wir blöderweise nicht gerechnet, da hätte man schon mit Wasser kühlen müssen.“
    „Und das Kühlwasser hätte man zwischendrin auch auf jeden Fall austauschen müssen, weil es spätestens jetzt gekocht hätte“, fügte der rothaarige Mann namens Trano hinzu. „Auf der Frontscheibe kann man ja mittlerweile auch schon Scavengereier braten.“
    „Eben“, bestätigte Sanford. „Ziemliche Scheiße jedenfalls. Und da haben wir uns gefragt …“
    „Wir haben kein Pferd und mit der Technik eurer … Mercedes … kennen wir uns nicht aus“, fuhr Monty ihm eilig dazwischen. „Was gibt es da also noch zu fragen?“
    „Lass ihn doch erst einmal ausreden“, raunte Garvell. Sein Blick traf sich mit dem von Monty. Sofort lag wieder diese spezielle Anspannung in der Luft.
    „Danke“, sagte Sanford in eher weniger dankbar klingendem Tonfall. „Also, so wie es aussieht sind wir ab hier wohl alle nur noch zu Fuß unterwegs. Wir haben jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder, das gibt jetzt noch ein richtiges Wettrennen und wir quälen uns durch die Wüste. Das ist die schlechte Möglichkeit. Oder wir machen gemeinsame Sache und teilen das Erbe dann unter uns auf. Den ganzen Reichtum kann sowieso nicht einer alleine ausgeben, glaubt mir.“
    „Ich wüsste da noch eine dritte Möglichkeit“, sagte Monty, anscheinend ohne groß nachzudenken. „Ihr zieht ab und lasst uns den Vortritt, sonst gibt’s hier gleich Laffka.“
    Monty legte die Hand an seine Schiffsaxt, die er am Gürtel trug, Garvell hingegen legte seine Hand verzweifelt auf die Stirn. Der Kerl band sein Beil wohl nicht einmal zum Schlafen ab, und wenn, dann hielt er es wahrscheinlich immer in seiner Nähe. Damit hatte Monty ihm nämlich damals zu ihrer gemeinsamen Bootsbauerzeit schon immer das Ohr abgekaut, dass man in so unsicheren Zeiten stets bewaffnet sein musste, ständig diese Überfälle, da müsse man doch wehrhaft sein. Garvell fand es daher auch gar nicht mal so überraschend, dass auch hier nun die Aggression von Monty selbst ausging. Das war mit diesen Selbstverteidigern nämlich häufig so.
    „Das werden wir ganz sicher nicht tun“, mischte Garvell sich ein, und er tat es so ruhig und bestimmt, dass Monty nicht dagegen zu protestieren wagte. „Was ich mich aber frage: Was heißt das, das Erbe unter uns aufteilen? In den Regeln stand sehr klar, dass nur einer Gollwitzers Erbe werden kann. Nehmen wir mal an, er sucht einen von euch aus. Müssen wir dann darauf vertrauen, dass ihr uns trotzdem die Hälfte abgebt? Wie soll das überhaupt funktionieren?“
    „Tja“, sagte Sanford und wischte sich über die Glatze. „Vertrauen müsst ihr uns schon. Ist ja außerdem nicht gesagt, dass der Alte dann einen von uns auswählt. Er kann genau so gut einen von euch auswählen. Und dann müssen wir euch auch vertrauen. Ihr vertraut uns, wir vertrauen euch. So einfach ist das.“
    „So einfach ist das eben nicht“, sagte Monty, der dankenswerterweise die Hand von der Axt genommen hatte. „Bei so einem Wettbewerb kann man niemandem vertrauen. Mein Boot wurde angesägt, bei denen hier war’s ähnlich. Und dann war da noch was, oder?“
    „Der Achsbruch bei eurem Konkurrenten Ford“, fügte Alejandra hinzu.
    „Die schlafenden Hunde“, ergänzte Opolos. Man schaute ihn kurz verwirrt an, dann ging das Gespräch aber rasch weiter.
    „Ist schon komisch, dass ausgerechnet bei euch nichts von alledem passiert ist …“, raunte Monty.
    „Hey, hey, hey, jetzt reicht’s hier aber“, mischte sich Trano ein und trat einen Schritt vor. Er wurde von hinten von der Sonne angestrahlt und wirkte nun wie ein großer, bedrohlicher Schattenmann vor einem großen, bedrohlichen Schattenwagen aus der fernen Zukunft. Das lief ja alles nicht so gut gerade, befand Garvell.
    „Wir haben damit nichts zu tun“, sagte Sanford kühl. „Wir hören das jetzt zum ersten Mal, dass es Manipulationsversuche gegeben hat. Wir haben davon überhaupt nichts mitbekommen. Bei Ford bin ich davon ausgegangen, dass er einfach unsauber gearbeitet hat und ihm die Kiste deshalb auseinandergeflogen ist. Da ist doch jede Form von Sabotage überflüssig.“
    „Und trotzdem“, sagte Monty. „Irgendwas habt ihr doch vor. Mit eurem Angebot, meine ich. Ihr hättet die Chance auf den Sieg. Warum macht ihr auf einmal einen auf Kooperation?“
    Da musste Garvell ihm zustimmen. Andererseits wirkte zumindest Sanford ehrlich verzweifelt darüber, dass sein Wagen kurz vor Schluss den Geist aufgegeben hatte. Trano dagegen … er wirkte gar nicht. Die Miene des Hünen war kaum entschlüsselbar.
    Garvell spürte einen Windhauch und hörte dann leise Schritte im Sand. Viele Schritte, schwere Schritte. Zu viele und zu schwer, um von Menschen zu stammen. Als er sich umwandte, hatte Alejandra es bereits bemerkt.
    „Da kommt wer“, sagte sie. „Wenn wir Pech haben, dann macht jetzt niemand von uns den ersten Platz. Das haben wir nun davon.“
    Sie kamen aus dem Osten. Zwei Männer auf einem einfachen, offenen Wagen, zwei Pferde vorgespannt, die im Dämmerlicht mit der sandigen Umgebung geradezu verschmolzen. Wenn man die Augen zusammenkniff, dann leuchteten dort nur zwei tierische Augenpaare im rötlichen Sonnenlicht. Die Pferde waren gut unterwegs, der sandige, unwegsame Untergrund schien ihnen nur wenig auszumachen. Rasch waren die Männer auf dem Wagen in Hörweite.
    „Ich hab’s dir doch gesagt, Mick, ich hab’s dir doch gesagt!“, sagte der eine von ihnen. „Das da vorne ist er doch! Warum steht er da so rum?“
    „Da hätten wir ja doch selber teilnehmen können“, sagte der Mann an den Zügeln. „Könnten einfach an ihnen vorbeiziehen.“
    „Aber wir sind doch gar nicht registriert!“, belehrte der andere ihn mit quengeliger Stimme. „Und außerdem sind wir ja noch vor dem offiziellen Start losgefahren, das zählt also sowieso nicht!“
    „Ich mein ja nur, ich mein ja nur … Brrrr!“
    Die Pferde hielten an und wirbelten dabei eine Menge Sand und Staub auf. Ein paar Körner davon flogen Garvell sogar bis ins Gesicht. Es war schon ein ziemlicher Auftritt, den die beiden Männer hinlegten. Der, der die Pferde an den Zügeln geführt hatte und vom anderen mit Mick angesprochen worden war, sprang nun vom Wagen und stapfte auf sie zu. Er war eher klein, untersetzt, und trug einen auffälligen kurzen Schnurrbart. Der andere, ungleich größer als der Wagenlenker, schlank außerdem und mit krausem Haar, blieb noch bei den Pferden. Garvell kamen die beiden Männer vage bekannt vor. Aber das hieß nicht viel, denn sie kamen offensichtlich nicht gebürtig aus Varant – wer aus Varant kam, war wahrscheinlich nicht so blöd wie sie alle, bei Sturmgefahr durch die Wüste zu tapern. Die beiden Kerle kamen wahrscheinlich aus myrtanischen Breiten, und da sahen die Männer schnell alle mal gleich aus, zumindest die vom Festland. Noch dazu trugen beide doch recht wenig markante, dünne Fellkleidung mit blauem Besatz, die man so auch gut auf Khorinis hätte tragen können, zumindest, wenn man keine feste Arbeit und keinen festen Wohnsitz hatte, und davon gab es auf Khorinis nicht wenig Leute.
    „Wer seid ihr?“, fragte Sanford über die Köpfe der anderen hinweg, denn er hatte die ganze Zeit schon in Blickrichtung zu den Neuankömmlingen gestanden.
    „Deine Rettung“, sagte der Mann namens Mick. „Es sieht ja so aus, als seist du hier gestrandet. Oder versandet, vielmehr.“ Er strich sich mit dem Finger über den Schnurrbart.
    „Wir sind alle ein bisschen versandet“, bekundete Alejandra.
    „Mir egal“, sagte Mick. „Um euch geht es nicht. Sanford war der Name, richtig? Wir hätten da was für dich.“
    „Gehört ihr zur Rennleitung?“, fragte der Glatzkopf zurück.
    „Sehen wir so aus? Ist doch außerdem gar nicht wichtig. Wie du siehst, haben wir hier zwei Pferde. Reinrassige Benzantiner. Wüstenpferde sind das, speziell für das Reiten durch die Wüste trainiert. Daher der Name. Die haben wir aus Braga.“
    „Ich dachte, in Braga verkaufen sie keine Wüstenpferde an Auswärtige“, sagte Sanford erstaunt. „Wir haben es doch versucht.“
    „Hat ja auch keiner gesagt, dass wir die gekauft haben“, meinte Mick. „Wir haben sie uns nur ausgeliehen. Und eins davon würden wir an dich weiterverleihen.“
    „Und dann?“, warf Trano ein. „Sollen wir damit in den Sonnenuntergang reiten, oder was? Eins davon wird wohl kaum stark genug sein, um unsere Mercedes zu ziehen.“
    „Du irrst dich“, sagte Mick. „So ein Benzantiner ist zwar schlank gebaut, hat aber Kraft wie ein Kaltblüter. Das geht locker. Und bis zu eurem Zielort dürfte es ja nicht mehr so weit sein. Also, was ist?“
    „Moment, Moment!“, mischte Monty sich ein. „Was geht denn hier jetzt vor sich? Ihr kommt zufällig aus dem Nichts und wollt ihm einfach so helfen? Das ist doch Schiebung! Was wird hier eigentlich gespielt?“
    „Reg dich ab“, blaffte Mick. „Soweit ich weiß und von dem, was ich vom Rennen mitbekommen habe, ist fremde Hilfe nicht verboten. Man darf sein Fahrzeug nur nicht mit Magie antreiben, sonst ist alles erlaubt. Also können wir dem guten Sanford hier ja wohl ein Pferd überlassen, wenn wir das so wollen. Und im Übrigen hat ja keiner davon gesprochen, dass wir ihm einfach so helfen.“
    „Ihr wollt also Gold sehen“, schloss Trano.
    „Na klar“, sagte Mick. „Durch uns werdet ihr ja reiche Männer werden. Da ist es doch nur fair, dass wir einen kleinen Teil davon abbekommen.“
    „Hey, Mick!“, rief sein Kollege vom Wagen rüber. „So war das aber nicht -“
    „Schnauze, Eddie!“, blaffte der Angesprochene zurück. „Stör mich nicht beim Verhandeln!“
    „Wie viel wollt ihr?“, fragte Trano weiter.
    „Hm, naja …“, murmelte Mick und strich sich erneut mit dem Finger über den kurzen Schnurrbart. „Also … in Anbetracht der Umstände … wenn ich es genau überlege … ja … so … fünfzig Goldstücke!“
    „Deal“, sagte Trano. „Das kann ich dir sogar jetzt schon auf die Kralle geben.“ Der Hüne nestelte an seinem Gürtel herum und löste von dort einen Beutel. Er öffnete ihn zunächst, wohl um ein paar Münzen herauszunehmen, dann entschied er sich aber um, stapfte auf Mick zu und überreichte ihm das Gold. „Kannst gerne nachzählen“, sagte er nur. Garvell sah sogar von weitem, dass er sich das Lachen verkneifen musste.
    „Fünfzig Goldstücke?“, rief Monty aus. „Das ist doch nicht euer Ernst! Ich zahle mindestens fünfhundert!“
    „Geschäft ist Geschäft“, sagte Mick, der das Gold ungezählt entgegennahm, den Beutel wieder verschnürte und an seinem eigenen Gürtel befestigte. „Ich mach euch dann mal einen Benz los“, raunte er und wollte zurück zu seinem Wagen marschieren – als sich Monty ihm auf einmal in den Weg stellte.
    „Nein, machst du nicht“, sagte Garvells ehemaliger Angestellter. Er hatte seine Schiffsaxt nun tatsächlich gezogen und richtete sie auf Mick. Die Runde sog kollektiv Luft ein, lediglich Mick schien ruhig zu bleiben. Die Lage war bedrohlich. Garvell traute sich zu, genau unterscheiden zu können, wann Monty Ernst machte und wann nicht. Und er machte jetzt Ernst.
    „Sehe ich anders“, sagte Mick kühl. „Eddie!“
    „Dein Kumpel wird dir jetzt auch nicht mehr helfen können“, raunte Monty und ging noch einen weiteren Schritt auf Mick zu. „Lass die Faxen hier sein und behalt deine Pferde für dich, sonst …“
    „Ähm, Leute?“
    Die Blicke gingen zu Opolos herüber, der die ganze Zeit über kaum etwas gesagt hatte. Monty hatte falsch gelegen, Micks Kumpel konnte sehr wohl helfen. Der Mann namens Eddie hatte eine kleine Armbrust gezückt und mit einem Bolzen bespannt, und er hielt sie direkt an Opolos’ Schläfe. Man sah es im schwächer werdenden Licht nicht, aber Garvell war sich sicher, dass der Novize nun langsam wieder bleich wurde. Garvell selbst wurde es jedenfalls.
    „So“, sagte Mick mit selbstgefälligem Grinsen. „Jetzt verhalten sich alle einfach ganz ruhig, und wir kriegen das hier gut über die Bühne. Eine falsche Bewegung, und Eddie hier zuckt einmal mit dem Finger. Er kann da gar nichts für, er ist leider sehr schreckhaft. Und dass er sich erschreckt, das wollen wir doch alle nicht, oder?“
    Stille, nur das Rieseln der Sandkörner im Wind war jetzt zu hören. Mit Bühne hatte Mick schon das richtige Stichwort für seinen Auftritt genannt, aber leider schien er das Theater ernst zu meinen, todernst. Garvell horchte in sich hinein, um nach einer Lösung zu suchen, aber er fand keine. Kein Rennen war solche Risiken wert.
    „Monty“, sagte er vorsichtig. „Lass die Axt einfach fallen und mach gar nichts mehr. Bitte.“
    Monty atmete einmal tief durch und ließ dann tatsächlich sein Beil in den Sand fallen. Garvell nickte ihm zu. Mit Montys aufbrausender Art hatte er in ihrer gemeinsamen Zeit mehr als genug Erfahrungen gemacht, um zu wissen, dass er auch schnell wieder zu beruhigen war, wenn man nur wusste, wie.
    „Gut“, sagte Mick. „Dann gehe ich jetzt mal rüber und mache das Pferd los. Wird alles ganz schnell gehen.“
    Er drängte sich unnötig dicht an Monty vorbei und marschierte zurück zu seinem Wagen, und zwar langsam. Ihm war anzumerken, dass er seine Machtposition sehr genoss. Garvell schalt sich innerlich dafür, dass er Monty angewiesen hatte, die Schiffsaxt wegzulegen. Dieser Mick war ein Pulverfass.
    Mick ging zum linken der beiden Pferde hin und befreite es vom Zügelwerk. Ganz typisch Tier zeigte es auch noch dem größten Drecksack bedingungslose Zuneigung und ließ sich an der Hand vom Wagen wegführen.
    „Ich erkenne euch“, sagte Alejandra dann auf einmal. „Ihr gehört zur Rennleitung. Oder nein, in Wahrheit dann ja wohl nicht. Ihr wart beim Start dabei und habt kurz vor Rennbeginn unsere Mü an die Linie geschoben. Nachdem ihr sie inspiziert hattet. Ist euch wohl nichts Besseres eingefallen als das nutzloseste Teil am ganzen Flugzeug anzusägen, oder?“
    Mick blieb sofort stehen und wandte sich zu Alejandra. Er war ein bisschen kleiner als sie, selbst nachdem er sich möglichst bedrohlich vor ihr aufgebaut hatte. So verharrte er eine Weile und starrte sie einfach nur an. Alejandra starrte zurück.
    „Ich weiß nicht, wovon du redest“, sagte er dann schließlich und trottete mit dem Pferd weiter. Alejandra wollte noch etwas sagen, als er ihr den Rücken zugewandt hatte, aber Garvell packte sie sachte am Arm.
    „Lass gut sein“, sagte er leise. „Es bringt ja doch nichts.“
    Schweigend beobachteten sie, wie Mick das Pferd schließlich zum Wagen von Sanford führte. Trano begann sofort damit, es vor das Gefährt zu spannen.
    „Ich hoffe, ihr seid stolz auf euch“, knurrte Monty zu ihnen rüber. „Ihr seid mir ja faire Sportsmänner. Tolles Rennen ist das, echt.“
    Sanford blickte stumm zurück, zuckte dann irgendwann mit den Schultern und wandte sich ab. Trano saß bereits im Wagen hinter der Scheibe und knallte die Tür von innen zu. Sanford öffnete die Tür auf der anderen Seite und setzte sich, ohne noch einen Blick auf die anderen zu werfen, ebenfalls hinein. Erneutes Türknallen. Ein gedämpftes „Ho!“ schallte aus dem Inneren des Wagens heraus, die Zügel wurden gezogen, dann setzte sich das Wüstenpferd in Bewegung und mit ihm der Wagen. Sie fuhren einen kleinen Halb- oder Viertelkreis, Monty musste ein Stück vor ihnen zurückweichen, und dann fuhren sie weiter gen Norden. Kurze Zeit später war die Mercedes mit ihrem Benz von der Dämmerung verschluckt worden. Übrig blieben nur Team Garvell und die beiden Wegelagerer.
    „So, sie sind weg, ihr habt, was ihr wolltet“, giftete Alejandra die beiden an. „Jetzt lasst Opolos in Ruhe.“
    „Bist wohl sehr besorgt um deinen kleinen Freund, was?“, sagte Mick, während er zu seinem eigenen Wagen zurückkehrte und, seinen kurzen Beinen geschuldet, etwas umständlich auf den Fahrerbock vorne aufstieg. Dann winkte er Eddie mit einer eingespielten Geste heran. Der schlaksige Kollege leistete Folge und setzte mit der Armbrust von Opolos’ Schädel ab, hielt sie aber gleichwohl auf den Novizen gerichtet, während er ungelenk rückwärts taperte. Mick ließ unterdessen aber bereits die Zügel schnalzen, was Eddie dazu brachte, sich doch noch umzudrehen und dem sich langsam in Bewegung setzenden Wagen nachzulaufen. Die Räder knirschten bereits im Sand, als Eddie einen leichten Sprung auf die offene Wagenfläche machte und dort unbeabsichtigt auf die Knie fiel. Dann rollten sie auch schon los, der verbliebene Benzantiner gab alles. Sie fuhren einmal fast im Kreis, bis sie nach Osten ausgerichtet waren und davonbretterten.
    „Fresst Staub, ihr Verlierer!“, rief Eddie noch übermütig und reckte dabei die Hand mit der geladenen Armbrust in die Luft. Kurz darauf waren auch sie verschwunden. Sie hinterließen eine angespannte Unruhe und den schwachen Geruch nach Pferdehaar.
    „Opolos, alles in Ordnung?“, fragte Alejandra und eilte auf den Novizen zu. Der winkte sofort ab, aber es war deutlich zu erkennen, dass er noch ein wenig zitterig war.
    „Diese Dreckskerle“, murmelte Monty und sammelte seine Axt wieder auf. „Ich hätte sie einfach direkt plattmachen sollen. Da kann ja auch nichts Gutes draus werden, wenn da auf einmal zwei Leute in der Wüste angefahren kommen. Ich hoffe, die geraten direkt in den nächsten Sturm.“
    Niemand reagierte. Ein Stückweit konnte Garvell Monty verstehen. Das alles roch außerdem nach einem abgekarteten Spiel. Aber er hatte das Moment der Überraschung in Sanfords Augen gesehen. Der Kerl, so ein großer Unsympath er auch sein mochte, hatte mit allem wohl ebenso wenig gerechnet wie sie. Und dann hatte er die Chance einfach ergriffen. Hätten sie anders gehandelt?
    „Das war’s dann jetzt wohl wirklich“, sagte Garvell. Obwohl der Sand unter ihnen noch warm war, fror es ihn. „Wir haben alles versucht, aber es hat nicht sollen sein. Ich kann nur danke sagen, dass ihr mich bis hierhin begleitet habt. Danke Alejandra, ohne dich wäre das alles gar nicht möglich gewesen und ich säße noch immer auf Khorinis herum. Danke auch dir, Opolos. Aber hier ist es jetzt zu Ende.“
    „Ach, bei Innos“, grollte Monty und spuckte kräftig auf den Boden aus. „Jetzt geht das schon wieder los. Bei den ersten Problemchen zieht er sofort den Schwanz ein und hat keine Lust mehr. Das war schon damals so.“
    „Wie meinen?“, fragte Garvell.
    „Hast mich schon ganz richtig verstanden“, motzte Monty weiter. „Wie kann man nur so wenig Rückgrat haben? Du stehst hier rum wie ein geprügelter Junge. So gewinnt man doch kein Rennen!“
    „Sagt der, dessen Boot Schiffbruch erlitten hat“, fauchte Garvell zurück. „Erzähl mir doch nicht, wie man ein Rennen gewinnt oder nicht gewinnt! Das ist doch vollkommen bodenlose Besserwisserei! Alles heiße Luft! Was wäre denn jetzt dein Vorschlag gewesen? Alle umkloppen oder was?“
    „Ja, wieso nicht? Aber dafür hast du halt nicht den Schneid. Und deshalb wirst du von allen überholt. Wie immer.“
    „Das ist doch unmöglich!“ Garvell schrie nun unwillkürlich, aber das war ihm ganz egal. Hier in der Wüste kannte ihn doch keiner. „Wenn du nur ein Fünkchen dieser Energie damals in unseren Schiffsbau gesteckt hättest … aber hinterher hast du immer große Klappe. Jetzt, wo alle weg sind, da trittst du natürlich auf wie ein Pfund Gehacktes. Immer hinterher! Aber wenn’s dann mal drauf ankommt, dann kommt von dir gar nichts!“
    „Weil du mich nicht lässt!“, brüllte Monty zurück. Er baute sich nun mit breiter Brust vor Garvell auf. Garvell wiederum starrte mit bösem Blick auf Monty herab. „Das war jetzt gerade eben doch wieder so! Und das war schon damals so! Monty tu dies nicht, Monty tu das nicht, nein lieber nicht, das könnte doch schief gehen … Hosenscheißerei ist das, nichts anderes! Wir hätten damals so viel Großes schaffen können, aber das einzige, womit dein Kopf voll war, waren die Sorgen darüber, ob die Hämmer alle an ihrem Platz liegen!“
    „SIE SIND HALT STÄNDIG VERLOREN GEGANGEN!“
    „DANN PASS HALT BESSER AUF SIE AUF!“
    „Jungs, es reicht!“
    Alejandras Stimme war nicht besonders laut, aber sie schnitt wie ein Messer durch die Wüstenluft. Was übrig blieb, war Stille. Opolos neben ihr schien vom ganzen Gebrüll viel eingeschüchterter zu sein als zuvor noch von der Aussicht, bei nur einer falschen Bewegung einen Metallbolzen in der Schläfe stecken zu haben.
    „Dieses Rumgezanke bringt niemandem was, und das wisst ihr beide genau so gut wie ich“, sprach Alejandra mit gemäßigterer Tonlage weiter. „Monty, dein Mackergehabe führt auch nicht weiter. Ich glaube nicht, dass das der Rennleitung gefallen würde, wenn die Teilnehmer gewalttätig werden. Klar, die beiden Knallchargen hätten eine Tracht Prügel verdient gehabt, dafür, dass sie Opolos bedroht haben. Aber das hätte uns doch auch nicht weiter gebracht. Und was Sanford und seinen Kumpel angeht: Du hättest das angebotene Pferd doch genauso genommen.“
    Garvell gab ihr im Stillen recht.
    „Aber ansonsten“, fuhr Alejandra fort, „hat Monty recht.“
    „Bitte was?“, entfuhr es Garvell.
    „Nicht mit seinem Tonfall und seinen Anschuldigungen natürlich“, sagte Alejandra rasch. „Aber im Kern stimmt es doch: Es ist noch nicht vorbei. Es gibt noch immer keinen Grund aufzugeben. Am Schluss werden die Toten gezählt, hat mein alter Herr dazu immer gesagt.“
    „Aber wir stehen mitten in der Wüste und unser direkter Konkurrent ist gerade mit seinem Wagen losgefahren! Den holen wir nie mehr ein!“
    „Sag niemals nie“, konterte Alejandra ungerührt. „Es ist nicht gesagt, dass die beiden am Ziel ankommen. Die könnten genau so gut einen Achsbruch erleiden, oder das Pferd büchst ihnen aus.“
    „Das mit dem ausgebüchsten Pferd ist ihnen ja schon einmal passiert“, steuerte Opolos bei.
    „Eben, genau!“, nahm Alejandra den Faden auf. „Vielleicht wirkt das unwahrscheinlich, dass wir jetzt noch das Rennen machen. Aber ganz ehrlich, wie wahrscheinlich es ist, das wissen wir doch gar nicht. Letzten Endes stehen die Chancen halb-halb: Entweder wir schaffen es, oder wir schaffen es eben nicht. Wir können es nur versuchen. Verdammt, Garvell, ich muss dir hier doch keine Motivationsrede halten! Nach allem, was wir hier auf der Reise schon durchgemacht haben! Wir sind doch jetzt schon so weit gekommen, allen Widrigkeiten zum Trotz! Unsere Mü ist geflogen, wir stehen kurz vor dem Ziel! Jetzt aufgeben wäre doch blöd! Und mal ganz ehrlich: Selbst wenn wir verlieren sollten, ich habe keine Lust, dieses Rennen zu beenden, ohne das Ziel wenigstens einmal gesehen zu haben. Also?“
    In diesem Moment ging sehr vieles durch Garvells Kopf. Eigentlich war er nur noch müde. Nicht nur die Sonne von Varant war nun fast untergegangen, sondern auch das Feuer, das zu Beginn des Rennens noch in ihm gelodert hatte. Aber ein bisschen was war noch da. Und was sollte er auch sonst machen? Selbst wenn sie jetzt abziehen und nach Mora Sul reisen würden, so wären sie dann auch in keiner viel besseren Lage gewesen. Alejandra hatte schon ganz recht: Die große Motivationsrede war das nicht gewesen – zum Glück. Aber überzeugt hatte sie ihn.
    „Gut“, sagte Garvell knapp. „Dann ziehen wir weiter. Gen Norden. Lasst uns nicht weiter trödeln, die Nächte in Varant sollen ziemlich kalt werden. Vielleicht können wir dann wenigstens in Gollwitzers Kirche übernachten, wenn wir schon nicht gewinnen.“
    „Ist nicht ganz das, was ich hören wollte, aber die Richtung stimmt“, sagte Alejandra vergnügt. „Im wahrsten Sinne des Wortes. Bist du auch mit dabei, Opolos?“
    „Klar“, sagte der Opolos nur. Das hätte Garvell auch gewundert, wenn der Novize auf einmal auf eigene Faust losgezogen wäre.
    „Monty?“, fragte Alejandra weiter.
    Der ehemalige Schiffsbauer trat aus einer Laune heraus in einen Sandhaufen. Die aufgewirbelten Körner wurden vom Wind fortgetragen.
    „Ich bin auch dabei“, brummte er dann. „Aber nicht wegen ihm! Damit das klar ist!“
    „Zu gütig, Monty, zu gütig“, säuselte Alejandra.
    Und dann setzten sie sich in Bewegung – gen Norden.
    Geändert von John Irenicus (15.10.2019 um 23:12 Uhr)

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    Deus Avatar von John Irenicus
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    John Irenicus ist offline
    11. Man wird nicht reich, indem man Gold verschenkt.


    Garvell hatte an diesem Tag bereits viele Sachen erlebt, von denen er nicht geglaubt hätte, sie je durchmachen zu müssen. Bei Nacht und zu Fuß durch die Wüste zu navigieren war eine weitere und er musste sich eingestehen, dass er es allein anhand von Mond und Sternen, so hell sie am klaren Firmament auch erstrahlen mochten, nicht geschafft hätte. Glücklicherweise hatte sich nicht lange nach Einbruch der Dunkelheit ein dämmeriges Glimmen aus dem Norden abgezeichnet. Sie hatten beschlossen, diesem Leuchten zu folgen. Garvell hatte zwar noch Sorge gehabt, dass sie auch schlicht einem der vielbeschriebenen Trugbilder der Wüste aufsitzen konnten und geradewegs in ihr eigenes Unheil marschierten, aber er hatte diese Sorge niemandem mitgeteilt, um nicht erneut als Bremser und Bedenkenträger zu gelten. Letzten Endes war es aber auch sein eigenes Vertrauen, das ihn hin zu diesem Leuchten trieb.
    Jetzt, wo sie durchaus eine gute Meile marschiert waren, stellte sich heraus, dass sie tatsächlich am Abgrund standen. Aber das war nur gut so. Vor ihnen tat sich eine große Senke auf, vielmehr eine ganze, tieferliegende Ebene, und aus diesem überdimensionalen Krater im Sand war das Leuchten die ganze Zeit gekommen. Genauer gesagt kam es aus dem Gebäude, vor allem aus dem eckigen Steinturm, der dort auf dem Sand errichtet war und wie auf magische Weise nicht einsank. Er war massiv, sicherlich an die vierzig Meter hoch und im Obergeschoss aus Fachwerk gebaut, draufgesetzt ein spitzes Dach aus roten Schindeln. Der Nebenbau, ebenfalls mit der gleichen Bauart überdacht, war kleiner, dafür aber länger, und war zusätzlich von massivem Mauerwerk umgeben, das in regelmäßigen Abständen deutlich sichtbare Schießscharten aufwies. Die Fenster des Gebäudes, den Turm eingeschlossen, waren schlicht, aber gleichwohl elegant. Aus ihrem Inneren kam das Leuchten, das Fackel-, Kerzenlicht und Magie zu gleichen Teilen sein mochte. Das musste sie sein: Die Wehrkirche Walpernhain.
    „Ein bisschen größer habe ich sie mir schon vorgestellt“, raunte Monty. Garvell konnte ihm nicht zustimmen. Er fand den Bau gewaltig, vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass er hier mitten in der Wüste stand.
    „Wir haben es geschafft“, sagte Alejandra, und wirkte selber ganz geschafft von dem Gewaltmarsch. Ihre Wasservorräte waren mittlerweile aufgebraucht und selbst Opolos’ Schafswurst hatte nach und nach ihre Abnehmer gefunden. Aber Alejandra hatte recht: Sie hatten es tatsächlich geschafft.
    „Ich kann den Wagen von Sanford und Trano nirgendwo sehen“, sagte Garvell.
    „Du meinst, wir sind …“
    Garvell sah in Alejandras vom Sternenlicht erleuchtete Miene. Am liebsten hätte er ihre Euphorie geteilt.
    „Das muss noch gar nichts heißen. Vielleicht stehen sie auf der anderen Seite des Kirchbaus. Sie können zwischenzeitlich sogar wieder abgereist sein. Möglicherweise war sogar jemand anderes noch vor ihnen da.“
    „Klar“, schnarrte Monty. „Wahrscheinlich ist Torlof der alte Fußgänger direkt nach dem Sturm von Mora Sul aus hierhin marschiert und sitzt da drinnen längst auf irgendeinem Thron.“
    Garvell ging auf die Bemerkung gar nicht ein. „Dann lasst uns mal den Abstieg wagen. Es geht nicht besonders steil herunter, aber ich will mich im Sand nur ungerne selbst panieren.“
    Garvell ging zuerst. Halb in der Hocke, halb mit einer Hand im Sand rutschte er die Düne herunter, wobei ihm währenddessen auffiel, dass die Ebene unter ihnen dann doch tiefer lag, als gedacht. Monty überholte links von ihm mit großen, unbekümmerten Schritten und war als erstes unten. Alejandra assistierte Opolos ungefragt beim Abstieg, sie kamen als letztes.
    „Also dann“, sagte Garvell, als alle bereit waren, und ging einfach weiter. Die anderen folgten ihm auf die nun eindrucksvoll aufragende Wehrkiche zu. Auf dem kurzen Weg zur Kirchpforte stieg in Garvell nun doch wieder die Aufregung an. Unwillkürlich beschleunigte er seine Schritte. Es war nicht unmöglich, dass sie das Rennen doch noch gewinnen konnten, ja, dass sie gerade drauf und dran waren, es zu gewinnen. Die anderen hatten recht gehabt, niemand konnte wissen, ob Sanford überhaupt hier angekommen war. Er konnte sich verfahren haben, das Pferd konnte schlapp gemacht haben, bei Adanos, vielleicht war er sogar in die Fänge räuberischer Nomaden geraten, von denen man sich erzählte, dass sie in den Wüsten Varants ihr Unwesen trieben. Alles war möglich – und deshalb war es auch möglich, dass sein Team nun als erstes am Ziel ankam.
    Als Garvell vor der hölzernen Pforte der Kirche stand, erfasste er erst so richtig, wie riesig das Tor war. Das Kirchenschiff allein ragte schon hoch auf, und das Tor schien dabei um jeden Preis mithalten zu wollen.
    „Na los“, forderte Alejandra ihn auf. „Klopf an!“
    Garvells Blick fiel auf den Türklopfer, dessen silberner Ring in varantinischer Ornamentik verschlungen war und von einem stilisierten, vergoldeten Löwenkopf gehalten wurde. Garvell klopfte dreimal an, das Geräusch schien durch die ganze Ebene zu hallen, so laut war es.
    Eine Zeitlang geschah nichts. Garvell hätte es aber auch gewundert, wenn direkt jemand an der Tür gewesen und ihnen geöffnet hätte. Bei einem derartigen Anwesen geziemte sich sowas einfach nicht.
    Seine Geduld wurde schließlich belohnt, als einer der riesigen Torflügel nach innen aufging. Ein älterer Herr mit Schnurrbart streckte vorsichtig seinen grauhaarigen Kopf nach draußen. Ein blaues Augenpaar musterte Garvell zurückhaltend.
    „Ja bitte?“
    Garvell stockte kurz. Er hatte nicht damit gerechnet, sich erklären zu müssen, und hatte sich deshalb keine passenden Worte zurechtgelegt.
    „Karl …“, Garvell musste schlucken. „Karl Albert Gollwitzer?“
    Der Grauhaarige schüttelte sachte den Kopf. „Herr Gollwitzer ist gerade zu Tisch“, antwortete er. Er stutzte kurz. „Seid ihr etwa … Teilnehmer des Rennens?“
    „So ist es“, sagte Garvell. „Mein Name ist Garvell, das hier hinter mir sind Alejandra, Opolos und Monty.“
    Die Miene des Herrn hellte sich auf. „Das ist wunderbar! Wirklich, wunderbar! Also, wir müssen natürlich später noch in der Registratur prüfen, ob ihr wirklich das ganze Rennen vom Start bis hierhin mitgemacht habt, aber das ist eine bloße Formsache. Nochmals: Das ist wunderbar! Herr Gollwitzer hat angesichts der fortgeschrittenen Stunde schon gar nicht mehr damit gerechnet, dass überhaupt noch jemand kommt. Und nun seid ihr da! Bitte, bitte, kommt rein, ich will das Tor nicht so lange auflassen, der hereinkommende Sand scheuert sonst die ganzen Fliesen stumpf. Bitte, kommt rein!“
    Garvell wagte einen kurzen Blick auf seine Gefährten dich hinter ihm. So, wie ihre Augen leuchteten, mussten seine eigenen auch gerade strahlen. Sein Herz schlug ihm freudig bis zum Halse. Sie hatten es geschafft. Wenn er alles richtig verstanden hatte, dann hatten sie das Rennen tatsächlich gewonnen.
    Garvell leistete nun der ausladenden Geste des Mannes, der in einem schwarzen Frack steckte und offenbar der Hausdiener Gollwitzers sein musste, Folge und trat in den Eingangsbereich der Kirche ein. Die anderen aus seinem Team taten es ihm gleich. Als alle drin waren, schob der Hausdiener das Tor zu. Es fiel dröhnend zurück in seine Ausgangsstellung.
    „Herr Gollwitzer speist gerade alleine in seinem Turmzimmer“, erklärte der Diener. „Bitte wartet einen Augenblick hier, während ich ihm Bescheid gebe. Er wird sich über diese wunderbare Neuigkeit sicher freuen!“
    Der Diener wartete gar nicht auf eine Antwort, sondern deutete eine kleine Verbeugung an und eilte den Gang zu Garvells Linker entlang, bis er um eine Ecke bog und verschwand. Garvell blickte zu den anderen. Niemand sagte etwas, nicht einmal Monty. Alejandra zuckte bloß mit den Schultern. Opolos betrachtete interessiert den Innenraum der Kirche, der gar nicht mal besonders kirchlich aussah.
    Hier in der Eingangshalle war es, trotz der an den Wänden der langen Korridore entzündeten Fackeln, ziemlich kühl, nicht viel anders als draußen. Der Boden bestand aus vielen kleinen, braunen Fliesen, die sich bis zur Mitte der hohen Wände hochzogen, welche ab da schlichten, weißen Stein zeigten, der an einigen Stellen großflächig von roten, schweren Wandteppichen bedeckt wurde. Über ihnen befand sich ein weiteres Stockwerk, dessen Gänge von prunkvoll gestalteten Geländern abgeschirmt wurden und ganz den Eindruck machten, für Besucher nicht offenzustehen. In regelmäßigen Abständen hingen große Kronleucher mit vielen kleinen Kerzen herab, bei denen sich Garvell nur wundern konnte, wie viel Aufwand es bedeuten mochte, die Kerzen nicht nur anzuzünden und gegebenenfalls zu löschen, sondern sie auch auszutauschen, wenn sie heruntergebrannt waren.
    Rechts vom Eingang befand sich ein mit mehreren schlichten Paravents abgetrennter Bereich, der dann doch einiges an kirchlicher Ausstattung aufwies. Es gab dort vier, nein fünf Bankreihen, an der Seitenwand hing sogar eine Orgel, und der steinerne Sockel mit Wasserbecken in der Mitte des Raumes hatte sicherlich auch irgendeine sakrale Funktion. Garvell vermutete, dass dieser kirchliche Teil Innos geweiht war, war sich aber nicht sicher. Gerade, als er Opolos danach fragen wollte, kam der Hausdiener zurück.
    „Bitte entschuldigt die Wartezeit“, sagte er während einer kleinen Verbeugung. „Ich habe mit Herrn Gollwitzer gesprochen, und er ist in der Tat hocherfreut über euer Kommen. Er würde euch gerne sehen und hat dafür sogar sein Abendmahl unterbrochen. Selbiges dürft ihr dann später mit ihm zusammen wieder aufnehmen, wenn ihr mögt. Aber das dürft ihr später noch entscheiden. Bitte, wenn ihr mir folgen würdet …“
    Das ließ Garvell sich nicht zweimal sagen. Zusammen mit den anderen folgte er dem Hausdiener, der für sein Alter erstaunlich flott unterwegs war.
    „Mein Name ist übrigens Herwart, ich hatte mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Herrn Gollwitzers einziger Diener, müsst ihr wissen. Herr Gollwitzer lebt schon seit einiger Zeit sehr zurückgezogen und hat sich deshalb nach und nach von seiner Dienerschaft getrennt. Nur ich bin geblieben. Ich bin sein erster und wahrscheinlich auch sein letzter Diener, könnte man sagen.“
    Garvell hörte einen gewissen Stolz aus Herwarts Stimme heraus. Für ihn schien es ein Privileg zu sein, Gollwitzer dienen zu dürfen. Garvell konnte das nur schlecht nachvollziehen. Er selber hätte ja sogar Probleme gehabt, überhaupt für jemanden zu arbeiten, das wollte er nicht als Angestellter und schon gar nicht als Diener.
    „Die Wehrkirche Walpernhain, in der wir uns gerade befinden, soll Herrn Gollwitzers letztes großes Projekt sein“, fuhr Herwart fort, während sie um die Ecke bogen. Hier war der Boden nun mit rotem Teppich ausgekleidet. Garvell fühlte sich bereits ganz feierlich, auch die anderen schienen den Weg zu genießen.
    „Der Name geht übrigens zurück auf Herrn Gollwitzers Geburtsort. Wie ihr vielleicht wisst, stammt Karl Albrecht Gollwitzer gebürtig aus Silden. Noch heute fühlt er sich der Region verbunden, weshalb es auch kein Zufall war, dass das Rennen in Silden gestartet ist. Karl Albrecht Gollwitzer ist in seiner Jugend mit Vorliebe durch die Wälder gestreift und ist dort später auch regelmäßig auf Jagd gegangen, mit teils beachtlichem Erfolg. Besonders gern hielt er sich dabei in einem Waldstück auf, das im regionalen Volksmund Walpernhain genannt wird. In Erinnerung an dieses Wäldchen hat Herr Gollwitzer die Kirche auf selbigen Namen getauft. Ich finde den Namen ganz passend, er hat einen wunderschönen Klang. Findet ihr nicht auch?“
    „Ja, doch, das passt“, sagte Garvell unbeholfen, während Herwart mit ein paar raschen Handgriffen die Tür vor ihnen entriegelte. Dann gingen sie, wie im Gänsemarsch, hindurch. Auf der anderen Seite lag ein runder Raum, der, obwohl eben rund, sich Garvells Orientierung nach im Innern des eckigen Kirchturms befinden musste. Der Boden hier war nicht gefliest, stattdessen hatte man es bei bloßem Estrich belassen. Die Mauern rings herum waren aus grob behauenem Stein erbaut, von hier unten ragten sie herauf bis zu einem hölzernen Dachstuhl, der, wenn nicht gerade in der Wüste befindlich, sehr wahrscheinlich die Heimat einer oder gleich mehrerer Taubensippen gewesen wäre. Links von Garvell befand sich, ein ganzes Stück weit über ihnen, eine kleine Empore, wie man sie vielleicht in einem der Theater von Vengard als Ehrenloge erwartet hätte. Sie war mit nur einem einzigen Sitz ausgestattet, der eine hohe Rückenlehne und reich verzierte Armlehnen aufwies. Er war aus dunklem Holz gefertigt, wirkte von weitem aber so hart wie Stein.
    „Habt ihr euer Fahrzeug draußen vor der Kirche abgestellt?“, fragte Herwart. Er war nun stehen geblieben, offenbar waren sie an ihrem vorläufigen Ziel angelangt. Garvell schluckte. War das Voraussetzung für den Wettbewerbssieg? Innerlich ging er die Regeln noch einmal durch. Nein, davon stand nirgendwo was geschrieben und hatte nie jemand gesprochen.
    „Wir sind ursprünglich mit einem Fluggerät angetreten“, erläuterte Garvell wahrheitsgemäß. „Die Akaflieg Mü 3. Aber leider ist sie an der Südküste von Varant zerstört worden. Wir mussten notlanden. Wir sind den ganzen restlichen Weg zu Fuß gekommen. Ich hoffe, das ist kein Problem.“
    „Aber nicht doch“, bekundete Herwart mit sanfter Geste. „Das macht eure Leistung nur umso anerkennenswerter. Es ist zwar schade, dass ihr euer Fluggerät nicht mitbringen konntet, aber das hat Herr Gollwitzer durchaus so einkalkuliert. Er hat sich über seine Inspekteure ja schon vor Startbeginn einen Überblick über die angemeldeten Vehikel verschafft und wird die Reporte und Aufzeichnungen beizeiten sicherlich mit Genuss studieren. Und ihr könnt euch schon einmal darauf einstellen, dass Herr Gollwitzer euch bei einem gemeinsamen Essen detailliert über euer Fluggerät ausfragen wird. Ihn interessiert das wirklich sehr. Entscheidend ist aber, dass ihr hier angekommen seid, egal wie.“
    „Wir stehen Herrn Gollwitzer sehr gerne Rede und Antwort zu unserem Flugzeug“, sagte Garvell. Er kam nicht umhin, es zu genießen, mit wie viel Höflichkeit er von Herwart behandelt wurde. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt so eine Behandlung erfahren hatte. Vermutlich noch nie.
    „Schön, das wird ihn freuen“, sagte Herwart. „Bitte wartet hier noch einen Augenblick. Herr Gollwitzer wird euch jeden Moment hier empfangen. Es hat mich gefreut, eure Bekanntschaft zu machen.“
    Der Diener verbeugte sich noch einmal, eilte dann an den Gästen vorbei und ließ sie alleine in dem runden Raum zurück. Erst, als man seine Schritte nicht mehr hören konnte, erhob Monty die Stimme.
    „Der Kerl hat doch ’nen Stock im Arsch, da könnt ihr mir erzählen, was ihr wollt.“
    „Also ich find ihn einfach nett“, bekundete Alejandra. „Der hatte Manieren.“
    „Hmpf“, machte Monty darauf. „Wenn er die hätte, dann hätte er uns nicht auf irgendein späteres Abendessen mit dem alten Gollwitzer vertröstet, sondern uns direkt was kredenzt. Ich hab Schmacht!“
    Garvell wollte die Diskussion ignorieren. Er war schlicht auf Gollwitzer gespannt und was er ihnen zu sagen hatte. Würde er sie loben, würde er eine feierliche Rede halten? Würde er sein Erbe sofort übertragen? Und vor allem: Wen würde er zum Erben ernennen? Nur einer konnte sein Erbe sein, und Gollwitzer höchstpersönlich würde seinen Erben auswählen. Er hatte jetzt insgesamt vier Leute, aus denen er wählen konnte, wenn man Monty mit einrechnete. Hatten die anderen das bereits vergessen?
    „Garvell?“, fragte Opolos über das Gespräch von Alejandra und Monty hinweg, das sich mittlerweile um Höflichkeit im Allgemeinen sowie Respekt vor dem Alter drehte. Der junge Novize war weiter in den Raum hineingeschritten und beugte sich gerade herunter, um etwas aufzuheben. Als Garvell zu ihm kam, sah er, dass dieses Etwas in Opolos’ Händen ein Stück Stoff war. Länglich, an einer Seite etwas eingerissen, grün. Es war eine Schärpe.
    Garvell bemerkte, dass Opolos’ Hände zitterten. Er konnte es ihm nicht wirklich verübeln.
    „Das ist doch …“
    „ … Sanfords Schärpe“, vollendete der Novize für ihn. Jetzt hatten es auch die anderen beiden mitbekommen, aber bevor sie darauf reagieren konnten, wurde aller Aufmerksamkeit zur Empore über ihnen gelenkt.
    „Du hast eine feine Beobachtungsgabe, mein junger Novize“, tönte eine Stimme von oben. Es war die eines Mannes, der schon viele Jahre hinter sich und nur noch wenige vor sich hatte. Eine Stimme, die über Jahrzehnte benutzt worden war und nunmehr abgenutzt klang. Auf der Empore über ihnen war ein alter Mann erschienen. Er hatte graues, leicht gekräuseltes Haar sowie einen ebenso grauen Vollbart mit etwas längerem Schnauzer. Seine Nase ragte ausdrucksstark aus seinem Gesicht wie der Schnabel eines Raubvogels, die in Falten gelegte Stirn zeugte von vielen Lebensjahren. Der Mann steckte in einem etwas altmodischen, gleichwohl sehr edlen Anzug, darunter trug er noch eine Weste, am Hals war ein aparter Stoffbinder befestigt. Für Garvell bestand keinerlei Zweifel: Das dort oben war Karl Albert Gollwitzer.
    „Meine Herren“, fuhr Gollwitzer nun fort, „und natürlich die Dame: Seid herzlich willkommen in der Wehrkirche Walpernhain. Es ist mir eine Freude, euch hier begrüßen zu dürfen. Mein treuer Diener Herwart hat mir bereits alles erzählt. In einem Fluggerät habt ihr eure Reise angetreten, nicht? Das ist erstaunlich, und umso bedauerlicher, dass es das Rennen nicht überlebt hat. Aber meine Leute haben akribisch Informationen gesammelt, und ich denke, ich werde dieses neuartige Gerät mit einiger Leichtigkeit rekonstruieren können. Dafür danke ich euch.“
    „Gern geschehen“, rief Monty unnötig laut nach oben, ausgerechnet derjenige, der am allerwenigsten mit der Mü zu tun hatte. „Heißt das jetzt, wir haben offiziell gewonnen? Bekommen wir jetzt das Erbe?“
    „Erben“, dozierte Gollwitzer mit gleichbleibend ruhiger Stimme, „setzt den Tod voraus, und zwar den Tod des Erblassers. Muss ich nun etwa davon ausgehen, dass du mir den Tod wünschst?“
    „Äh, nein nein, ich meinte …“, stammelte Monty. „Ich meine ja nur. Es hieß ja, dass jemand dein Erbe übernehmen wird. Stand so in den Regeln.“
    Gollwitzer lachte einmal dröhnend auf, das Echo kroch im Rundbau wie in einer Spirale zu ihnen herunter. „Was irgendwo steht oder stand, ist nicht von Belang“, beschied er mit großväterlicher Milde. „Irgendwelche Regeln und irgendwelche Rennen interessieren mich nicht. Das Rennen ist vorüber. Um genau zu sein hat es nie wirklich angefangen.“
    „Hä?“
    „Wie meinen?“, fragte nun auch Garvell.
    Ein mildes Lächeln schlich sich auf das Gesicht Gollwitzers. Die Enden seines Schnurrbarts wirkten nun wie an Bindfäden hochgezogen.
    „Ihr seid unter der Prämisse angetreten, dass derjenige, der zuerst den Fuß über die Schwelle dieser Kirche betritt, das Rennen gewinnt, mein Erbe wird und fortan Zugriff auf all meine Reichtümer erhält“, sagte Gollwitzer. „Aber ist euch niemals der Gedanke gekommen, dass der große Karl Albert Gollwitzer wohl kaum ernsthaftes Interesse daran haben kann, sein gesamtes Lebenswerk aufzugeben, noch dazu an jemanden, den er überhaupt nicht kennt, nur weil er mit einem modifizierten Pferdewagen durch die Wüste gehetzt ist? Ist euch niemals die Idee gekommen, dass jemand so Reiches und Einflussreiches wie ich – und ich sage das nicht aus Eitelkeit oder Eigenlob, sondern weil es Fakt ist –, dass jemand so Mächtiges wie ich ganz andere Möglichkeiten hat als bloß auf den Tod zu warten?“
    „Komm zum Punkt, Alter“, blaffte Monty nach oben. Garvell war nicht entgangen, dass sein ehemaliger Angestellte abermals überprüft hatte, ob seine Schiffsaxt noch dort am Gürtel saß, wo sie sein sollte. Garvell hatte noch keinen Plan, wie es weitergehen sollte. Klar war nur: Das, was gerade passierte, lief wohl nicht allzu gut. Was immer es auch war, was da gerade passierte.
    „Man wird nicht reich, indem man Gold verschenkt“, sagte Gollwitzer leise, unbeeindruckt von Montys Einwurf. Er war mittlerweile an das Geländer der Loge herangetreten, stützte sich mit Händen auf dem Geländer ab und schaute versonnen nach unten. Der Mann war alt, ganz offensichtlich sehr, sehr alt, aber gebrechlich wirkte er nicht. In der Tat sah so niemand aus, der allzu bald etwas vererben wollte.
    „Der wahre Gewinn dieses sogenannten Rennens“, fuhr er fort, „ist der meinige. Es war und ist vollkommen unerheblich, wer das Rennen als erster abschließt oder ob es überhaupt jemand tut. Wichtig war mir nur, dass meine Inspekteure die angemeldeten Vehikel ausreichend begutachten konnten, um die vielversprechendsten von ihnen herauszupicken. Die Ausbeute war leider nicht so gut wie erhofft, aber unter anderem euer Fluggerät ist eine technische Innovation, der ich mich nur allzu gerne widmen werde. Und ich darf hinzufügen, dass das Wettgeschäft aller Voraussicht nach ebenfalls sehr einträglich für mein Unternehmen sein wird.“
    „Moment mal“, mischte sich Alejandra nun ein. Sie musste den Kopf weit in den Nacken legen, um Blickkontakt zu Gollwitzer aufzubauen. „Soll das etwa heißen, du klaust unsere Ideen?“
    Gollwitzer legte nun seinerseits den Kopf in den Nacken und starrte an die Decke des Raums.
    „Innovation und Diebstahl“, fabulierte er, „gehen Hand in Hand. Was der eine schlicht Ideenklau nennt, ist für den anderen ein Geniestreich. Mein junges Fräulein, du musst noch viel lernen. Es kommt nicht darauf an, wer eine Idee als erstes hat. Es kommt einzig darauf an, wer diese Idee als erstes umsetzt. Und sie am besten umsetzt. Euer Fluggerät mag das größte Wunder der Technik seit Beginn der Orkkriege sein, aber ihr habt nicht ansatzweise die finanziellen Mittel, um daraus Kapital zu schlagen. Ich hingegen habe sie. Und wenn die Produktion erst einmal angelaufen ist, dann wird sich niemand mehr daran erinnern, dass eine zusammengewürfelte Bande wie die eure eigentlich dafür verantwortlich ist. Die Geschichte wird am Ende anders lauten, wie schon so häufig.“
    „Ihr habt also Erfahrung damit, fremde Erfindungen als eure eigenen auszugeben“, schloss Opolos.
    Gollwitzer senkte sein Haupt nun wieder und lächelte. „Erneut, einen messerscharfen Verstand hat er, der junge Novize.“ Gollwitzer nahm die Hände vom Geländer und fing an zu gestikulieren.
    „Die ersten Spinnereigebäude in Geldern mit Sägedachbauten. Erdacht ursprünglich von einem alten, alkoholkranken Alchemisten. Mittlerweile bekannt unter dem Namen Gollwitzer-Spinnereien. Die Nervenheilanstalt auf Khorinis, konstruiert von einem Professor, dessen Namen ich längst vergessen habe, perfektioniert und zu einem unterirdischen Bollwerk der Sicherheit umfunktioniert von mir. Die Wohnhauskomplexe und Villen in der Vengarder Hauptstadt, bevor sie der Krieg daniederriss: Erschaffen auf Grundlage von Skizzen eines jungen, aufstrebenden Architekten, der mein Schüler sein wollte, dann aber auf tragische Weise Opfer seiner eigenen Wollust wurde und an der Syphilis starb. Die Villa Afra in Braga, einst vom damaligen Statthalter persönlich erdacht als Wahrzeichen Varants und Eingangstor zum Wüstenreich, verwirklicht erst durch mich, nachdem besagter Statthalter seinen eigenen Assassinen zum Opfer fiel. Ich könnte diese Liste endlos fortsetzen, und es mag euch nicht verwundern, dass auch diese Kirche, in der wir nun stehen, in Gestalt von uralten Zeichnungen schon Jahrhunderte alt ist, Skizzen so alt, dass sie noch aus der Zeit stammen, als die drei Religionen eins waren. Ich kann nicht für mich in Anspruch nehmen, geistiger Urheber all dieser Ideen zu sein. Aber ich kann für mich in Anspruch nehmen, Schöpfer all dieser Gebäude zu sein. Und ist es etwa ein Verbrechen, die Welt zu einem schöneren Ort zu machen, dort einzuspringen, wo meine geistigen Vorgänger versagt haben, es nicht fertigbrachten, die Ideen, mit denen sie schwanger gingen, auch tatsächlich zu gebären? All diese Gebäude und noch viele mehr gäbe es nicht, wenn ich mir nicht ein Herz gefasst hätte und nicht bloß gedacht, sondern gemacht hätte, und wäre ich nicht gewesen, so wäre die Welt an vielen Stellen ein tristerer Ort. Wer mich dafür beschuldigen will, bitte. Aber mein Gewissen erreicht diese Anklage nicht.“
    Die Worte nahmen sich ein wenig Zeit, um zu verhallen. Erst danach wagte sich Monty wieder vor.
    „Du mieser … ein Aufschneider bist du, ein Scharlatan! Der größte Lügner auf dem ganzen Festland! Warte nur ab, wenn das die Runde macht. Dann kannst du deine Kirche aber einstampfen!“
    Gollwitzer lächelte spöttisch. „Ich glaube nicht, dass das passieren wird“, sagte er.
    „Achja?“, fauchte Monty zurück. „Das werden wir ja sehen! Ich mach ’nen Wirbel in ganz Silden, glaub es nur! In ganz Silden und dem Umland, nach Faring und Vengard werde ich ziehen, bis es die ganze Welt weiß! Du wirst schon sehen, was du davon hast! Du … du …“
    „Was ist mit Sanford und Trano passiert?“, grätschte Garvell in Montys unabsichtliche Sprechpause hinein. Er hielt die grüne Schärpe in den Händen, die Opolos gefunden hatte, und hob sie etwas hoch, dem Gesicht Gollwitzers entgegen.
    „Die beiden Männer mit ihrem ausgeklügelten Wagen, der leider nur eine allzu ausgeprägte Schwäche für heißes Klima hatte“, sagte Gollwitzer, wie, um sich selbst zu vergewissern, dass er über die richtigen Männer sprach. „Sie waren in der Tat vor euch da, als erste. Genützt hat es ihnen auch nichts.“
    „Was hast du mit ihnen gemacht?“, rief Alejandra. Sie hatte ihre Fäuste geballt. Sie hatte offenbar die selbe Ahnung, die auch Garvell hatte.
    Gollwitzer stieß sich vom Geländer ab, machte ein paar Schritte weiter in die Loge hinein. „Das, meine Dame, meine Herren“, sagte er, während er sich in den Stuhl setzte. „Das werdet ihr nun sehen.“
    Gollwitzer legte seine Arme auf die Lehnen, im selben Moment schnappte hinter Garvell und den anderen ein Metallgitter zu und versperrte den Weg zurück in die Eingangshalle.
    „Scheiße!“, keifte Monty. „Ich glaube, jetzt wird es ernst!“
    „Der erste kluge Gedanke von dir!“, rief Gollwitzer nun donnernd von seinem Podium aus. „Du solltest ihn festhalten, so lange du noch kannst! Denn nun will ich euch ein weiteres … Konstrukt präsentieren, das ich, sagen wir einmal, von jemand anderem übernommen habe. Es ist nicht das Original, aber wen kümmert das! Selbst das Werk vieler Schwarzmagier hat noch Potential, durch die Hand eines exzellenten Architekten verfeinert zu werden. Ich präsentiere euch mein erstes rein magisches Projekt: Die Bestie!“
    Ein weiteres Gitter ratterte, diesmal auf der gegenüberliegenden Raumseite. Es gab einen großen Torbogen frei, hinter dem zunächst nur Dunkelheit waberte. Monty zog nun seine Schiffsaxt und hielt sie sich verkrampft vor den Körper. Garvell verfluchte sich, dass er sein eigenes Beil nicht mitgenommen hatte. Alejandra zog sich immerhin einen Schraubenschlüssel aus ihrer Arbeitskleidung, wirkte damit aber eher hilflos als wehrhaft. Opolos schließlich trat lediglich zwei Schritte zurück, bis er gegen die groben Mauern desjenigen Raumes stieß, der für sie nun ein Gefängnis war.
    Dann begann das Beben. Erst sachte, dann immer lauter. Regelmäßig, in kurzen Abständen. Erst spät verstand Garvell, dass es Schritte sein mussten. Schritte von etwas Großem. Es trat langsam ins Licht der Fackeln, die den runden Saal erhellten. Zuerst die Schnauze, ein längliches, leicht gekrümmtes Etwas, ein Maul voll unzähliger kleiner, scharfer Zähne, zwei immens große, schaubende Nüstern, der gesamte Kopf umrahmt von Haaren in Fetzen, wie die eines halb skalpierten und dann in seinem eigenen Blut getränkten Löwen. Auf der Stirn dieses bizarren Schädels zwei nach vorne gebogene, dunkle Hörner, in etwa nochmal in der Länge des gesamten Schädels. Das grausige Antlitz war durch einen sehr kurzen, kräftigen Hals verbunden mit einem massigen, schlammgrünen Körper, dessen Rücken eine Reihe scharfzahniger Stacheln zierte, die hinunterreichten bis zum langen Echsenschwanz, der den riesigen Leib dieses Unwesens abschloss. An diesem Leib – dessen filzige Haut stellenweise wie weggerissen schien und vereinzelt Muskelstränge freigab – hingen prominent zwei lederige, rote Flügel, die in einem Zwischenstadium hin zur Verwesung zu stecken schienen. Vorne am Leib waren, wie bei einem Menschen, zwei Arme angebracht, aber sie waren muskulös, und die Hände an ihren Enden waren grotesk groß und mündeten in knochigen Fingernägeln. Noch größer waren nur noch die Füße, sie übertrafen den Umfang des Schädels des Wesens um einiges, gliederten sich an einem Ende in jeweils drei massive Zehen auf, die wiederum in Krallen mündeten. Die Füße insgesamt gingen über in einen Unterschenkel, der wiederum hinauf in Oberschenkel verwuchsen, die so dick waren, dass man fast glaubte, sie müssten jeden Augenblick platzen. Umgeben wurde das Untier von einem penetranten Schwefelgeruch sowie immer wieder aufzuckenden Blitzen, die sich über die Filzhaut und die Flügel legten. Die Bestie war nun stehengeblieben und stierte die Gruppe um Garvell regungslos an.
    „Da ist sie“, rief Gollwitzer nun wieder von seinem Balkon. „Ihre magischen Fähigkeiten sind im Vergleich zum Original noch nicht vollständig entwickelt, aber mit dem Rest bin ich vollauf zufrieden, in Anbetracht dessen, dass dies lediglich die erste Iteration einer ganzen Serie ist. Und im Gegensatz zu ihrem Ideengeber musste ich nicht erst einen Beschwörer engagieren, um sie zu erschaffen. Ich habe eine Abkürzung gefunden, auf die jeder noch so versierte Schwarzmagier stolz wäre. Und nun: Möge die Demonstration beginnen!“
    Die Bestie ließ ein derart lautes Fauchen ertönen, dass Garvell fürchtete, seine Trommelfelle würden zerplatzen. Erst als der Schrei verklungen war, setzte sich das Biest in Bewegung, stapfte in einer Mischung aus zweibeinigem, humanoidem Gang und einem vierbeinigen Kriechen nach vorne.
    „Verteilt euch!“, rief Garvell den anderen zu, denn es war das erste, was ihm einfiel. Wenn die Bestie, die sich momentan noch eher gemächlich bewegte, zu einem Hechtsprung hinreißen lassen würde, dann sollte sie wenigstens nicht gleich alle von ihnen erwischen.
    Die Gruppe tat wie geheißen und zerstreute sich, orientierte sich zu den Wänden des Raumes hin. Alle, außer Monty. Monty war nämlich langsam zur Mitte des Raumes geschritten, seine Axt in der rechten Hand erhoben.
    In Garvell schrillten alle Alarmglocken. Monty musste verrückt geworden sein, wenn er tatsächlich glaubte, damit diese Bestie erlegen zu können. Im direkten Vergleich sah er aus wie ein Spielzeugritter, aber das kümmerte ihn offenbar gar nicht.
    „Komm nur her!“, brüllte er, und noch bevor er seinen kurzen Satz zu Ende gesprochen hatte, war die Bestie tatsächlich auf ihn zugesprungen. Monty ließ sich sofort fallen, die Bestie erwischte lediglich die von ihr selbst schwefelgeschwängerte Luft und landete mit dem Bauch auf dem blanken Estrichboden. Sie war nun mit Blickrichtung zu Garvell und einige Meter neben ihm Alejandra ausgerichtet, Opolos war ein paar Schritte an der Wand entlang gelaufen. Monty wiederum rappelte sich mühsam auf, er hatte der Bestie den Rücken zugewandt. Für Garvell war es eine kritische Situation, da er bereits die Wand im Rücken spürte und kaum noch Raum für ein Ausweichmanöver sah, aber die Bestie wandte sich, nachdem sie sich aufgerichtet hatte, sofort wieder Monty zu. Der war allerdings immer noch damit beschäftigt, aufzustehen und sich seinerseits umzuwenden. Unwillkürlich dachte Garvell daran, dass sein ehemaliger Angestellter seit dem Ausscheiden aus dem Betrieb offenbar einiges an Gewicht zugelegt hatte, was ihm jetzt hinderlich war. Garvell hielt sich aber nicht weiter damit auf, rannte unvermittelt auf Alejandra zu und entriss ihr den Schraubenschlüssel, um damit auf die Bestie zuzustürmen. Diese machte sich gerade wieder für einen Sprung bereit, als Garvell ihr den Schraubenschlüssel gegen den rechten Fuß rammte, einmal, zweimal, und beim dritten Mal erwischte er durch Zufall eine Stelle, die nicht von der schlammbraungrünen Filzschicht geschützt war, sondern blankes Muskelfleisch zeigte. Die Bestie jaulte auf und riss Garvell mit dem Schwanz, der offenkundig selbstständig beweglich war, mit Wucht von den Füßen. Garvell spürte für eine Sekunde gar nichts mehr, traf dann aber umso schmerzhafter auf dem Boden auf, kurz nach dem Schraubenschlüssel, der ebenfalls durch die Luft geflogen war. Hinter sich hörte er Opolos rufen.
    „Ich … ich habe eine Idee! Diese Kreatur … vielleicht kann ich sie mit einem Zauber außer Gefecht setzen! Ich habe noch eine Spruchrolle BösesVernichten dabei! Ich habe sie in meiner Umhängetasche, weil ich doch ursprünglich -“
    „Dann wende sie an!“, hörte Garvell Alejandra verzweifelt rufen. „Bei Innos, wende sie an!“
    Garvell antizipierte einen weiteren Schwung des Schwanzes der Bestie und rollte sich kurzerhand über den Boden, um Abstand zu gewinnen. Dass seine Schultern, Ellenbogen und Knie dabei arg in Mitleidenschaft gezogen wurden, merkte er in der Hitze des Moments kaum. Als er sich wieder aufrichtete und den Schwindel abschüttelte, war die Bestie aber schon wieder unterwegs zu Monty, der sich aber auch schon wieder in Kampfstellung begeben hatte. Von oben hörte er Gollwitzer lachen. Ein kurzer Blick in die Loge zeigte den alten Mann, wie er von seinem Stuhl aufgesprungen war, das vorher zurückgekämmte Haar nun ganz wirr, der Binder an seinem Hemdkragen schief und gelockert. Der große Architekt schien mit einem Mal seine ganze Fassung verloren zu haben.
    „Ich weiß nicht, ob ich es schaffe!“, rief Opolos nun von hinten, während er zitterig in seiner Umhängetasche herumkramte.
    „Du schaffst das!“, ermutigte Alejandra ihn drängelnd. „Bei den Harpyien hast du es doch auch geschafft!“
    „Aber das war nur ein simpler Feuerpfeil-Zauber!“, gab Opolos zurück. „Dieser Zauber hier ist viel mächtiger und benötigt viel mehr magische Kraft! Selbst gestandene Magier müssen fast ihr gesamtes Mana konzentrieren, um ihn überhaupt wirken zu können!“
    „Du bist aber doch schon fast Magier!“, argumentierte Alejandra weiter, immer wieder hektische Blicke zur Bestie werfend, die Monty nun langsam wieder näher kam.
    „Ja, aber eben nur fast!“
    Garvell sah die Bestie nach vorne springen, diesmal wich Monty zur Seite aus und entrann somit haarscharf dem gewaltigen Hörnerpaar am Haupt des Untieres. Dieses bohrte sich nun in die Steinwand hinein, es gab ein lautes Knirschen von Horn auf Stein und von Stein auf Stein, und als sich die Bestie wieder von der Wand losriss, war das Mauerwerk zum Teil verschoben. Die Bestie war dadurch in ihrem Angriffseifer aber nicht gebremst, ganz im Gegenteil ließ sie einen weiteren Schrei los und nahm die Verfolgung Montys umso energischer wieder auf.
    „Wenn ich meine Kräfte länger sammle … dann könnte es vielleicht gehen!“, rief Opolos nun. „Ich brauche nur ein wenig Zeit!“
    „Zeit haben wir aber nicht!“, rief Garvell über die Schulter, während er sich der Bestie vorsichtig von hinten näherte. Das magische Wesen hatte seine Schritte nun beschleunigt und geriet offenbar so langsam in Rage.
    „Ihr müsst sie nur ein wenig ablenken!“, rief Opolos, der jetzt endlich seine Umhängetasche bis in den letzten Winkel durchsucht und die Böses-Vernichten-Spruchrolle gefunden hatte.
    „Nein, nein!“, schrie Gollwitzer, der in seinem Wahn wohl endlich begriffen hatte, was der Plan des Novizen war. Er stützte sich mit geballten Fäusten auf das Geländer, seine Fingerknöchel waren rot und weiß zugleich. „Vernichte sie!“, rief er dann. „Vernichte sie, bevor sie dich vernichten! Die Bestie darf nicht untergehen!“
    Angestachelt von den Rufen wollte die Bestie Monty einen kraftvollen Prankenhieb versetzen, aber den kleinen Mann mit der kleinen Axt streiften nur die Fingerkrallen, die allerdings sofort blutige Striemen auf seiner Brust hinterließen, die jetzt durch sein braunes Hemd hindurchschimmerten. Monty stürzte beim Weglaufen, machte aber eine elegante Rolle auf dem Boden, bei der er sich die Haut am rechten Arm großflächig wegriss, und kam neben Garvell wieder zum Stehen.
    „Hast du gehört, Monty?“, rief Garvell ihm zu, den Schraubenschlüssel nun wieder erhoben wie eine geweihte Einhandklinge. „Wir müssen dieses Biest ablenken, bis Opolos seinen Zauber wirken kann!“
    „Alles klar!“, sagte Monty und wandte sich sogleich wieder in Blickrichtung zur Bestie. Er umkreiste sie einmal, sodass er jetzt genau unter dem Balkon stand, auf dem Gollwitzer mit steigender Erregung dem Treiben beiwohnte und der Bestie offenbar Kommandos zurief, die Garvell aber nicht verstand und die Bestie wahrscheinlich nicht befolgte. Das Untier hielt sich weiterhin an die Fersen Montys geheftet. Diesmal aber wagte es nicht direkt wieder einen Vorstoß, sondern musterte den Menschen vor sich, tief und atemlos schnaubend.
    „Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt!“, rief Garvell und warf einen kurzen Blick zurück. Opolos hielt eine Schrifttrolle in verkrampftem Griff vor sich, die andere Hand ausgestreckt und von einem hellen, bläulichen Glimmen umgeben. Die Augen hielt er geschlossen, er zitterte, viele kleine Schweißperlen rannen seine Stirn herunter, über sein Gesicht, bis zu seinem Hals, der bereits ganz nass war und den Kragen seiner Robe dunkel färbte. Alejandra stand dicht bei ihm, wirkte besorgt, heftete ihren Blick andererseits aber immer wieder auf Monty und die Bestie.
    Monty wagte nun zum ersten Mal seinerseits eine Attacke aus seinem bisherigen Abwehrkampf heraus. Garvell hielt das für keine gute Idee, sein warnender Schrei kam aber zu spät: Monty war mit der Axt voraus nach vorne gesprungen. Das Beil landete nun in einem der Hörner der Bestie, durchtrennte es jedoch nicht, sondern blieb darin stecken. Reflexartig ließ Monty die Waffe los, und das war sein Glück, denn sonst wäre er vermutlich durch die Luft gewirbelt worden, als die Bestie nun ihr Haupt wütend brüllend nach hinten warf. Die Axt löste sich und wurde mit solch einer Wucht davongeschleudert, dass sie gegen die Wand am anderen Ende des Raumes knallte, wo sie schließlich geräuschvoll zu Boden fiel. Mit schreckgeweiteten Augen musste Monty mitansehen, wie die Bestie aus der Hocke nur einen Augenblick später einen erneuten, gewaltigen Satz nach vorne machte – und dieses Mal war Monty nicht schnell genug, um der Attacke auszuweichen. Die widerlich lange Schnauze der Bestie schoss nach vorne und stieß mit voller Wucht gegen den Brustkorb des Mannes, der mit seinem ganzem Leib nach hinten gestoßen wurde, ja geradezu abhob, und dann auf die Steinwand hinter ihm auftraf und zu Boden ging. Er schrie nicht, er zappelte nicht, er blieb einfach reglos liegen. Der Bestie war das augenscheinlich nicht genug, sie erhob sich auf ihren zwei bizarr großen Füßen, reckte die Hörner und bereitete sich offenbar darauf vor, sie Monty beide in die Brust zu stoßen.
    „Nein!“, rief Alejandra schrill über das Lachen Gollwitzers hinweg und stürmte voran, ließ den zitternden Opolos hinter sich, beugte sich im Rennen kurz zu Boden, wo sie die von Garvell fallengelassene Schärpe aufsammelte, und machte dann einen riesigen, verzweifelten Sprung auf den Rücken der Bestie. Sie landete irgendwo zwischen oder sogar auf den Rückenhörnern des Scheusals – Garvell konnte es nicht richtig sehen–, fasste die Schärpe fest an beiden Händen und wickelte sie um die Stirn der Bestie, um ihr das Augenlicht zu nehmen. Das zeigte Wirkung: Unter tosendem Gejaule schüttelte sich die Bestie, ließ ihren Schwanz von links nach rechts und von oben nach unten peitschen, buckelte mit dem Rücken – und hatte Alejandra schließlich mit einem großen Ruck wieder von sich geschleudert. Alejandra traf auf dem Estrichboden auf, auch sie war nun verletzt, wenn auch nur am Unterarm, der nun an der Seite vollkommen aufgerissen war und kräftig blutete. Die Bestie wiederum war nun vollends in Rage und wirbelte herum, um der am Boden liegenden Alejandra nachzusetzen, die aufgrund des Sturzes zu lädiert war, um noch schnell genug aufstehen zu können. Ein grollender Schrei des Wesens, ein weites Ausholen mit einer Pranke, schreckgeweitete Augen Alejandras, als Garvell nach vorne stürmte und zur Hilfe eilen wollte.
    „Garvell, nein!“, schrie Alejandra, und Garvell verstand, sah in ihren Augen die Spiegelung blauer Funken, die hinter ihm als ganzer magischer Sternenschweif herangeflogen kamen. Garvell duckte sich, nein ,warf sich gleich komplett auf den harten Untergrund, machte sich ganz flach, der magische Strahl schoss über ihn hinweg – und traf die Bestie mitten in die Brust.
    Einen Moment lang war es ganz still.
    Und dann brach ein derartiges Inferno aus Gebrüll, Geschnaube und Geschrei über sie herein, dass Garvell einen Moment lang glaubte, Opolos hätte mit seinem Zauber versehentlich die Höllenpforte zu Beliars Reich geöffnet. Die Bestie war nun von einem blauen Glimmen umhüllt und schmiss sich von Krämpfen gepeinigt hin und her, rammte ihre lange Schnauze und den dahinterliegenden massigen Leib gegen die Wand, sodass bereits erste Steine von dort und sogar Teile vom Balkon oben drüber herabbröckelten. Garvell erhaschte einen letzten Blick auf Gollwitzer, auf dessen bleiche, erschrockene Miene, bevor der Architekt die Flucht ergriff und die Empore durch einen roten Seidenvorhang verließ.
    Die Bestie unterdessen wurde wie von Geisterhand in die Luft gehoben und streckte alle Gliedmaßen von sich, der klägliche Rest ihrer Filzhaut schien nun an allen Enden nach und nach aufzureißen und aufzuplatzen, während sie schreiend an ihre eigenen Hörner griff und sie sich offenbar im Wahn ausreißen wollte.
    Alejandra war in der Zwischenzeit zu Opolos gelaufen, der auf die Knie gefallen war und mit gesenktem Haupt am Boden verweilte, sichtlich schwer atmend und offenbar vollkommen ausgezehrt vom Wirken des Zaubers. Alejandra ging neben ihm ebenfalls auf die Knie und sagte etwas zu ihm, aber Garvell konnte es über das Gebrüll der Bestie nicht verstehen.
    Ein magischer Blitz schlug nun von irgendwoher in den Körper der Bestie ein, die Beben um sie herum gewannen an Intensität, es gab einen lauten Knall, das blaue Licht weitete sich auf dem Rücken einer unsichtbaren Druckwelle im ganzen Raum aus und blendete für einen Moment alle Anwesenden. Die Bestie, oder vielmehr das, was von ihr übrig geblieben war, fiel mit einem letzten markerschütternden Todesschrei zu Boden. Garvell erhaschte einen Blick auf die Überreste, er sah das entstellte Gesicht eines älteren Mannes, der Schnurrbart verbrannt und der schwarze Frack zerfetzt, der Kopf übersät mit Wunden sowie zwei ausgewachsenen Löchern in Stirnhöhe, der restliche Körper verdreht und verbogen in den bizarrsten Windungen, der Brustkorb samt Rippenkäfig offen daliegend und wie ausgeschabt.
    „Garvell!“, rief Alejandra ihm zu. „Wir müssen hier raus! Hier geht gleich alles den Bach runter! Ich schnappe mir Opolos, bring du Monty in Sicherheit!“
    Alejandra hatte recht. Der ganze Turm wackelte, Stein knirschte auf Stein, von der Decke kamen die ersten Holzbalken herunter, einer schlug direkt neben Garvell ein. Das Beben grollte und hörte gar nicht mehr auf, Garvell warf es beinahe von den Füßen, als er zum noch immer bewusstlosen Monty hinstürmte, der nicht weit vom entstellten Leichnam von Gollwitzers Diener auf dem Boden lag. Hoffentlich, so dachte Garvell, war das der einzige Leichnam hier. Den Gedanken daran, dass es auch Monty unwiederbringlich erwischt haben könnte, kämpfte er nieder.
    Monty war schwer, sehr schwer. Garvell spürte nun auch die ganzen Abschürfungen und sonstigen Verletzungen, die er sich bei der Verteidigung gegen die Bestie zugezogen hatte, aber im Vergleich zu den anderen hatte es ihn vielleicht sogar noch am besten getroffen. Er legte Montys gefühllosen Arm um sich und packte mit dem anderen Arm seine Beine. Mittlerweile war auch Alejandra herbeigeeilt, den schwankenden und keuchenden Opolos im Arm, der sich aber immerhin halbwegs auf zwei Beinen fortbewegen konnte.
    „Wir kommen nicht zurück!“, rief sie ihm zu. „Wir müssen da raus, wo dieses Scheusal hereingekommen ist!“
    Alejandra wies mit ihrem Kopf zum gegenüberliegenden Ende des Raumes, wo das Gitter noch heruntergefahren war und die Wände Innos sei Dank noch nicht durch das nicht enden wollende Beben zu Fall gebracht worden waren. Just in dem Moment, als sie die runde Arena durchquerten, brach jedoch die Empore zu ihrer Linken ab und krachte unter ohrenbetäubendem Lärm zu Boden. Garvell, Opolos und Alejandra schrien, waren aber zum Glück weit genug entfernt, um nicht unter den Trümmern begraben zu werden. Garvell bekam lediglich einen abgesprengten Felsbrocken am Kopf ab, der seine linke Wange zum Teil aufriss, aber auch hier hatte er Glück im Unglück und es blieb bei einer oberflächlichen Verletzung.
    „Raus jetzt!“, feuerte Alejandra noch einmal an und ging dann mit Opolos an ihrer Seite durch den Ausgang an der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Garvell folgte ihnen, so gut er mit Monty in den Armen konnte. Hinter sich hörte er die großen Mauersteine aus den Fugen krachen, er beschleunigte seine Schritte noch einmal, geriet erneut ins Wanken, hielt aber das Gleichgewicht und rettete sich durch den Torbogen mit dem heruntergelassenen Gitter in einen kurzen, nackten Steingang, der am Ende in einem Flur mündete, der mit rotem Teppich ausgelegt war. Garvell und die anderen hielten sich nicht lange auf, denn auch in diesen Gängen bröckelten nun die ersten Steine von Wänden und Decken. Das gesamte Kirchgebäude war von einem derartigen Vibrieren erfüllt, dass Garvell die Lippen bibberten als fröre er unsäglich; dabei war ihm in diesem Augenblick einfach nur unglaublich heiß.
    Alejandra eilte voraus und bog nach links ab, Garvell wäre intuitiv nach rechts gelaufen, folgte seiner Mechanikerin aber. Das stellte sich als richtige Entscheidung heraus: Nicht nur stürzten rechterhand im Flur auf einmal Teile einer im oberen Stockwerk liegenden Galerie nach unten, auch befanden sich am Ende des Flurs linkerhand zwei Holztore, ähnlich denen, die sie, es schien schon so lange her, erst in die Kirche geführt hatten. Alejandra beschleunigte ihre Schritte, Garvell tat es ihr gleich, denn es bestand die Gefahr, dass auch in diesem Teil des Flurs Gebälk, Geröll oder sonstwas herunterfiel und sie schlimmstenfalls unter sich begrub oder den Ausgang versperrte.
    Aber nichts von dem geschah. Alejandra rannte die Tore ein, sie schwangen getroffen nach außen und gaben den Blick nach draußen in die Wüste frei, in der es am Horizont bereits wieder zu dämmern begann. Der Sand schimmerte rötlich wie giftige Algen im Meer, aber es tat gut, ihn unter den Schuhen zu spüren.
    „Ein bisschen weiter noch!“, rief Alejandra, die bereits vorgelaufen war und Opolos nicht mehr die ganze Zeit stützen musste. „Ich weiß nicht, was passiert, wenn die ganze verdammte Kirche zusammenstürzt!“
    Garvells Arme brannten und seine Beine gaben fast nach, aber er zwang sich, noch ein paar Meter mit Monty im Schlepptau zu gehen, bis sie – hoffentlich – weit genug weg von der Kirche waren und er sich, nachdem er Monty mit Alejandras Hilfe vorsichtig abgelegt hatte, erschöpft in den Sand fallen lassen konnte. Erst jetzt sah er das ganze Ausmaß der Zerstörung der Wehrkirche. Das Dach hatte sich wie von einem unheimlichen Spuk ergriffen langsam selbst abgedeckt, sowohl das des Kirchenschiffs als auch das des Turms, welcher nun wie in Zeitlupe kippte, hinein in das restliche Kirchgebäude, und dabei jede Menge Sand, Staub und Steine aufwirbelte. Es war ein furchtbarer Lärm. Garvell erinnerte das ganze Schauspiel an einen schrecklichen Sturm auf hoher See, bei dem sich zufällig noch eine Gruppe Wale in die Flutwellen schmiss. Die Wehrkirche Walpernhain war drauf und dran, sich selbst zu zerstören, und für Garvell war klar, dass hier Magie im Spiel war. Für einen Moment versuchte er, zwischen den sich anhäufenden Trümmern und allgemein in der Gegend nach einem fliehenden Gollwitzer Ausschau zu halten, aber dann war ihm etwas anderes wichtiger. Er rappelte sich auf, Alejandra hatte sich bereits neben Monty gekniet.
    „Ist er …?“, fragte sie erschrocken.
    Garvell schüttelte den Kopf. „Ich … ich hatte keine Zeit … fühl seinen Puls!“
    Mit zitterigen Händen tastete Alejandra an Montys Hals herum, bis sie eine passende Stelle gefunden hatte. Mit bangen Blick wartete sie ab. Garvell war angespannt, der Horror kroch langsam in seine erschöpften Eingeweide. Nicht auszudenken, was war, wenn Monty … es durfte einfach nicht sein. Monty durfte nicht tot sein, sonst würde er sich auf ewig verfluchen, dieses verdammte Rennen überhaupt aufgenommen zu haben, würde all die Entscheidungen bereuen, die er getroffen hatte, denn wenn er Monty nicht mitgenommen hätte, wenn sie die Kirche nie betreten hätten, ja, wenn er wenigstens an Montys Stelle den direkten Kampf mit der Bestie aufgenommen hätte …
    „Ich hab ihn“, sprach Alejandra dann endlich die erlösenden Worte. „Aber er ist schwach. Sehr schwach. Wir müssen etwas tun!“
    Garvell kämpfte sich aus der Hocke, in die er zwischenzeitlich gegangen war. „Opolos!“, sprach er den Novizen an, der ein wenig abseits im Sand saß und sich nur langsam erholte. „Hast du irgendeinen Heilzauber, ein Heilkraut, irgendetwas?“
    „Nein“, sagte er, und man sah deutlich, wie sich um seine Augen herum die Schweißperlen mit Tränen mischten. „Ich habe gar nichts mehr dabei. Ich habe auch keine Rune. Ich bin ja noch kein vollwertiger Magier. Wenn ich es doch nur wäre …“
    „Schon gut“, sagte Garvell ein wenig hilflos. „Es ist ja nicht deine Schuld. Du hast schon genug für uns getan. Wenn du die Bestie nicht mit deinem Zauber vernichtet hättest, dann wäre Monty …“ Er wollte seinen Satz nicht beenden. Dafür war Montys Zustand noch viel zu … nah dran.
    Die Beben in der Senke ebbten so langsam ab, auch die Zerstörung der Kirche fand allmählich ihr Ende. Gebälk, Schindeln und Steinbrocken rieselten noch herab, aber im Wesentlichen war der Trümmerhaufen komplett. Der Turm war gefällt, das restliche Kirchengebäude bis auf zwei Wände eingestürzt, die Fensterscheiben allesamt zerbrochen.
    „Er hat was an der Brust und am Arm abbekommen, aber das wirkt eigentlich nur halb so schlimm“, sagte Alejandra. Garvell wandte sich wieder zu ihr hin. Monty lag dort nun mit halb aufgeknöpftem Hemd und hochgekrempelten Ärmeln da, und in der Tat sahen die Kratzwunden auf der Brust und der komplett aufgeschürfte Arm schmerzhaft aus, aber keinesfalls lebensbedrohlich.
    „Hoffentlich hat er keine inneren Blutungen oder so“, murmelte Alejandra. „So, wie dieses … Ding ihn gegen die Wand geschleudert hat … wenn ich diesen Gollwitzer in die Finger kriege, dann Gnade ihm Innos, Beliar, oder was weiß ich wer.“
    „Glaubst du auch nicht, dass der in den Ruinen umgekommen ist?“
    „Nie im Leben. Wer seinen Hausdiener in so ein Scheusal verwandeln kann, der kommt auch bei sowas nicht um. Hast du dir den Kerl mal genau angesehen? Der war doch auch nicht mehr ganz menschlich. Würde mich nicht einmal wundern, wenn seine letzte Frau Ixidia hieß.“
    „Ixidia?“, fragte Garvell verwirrt.
    „Erkläre ich dir später. Jetzt müssen wir erst einmal zusehen, wie wir Monty möglichst schnell zu einem Heiler bekommen.“
    „Ja …“
    „Hey, ihr! Ist ja doch noch einer am Leben da unten!“
    Garvell, Alejandra und auch Opolos blickten wie vom Donner gerührt auf. Der Ruf war vom Osten der Senke her gekommen, genauer gesagt von der höherliegenden Ebene. Die versandete Klippe war nicht weit von ihnen weg. Im Licht der aufgehenden Sonne sahen sie dort eine Gestalt, groß und relativ breit, auf der Sitzfläche eines offenen Pferdewagens, vor dem zwei Tiere gespannt waren, die sich bei näherer Betrachtung als Esel entpuppten.
    „Ist das nicht dieser Torlof?“, fragte Alejandra in die Runde.
    Garvell überlegte kurz, wer denn jetzt bitte Torlof sein sollte, aber dann fiel es ihm auch wieder ein. Der blonde Hüne, der ursprünglich mit Monty das Rennen per Boot bestreiten sollte. Der mit ihm Schiffbruch erlitten hatte und dann verschwunden war.
    „Ja, klar, das ist der“, antwortete Garvell, aber Alejandra fing ohnehin schon an zu rufen.
    „Torlof! Torlof, wir sind es! Wir haben Monty dabei! Er ist verletzt! Wir müssen so schnell wie möglich nach Mora Sul!“
    „Verletzt?“, rief Torlof vom Rand der Düne hinunter. „Alles klar, wir können sofort los! Aber ihr müsst ihn alleine hochbringen, ich bin selber nicht mehr ganz heile und schaffe den Abstieg wahrscheinlich nicht.“
    „Wir kommen schon irgendwie rauf!“, rief Alejandra und beugte sich bereits zu Monty herunter.
    Garvell warf noch einen letzten Blick zurück auf die Überreste der Wehrkirche Walpernhain. „Das war’s dann wohl“, murmelte er zu sich selbst. „So viel zu Gollwitzers Erbe.“
    Geändert von John Irenicus (06.10.2019 um 22:57 Uhr)

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    Deus Avatar von John Irenicus
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    12. Das war doch erst der Anfang!


    „Da habt ihr ja ganz schön was hinter euch“, resümierte Torlof, nachdem die anderen mit ihrer Erzählung geendet hatten. Sie saßen noch immer auf der Fläche des Wagengespanns, mit dem Torlof angereist war. Die Sonne gewann langsam an Kraft, die Kälte der Nacht schlich sich davon. Die Esel im Gespann hatten offenbar kein Bedürfnis, den Wagen allzubald wieder ziehen zu wollen. Die Gruppe hatte wegen Montys Zustand entschieden, mit der Weiterreise noch etwas abzuwarten. Torlof hatte glücklicherweise einen Heiltrank dabeigehabt, den sie Monty vorsichtig eingeflößt hatten, und seitdem versprachen sein Herzschlag und seine Atmung langsame, aber stetige Besserung. Alejandra hatte sich eine besonders unangenehm verletzte Stelle an ihrem Unterarm mit den geretteten Überresten von Sanfords Schärpe verbunden, Opolos hatte mittlerweile wieder etwas Kraft zurückgewonnen, war aber immer noch sehr müde, und Garvell litt mit seinen Schürfwunden und einer Prellung am Handgelenk ein wenig vor sich hin. Torlof hatte, das hatten sie schnell gesehen, seinen rechten Knöchel verbunden, er schien abgesehen davon aber der Fitteste unter ihnen zu sein.
    „Jetzt musst du uns aber erzählen, wie es dich hierhin verschlagen hat“, sagte Alejandra. „Monty hatte erzählt, ihr seid mit eurem Boot in den Sturm geraten?“
    „Aber hallo“, bestätigte Torlof. „Sowas habe ich auch noch nicht erlebt, und ich bin schon ein paar Jahre zur See gefahren. Ist lange her. Ja, wir waren ganz gut auf Kurs, und dann ging’s auf einmal ganz schnell. Das war ja nicht der typische Sturm, das war eine Windhose aus der Wüste. Keine Chance, sich da irgendwie drauf vorzubereiten. Und keine Chance, da dann noch was gegen zu machen. Du kannst das nur aussitzen und hoffen, dass es dich nicht von Bord wirft. Hat bei mir dann nicht geklappt. Ich bin erst ins Wasser geklatscht, und ehe ich meine Orientierung wiedergewonnen hatte, war unser Boot mit Monty schon außer Reichweite. Der hat mich dann auch gar nicht mehr gesehen, glaube ich. Ich hab’s dann auch aufgegeben, ihn einholen zu wollen, ich bin ja nicht bescheuert. Der Weg zur Küste war lang, aber gerade noch so schaffbar. Und dann, kannste dir nicht ausdenken, bin ich an Land doch tatsächlich umgeknickt. Das hatte nicht einmal viel mit dem Sturm zu tun, der war kurz danach auch schon weggezogen. Ich bin einfach so umgeknickt, und das Ergebnis könnt ihr ja jetzt hier bestaunen.“
    Torlof wies kurz auf den Verband an seinem Knöchel. Garvell wusste aus Erfahrung, wie schmerzhaft sowas sein konnte, aber den Mann, der da vor ihm auf dem Wagen saß, warf wohl nichts so schnell aus der Bahn. Außer natürlich, eine Windhose wirbelte ihn von Bord.
    „Ich habe mich dann mit kaputtem Bein nach Norden geschlagen, bis ich endlich Mora Sul erreichte. Ich gehe ja gerne zu Fuß, aber so einen beschissenen Spaziergang hatte ich meinen Lebtag noch nicht. Ab Mora Sul ging es dann aber aufwärts. Über die Leute hier in Varant kann man ja sagen, was man will, aber wenn die sich mit was auskennen, dann ist das erstens Handel und zweitens Heilkunst. Ich habe da direkt einen gefunden, der mir irgendsone Kräuterpaste auf den Knöchel geschmiert und ihn dann verbunden hat, seitdem kann ich sogar wieder ein bisschen damit auftreten. Und der wollte noch nicht einmal Gold dafür sehen. Da dachte ich ja erst, dass das dicke Ende gleich noch kommt. Aber der hat mir einfach nur gute Besserung gewünscht, und das war’s. Anständiger Kerl, wenn ich mal wieder ein Zipperlein hab, dann überlege ich echt, dafür bis runter nach Mora Sul zu reisen, und das will schon was heißen. In die Hitze kriegen mich normalerweise keine zehn Pferde. Naja, ganz ausnahmsweise tun es dann aber auch mal zwei Esel.“
    Er lachte. Garvell bekam das Gefühl, dass Torlof diese Geschichte schon die ganze Zeit irgendwem hatte erzählen wollen. Dabei hatte der blonde Hüne bei Start des Rennens – das wirkte wie Wochen her – gar nicht besonders redselig gewirkt.
    „Und dann bist du direkt hier hin weiter?“, fragte Alejandra.
    „Direkt nicht, ich musste mich ja trotzdem noch ein wenig erholen. Ich habe mir dann die Stadt etwas angeschaut. Es wurde dann auch schon langsam dunkel und ich habe mich gefragt, wie ich jetzt am besten herausfinde, was eigentlich mit Monty passiert ist. Dann bin ich am Westtor von Mora Sul aber auf einmal zwei Typen begegnet, ja, also, das wäre schon so eine eigene Geschichte für sich wert.“
    „Erzähl!“, forderte Alejandra ihn auf.
    „Kennt ihr das, wenn sich Leute möglichst unauffällig verhalten wollen, aber gerade dabei sehr auffällig sind? Genau so welche waren das, und das auch nicht ohne Grund. Die hatten einige Meter vom Westtor mit einem Wagen gelagert und irgendwas diskutiert. Und ich höre eigentlich immer nur „Dexter, Dexter, Dexter“. Bei dem Namen hat es bei mir sofort geklingelt, eigentlich gibt’s nur den einen, der so heißt. Und als die beiden dann auch noch angefangen haben, über Khorinis zu reden, dann war es klar. Zur Erklärung: Dexter befehligt auf Khorinis, nicht weit von Onars Hof, auf dem ich mal als Söldner beschäftigt war, eine kleine Gruppe von Banditen. Ich kenne den Kerl noch flüchtig aus Koloniezeiten, aber wir waren in verschiedenen Lagern. Jedenfalls war mir klar, dass die irgendwas im Schilde führten, und naja, kaum hatte ich mich in deren Gespräch eingemischt, haben die auch schon alles falsch gemacht, was man nur falsch machen kann. Erst haben die sich nach und nach verplappert, dass sie Wagen und das Pferd gestohlen haben – nicht, dass das nicht schon von Anfang an klar gewesen wäre. Und dann meinte der kleine Dicke von den beiden auch noch, mich angreifen zu müssen. Verstauchter Knöchel hin oder her, den hatte ich binnen drei Sekunden in den Sand geschickt, und dann sind beide abgehauen – ohne den Wagen.“
    Garvell musste innerlich schmunzeln. Torlof erzählte das alles, als wäre es das Normalste von der Welt gewesen. Was man eben so tagtäglich erlebte.
    „Ich habe dann einen ganz kurzen Moment überlegt, ob ich direkt mit deren Wagen losziehen soll, Richtung Westen, weil ich mangels anderer Anhaltspunkte über Montys Verbleib dachte, ich gehe dann mal beim Zielort gucken. Aber dann habe ich schon gesehen, dass die beiden Pfeifen von Dexter ihr Pferd ziemlich geschunden hatten. Ich hab das Pferd dann zurück in die Stadt geführt, das war so ein edles Tier, da hatte ich schon so eine Ahnung, wo das herkam. Der Besitzer hat sich fast ein zweites Arschloch gefreut, als ich mit dem Gaul ankam. Er wollte mir dann Gold als Belohnung geben, aber ich hab ausgehandelt, dass er mir einen Wagen und zwei Zugpferde leiht. Die Zugpferde waren dann leider nur Esel, und die sind echt nicht die schnellsten, aber besser als nichts. Tja, und dann bin ich losgezogen, mitten in der Nacht. Ich hab’s mit der Navigation nach den Sternen nicht so, vor allem nicht in dieser Gegend, aber ich bin dann irgendwann angekommen. Aber dann war die ganze Scheiße hier schon am Auseinanderfliegen. Jetzt weiß ich auch, warum.“
    „Du kannst nur froh sein, dass du nicht vor uns hier angekommen bist“, sagte Garvell. „Sonst hättest du dich mit dieser Bestie rumschlagen müssen.“
    Torlof nickte grimmig. „Ich hab bei Innos schon genug verrückten Kram mitgemacht, aber das wäre dann wahrscheinlich auch mein Ende gewesen, bei dem, was ihr so erzählt habt.“
    Ein Stöhnen riss sie aus ihrer Unterhaltung. Sofort fielen alle Blicke auf Monty. Er hatte die Augen geöffnet.
    „Monty!“, rief Alejandra und beugte sich über ihn, als wollte sie ihn noch nachträglich Mund-zu-Mund beatmen. Der Erwachte setzte sich langsam auf und blickte verwirrt um sich, als hätte man ihn gerade aus der Schlafwandelei geholt.
    „Was ist los?“, fragte er. „Torlof, du bist ja … die Bestie! Wie ist es ausgegangen? Habt ihr diese Bestie … ?“
    „Das Ergebnis des Ganzen kannst du dir dort hinten ansehen“, sagte Garvell und wies auf das Ruinenfeld. Monty folgte seinem Fingerzeig und bekam große Augen.
    „Habt … habt ihr den Schuppen so zerlegt?“
    „Ja … oder auch nein“, antwortete Garvell amüsiert. „Wenn, dann war es vor allem Opolos. Aber das erzählen wir dir am besten unterwegs.“
    Sein Blick ging zu Torlof. Der nickte.
    „Auf nach Mora Sul“, rief der Hüne und gab den Eseln einen sanften Ruck. Der Wagen rollte langsam in Richtung Sonnenaufgang.

    „Zehn Minuten noch, schätze ich, dann sind wir da“, erklärte Torlof ungefragt. Sie waren nun schon eine ganze Weile unterwegs gewesen, die Sonne ging auf ihren Mittagsstand zu, Mora Sul war schon seit längerem zu sehen. Die Esel verrichteten ihren Dienst selbst mit fünf Personen auf dem Wagen ungerührt, aber eben auch ungerührt langsam. So hatten die fünf aber Zeit gehabt, alle bisherigen Geschehnisse noch einmal Revue passieren zu lassen, wobei regelmäßige Racheschwüre Montys gegen Karl Albert Gollwitzer nicht ausgeblieben waren. Irgendwann waren sie aber in kontemplatives Schweigen verfallen, und Garvell hatte die Zeit genutzt, um zu überlegen, wie es jetzt eigentlich weitergehen sollte. Alejandra war es offenbar ähnlich gegangen.
    „Was machen wir denn, wenn wir in Mora Sul sind?“, fragte sie. „Wie geht es dann weiter?“
    „Also, ich werde erstmal wieder den Heiler meines Vertrauens aufsuchen, mich zwickt’s mittlerweile nämlich doch schon wieder am Knöchel“, bekundete Torlof, den Blick beim Fahren starr nach vorne gerichtet. „Und Monty, dich nehme ich am besten zu ihm mit. Was ihr anderen macht, weiß ich nicht.“
    „Ich glaube, einen Besuch beim Heiler können wir alle vertragen“, stimmte Alejandra zu. „Aber dann?“
    „Ich weiß es auch nicht“, gab Garvell zu. „Irgendwie stehe ich jetzt erstmal vor dem Nichts. So gesehen war das Rennen eine ganz schöne Pleite.“
    „Und dieser Gollwitzer ist vermutlich auch immer noch unterwegs“, knurrte Monty. „Normalerweise hätte ich gesagt, den jage ich, bis ich ihn kriege, aber wenn ich es mir recht überlege … der Kerl steht doch mit sonstwelcher Magie im Bunde, da kann man wahrscheinlich eher froh sein, wenn man dem nicht nochmal über den Weg läuft.“
    „Hm …“, machte Alejandra. „Ich frage mich, was jetzt in Silden los ist. Also, seine ganzen Inspekteure und so weiter. Die werden ja wohl nicht in Gollwitzers ganzen Plan eingeweiht gewesen sein, schätze ich mal …“
    Darauf sagte niemand etwas, auch wenn vermutlich alle mit ihren eigenen Vermutungen im Kopf jonglierten. Aber auch das half alles nicht bei der Frage, wie sie jetzt weiter vorgehen sollten. Also verfielen sie wieder in ratloses Schweigen. Bis …
    „Ich will nach Hause“, sagte Opolos. Die anderen starrten ihn an.
    „Jetzt nicht sofort, aber … mittelfristig, oder wie man das sagt. Ich will zurück nach Khorinis, und ich will dort meine Magierprüfung ablegen. Vielleicht schaffe ich es ja, in Mora Sul oder woanders in Varant geeignetes Akazienholz zu bekommen. Für meine Aufgabe, ihr wisst schon.“
    „Damit wird hier bestimmt gehandelt“, meinte Torlof. „Ich glaube, es gibt nichts, womit hier nicht gehandelt wird.“ Er lachte wieder.
    Opolos nickte. „Und wenn ich das dann habe, dann sehe ich zu, dass ich nach Vengard komme. Und irgendwann muss ja wieder ein Schiff nach Khorinis ablegen. Das ist mein Plan.“
    „Ich begleite dich“, sagte Alejandra nach nur kurzer Pause. „Du doch auch, Garvell, oder? Zurück nach Khorinis?“
    Der ehemalige Schiffsbauer hob die Hände in Ratlosigkeit. „Ich weiß es nicht. Hier auf dem Festland habe ich wahrscheinlich wirklich nicht viel verloren. Aber mehr oder weniger das einzige, was in Khorinis auf mich wartet, sind die Schulden bei Matteo.“
    „Na komm, das ist aber doch schon sehr pessimistisch gedacht!“, wies Alejandra ihn zurecht. „Es ist ja nicht so, als stünden wir jetzt vor dem Nichts. Das mit dem Rennen ist jetzt zwar anders gelaufen, als wir uns das vorgestellt hatten, aber … Garvell, wir sind geflogen! Wir haben es geschafft, ein funktionsfähiges Fluggerät zu entwickeln, und doch gar nicht mal ein schlechtes! Wer kann das noch von sich behaupten?“
    „Gollwitzer wahrscheinlich, bald“, gab Garvell ernüchtert zurück. „Bei dem, was er erzählt hat. Wahrscheinlich geht der nächste Woche schon mit unserer Mü in Serie, und dann hat sich das. Da haben wir doch keine Schnitte gegen. Mal abgesehen davon, dass ich nicht wüsste, wer Fluggeräte kaufen sollte.“
    „Andere reiche, alte Säcke eben“, sagte Alejandra wissend. „Und hey, klar, der Gollwitzer hat uns jetzt unsere Mü 3 geklaut. Aber dann konstruieren wir eben ein noch besseres Fluggerät, eine Mü 4! Und davon weiß der Kerl nämlich nichts! Komm schon, Garvell! Das war doch erst der Anfang! Wenn wir wollen, dann hält uns doch niemand dabei auf, noch weitere Fahrzeuge zu konstruieren. Fluggeräte, Schiffe, Wagen … oder etwas ganz anderes, das die Welt noch nicht gesehen hat! Ich würde es ja fast alleine machen, aber deine Halle am Hafen ist schon ganz praktisch. Also?“
    Garvell horchte in sich hinein. Wie so oft war das, was Alejandra sagte, von einer Überdosis Enthusiasmus getragen, aber im Kern hatte sie doch recht. Er musste ein Grinsen unterdrücken. Wenn er sie nicht hätte …
    „Ich werd’s mir überlegen“, sagte Garvell schließlich nur, aber aus Alejandras triumphierendem Lächeln konnte er ablesen, dass sie recht genau wusste, dass er sich bereits entschieden hatte.
    „Was ist eigentlich mit dir, Torlof?“, fragte Alejandra dann. „Wo willst du denn hingehen? Du kommst doch auch gebürtig aus Khorinis?“
    Der Blonde sagte eine Zeitlang nichts und konzentrierte sich auf die Fahrt. Erst nach einer Weile erhob er die Stimme.
    „Ist schon richtig“, sagte er. „Aber ich kann aus diversen Gründen nicht mehr nach Khorinis zurückkehren. Lange Geschichte. Ich weiß nicht, was ich als nächstes mache. Kämpfer werden auf dem Festland auch nicht mehr so viele gesucht wie früher. Aber ich glaube, als nächstes ziehe ich in den Norden. Da liegt mir das Klima vielleicht auch mehr.“
    Die anderen sagten nichts darauf. Sie fuhren eine weitere Weile schweigend Mora Sul entgegen. Die Sonne war nun schon wieder unerträglich heiß, als wollte sie Torlofs Bemerkungen über das Klima noch zusätzlich untermauern. In der Ferne sahen sie eine Handelskarawane, am Himmel kreisten ein paar Geier, die einfach keine Nahrung fanden.
    „Wisst ihr was“, sagte Monty dann auf einmal. „Ich komm auch wieder nach Khorinis zurück.“ Als darauf keiner etwas sagte, fuhr er fort. „Das Festland ist einfach nichts für mich, das habe ich jetzt die letzte Zeit gemerkt. Wenn es euch also nichts ausmacht, dann schließe ich mich eurem Trip nach Vengard an. Und dann wollen wir doch mal sehen, ob wir nicht ein Schiff zurück nach Khorinis finden.“
    „Zur Not baue ich selber eins“, sagte Garvell trocken. Monty sah ihm ins Gesicht, lächelte.
    „Weißt du was?“, sagte er. „Damit würde ich sogar fahren! Hast mich ja auch schon sicher aus der Kirche geschippert, habe ich gehört. Aber weißt du, wenn wir nach Khorinis zurückkehren, dann habe ich eine Bitte.“
    Garvell wurde es heiß und kalt zugleich. Damit hatte er überhaupt nicht gerechnet. Er wagte einen kurzen Seitenblick zu Alejandra, aber die starrte Monty nur ganz gespannt an.
    „Stell mich nie wieder bei dir ein.“
    Aus Garvell brach ein Lachen heraus, das er von sich selber schon sehr lange nicht mehr gehört hatte.
    „Worauf du dich verlassen kannst!“, sagte er und schlug in die ausgestreckte Hand Montys ein.
    Geändert von John Irenicus (06.10.2019 um 22:58 Uhr)

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