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    Post [Story]Laidoridas und die ominösen Stichwerkfrauen

    Laidoridas
    und die ominösen Stichwerkfrauen
    Geändert von John Irenicus (15.08.2019 um 23:12 Uhr)

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    Auf einer Anhöhe eine Plattform und auf dieser ein Raum, in den eine ansteigende Felsrampe von draußen hineinführte, die nicht einmal besonders lang war, und der Raum selbst war vielleicht gar kein richtiger Raum, denn es gab zwar Seitenwände, aber sie waren dreieckig mit scharfen Spitzen und schlossen nicht ganz ab, gaben den Blick auf die dunkle Steinwüste frei, die die Anhöhe umgab und die in der Ferne im Nichts mündete. Eine Decke hatte der Raum auf der Anhöhe eigentlich auch nicht, und so war der Sternenhimmel gänzlich freigegeben. Das orangene Licht fremder Planeten aus dem All mischte sich mit dem bläulichen Schimmern diverser Instrumente und Konsolen am Boden. Es gab nicht viel zu sehen und genau deshalb war die Beleuchtung gerade ausreichend. Ein besonders heller Stern, vielleicht der Polarstern, ließ sein Licht auf einem Visier reflektieren. Das Visier gehörte zu einem großen, runden Helm, der Helm gehörte zu einem großen, weißen Anzug, und der Anzug wiederum gehörte einem Jemand, der nun langsam auf die Rampe zu schritt. Er hätte den Anzug noch nicht tragen müssen, aber er wollte sich frühzeitig an ihn gewöhnen. Ängste, Sorgen, Wünsche und Befürchtungen überwarfen sich in ihm, von denen manche entscheidend, geradezu existentiell waren, von denen andere wiederum im Vergleich trivial schienen, dabei aber trotzdem hartnäckig in dem Orbit kreisten, den man so leichtfertig Verstand nannte. Eine Sorge davon war gewesen, dass der Anzug unbequem oder gar beklemmend sein würde. Aber das war er nicht. Der Anzug war schwer, das war alles. Ein bisschen zu schwer. Aber das war er nur auf der Erde, nicht im All.
    Am Ende der Rampe war eine Rakete aufgestellt. Nur eine weiße Rakete, kein Shuttle. Sie war nicht groß, eher klein. Sie ragte auf in der Höhe zweier erwachsener Menschen und war dabei in etwa so breit wie ein geräumiger Fahrstuhl. Gehalten, nein geführt wurde sie von einem Gestell, das sicherlich aus Stahl, dabei aber so dünn wie Draht war. Von weiter weg konnte man es für eine Kunstinstallation halten. Ebenso machten die endlosen, dunklen Weiten rund um die Plattform und das Sternenfirmament, das alles zusammenhielt, eher den Eindruck von Darstellungen in einem Planetarium als den eines wirklichen, wahrhaftigen Ortes. Eine Projektion oder ein Bild, futuristische Fantasien eines unbekannten Malers. Aber egal, wie es aussehen oder erscheinen mochte: Dieser Ort war echt, es gab ihn.
    Die Klaviermelodie aus der Ferne war dagegen reine Einbildung. Wenn sie überhaupt irgendwoher kam, dann aus der Ferne seines eigenen Gedächtnisses. Es war nicht schlecht und auch nicht das erste Mal, dass in seinem Kopf Melodien erwachten, wenn der Moment es erforderte. Wenn er sie benötigte, um Nervosität in souveräne Anspannung oder Langeweile in geheimnisvolles Abwarten umzudeuten. Es war die musikalische Untermalung in seinem Kopf, die so manches Geschehen erst aushaltbar machte.
    Die Melodie dieses Mal aber klang nach Abschied. Und das, obwohl er längst alleine war. Er war allein an die Startrampe gekommen und würde sie auch allein wieder verlassen. Kein Mensch würde sein Verschwinden bemerken, kein Mensch würde Notiz davon nehmen, wie er in die Rakete steigen und wenige Augenblicke später gen Sternenhimmel hinauffahren würde. Und so würde eine spektakuläre Reise ins All zum allerersten Mal ein heimlicher Akt sein, die versteckte Tat eines Einzelnen, so unbemerkt und banal wie ein nächtlicher Spaziergang. Still, ruhig und im Dunkeln. Für die Reise ins All benötigte er keine fremde Hilfe und keine Beobachter. Sobald er in die Kapsel getreten sein würde, würde sich die Tür hinter ihm schließen und der Start würde beginnen. Das Steuern würden die Maschinen übernehmen, alles war vorbereitet.
    In diesem Moment wurde ihm erst so richtig klar, wie wenig Bedeutung es hatte, dass er diese Reise am liebsten gar nicht unternommen hätte. Aber er musste sie unternehmen, er musste in diese Rakete steigen und ins All, denn es gab niemand anderen, der es machen konnte oder wollte. Niemand anderen, der überhaupt wusste, worum es hier ging. Vielleicht hätte es, unter anderem Umständen und einem anderen Verlauf der Dinge, jemanden gegeben. Dann stünde er jetzt nicht im Raumanzug vor der versiegelten Einstiegsluke der Rakete, dann wäre er jetzt nicht in dieser dunklen, verlassenen Steinwüste, sondern irgendwo ganz anders, wo die Welt noch hell war. Und jemand anderes wäre an seiner Stelle.
    Er atmete noch einmal tief in sich und seinen Anzug hinein. Die ganzen hypothetischen Geschehensverläufe, die er durchspielte, brachten nichts, nicht einmal Trost. Es war jetzt an ihm. Wenn er die Einstiegsluke der Rakete öffnen, sich hineinsetzen und die Luke wieder schließen würde, dann würde das automatische Startprogramm das entscheidende Signal bekommen. Es würde alles funktionieren, denn das hier war Technik, die nicht versagte. Der einzige, der versagen konnte, war er selbst. Aber was immer ihn dort oben auch erwartete – er würde alles daran setzen, seine Mission zu einem erfolgreichen Ende zu führen.

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    Deus Avatar von John Irenicus
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    Ein Strudel riss alles fort. Einen Augenblick später lief kühles Nass aus einem Wasserhahn, mit dem Laido nicht nur seine Hände, sondern auch die Handgelenke benetzte, denn er hatte vor langer Zeit mal in einem Arztwartezimmer in der Apotheken-Umschau gelesen, dass das bei heißem Wetter besonders wohltuend war. Und es war heiß, äußerst heiß, schon seit Wochen. Laido sah kurz in den Spiegel. Seine Haare klebten leblos an seiner Stirn, seine Haut hatte bereits ein paar kleine Pickel gebildet, wo er sich kurz zuvor noch rasiert hatte. Das war die hohe Luftfeuchtigkeit. Das dauerfeuchte Badezimmer machte es nicht besser. Ein Blick in die Ecke über der Dusche. Der Schimmel war nicht weiter gewachsen, aber vielleicht sollte er etwas gegen ihn tun, bevor er sich weiter ausgebreitet hatte, und nicht erst danach. Sonst war das Badezimmer schön: Hell, freundlich, und er hielt es strikt sauber. Ans Bad hatte er sich bei seinem Einzug ins Apartment am schnellsten gewöhnt. Vieles andere ließ dagegen bis heute auf sich warten und würde vielleicht auch niemals kommen.
    Laido trat aus dem Badezimmer in den Flur. Es war eigentlich kein wirklicher Flur, allenfalls ein Gang. Laido dachte darüber als den Rest zwischen den Räumen. Der Teil an Wohnfläche, der von den anderen Zimmern zerstückelt war und keinen Platz mehr für einen eigenen Raum ließ, sondern allenfalls für die schmale Garderobe mit dem kleinen Fach für seine Schuhe und die größtenteils unbenutzte Kommode. Der Bodenbelag war PVC in Holzoptik. Das war eine der Sachen, an die sich Laido wohl nicht gewöhnen würde, denn es sah hässlich aus und fühlte sich hässlich an. Aber es war ja nur der Flur.
    Das Wohnzimmer lag im Halbdunkel, als er es betrat, aber das war nicht immer so und in diesem Falle außerdem gewollt. Laido mochte dieses schummerige Licht zwar nicht, aber die Rolladen herunterzulassen war die einzige Möglichkeit, wenigstens ein bisschen der Hitze draußen zu halten. Dennoch war es im Wohnraum viel zu warm, und die hohe Luftfeuchte machte es hier drin auch einen Tick muffig.
    Sein Blick streifte den hellen runden Tisch, der in etwa in der Mitte des Raumes stand und um den herum eine kleine Sitzgruppe drapiert war, bestehend aus einem Sessel, einem Stuhl und einem Sofa, die alle drei nicht zusammenpassten. Dafür sah es aufgeräumt aus, als wäre Laido erst vor einem Tag hier eingezogen. Er selber saß lieber an seinem Schreibtisch, und andere Leute lud er nicht ein – er wollte das nicht und durfte das auch gar nicht. Während dieser Umstand bei anderen Leuten in anderen Wohnungen der Freifahrtsschein für endloses Chaos gewesen wäre, war die Konsequenz hier in Laidos Behausung unberührte Ordnung. Es kam selten genug vor, dass er überhaupt einmal ein Glas auf diesem Tisch abstellte.
    Die Dielen knarzten, als Laido zu seinem Schreibtischstuhl herüberging, und dieser wiederum machte ein, zwei dumpfe Geräusche, als er sich auf ihm niederließ. Dann ein anderes Geräusch, ein Rollgeräusch: Schublade auf. Der Blick ging kurz an die Pinnwand, an der ein Zettel hing, auf dem Laido das WLAN-Passwort hatte notieren wollen, bevor man ihm gesagt hatte, dass es hier kein WLAN gab. Kein WLAN, aber doch so etwas wie Internet. Hier lief alles ein bisschen anders, doch immerhin lief es.
    Seinen Laptop benötigte Laido gerade aber nicht. Stattdessen zog er ein blau-weißes Schreibheft hervor, das auch hier, wie in Deutschland, Collegeblock genannt wurde, obwohl es zumindest in Deutschland gar keine Colleges gab. Laido war dazu übergegangen, wichtige Dinge handschriftlich niederzulegen, und man hatte es ihm für manche Dinge sogar besonders angeraten.
    So zum Beispiel für sein Traumtagebuch. Zu führen handschriftlich und am besten nicht allzu lange nach dem Aufstehen, weil die Traumerinnerung sonst verfloss oder verfälscht wurde. Deshalb hatte Laido bereits einen der vielen Kugelschreiber aus dem grauen Döschen vom Schreibtisch geangelt und die linierten Seiten des Blocks aufgeschlagen. Die Nummer des Tages notiert, dann das Datum an den Rand, beides unterstrichen mithilfe einer kleinen Pappe, die er sich in Ermangelung eines Lineals entsprechend zurechtgeschnitten hatte. Hatte er sich anfangs noch zumindest innerlich dagegen gewehrt, seine persönlichen Träume niederzuschreiben, um sie dann mit jemand anderem zu besprechen, so genoss er jetzt zumindest den Akt des Schreibens selbst, denn er schien ihn innerlich aufzuräumen.
    Laido hatte eine Zeile unter Datum und Tagesangabe freigelassen und wollte den Stift gerade wieder aufsetzen, da klopfte es an der Tür. Zweimal ans Türblatt, einmal sachte gegen das kleine Milchglasfenster am oberen Ende. Laido erkannte das Klopfen.
    Er drückte einmal auf den Kugelschreiber – er mochte es nicht, wenn Leute Kugelschreiber offen herumliegen ließen – und stand auf. Den Block ließ er geöffnet, er hatte eine neue Seite angefangen, da stand also nichts weiter, was jemand beim Drüberschauen hätte lesen können. Als er an der Tür seines Apartments war, begann sein Besucher erneut mit dem Klopfsignal, aber Laido unterbrach es mittendrin, indem er öffnete.
    „Laido, ich grüße dich!“, sagte der mittelgroße Mann mit den mittelkurzen, schwarzen Haaren. Sie waren leicht lockig und mit etwas Gel gezähmt und zurückgekämmt. Sein Gesicht – sonnengebräunter Teint auf ohnehin schon naturbrauner Haut – verzog sich zu einem gewinnenden Lächeln, das kleine Muttermal auf dem Nasenrücken tanzte dabei auf und ab.
    „Hallo, Andrés“, begrüßte Laido ihn, wie immer ohne Handschlag, das war zwischen den beiden so üblich. Er machte einen kleinen Schritt zur Seite und ließ Andrés an ihm vorbei. Es war ein eingespieltes Ritual, sie machten das nicht zum ersten Mal. Während Laido die Tür wieder verschloss – er musste sich beim Zumachen von innen einmal kräftig an genau der richtigen Stelle mit der Hüfte gegenstemmen, damit sie einrastete, andernfalls hätte er sie zuknallen müssen – war Andrés bereits in die Mitte des Wohnzimmers geschritten. Dort blieb er wie angewurzelt stehen. Andrés hatte sich hier noch nie gesetzt, wahrscheinlich setzte er sich nie irgendwo hin, er war einfach ein Steher.
    „Schön warm hier“, sagte er und meinte es vermutlich ernst. Die Dielen bogen sich unter seinem Gewicht. Man sah es Andrés nicht an, doch er musste sehr schwere Knochen haben.
    Andrés Fabián Isidro. Das war sein voller Name, und bei Isidro hatte Laido natürlich aufgemerkt, als man sie einander vorgestellt hatte. Mittlerweile sah er über diese und andere Zufälle aber mit großer Gelassenheit hinweg.
    „Was gibt’s denn?“ Erst jetzt bemerkte Laido, dass Andrés eine unscheinbare Plastiktüte mit sich trug, die wie festgewachsen an seiner Hand war.
    Andrés, der auf die Rolladen geschaut hatte, wandte sich zu Laido um und lächelte. Er war ein gutaussehender Typ, aber nicht so spektakulär gutaussehend, dass er unter den anderen jungen Männern in Argentinien zu sehr aufgefallen wäre.
    „Eigentlich nichts“, sagte er. „Ich habe nur ein paar Besorgungen gemacht, und ich dachte mir, ich schaue auf dem Weg zurück einfach mal bei dir vorbei.“
    „Du schaust einfach mal bei mir vorbei“, wiederholte Laido skeptisch. „Das machst du doch sonst nie.“
    Andrés zuckte mit den Schultern. „Einmal ist immer das erste Mal. Wenn es dich stört …“
    „Nein, es stört mich nicht“, sagte Laido, und das stimmte, denn er hatte Andrés von Anfang an zwar als etwas zu geheimnisvolle, aber doch sehr angenehme Person empfunden. Andrés arbeitete für die gleichen Leute wie er, hatte dabei aber nicht spezifisch mit Laido und seinen Tätigkeiten zu tun, was für Laido sehr entlastend war. Andrés wusste Bescheid, ohne aber zu viel Bescheid zu wissen, er sprach, ohne zu viel nachzufragen und konnte einen so ganz nebenbei auch mal aufmuntern. Andrés war Bote, Kurier und Organisator in einem, das brachte ganz automatisch eine gewisse Diskretion mit sich. Er hatte auch dabei geholfen, Laidos Apartment einzurichten.
    „Was für Besorgungen denn?“, fragte Laido dann, bevor das Schweigen zu lang wurde.
    „Für Gomi“, antwortete Andrés nur.
    „Ich ahne Schlimmes“, entgegnete Laido mit halb gespieltem, halb ernstem Befürchten. „Ich habe heute noch Sitzung bei ihm. Kannst du ihm nicht sagen, du hättest die Räucherstäbchen diesmal nicht bekommen?“
    Andrés grinste breit und stumm, das war seine Art zu lachen, und selbst die war diskret.
    „Fürs Lügen bin ich nicht geschaffen.“
    „Na komm, einmal ist immer das erste Mal …“
    Laidos Blick schweifte auf die Tüte in Andrés' Hand. Sie war weiß, es hätte alles Mögliche in ihr drin sein können. Eine Ausbeulung an ihr aber war unverkennbar.
    „Du hast auch Toilettenpapier gekauft“, stellte Laido fest. „Kannst du mir da vielleicht eine Rolle abgeben? Ich habe zwar noch welches, aber ich habe lieber eine etwas größere Reserve im Haus, weißt du?“
    Jetzt setzte Andrés seinen skeptischen Blick auf.
    „Spielt deine Verdauung denn etwa immer noch verrückt? Wie lange bist du jetzt schon hier? Einen Monat, zwei Monate, noch länger? Solltest du dich da nicht … wie sagst du immer? Akklimatiert haben?“
    „Naja … meine Verdauung ist jetzt eher ein seltsames Gesprächsthema, oder?“
    „Ich mein ja nur. Laido, nichts für ungut, aber der ganze Kram hier ist für Gomi. Morgen oder übermorgen gehe ich für dich einkaufen, da packe ich dir extra nochmal was ein, in Ordnung? Wenn du sagst, du hast ja noch welches …“
    „Ja, ja, ist gut“, lenkte Laido ein. „War nur so ein Gedanke. Aber wenn ich dann noch eine Bestellung aufgeben dürfte: Bitte ein Ventilator. Es ist hier kaum auszuhalten.“
    Andrés sah sich ein wenig im Raum um, als wüsste er nicht, was es hier nicht auszuhalten gäbe, nickte dann aber. „Ich werd' sehen, was sich machen lässt.“
    „Danke.“
    Sie schwiegen eine Weile. Laido steckte die Hände in die hinteren Taschen seiner Hose und machte mit den Beinen ein paar Verlegenheitsdehnübungen. Andrés stand einfach weiterhin starr im Raum herum. Als Laido gerade noch etwas sagen wollte, nichts Wichtiges, brach sein Besucher die Starre wieder.
    „Dann geh ich mal hoch“, kündigte Andrés an.
    „Mach das.“
    Andrés lächelte ihm zu, stapfte in den Flur zur Tür und verließ die Wohnung wieder. Es war ein seltsamer Besuch gewesen, aber mit Andrés wurde es gerne mal etwas seltsam. Laido mochte ihn, keine Frage, aber er kannte ihn gar nicht so richtig. Andrés hatte eine Art, jegliche Fragen, die andere Leute über ihn hatten oder haben könnten, von ihm abzuschirmen, noch bevor sie überhaupt ausgesprochen waren, vielleicht sogar bevor sie überhaupt gedacht waren. Wahrscheinlich war das auch Teil seines so diskreten Verhaltens. Andrés war wirklich wie gemacht für seine Tätigkeit.
    Obwohl sie gar nicht so viel gesprochen hatten, kam es Laido mit Andrés Abwesenheit nun auf einmal sehr still vor. Er hatte das schon häufiger erlebt. In seinen bisherigen Wohnungen war es immer still gewesen, er war nunmal kein lauter Mensch, aber immer, wenn dann doch mal jemand bei ihm gewesen war, wirkte es nach dem Ende des Besuchs noch einmal viel stiller. Oder anders still, es war immer eine andere Stille, ein anderes Schweigen als zuvor.
    Laido schüttelte den Gedanken ab und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Sein Blick fiel auf seinen Schreibtisch. Ihm wurde mal wieder nachdrücklich bewusst, warum Gomi so sehr darauf beharrte, dass Laido seine Träume möglichst direkt nach dem Aufwachen niederschrieb: Jede Minute, die seit dem Ende des Traums verging, noch dazu solche, in denen man sich mit ganz anderen Sachen beschäftigte, drohte die Erinnerung zu verfälschen, zu verkleinern oder sogar gänzlich auszuradieren. Laido hatte von Gomi zwar gewisse Techniken beigebracht bekommen, um die Träume zu erhalten und seine Erinnerungen zu bewahren, aber ganz immun war er gegen den natürlichen Erinnerungsverlust nicht. Und so fiel es ihm jetzt schon schwer, die vielen kleinen Details seines Traums zusammenzubekommen. Das Grundgerüst seiner Erinnerung stand aber noch, und wenigstens das wollte er zu Papier bringen.
    Laido hatte sich gerade wieder vor seinem Schreibtisch niedergelassen, als ihn ein merkwürdiges, fremdes Geräusch zusammenfahren ließ. Er dachte zuerst an eine Art Hausalarm, wohlwissend, dass es so etwas in diesem Gebäude vermutlich gar nicht gab. Dann klingelte es bei ihm – im wahrsten Sinne des Wortes. Das Geräusch kam ihm so merkwürdig vor, weil er ewig keinen Anruf mehr bekommen hatte. Laido nahm den weißen Hörer ab.
    „Hallo?“
    „Hey, Tommy, bist du das?“
    Laido erkannte die Stimme sofort.
    „Darauf darf ich doch gar nicht antworten, wurde mir gesagt. Ich soll mich doch extra nicht mit meinem Namen melden.“
    „ … Ja, war nur ein Test! Hey, Tommy, ich bin es, Jacob! Schön, dich mal wieder zu hören!“
    „Das sagt der Richtige“, antwortete Laido mit milder Verärgerung. Wäre es ihm nicht so drückend warm gewesen, er hätte Lust gehabt, etwas von seinem angestauten Zorn hochkochen zu lassen. Jacob war, kurz nachdem er Laido nach Argentinien gebracht – oder besser gesagt entführt – hatte, spurlos verschwunden. Er hatte ihn mit diesen Leuten zurückgelassen, mit Andrés und diesem Gomi und zwischenzeitlich noch anderen, fremde Leute, teils welche, mit denen er sich nicht einmal richtig verständigen konnte. Erklärt hatte man ihm nur das Nötigste, und vor allem hatte man ihm über die Rolle Jacobs in dem Ganzen unklar gelassen, und ein ums andere Mal hatte Laido das Gefühl gehabt, sie wollten Jacob bewusst schützen. Mittlerweile hatte Laido herausbekommen, dass Jacob irgendwie für diese mysteriöse Organisation arbeitete, aber in welcher Funktion genau und ob er ihr überhaupt wirklich angehörte, das wusste er nicht. Laido war sich nicht einmal sicher, ob dieses Gebilde, das irgendwo zwischen Unternehmensmafia und esoterischem Zirkel anzusiedeln war, derartige Hierarchien überhaupt kannte. Alles war lose, alles war im Fluss, verbindlich unverbindlich. Wenn Laido es sich recht überlegte, dann war es kein Wunder, dass Jacob gerade mit diesen Leuten angebandelt hatte.
    „Hey, Tommy, das tut mir ja auch leid, dass es so laufen musste, und ich bin auch gerne bereit, mich von dir zu gegebener Zeit dafür ordentlich zur Sau machen zu lassen, aber es gibt jetzt Wichtigeres!“
    „Achja?“
    „Ja, hör zu! Hast du gerade den Fernseher laufen?“
    Laidos Blick glitt zum kleinen dunkelgrauen Röhrenfernseher auf dem ältlich daherkommenden Teakholz-Schränkchen. Er hatte ihn nur einmal angehabt und dann schnell wieder ausgemacht. Es war natürlich alles auf Spanisch gewesen, Spanisch, wie man es in Argentinien sprach, und da war Laido mit seinem längst vergessenen Schulspanisch aus der Mittelstufe natürlich nicht mitgekommen.
    „Nein, wieso? Soll ich ihn anmachen?“ Laido drückte ihn an, suchte nach der Fernbedienung, erinnerte sich dann aber, dass lediglich die Knöpfe am Fernseher selbst funktionierten. Es war eine hakelige Angelegenheit, das Telefon war nicht kabellos und der Hörer reichte nicht weit.
    „Ja, schalt mal schnell auf Canal 7, den müsstest du auf jeden Fall empfangen. Die haben da gerade in so eine Menschenmenge reingefilmt wegen irgendwas Belanglosem, und dann war da ein Café und …“
    „Auf welchem Programmplatz denn?“, fragte Laido dazwischen. Es gab neunundneunzig auf diesem Fernseher, aber außer einer Wettervorhersage und einer Kochshow war Laido bisher nur auf Schnee und Rauschen gestoßen.
    „Das weiß ich doch nicht, ist das dein Fernseher oder meiner? Probier mal die eins, ansonsten … ja, sieben halt. Aber … verdammt.“
    „Was ist denn?“, fragte Laido, während er immer hektischer durch die Programme schaltete.
    „Jetzt ist es gerade wieder weg, jetzt geht es um irgendwelche Bars und sie befragen Leute zu irgendwas. Mein Spanisch ist auch nicht das allerbeste. Aber warte, vielleicht zeigen sie ihn gleich nochmal. Canal 7, hörst du? Vielleicht zeigen sie ihn nochmal.“
    „Wen denn?“
    Es folgte eine Weile, in der Jacob nichts mehr sagte und Laido stumm und rhythmisch auf den Programmwahlknopf am Fernseher drückte. Es war hartes Plastik, es klackerte immer, wenn es eins weiterschaltete.
    „Was zeigen sie denn jetzt gerade?“, fragte Laido dann. „Hier ist sowas mit Bars oder so ähnlich. Und … so Frauen. Wen hast du denn gesehen?“
    „Nein, ist schon vorbei, sie zeigen ihn nicht mehr“, schrachelte es durch den Hörer. „Mist.“
    „Wen denn, verdammt nochmal?“
    Geraschel am anderen Ende der Leitung, dann ein versehentliches Pusten in die Sprechmuschel.
    „Tommy, ich glaube, sie haben Daniel gezeigt. Er ist hier.“
    „Was?“
    „Du selber wirst es am besten beurteilen können. Pass auf, ich habe sofort auf Aufnahme gedrückt, als sie ihn zum ersten Mal gezeigt haben, danach kam er noch ein paarmal, ich überspiele das Video bis heute Abend und sende es dir dann, okay?“
    „Wo bist du denn eigentlich? Wenn du argentinisches Fernsehen schauen kannst, bist du doch wohl hier? Kannst du nicht -“
    „Sorry Tommy, ich muss jetzt wirklich los. Wir sprechen uns später, okay? Schau dir das Video heute Abend an, ich melde mich dann die Tage nochmal. Adiós!“
    „Jacob, ich -“
    Freizeichen. Laido nahm den Hörer vom Ohr und starrte ihn verärgert an, stellvertretend für Jacob. Der Hörer war gar nicht richtig weiß, er war nur mal weiß gewesen und war in ein unappetitliches Beige nachgedunkelt. Laido bekam eine leichte Gänsehaut beim Gedanken, dass er sich dieses Ding, das vielleicht schon an hundert fremden Gesichtern geklebt hatte, an sein Ohr gehalten hatte. Aber an sowas musste er sich in dieser Wohnung wohl gewöhnen.
    Er legte den Hörer auf und hielt sich davon ab, zu einem der bereitgelegten Desinfektionstücher zu greifen. Ein bisschen musste er mit ihnen haushalten, außerdem hatte er damals bei seinem Studentenjob an der Universität – all das schien ihm gerade so fern zu sein, wie aus dem Leben eines anderen erzählt – eine Kollegin gehabt, die derart vehement mit flüssigem Desinfektionsmittel agiert hatte, dass es auf ihrem beständig feuchten Schreibtisch erst angefangen hatte zu schimmeln und sie schließlich an ihren Händen einen furchtbaren Ausschlag bekommen hatte. Auf so etwas konnte Laido gut verzichten.
    Jacob Martini. Der Mann, der ihn erst in diese Lage gebracht hatte. Auch eine Studienbekanntschaft, bei der er damals natürlich gar nicht abgesehen hatte, welche Rolle sie später noch für sein weiteres, sein anderes, sein neues Leben haben würde. Jacob, damals Jurastudent und nun schon seit einiger Zeit Anwalt, war derjenige, der ihn aus dem Gefängnis befreit hatte. Aber er war auch derjenige, der ihn in diese neue Lage gebracht hatte, gegen oder besser gesagt ohne seinen Willen. Laido scheute sich davor, hier nun auch von einem Gefängnis zu sprechen, denn seine paar Tage in Untersuchungshaft in Deutschland waren eindrucksvoll genug gewesen, um ihn wissen zu lassen, dass eine Wohnung niemals ein Gefängnis war. Und wenn Jacob ihn nicht nach Argentinien gebracht hätte, dann säße Laido vielleicht immer noch oder schon wieder in Untersuchungshaft, wenn nicht sogar aufgrund einer Verurteilung wegen Mordes lebenslang im Knast. Von daher konnte er nur froh sein, dass er gerade in einer Behausung saß, bei der die Tür auch von innen eine Klinke hatte. Nur: Wirklich frei fühlte er sich hier eben auch nicht.
    Laido war nicht nur in Gedanken, sondern mittlerweile auch insgesamt ein wenig in sich zusammengesunken. Er hockte auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch, den Blick auf die kahle Tischplatte gerichtet, und massierte sich die Schläfen. Hätte ihn jetzt jemand beobachtet – und trotz gegenteiliger Beteuerungen Andrés' hatte Laido noch immer nicht ganz ausgeschlossen, dass irgendwo in dieser Wohnung Kameras zu seiner Überwachung installiert waren –, dann hätte Laido wohl ein ziemlich verzweifeltes, vielleicht sogar jämmerliches Bild abgegeben. Beobachtung hin oder her: Das wollte er nicht. Er setzte sich auf und erinnerte sich daran, dass er ja noch sein Traumtagebuch fortführen musste. Er hatte den Schreibblock gerade wieder zu sich herangezogen und suchte nun nach dem Kugelschreiber, da streifte sein Blick die digitale Anzeige des kleinen Geräts hinten am Schreibtisch, das manche hochtrabend Wetterstation nannten. Die Temperaturanzeige hatte bereits den Geist aufgegeben und war bei unrealistischen 21,5 Grad Celsius stehengeblieben, aber die 67% Luftfeuchtigkeit passten locker. Was Laido aber vor allem interessierte, war die Uhrzeit. In einer Minute hatte er Sitzung, oben im siebten Stockwerk bei Gomi. Hektik stieg in Laido auf. Ihm war nicht wohl, wenn er daran dachte, wie sehr er schwitzen würde, wenn er die Treppen hochhetzte – der Aufzug im Haus war defekt und wurde nicht mehr instand gesetzt. Zu spät kommen wollte er aber auch nicht. Er packte den Block, suchte noch schnell seinen Wohnungsschlüssel, fand ihn in dem kleinen Tonschälchen im Flur auf der Kommode und eilte dann hinaus.
    Geändert von John Irenicus (18.08.2019 um 22:29 Uhr)

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    John Irenicus ist offline
    Ob er das denn nicht noch etwas weiter ausführen könnte, hatte er ihn gefragt, und Laido starrte in seine Notizen. Nach einer relativ ausführlichen Einleitung standen dort nur noch Stichworte, teils sogar abgekürzt, als hätte er sich für den Inhalt gesschämt. Der Grund für die Vulgärstenographie lag in der kleinen Restangst, dass doch mal jemand anderes als er selbst einen Blick in seinen Notizblock nehmen würde, und dann sollten diesem fremden Blick wenigstens nicht sofort alle Details offenliegen. Laido selbst verstand den Inhalt der kryptischen Notizen aber noch. Der Traum war vielleicht eine Woche her, aber die besonders eindringlichen Szenen kehrten beim Anblick einiger Stichworte vor sein inneres Auge zurück. Nur: Das wollte Laido dem Mann im Anzug nicht verraten.
    „Es … ist nur noch schemenhaft vorhanden“, sagte Laido und blickte sein Gegenüber so neutral wie es ihm möglich war an. Gomi Naris, sein Mentor, Ausbilder und Gesprächspartner, ruhte in gewohnter Pose auf dem zerknautschten, blauen Sitzsack und blickte zurück, er dabei so neutral wie nur überhaupt einem Menschen möglich. Seine Augen waren blau, aber es war ein helleres Blau als der Stoff des Sitzsacks, ein Stahlblau, obwohl Stahl eigentlich nie blau sondern immer nur grau oder vielleicht silbern war. Gomi Naris hatte etwas Guruhaftes in seinem Wesen. Die Blicke, die Haltung, die ruhige, tiefe Stimme. Die Angewohnheit, die Augen beim Zuhören zu schließen, die Pausen beim Sprechen. Die farbenfrohen Bilder an der Wand, Mandalas und Wasserfarbspiele, textile Gegenstücke zu alten, ausgewaschenen Batik-Shirts. Der Gesprächsraum war klein, kahl, freigehalten von störenden Einflüssen. Die Luft geschwängert von dünnen Rauchfäden, ausgehend von einer kleinen Feuerschale, in der gleich drei Räucherstäbchen auf einmal gemächlich vor sich hin brannten. Das einzige, was das guruhafte Auftreten des Mannes konterkarierte, war dieser graue, biedere Straßenanzug. Zweiteilig und ein bisschen zu groß für den schlanken Mann, ohne Nadelstreifen, kombiniert mit einem hellblauen Hemd, mal offen, mal hochgeschlossen, selten mal mit einem nichtssagenden Schlips. Gomi Naris sah aus wie ein Banker in der Mittagspause, aber er war ein Traumdeuter bei der Arbeit.
    „Dann beschreib mir wenigstens die Schemen“, forderte er nach längerem Schweigen. „Der Traum könnte wichtig sein.“
    Das sagte Naris ständig. Der, die, oder das könnte wichtig sein. Aber dann schien es doch gar nicht wichtig zu sein. Sie stocherten seit Wochen im Trüben. Laidos Träume hatten an Intensität verloren. Sie waren nicht das, wonach Gomi Naris suchte. Und auch dieser spezielle Traum, in den sich sein Gesprächspartner eingraben wollte, war nicht wichtig, sehr sicher nicht. Es war ein Allerweltstraum. Intim zwar, aber nur ein ganz normaler Traum, wie ihn auch jeder andere junge oder alte Mann hätte haben können. Ein Mosaik aus Versatzstücken unerfüllter Wünsche, nichts weiter. Er hatte nichts mit Laidos vermeintlichen Fähigkeiten zu tun, nichts mit anderen Welten, ein Traum ohne Wirkung. Schlicht ein weiterer Vertreter aus einer Reihe völlig harmloser Träume, nicht viel echter als ein Videofilm.
    „Was ist passiert, als du der Frau ins Haus gefolgt bist? Hatte die Frau einen Namen? Gab es eine Adresse?“
    Eine Adresse hatte es im Traum nicht gegeben, aber natürlich hatte die Frau einen Namen gehabt. Aber wichtig war der Name nur für Laido selbst. Auch wenn es nicht die echte Melanie im Traum gewesen war, also nicht einmal ein täuschend echtes Abbild. Es war eine andere Frau gewesen, aber es war genau das passiert, was er sich gewünscht, wovor er sich aber auch ein kleines bisschen gefürchtet hatte. Aber es war nur ein Traum gewesen, nicht einmal luzid, und damit weit jenseits der Grenze, welche die bedeutenden von den unbedeutenden Träumen schied.
    „Ich glaube nicht, dass das wichtig ist“, sagte Laido bestimmt. „Ich weiß auch nicht mehr, was weiter passiert ist. Es sind nur Fragmente. Irgendetwas mit Kaffee, dabei trinke ich den gar nicht gerne. Das war reine Privatsache.“
    Laido hatte Naris schon oft genug gegenüber gesessen, um hinter die Fassade des ewig ruhenden Gurus schauen zu können. Aber dieses Sonderwissen war nun gar nicht nötig, denn dieses Mal machte Naris aus seiner Verstimmung gar keinen Hehl.
    „Diesen Satz habe ich die letzten Tage viel zu häufig gehört“, sagte er, und sein Bariton dröhnte von den nackten, weißen Wänden des Kämmerchens wider. „Es kann nicht sein, dass auf einmal alles Privatsache ist.“
    „Es ist ja auch nicht alles Privatsache“, erwiderte Laido. „Aber wir haben eine Abmachung. Wenn die Träume Privatsache sind, dann gehen sie dich nichts an. Dich nicht und die Organisation erst recht nicht. Ich werde dazu also nichts sagen.“
    Derart offene Widerworte hätte er sich anfangs niemals getraut, aber nachdem er mehr und mehr verstanden hatte, dass er, Laido, offenbar sehr wichtig für die Organisation war, wusste er in etwa, was er sich erlauben konnte. Und jemanden aus den eigenen intimen Träumen heraushalten zu wollen, das war nun wirklich Grund genug, widerständig zu sein.
    „Wir haben in der Tat eine Abmachung. Aber die Abmachung kann nur im Zusammenhang mit unserem gemeinsamen Ziel gesehen werden. Wir wollen etwas von dir. Aber du willst auch etwas von uns. Wenn du dich vor mir verschließt, werden wir unsere gemeinsamen Ziele nie erreichen. Und mir drängt sich schon seit einiger Zeit der Eindruck auf, dass du mehr Träume zu reinen Privatsachen erklärst als in Wahrheit gerechtfertigt ist. Weil du dich nicht weiter öffnen willst. Damit überstrapazierst du unsere Abmachung.“
    „Ich überstrapaziere nichts. Ich kann das schon unterscheiden, was wichtige und was unwichtige Träume sind. Ich habe es dir erklärt. Der Traum im Hotel, der Traum mit dem Radfahrer, die hatten eine ganz andere Qualität. Das sind die Träume, die Wirkung haben können. Und genau nach diesen Träumen suchen wir doch! Die meisten Träume, die ich habe, sind einfach nur Träume. Und ja, vieles davon ist Privatsache. Ich sage schon Bescheid, wenn ich einen Traum habe, der irgendwie anders ist. Ich würde deswegen wahrscheinlich sofort nach dem Aufwachen zu dir rennen. Aber ganz ehrlich und bei allem Respekt und Dank dafür, dass du nicht nur der Organisation helfen willst, sondern auch mir: Ich glaube nicht, dass es etwas bringt, mit dir irgendwelche Nullachtfuffzehn-Träume durchzukauen. Du kennst diese Träume nicht, du weißt nicht, wie sie sich anfühlen. So sehr du mir helfen willst, aber letzten Endes bin ich beim Erkennen auf mich allein gestellt. Ich sage dir dann schon Bescheid. Aber dein Nachbohren … wie gesagt, bei allem Respekt! Aber du wirkst da etwas ahnungslos.“
    Während Laido gesprochen hatte, hatten sich die Augen von Naris fast unmerklich verengt. So musste bei diesem Mann, der sonst so ausgeglichen daherkam, echte Verärgerung aussehen.
    „Ahnungslos“, sagte er, und machte einer seiner vielen Sprechpausen. „Ahnungslos ist das richtige Stichwort.“ Ein Hauch von Schärfe hatte sich in seine Stimme gemischt. „Meinetwegen. Wenn es um das große Ganze geht, dann sind wir alle ahnungslos. Aber glaub mir, du steckst noch viel tiefer im Strudel der Ahnungslosigkeit als ich.“
    „Weil ihr mir nichts verratet!“, entgegnete Laido auf einmal sehr aufgebracht. „Wie soll ich bei eurer Geheimnistuerei auch verstehen, worum es hier eigentlich geht?“
    „Das meine ich nicht!“, wies Naris ihn zurecht. „Ich meinte schon die Träume. Wie kommst du denn eigentlich zu dem Schluss, dass ich keine Ahnung von ihnen habe? Von den speziellen, wirkungsvollen Träumen? Von den Träumen, die dich die Welt verändern lassen können? Vom Übertritt in andere Welten? Von Reisen durch Zeit und Raum? Junge, ich könnte dir Sachen erzählen, da würden dir noch im Sitzen die Knie schlottern. Selig sind sie, die Ahnungslosen. Aber du sitzt vor einem Mann, der die Ahnungslosigkeit schon vor Jahren verloren hat. Ich könnte dir Sachen erzählen, ich -“
    Ein Klopfen ertönte an der Tür und Gomi Naris unterbrach sich selbst. Laido war sogar ein wenig erschrocken, bis jetzt hatte es während ihrer Sitzungen noch nie an der Tür geklopft, und ohne, dass es je ausgesprochen worden war, wusste Laido, dass so eine Störung ziemlich unerhört sein musste.
    Die weiß lackierte Tür zum Flur öffnete sich, ohne dass Naris jemanden hereinbat. Durch den kleinen Spalt kam Andrés' schwarzhaariger Kopf zum Vorschein. Mit ihm kam etwas kühlere Luft, hier in der Kammer musste es sich ziemlich aufgeheizt haben.
    „Gomi, bitte entschuldige die Störung. Und Laido.“ Andrés wandte den Blick kurz zu Laido und nickte ihm zu. Laido nickte zurück, aber da er mit dem Rücken zur Tür saß und über die Schulter schaute, klappte das nicht allzu gut. Andrés schien das aber auch alles nicht weiter zu interessieren. Er wirkte nicht so entspannt wie sonst, das verhieß nichts Gutes.
    „Was ist?“, fragte Naris ungeduldig, offenbar hatte Andrés trotz der Unruhe, die er verströmte, noch auf die Erlaubnis zum Sprechen gewartet.
    „Es ist … etwas im Busch, könnte man sagen.“
    Laido drehte sich gerade noch rechtzeitig zu Naris um, um zu sehen, wie sich seine Augen kurz weiteten. Der kurze Moment verflog aber schnell, die Miene des Mannes glättete sich wieder.
    „Du verstehst mich schon richtig“, setzte Andrés rasch nach. „Es tut mir leid, aber ihr müsst eure Sitzung unterbrechen.
    Naris schüttelte den Kopf, aber nicht energisch, sondern eher milde. Fast müde wirkte er dabei, und irgendwie verbraucht. Das Alter des Mannes war für Laido nie so richtig einzuschätzen gewesen, aber in diesem Moment wirkte er doch recht alt.
    „Wir wollen die Sitzung noch zu Ende führen“, sagte Naris dann.
    Andrés' Miene zeigte Sorge. „Ich glaube nicht, dass dafür noch Zeit ist. Wir sollten …“
    „Dafür muss Zeit sein!“, entgegnete Naris mit einem Mal sehr gereizt, ganz entgegen seiner sonstigen Art. „Diese Sitzungen sind wichtig! Wir werden sie nicht einfach so unterbrechen!“
    „Ich … verstehe.“
    „Gut. Wir werden die Sitzung noch zu Ende führen, aber gleich schon beschließen können. Bis dahin, Andrés, triff bitte alle nötigen Maßnahmen. Ich vertraue darauf, dass in einigen Minuten alles bereit ist.“
    „Darauf könnt Ihr auch vertrauen“, sagte Andrés, und verließ den Raum wieder, den er eigentlich gar nicht richtig betreten hatte. Unmittelbar nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, wollte sich angespanntes Schweigen in der Kammer ausbreiten, was Laido aber zu verhindern wusste.
    „Gibt es Probleme?“
    „Das ist im Augenblick nicht von Belang“, antwortete Naris bestimmt. Ein schmaler Lichtstreif fiel durch die heruntergelassenen Jalousien auf sein Gesicht, direkt über sein Auge. Es schien ihn gar nicht zu stören, er wirkte mit einem Mal wieder sehr konzentriert.
    „Bei allem Respekt, aber ich glaube, es ist sehr wohl von Belang, wenn Andrés deswegen die Sitzung stört. Also, was ist los? Ich habe das genau gemerkt, wie ihr geredet habt, wie ihr nicht offen sprechen konntet, um mir etwas zu verheimlichen. Wie immer, quasi.“
    „Es gibt einen Unterschied zwischen dem Verheimlichen einerseits und dem Zurückhalten von Informationen andererseits“, erläuterte Naris. „Du wirst zum gegebenen Zeitpunkt über alles Wichtige informiert werden. Das gilt jetzt wie sonst auch. Aber unsere Sitzung ist im Augenblick wichtiger.“
    Laido atmete einmal tief ein und wieder aus, ironischerweise eine Entspannungstechnik, die Naris selbst ihm frühzeitig beigebracht hatte und die er mittlerweile verinnerlicht hatte. Wenn man beim bloßen Atmen überhaupt von einer Technik sprechen konnte. In diesem Moment lief es aber eher darauf hinaus, dass Laido seinen Ärger mit Gewalt herunterschluckte. Mittlerweile hatte er verstanden, dass er mit Nachfragen über Sinn, Zweck, Ziel, Bestand, Größe und Alter ihrer Organisation gegen Betonwände lief. In diesen Angelegenheiten war hier niemand kompromissbereit. Laido hatte schon aufgehört zu zählen, wie oft er auf bloßes Abwarten vertröstet worden war. Was ihn am meisten daran ärgerte, war, wie er irgendwann begonnen hatte zu akzeptieren, dass man ihn in vielen Dingen im Unklaren ließ und er wohl niemals alles über die Organisation erfahren würde. Das, was er bisher über die Organisation erfahren hatte, waren bloß Bruchstücke.
    Sie befanden sich in Argentinien, in einer kleinen, unauffälligen Großstadt namens Tandués, gelegen in einer hügeligen Region im Osten des Landes, nahe an der Atlantikküste, aber einige hundert Kilometer weit weg von der Hauptstadt Buenos Aires, wenn auch in der gleichen Provinz, dem gleichen partido gelegen. Es gab nicht viel Tourismus, und auch sonst schien der Ort vom restlichen Geschehen im Land ziemlich abgeschnitten zu sein. Vor diesem Hintergrund erschien es Laido konsequent, dass eine Organisation, die einerseits auf Heimlichkeit bedacht war, andererseits aber einer gewissen Infrastruktur bedurfte, diese Stadt als ihren Sitz ausgewählt hatte. Indes: Ob hier in dieser Stadt, in diesem weiß-beigen Wohnturm, auch wirklich der Hauptsitz lag, ja, ob die Organisation überhaupt so etwas wie einen Hauptsitz hatte, das war für Laido doch höchst zweifelhaft. Verstanden hatte er, dass die Organisation auch in anderen Teilen der Welt geheime Rückzugsorte hatte, aber wie viele es davon gab und wie wichtig die Basis hier in Argentinien war, darüber konnte Laido nur spekulieren, und angesichts der wenigen Informationen, die er hatte, konnte er das Spekulieren eigentlich auch direkt wieder lassen.
    Die Organisation hatte vermutlich keinen Namen, denn bei einem geheimen Zusammenschluss von Leuten, die gar nicht erst an die Öffentlichkeit treten wollten, brauchte es auch gar keinen Namen. Was Laido aus Gesprächen mit Naris hatte entnehmen können, war, dass die Organisation alt war, sehr alt. Und auch wenn Naris auf Laidos naive Nachfragen hin immer wieder betont hatte, dass es der Organisation mitnichten darum ging, irgendwann einmal die Weltherrschaft an sich zu reißen oder ähnliches, so war doch klar geworden, dass es hier nicht bloß um einen lokal agierenden Geheimbund mit ökonomischen, ökologischen, sozialen oder sonstwelchen Sparteninteressen ging, sondern tatsächlich um eine Vereinigung, die am ganz großen Rad drehen wollte. Oder, wie Naris einmal auf diese Formulierung entgegnet hatte, vielmehr mit dem Willen zu verhindern, dass jemand anderes an diesem ganz großen Rad drehte. So ganz hatte Laido das natürlich nicht verstanden, aber er hatte sich zusammengereimt, dass sich die Organisation zum Ziel gesetzt hatte, oder zumindest vorgab, eine Bedrohung abzuwehren, die dann aber tatsächlich nichts weniger als die ganze Welt, wenn nicht sogar das ganze Universum überschattete. Jedenfalls hatte Naris nie auch nur einen Hauch von Zweifel an der Ernsthaftigkeit dieses ganzen Unterfangens zugelassen, und irgendwann hatte Laido dann auch aufgehört darauf zu warten, dass jeden Moment Guido Cantz um die Ecke kam und die versteckte Kamera auflöste. Nichtsdestotrotz hatte er es lange für überwiegend wahrscheinlich gehalten, dass man ihm doch nur irgendetwas vorspielte, dass er in die Fänge einer riesigen Spinnerbande geraten war oder dass Jacob ihm ganz unverhofft den größten Streich seines Lebens spielte.
    Bis die Gespräche mit Naris irgendwann auf den Traum mit diesem Fahrradfahrer gekommen waren. Laido hatte ihn irgendwann während ihrer Sitzungen ausgepackt, weil er sich noch immer an ihn erinnern konnte, und kaum hatte er den Anfang des Traums erzählt, so hatte Naris ihn quasi für Laido zu Ende erzählen können. Unter Auslassung und Veränderung einiger Details zwar, aber im Kern hatte Naris den Traum erfasst, als hätte er ihn selber einmal geträumt. Selbst diese eigentümliche Gefühlslage, diese ganz sonderbare Qualität des Traumerlebens, die hatte er in Worte verpacken können, und die Worte hatten einen Widerhall in Laido ausgelöst. Naris hatte ihn und den Traum verstanden, ja wirklich begriffen, und das hatte Laido den entscheidenden Wink gegeben, dass an der Organisation, an Naris, an ihren Traumsitzungen, das an all dem doch irgendetwas dran sein musste. Kein Taschenspielertrick der Welt hätte Naris so eine tiefgehende Kenntnis von diesem Traum verschaffen können, und da Laido auch nicht an echte hellseherische Fähigkeiten glaubte, so musste er davon ausgehen, dass Naris schlicht gewusst hatte, wonach er und die Organisation suchten, dass sie wirklich einen Begriff, ein Konzept davon hatten, was sie von Laido erwarteten, und dass Naris tatsächlich in der Lage war, diese Art von Träumen einzuordnen. Die Träume mit Wirkung, wie sie sie dann genannt hatten und von denen dieser Fahrradfahrertraum das bisher intensivste Exemplar gewesen war, gemeinsam vielleicht mit diesem nicht enden wollenden Traum über das Hotel, bei dem allerdings, und das war dann noch ein Qualitätsunterschied, zu keinem Zeitpunkt die Welt aus den Fugen geraten war, was im Radfahrertraum aber zumindest gedroht hatte. Naris hatte Laido mit großem Ernst und großer Dringlichkeit darauf hingewiesen, dass er, sollte er noch einmal eine ähnliche Traumsituation wie mit dem Radfahrer gelangen oder gar in diesen Traum zurückkehren, was durchaus möglich war, niemals das Radeln aufgeben durfte, denn was er in diesem Traum tat oder unterließ, das hatte eben Wirkung, es hatte, so jedenfalls Naris' Behauptung, tatsächliche Auswirkungen auf ihre reale Welt. Die Frage Laidos, ob die Welt tatsächlich aus ihrer Umlaufbahn geflogen wäre, wenn Laido das Rad nicht bestiegen und im richtigen Tempo weitergeradelt wäre, hatte Naris ohne Umschweife bejaht, als hätte Laido ihn lediglich gefragt, ob er mal eben die Toilette benutzen durfte. Laido hingegen hatte diese Erkenntnis schockiert, und auch wenn er sie liebend gerne verdrängt oder als unglaubwürdiges Geseier eines Aushilfsgurus abgetan hätte, so war sie doch so einleuchtend, dass er sich ihr nicht verschließen konnte. Seitdem allerdings, und das musste auch Naris aufgefallen sein, hatte es keinen Traum mit Wirkung mehr gegeben. Naris hatte daraufhin mehrmals den Verdacht geäußert, dass Laido diese Träume nicht mehr zuließ, sich im Gegenteil unbewusst oder sogar unterbewusst dagegenstemmte, aber da lag Naris falsch, wie Laido wusste, denn er stellte sich sehr bewusst gegen diese Träume. Was immer auch Naris und die Organisation in ihm sahen, welche Talente und Fähigkeiten sie auch immer in ihm vermuteten: Dafür und dazu, das Schicksal der ganzen Welt auf den Schultern zu tragen, war er schlicht nicht bereit. Und er hatte auch immer noch nicht verstanden, wie genau er mit diesen Träumen helfen konnte. Naris hatte ihm lediglich immer wieder vorgebetet, dass er, Laido, diese Träume nutzen könne, wenn es an der Zeit sei, nicht für sich, sondern für sie alle, die ganze Welt, um sich der Bedrohung entgegenzustellen und zu verhindern, dass sie die Wirkung solcher Träume an sich riss. Von der anderen Seite – das Wort Feind vermied Naris für gewöhnlich – sei sogar schon versucht worden, eine Art Gegenpol zu Laido aufzubauen, doch sie bedienten sich falscher, unlauterer und ineffektiver Mittel, sodass es zwar durchaus vorkommen konnte, dass diese andere Person, dieser andere Traumläufer, ihm in seinen Träumen begegnete, aber sehr wahrscheinlich konnte er nicht in seiner wahren Gestalt erscheinen und war deshalb machtlos, ohne Wirkung, lediglich ein Beobachter, aber bereits das bedeutete eine Gefahr. Und Laido war auf diese Erklärungen hin vor allem erstaunt darüber gewesen, wie viel man einem Menschen, also ihm, erzählen konnte, und wie wenig man ihm dabei eigentlich doch verriet.
    Diese und andere Gedanken gingen in Laido vor sich, während er Naris in dessen Kammer gegenübersaß und mechanisch-routiniert die weiteren Nachfragen des Mannes im Anzug beantwortete oder eben auch nicht beantwortete, bis das Gespräch unweigerlich verebbte und schließlich auch Naris nichts anderes mehr übrig blieb, als die Sitzung zu beschließen.
    „Gut“, sagte er. „Dann sind wir für heute fertig.“
    Entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten stand der Mentor am Ende der Sitzung nicht von seinem Sitzsack auf. Laido wartete noch eine Weile lang irritiert darauf, dass jetzt noch etwas kam, aber Gomi Naris schwieg bloß.
    „Na gut“, sagte Laido deshalb nach einer Weile. „Dann werde ich mal zurück in meine Wohnung … „
    „Nicht ganz“, sagte Naris darauf nur.
    „Wie … wie meinen?“
    „Du wirst nicht in deine Wohnung zurückkehren. Du wirst eine neue Wohnung bekommen. Für die Abreise ist alles vorbereitet, und Andrés sollte deine Sachen bereits gepackt haben. Du fährst noch heute los.“

    „Könntest du mir vielleicht mal sagen, was hier eigentlich los ist?“
    Andrés hatte sich gerade heruntergebeugt um zwei unscheinbare Tragetaschen zu ergreifen, die er, wie die beiden Koffer zuvor, nach unten bringen wollte. Er drehte seinen Kopf zu Laido und lächelte ihn an.
    „Normalerweise würde ich sagen, können ja, dürfen nein, aber manchmal ist nicht dürfen und nicht können das gleiche. Oder was würdest du sagen?“
    „Ich …“, begann Laido, brach dann aber ab und ließ Andrés beim Schleppen der Taschen in Ruhe. Der junge Argentinier stapfte frohen Mutes an ihm vorbei in den Hausflur und stiefelte dann geräuschvoll das Treppenhaus hinab. Laido hingegen blieb zurück und besah sich seine Wohnung, seine offenbar nun ehemalige Wohnung, die in Windeseile leergeräumt worden war. Selbst einige der Möbel fehlten, darunter sämtliche des Schlafzimmers. Sie gaben helle Wandstellen frei, die restlichen Tapeten waren vermutlich über viele Jahre gnadenlos nachgedunkelt. Irgendwie wirkte die Wohnung, so leer, wie sie auf einmal war, kühler und heller als zuvor.
    Auf dem PVC-Boden sah Laido schwarze Striemen, aber er konnte nicht bei allen sagen, ob sie schon immer dagewesen waren, bisher von Möbelstücken verdeckt worden waren oder beim Ausräumen der Wohnung neu entstanden waren. Selbst der Fernseher war anscheinend schon abtransportiert worden, und auf dem alten Schreibtisch, der anscheinend nicht mit umzog, waren einige persönliche Gegenstände Laidos neben einem leeren Stoffbeutel arrangiert worden, darunter auch der Laptop, den man ihm zu seinem Einzug hier übergeben hatte. Offenbar war das als Zugeständnis an ihn gedacht, damit er seine ganz persönlichen Habseligkeiten, die zu einem großen Teil ursprünglich ja aber auch von der Organisation stammten, selbst einpacken und ein Auge auf sie haben konnte. Wirklich kompensiert sah Laido das Eindringen in seine Privatsphäre dadurch aber nicht, und es schauderte ihm beim Gedanken, dass jemand seinen Laptop durchsucht haben könnte. Immerhin, so dachte Laido mit Blick auf den Schreibblock in seiner Hand, immerhin hatte er sein Traumtagebuch nicht in der Wohnung gelassen.
    „Alles klar, Laido, wir sind dann so weit“, hallte es hinter ihm aus dem Hausflur, und jetzt hörte Laido auch wieder die Schritte. Er wandte sich um, Andrés war bereits wieder zurückgekehrt. Mit Sicherheit über zweihundert Stufen zu Fuß und auf dem Gesicht des Mannes zeigte sich nicht einmal eine einzige Schweißperle.
    „Magst du noch schnell deine Sachen in den Beutel packen?“ Er wies auf die Collage aus Gegenständen auf dem Schreibtisch. „Ich dachte, es ist besser, wenn du das selbst machst.“
    „Weil?“, fragte Laido kühl.
    Andrés zuckte mit den Schultern. „Stell dir doch mal vor, es wäre anders gewesen, und deine Sachen wären einfach so im Gepäckraum vom Bus verschwunden. Das hätte dir nicht gefallen, ich kenne dich doch.“
    „Bus? Welcher Bus?“
    „Der dich zu deiner neuen Wohnung bringen wird. Naja, nicht direkt, erst einmal in ein Hotel. Bis wir das mit der neuen Wohnung organisiert haben. Deshalb brauchst du ja auch deine persönlichen Sachen, für ein, zwei Nächte im Hotel. Ist doch ganz einfach, oder?“
    „Wir fahren mit dem Bus? Aber da wird mir doch schlecht!“
    „Wir haben dir Tabletten gegen die Übelkeit eingepackt.“
    „Aber die wirken bei mir doch gar nicht! Was ist das denn überhaupt für ein Bus? Ein Linienbus?“
    „Ein Reisebus“, gab Andrés bereitwillig Auskunft. „Das heißt, er hat auch Anschnallgurte. Ist wie zu Hause in Deutschland, Laido.“ Er grinste. „Wirst dich schon akklimatieren.“

    Laido starrte angestrengt in die Landschaft der braunen Berge, zählte die Gräser zwischen Sand und Geröll und fragte sich, ob das am wolkenlosen Himmel eigentlich Kondore waren, die da flogen. Aber es half alles nichts, denn aus den Augenwinkeln sah er es trotzdem kommen, wieder einmal, sie näherte sich, nur noch einen kurzen Moment – und dann traf ihre Wange sachte auf seiner Schulter auf. Die alte Dame fuhr zusammen, öffnete nur ganz kurz die Augen und wandte ihren schlaff herabhängenden Kopf wieder von ihm ab, aber es dauerte nur einige Sekunden und zwei entschiedene Rumpler des Busses, bis ihr Kopf die Richtung wieder änderte und langsam aber sicher erneut auf seine Schulter zustrebte. In etwa ein oder zwei Minuten würde es wieder so weit sein, je nach den Straßenverhältnissen ging es vielleicht sogar schneller, zumal Laido ausgerechnet über der Vorderachse des Reisebusses saß, wo es einen ganz besonders durchschüttelte. Die alte Dame in der viel zu warmen Strickjacke störte das aber offenbar nicht, jedenfalls schlief sie gut und ließ sich durch das bisschen Gerüttel niemals länger als ein paar Sekunden aufwecken.
    Laido sah wieder aus dem Fenster, suchte einen imaginären Fixpunkt im Himmelblau. Ihm war schon seit etwa einer halben Stunde schlecht, da hatte die Fahrt gerade mal zwanzig Minuten gedauert, und sie hatten jetzt noch etwas mehr als zwei Stunden übrig, wenn sie denn gut durchkamen und das Relikt von Reisebus nicht auf den ansteigenden Serpentinen schlapp machte. Der Fahrer jedenfalls schien Vertrauen zu haben, er saß dort ganz entspannt in einem weißen Unterhemd, das seine sonnenverbrannten Arme freigab, er rauchte starken, argentinischen Tabak und ließ sich von einem kleinen Antennenradio anbrüllen, das er auf dem abgewetzten Armaturenbrett abgestellt hatte. Als die Straße immer steiler geworden war, hatte es irgendwann von vorne aus dem Bus angefangen zu qualmen, oder besser gesagt weiß zu dampfen, aber der Argentinier mit dem schütteren Haar und dem Altersbauch hatte daraufhin einfach am Straßenrand angehalten, war mit zuversichtlicher Miene und einer Flasche gefüllt mit klarer Flüssigkeit in der Hand ausgestiegen und hatte den gesamten Inhalt der Flasche irgendwo ins Innere der Motorhaube gekippt. Es hatte gezischt, dass man es noch bis in die hinteren Reihen des Reisebusses gehört hatte, aber dann war die Fahrt weitergegangen. Die Flasche lag nun auch auf dem Armaturenbrett, nicht weit vom Brüllradio entfernt, aber es war nicht mehr viel Flüssigkeit drin, seit der Fahrer daraus noch einen kleinen Schluck getrunken hatte. Und Laido hatte sich gefragt, ob die Flüssigkeit eigentlich Wasser war oder doch etwas anderes.
    Laido saß am Ende des vorderen Drittels des Reisebusses auf der linken Seite, Andrés saß zwei Reihen weiter vor ihm auf der rechten Seite und präsentierte Laido seinen gebräunten Nacken, der sich von seinem weißen Shirt umso deutlicher abhob. Sie hatten keinen freien Zweiersitz mehr für sich gefunden, und so hatte Laido nicht einmal jemanden, mit dem er sich unterhalten und sich so von seiner Übelkeit ablenken konnte, die unablässig in seinem Magen brodelte und beständig hochzukochen drohte. Über die Sitzreihen hinweg war jedenfalls kein Gespräch denkbar, denn entgegen sämtlicher Vorurteile waren die Argentinier ein ruhiges Volk, zumindest die Leute aus dieser Region, und niemals hätte Laido es gewagt, die entspannte Ruhe im bis auf den letzten Platz besetzten Bus zu stören.
    Dann aber, nach einer ganzen Weile, in der Andrés einfach nichts getan hatte außer aufrecht zu sitzen und nach vorne zu starren, stand der junge Argentinier auf und ging nach vorne zum Fahrer. Ihre Fahrt verlangsamte sich daraufhin etwas, was auch daran liegen mochte, dass sie gerade eine kleine Kuppe auf der Straße erreichten. Andrés und der Fahrer wechselten ein paar Worte auf Spanisch, die Laido unabhängig vom klappernden Lärm des Reisebusses natürlich sowieso nicht verstand, dann lachten beide kurz auf und Andrés gab dem Fahrer einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter, bevor er zu seinem Platz zurückkehrte. Als er sich hinsetzte, traf Laidos Blick kurz Andrés Augen, aber Andrés erwiderte den Blick nicht. Kurz darauf bogen sie an einer Gabelung rechts ab und die Fahrt ging merklich ruhiger weiter. Laido nahm sich vor, Andrés bei Gelegenheit zu fragen, was er mit dem Busfahrer besprochen hatte.
    Ein Stoß auf seiner Schulter, die Frau war halb auf ihm gelandet. Sie schreckte kurz hoch, schlief dann aber sofort wieder ein. Laido schüttelte still und leise den Kopf und seufzte unhörbar auf. Wenn das eine Fahrt gewesen wäre, die er vollkommen freiwillig unternommen hätte, dann wäre er jetzt wohl einfach ausgestiegen und hätte die Reise abgebrochen. Jetzt, wo er mit Andrés unterwegs war, ging das natürlich nicht so einfach, und deshalb hatte sich Laido auch von Anfang an jedes Bitten und Betteln darum erspart. Mittlerweile hoffte er fast, sich übergeben zu müssen, denn erstens war ja die Phase, bevor man sich endlich übergab, häufig viel schlimmer als das Übergeben selbst, und zweitens hätte es ein fast schon befriedigendes Element von Das habt ihr jetzt halt davon gehabt, wenn Laido den Bus vollgekotzt hätte. Andererseits wollte er das aber den anderen Fahrgästen nicht antun. Ein vollgekotzter Reisebus, noch dazu einer bei großer Hitze, war nämlich etwas, was Laido tatsächlich schon einmal erlebt hat. Die Erinnerung reichte bis zurück in seine Grundschulzeit, der damalige Geruch aber war auf ewig in sein Gedächtnis eingebrannt. Timo hatte auf der Klassenfahrt nach Bad Münstereifel ein paar Schokobrötchen zu viel gegessen und hatte sie dann halb verdaut dem Innenraum ihres klapperigen Reisegefährts dargebracht. Oder, treffender formuliert, er hatte den Reisebus vollgekotzt, Schokostückchen waren sogar bis an die Fensterscheiben geflogen. Da der Fußraum des Busses mit Velours ausgelegt gewesen war, war auch eine gründliche Reinigung so auf die Schnelle nicht möglich gewesen, und so hatte die ganze Klasse samt den beiden Betreuungslehrerinnen den Rest der Fahrt mit dem Geruch von Erbrochenem zu Ende bringen müssen. Das einzige, was Laido damals ein bisschen getröstet hatte, war der Gedanke, dass er es immerhin nicht selbst gewesen war, der gebrochen hatte, wo er doch seit jeher zu fahrtbedingter Übelkeit neigte, und außerdem der Gedanke, dass, egal welche Peinlichkeit er sich auf der Klassenfahrt leisten würde, am Ende vermutlich, hoffentlich, doch nur alle über Timo sprechen würden. Timo war sein Schutzschild gewesen, eine Barriere aus brodelnder Magensäure.
    Die Busfahrt jetzt war aber eine ganz andere Situation, zumal es hier im Bus sicherlich auch keinen Timo gab, der für Laido zuerst kotzen würde. Ganz im Gegenteil wirkten die anderen Fahrgäste, alles Einheimische, keine Touristen, alle mit nur leichtem oder gar keinem Handgepäck unterwegs, Männer und Frauen jedweden Alters, Kinder, sie alle wirkten völlig unbeeindruckt von der Hitze und der rumpeligen Fahrt, und Laido beneidete sie darum. Sie stellten sich halt nicht so an, dachte Laido, aber das hätte er selber ja auch nicht getan, wenn ihm eben nicht so übel gewesen wäre.
    Ein kleiner Stoß an seiner Schulter riss Laido aus seinen Gedankengängen. Er beachtete den Vorfall aber nicht weiter, sondern sah wieder aus dem Fenster. Die Steigung der Straße war jetzt merklich abgeflacht, nach links sah man über eine Klippe hinweg auf Dörfer und Städte in einiger Entfernung weiter unten. Rechts von der Straße tauchten langsam und in unregelmäßigen Abständen kleine Häuser auf, die verlassen aussahen, aber vermutlich doch bewohnt waren. Manchmal waren es auch nur Hütten mit Wellblechdach, und Laido konnte nur erahnen, wie heiß und stickig es darin sein musste. Nach und nach zeigten sich aber bessere Behausungen, die Häuser standen dichter beieinander und die Umgebung nahm deutlich urbanere Züge an. In der Tat fuhren sie offenbar langsam in eine Gebirgsstadt hinein, und spätestens, als sie vor einer Ampel Halt machen mussten, wähnte sich Laido schon wieder in der Zivilisation. Das bedeutete auch, dass sie nicht mehr in Serpentinen irgendwelche Gebirgspfade herumkurvten, zumindest im Moment nicht, und das gab Laido Hoffnung, dass sein Magen ganz knapp nicht zum Äußersten getrieben würde. An Erholung war aber nicht zu denken, denn wenn Laido bei einer Autofahrt oder Busfahrt einmal übel geworden war, dann hörte das bis zum Aussteigen auch nicht mehr auf, da konnte er machen, was er wollte.
    Man sah nun auch Leute auf den Straßen, sah Geschäfte, Cafés, zerdellte Autos fuhren vor ihnen und hinter ihnen, teils auch um sie herum, und obwohl Laido mit Autos nicht sonderlich viel am Hut hatte, erkannte er sogar einen alten VW Käfer, dessen roter Lack auch schon bessere Tage gesehen hatte und in der Sonne daher aluminiumsilbern glänzte. Ab und zu wurde gehupt, aber nicht viel, da kannte Laido aus Köln ganz andere Konzerte. Überhaupt war ihm die Verkehrsführung, sofern Laido überhaupt in einer Position war, das zu beurteilen, sympathisch: Hier mal eine Straße, dort mal eine Abzweigung, mal die Fahrbahn ganz breit, sodass man die Schlaglöcher umfahren konnte, mal eher eng, und die Fahrer hupten und fuhren, aber mit Bedacht, suchten den Blickkontakt zu anderen. Alles verströmte eine entspannte Eile, Anlass zur Aufregung gab es nur, als zwei Frauen vergeblich versuchten, einen auf der Straße schlafenden Hund aufzuwecken, was misslang, da das Tier entspannter noch als alle Menschen war.
    Laido spürte an der Vibration des Wagens, wie der Bus erst herunterschalte und dann stetig langsamer wurde. Sie passierten noch einen Kreisel, in dessen Mitte ein ausgetrockneter Springbrunnen aus weißgrauen Stein errichtet war, und kamen dann auf einer Geraden zum Stehen. Zu ihrer Rechten erhob sich eine kahle Fassade, ein breites, großes Haus. Das vergoldete Gitter am Eingangstor, getragen von zwei schlanken, weißen, verwitterten Säulen, ließ erahnen, dass das Haus früher einmal richtig herausgeputzt gewesen sein musste und zu einer der besten Adressen des Ortes gezählt haben mochte. Die Vorstellung benötigte allerdings etwas an Fantasie.
    Ein paar der Argentinier im Bus begannen zu tuscheln. Der Busfahrer zog die Handbremse an und zwängte sich aus seinem Fahrersitz heraus. Er öffnete die vordere Bustür – das musste hier noch von Hand gemacht werden – und stieg aus. Andrés war auch bereits aufgestanden und bedeutete Laido mit einem Nicken, ihm zu folgen. Mit hilfloser Geste wies Laido auf die schlafende Dame auf dem Sitz rechts neben ihm, aber Andrés grinste bloß und erwiderte eine Geste, die Laido in etwa als ein „Wirste schon hinkriegen!“ deutete. Dann verließ auch Andrés den Bus.
    Laido stieß die alte Dame an. Sie öffnete kurz die Augen, schien erschrocken, schlief dann aber wieder ein. Laido wiederholte die Prozedur. „Ähm … perdone?“, sagte er, um überhaupt etwas gesagt zu haben. Diesmal hielt die Dame die Augen länger offen, nickte dann aber nur sachte und gab sich wieder dem Schlaf hin. Laido schätzte den zur Verfügung stehenden Platz ab, stellte sich mit einem Bein auf seinen Sitz und stieg dann in einem leicht waghalsigen Manöver über die Dame hinweg. Es klappte. Die Freude darüber wurde aber getrübt, als er bemerkte, dass ja noch der Stoffbeutel mit dem Laptop unter seinem Sitz lag. Unter dem Gefühl argwöhnischer Beobachtung durch die anderen Fahrgäste beugte er sich, so weit es ohne Berührung mit der Dame ging, über sie drüber und fischte nach seinem Handgepäck – das letzte Mal hatte sein Rücken so unter Spannung gestanden, als er als junger Bengel beim Messen der Körpergröße unbedingt die Marke von 1,70 Meter hatte reißen wollen. Endlich hatte er eine der Trageschlaufen erwischt, aber just in dem Moment rutschte er mit dem Standfuß weg und landete bei der alten Dame im Schoß. Sie schrie auf, überhaupt nicht mehr schläfrig, schubste ihn weg und begann eine unverständliche Tirade auf Spanisch. Laido entschuldigte sich mit Gestotter, Gestammel und hilflosen Gesten, aber das schien die Dame nur noch wütender zu machen. Ein paar der anderen Fahrgäste stimmten ins Geschimpfe mit ein, zwei junge Männer lachten, die meisten aber blieben ruhig und guckten nur. Laido, der sein Gesicht glühen spürte, griff seinen Beutel und verließ den Bus hastig durch die Vordertür.
    Andrés und der Fahrer draußen schienen von all dem nichts mitbekommen zu haben. Der Fahrer wuchtete gerade das letzte ihrer Gepäckstücke, den zweiten der großen Koffer, aus dem Gepäckraum an der Seite des Busses. Andrés blickte auf, als er Laido kommen sah.
    „Wo warst du so lange?“
    „Musste noch meinen Beutel holen“, sagte Laido kleinlaut und hielt die Stofftasche wie zum Beweis hoch. Andrés ging nicht weiter darauf ein und wechselte mit dem Fahrer ein paar eilige Worte, klopfte ihm nochmal auf die Schulter und übergab ihm dann ein paar Geldscheine, die er einem Zauberkünstler gleich wie aus dem Nichts hervorgeholt hatte. Der Fahrer zeigte sich zufrieden und stapfte an Laido vorbei in den Bus zurück.
    „Willst du die beiden Reisetaschen nehmen oder die beiden Rollkoffer?“, fragte Andrés über die nun wieder auflärmenden Motorengeräusche weg. Laido machte vorsichtshalber ein paar Schritte von der Straße weg, als der Bus rumpelnd anfuhr. Eine Abgaswolke später war er auch schon hinter der nächsten Kurve verschwunden, und der Verkehr, der so geduldig dahinter gewartet hatte, rollte wieder an.
    „Ich nehme die zwei hier“, sagte Laido und hob die beiden schwarzen Reisetaschen an. Schwer waren sie, er hatte gar nicht gewusst, dass sich in seiner Wohnung auch eine geheime Ziegelsteinsammlung befunden hatte, die nun mit umzog. Mit bald schon zitternden Armen marschierte er Andrés hinterher, der, an jeder Hand einen der beiden Koffer, durch das Eingangstor des Grundstücks und zwischen den wucherigen Gartenflächen hindurch auf die offenen Hoteltüren zustrebte. Laido folgte ihm, und schon bald fanden sie sich im Foyer des Hotels wieder. Es war ein kleiner Raum, nach kaum drei Schritten über den moosgrünen Teppich stand man schon am Tresen. Dahinter stand eine ältere, zierliche Frau. Sie lächelte zur Begrüßung. Noch bevor Andrés irgendetwas gesagt hatte, kam sie hinter dem dunklen Holztresen hervor und begann unvermittelt ein Gespräch mit ihm. Sie wirkten wie alte Bekannte, aber das konnte Laido nur mutmaßen. Da er dem Gespräch nicht folgen konnte und auch nicht einbezogen wurde, nahm er den Eingangsraum des Hotels genauer in den Blick. Links von ihm führte eine Treppe ins Obergeschoss hinauf, sie war steil und die Stufen waren schmal, eine böse Treppe wie Laidos Oma gesagt hätte, denn sie war einmal auf einer Treppe gefallen, und wenn alte Leute fielen, dann war das immer ein Drama, und auch wenn der Unfall für Laidos Oma nicht der Schlussakt gewesen war, so waren ihre Auftritt seither immer davon gekennzeichnet gewesen, dass sie Treppen geradezu zwanghaft auf deren Bösartigkeit hin begutachtete und das Ergebnis ihrer Untersuchungen jedem ungefragt mitteilte. Hier in diesem Hotel wäre sie allenfalls ins Erdgeschoss eingezogen, so viel war sicher.
    Zu Laidos Rechten führte ein Flur aus falschem Marmor in einen ganzen Gebäudeflügel, er vermutete dort ausweislich der spärlichen Beschilderung einen Speisesaal oder Frühstücksraum, eventuell noch eine Lobby für Gäste sowie die Aufenthaltsräume für das Personal. Außer ihnen, also der Dame, Andrés und ihm, war aber niemand weiter zu sehen, weder Gäste noch Personal, und angesichts der geradezu gespenstischen Stille in diesem Haus erwartete Laido auch nicht, noch jemand anderes zu sehen. Darüber hinaus herrschte im Haus eine ganz spezifische Art von Kühle, die sich allgemein immer nur dann einstellte, wenn niemand da war, wenn die Räumlichkeiten ganz verlassen waren. Das gefiel Laido allerdings ganz gut so, und so langsam konnte er sich von der Busfahrt erholen. Gleichwohl hoffte er, dass er jetzt nicht direkt an einem Begrüßungsessen teilnehmen musste, was angesichts der doch sehr herzlich geführten Unterhaltung zwischen Andrés und der Hoteldame – sie konnte gut und gerne die Besitzerin des Hotels sein – nicht ganz unwahrscheinlich war.
    Das Gespräch schien nun allerdings zu einem Ende zu kommen. Andrés packte die beiden Koffer an den Tragelaschen, die Dame ging an ihm vorbei auf die Treppe, nickte Laido dabei kurz und freundlich zu und winkte ihn hinterher, während sie die Stufen hinaufstieg. Laido ergriff die Reisetaschen und folgte ihr, Andrés schloss sich als Dritter im Bunde an.
    Das obere Stockwerk bot einen weiteren, völlig verlassenen Flur, und wohl weil keine Menschen hier waren, die Dreck machen konnten, war es hier so sauber, dass man vom Boden hätte essen können. Jener Boden war mit einem sauberen, moosgrünen Teppich ausgelegt, die Wände mit Holz vertäfelt. Die Hoteldame schritt aber nicht den Weg den ganzen langen Flur entlang, sondern bog nach links in einen kleineren Nebenflur, der ohne Teppich und Täfelung auskam, dafür aber im gleichen falschen Marmor gestaltet war wie schon der vom Foyer rechts abgehende Flur im Erdgeschoss. Ihre Schritte wurden hier nicht gedämmt, und so hallte das Geklacker ihrer hohen Schuhe rhythmisch im Flur wider. Gemeinsam passierten sie drei Türen, die vierte dann war die richtige. Die Hoteldame zog die Tür auf und wies Laido und Andrés lächelnd ins Zimmer.
    Die dominierenden Farben waren gelb und braun, auch dann noch, als die Dame das Licht anschaltete, das den Raum von einer Kristalleuchte an der Decke aus erhellte. Das Zimmer war nicht hoteltypisch klinisch-steril, wirkte aber doch sehr sauber und verströmte vor allem nicht diesen verräterischen Geruch nach Schimmelentferner. Vielmehr war es geruchsneutral und allenfalls ein wenig staubig. Direkt gegenüber im Raum war ein alter Sessel in beige aufgestellt, daneben eine braune Couch, wohl nicht aus Leder. Auf dem Boden des kleinen Raums waren schwere, weiße Flokati-Teppiche ausgelegt, das Bett links in der Ecke des Raumes war mit einer weißen Decke im Blümchenmuster bezogen, auf der gegenüberliegenden Wand war eine kleine Garderobe angebracht, und einen mittelgroßen Fernseher, Flachbildschirm, gab es auch. Insgesamt sah das Zimmer überhaupt nicht nach Argentinien aus und auch nicht wirklich nach Hotel, sondern eher wie ein deutsches Wohnzimmer der ausgehenden 60er Jahre, vom Plasmafernseher mal abgesehen. Ungemütlich aber war es nicht.
    Erst als Andrés die beiden Koffer neben dem Bett abstellte, bemerkte Laido, dass es ein Einzelbett war. Es musste daraufhin mildes Entsetzen in seinem Blick gestanden haben, denn die Hoteldame lachte kurz auf, sagte etwas auf Spanisch und führte Andrés und Laido von der Haupttür aus gesehen nach links in einen zweiten Raumteil, den Laido noch gar nicht richtig gesehen hatte. Es war ziemlich dunkel, wie im ersten Raumteil gab es statt Fenstern nur kleine Lichtschlitze nach draußen, und dort wurde es auch schon dunkel, aber das Deckenlicht aus dem ersten Zimmer reichte bis ins zweite Zimmer. Dieses zweite Zimmer war im wesentlichen vollständig von einem breiten Doppelbett ausgefüllt, das mit einer schweren, dunkelvioletten Bettdecke bezogen war. Der schmale Sekretär samt Holzstuhl war gerade so an der Wand zum Fußende des Bettes hin noch in den Raum hineingezwängt worden. Das einzige andere Möbelstück war ein kleiner Nachttisch an einer Seite des Bettes, auf dem eine alte Lampe mit rettungslos verstaubtem Papierschirm platziert war.
    Erneut wechselten Andrés und die Hoteldame ein paar Worte auf Spanisch, sie lachten und gingen dann weiter in den Raum hinein, wo sich im Halbdunkel eine weitere Tür offenbarte. Die Frau betätigte den Lichtschalter von außen und öffnete die Tür. Ein grelles, güldenes Licht entfloh dem Raum. Als Laido näher kam, erkannte er, dass es ein Badezimmer war, aber was für eines: Goldgelb glänzende Fliesen, ein großzügiges, blitzblank poliertes Waschbecken und ein abgetrennter Duschbereich, ebenso klinisch sauber. Das Zimmer war nicht groß, mutete aber prunkvoll an und lud wirklich zum Verweilen ein. Das hatte Laido nach den ja doch etwas muffigen Vorzimmern nun nicht erwartet. Auch Andrés schien auf Spanisch seine Bewunderung kundzutun, dann ging es wieder zurück in den ersten Raum, den Wohnbereich mit dem Einzelbett. Die Hoteldame drückte Andrés einen Schlüssel in die Hand und zeigte beim Reden ein paarmal auf das Telefon neben dem Fernseher, dann verabschiedete sie sich mit einem Lächeln an Laido und verschwand durch die Tür. Man hörte noch lange ihre hochhackigen Schuhe durch den Flur klappern, dann war es still. Laido schaute noch eine Weile unbeholfen durch den Wohnraum, aber weil er dabei nichts wirklich Neues entdeckte, sprach er Andrés dann doch noch auf die ganz heikle Frage an.
    „Wer bekommt welches Bett?“, fragte er, der durchaus gern das Doppelbett im Nebenraum beansprucht hätte, nicht etwa weil er dann doppelt so viel Platz hatte, sondern schlicht, weil er da etwas mehr für sich und vor allem näher am Badezimmer war, sodass er, wenn er nachts wachwerden würde, für einen Toilettengang nicht an Andrés vorbei schleichen musste. Höflich, wie er war, wollte er diesen Anspruch aber natürlich nicht offen geltend machen.
    „Du bist größer als ich, du kriegst das Zweierbett“, sagte Andrés dann nur, und wie um jedes weitere höfliche Nachhaken abzublocken, legte er einen der Koffer auf das Einzelbett im Wohnraum. „Hast du Hunger?“, fragte er dann. „Camila hat gesagt, wenn wir Hunger haben, dann brauchen wir nur unten anzurufen, sie macht uns dann Essen fertig und bringt es hoch. Es gibt hier kein Buffet mit Essen mehr. Im Hotel ist eigentlich nichts mehr los. Hast du ja auch schon gemerkt.“
    „Ja habe ich … also nein, ich habe keinen Hunger. Nach der ganzen Busfahrt und so weiter … hat die Hoteldame, also, Camila, denn gesagt, bis wann man bei ihr anrufen kann?“
    „Nein“, antwortete Andrés und setzte sich aufs Bett. „Aber ich habe sie auch nicht gefragt. Man kann es dann ja einfach versuchen, wenn du doch noch Hunger bekommst. Musst dich wohl erst akklimatieren, was?“ Er grinste.
    „Ja, auf jeden Fall“, meinte Laido und rang sich ein Gegengrinsen ab. „Hast du denn keinen Hunger?“
    „Nein, nein, ich brauche auch nichts.“
    „Du brauchst allgemein wenig, oder?“, fragte Laido nach. Ihm war das schon vorher mal aufgefallen. Es gab eben so Leute, die konnten zum Beispiel drei Tage und drei Nächte lang im Auto fahren und mussten nicht ein einziges mal Rast machen, nichtmal zum Pinkeln. Andrés war sicher auch so einer, jedenfalls hatte er die wirklich anstrengende Busreise verdaut, als sei nichts gewesen, er schwitzte auch irgendwie nie, aber das hatte er offenbar mit so manch anderem Argentinier gemeinsam.
    „Ein Dach über den Kopf, ein Bett, ein Lächeln, mehr nicht“, antwortete Andrés. „Dann bin ich versorgt.“
    „Wenn wir mal irgendwann ganz viel Zeit haben, kannst du mir dann mal erklären, wie man dahin kommt?“
    Andrés grinste. „Wir haben Zeit, aber erklären kann man es nicht. Entweder du hast es in deinen Blutbahnen, oder du verstehst es niemals. Aber vielleicht hast du es ja auch in dir, musst nur suchen!“
    „Bezweifle ich, dass das was bringt …“, murmelte Laido. Er wandte sich von Andrés ab und lugte noch einmal herüber zum Badezimmer, als würde er darauf warten, dass dort endlich jemand herauskam. Manchmal, wenn er sehr müde war und in Gesellschaft anderer Leute, dann gab es dieses seltsame Phänomen, dass er immer wieder dachte, dass noch jemand fehlen würde, dass man noch nicht vollzählig war. Wenn die Gesellschaft zu viert war, wartete Laido manchmal auf einen Fünften, wenn man zu dritt war, erwartete er die Rückkehr eines Vierten, und jetzt, wo er mit Andrés zu zweit war, hatte er dieses unterschwellige Gefühl, dass der Dritte im Bunde bald wieder zu ihnen stoßen sollte, zum Beispiel weil er sich kurz entschuldigt hatte. Laido konnte sich dieses Phänomen nicht erklären, aber es begleitete ihn schon seit einigen Jahren hartnäckig.
    „Wenn du sagst, du brauchst nichts weiter, gilt das dann auch fürs Duschen? Ich habe dich ja nicht einmal schwitzen sehen … ansonsten kannst du gerne zuerst gehen, ich würde dann danach.“
    „Wir Argentinier schwitzen anders!“, lachte Andrés. „Nein, kein Problem, du kannst ruhig gehen, ich gehe dann vielleicht danach.“
    „Gut“, sagte Laido, wusste weiter nichts zu bereden und schlich durchs düstere Schlafzimmer hinein ins Bad. Es war dort tatsächlich alles vorbereitet, sogar für mehr als nur für zwei Personen. Fünf Handtücher, drei große, zwei kleine, allesamt in strahlendem Weiß, hingen auf zwei Handtuchhaltern verteilt. Im abgetrennten Duschbereich waren diverse bunte Fläschchen auf einem Regalbrett aufgereiht, manche aus simplem Plastik, manche aber sogar aus Kristallglas. Laido erkannte immerhin eine gängige argentinische Shampoomarke wieder, die er auch schon in der alten Wohnung benutzt hatte. Ihm fiel dabei wieder auf, wie wenig international die Gegend hier schien. Während sich wohl in den meisten Ländern, oder zumindest in denen, wo Laido früher mal Urlaub gemacht hatte, immer wieder die gleichen großen Marken wiederfanden und wahrscheinlich so ziemlich jede mittelgroße Stadt mit McDonald's, Burger King und Co. gepflastert waren, war davon in dem Teil Argentiniens, in dem er sich bisher aufgehalten hatte, nichts zu bemerken gewesen. Selbst Coca Cola war eher selten, zumeist verkauften sie hier in den Läden einheimische Ersatzprodukte, die keinen Deut besser und keinen Deut schlechter waren. Und so schien es auch mit dem Shampoo zu sein – auch wenn Laido vermutete, dass das durchaus genau die gleichen Produkte waren wie überall anders auf der Welt, nur eben in lokalisierten Verpackungen, so machte man es in Deutschland gelegentlich ja auch, wo der ursprünglich französische Käse von Bressot zu Bresso angepasst worden war, damit die Deutschen es auch richtig aussprachen; so hatte er es zumindest mal gehört. Und seit er erfahren hatte, dass es analog zur deutschen Billigmarke ja! ein russisches Gegenstück namens da! gab, hielt er ohnehin alles für möglich.
    An einer gülden glänzenden Stange über der Heizung hingen drei bauschige, weiße Bademäntel bereit. Laido war ganz sicher kein Bademantelmensch, er hatte auch nie so recht verstanden, wofür man diese Kleidungsstücke außerhalb von Saunaclubs oder klandestinen Privatpartys reicher Männer benötigte, aber da er nun gerade keine frischen Anziehsachen zur Hand hatte und jetzt nicht noch um Andrés herumwuseln wollte um diese aus irgendeinem Koffer zu fischen, beschloss er, nach dem Duschen seinen ersten Schritt ins Bademantelbusiness zu wagen.
    Obwohl es an dem Badezimmer und dem Duschbereich nichts auszusetzen gab, waren die nächsten Schritte etwas umständlich. Das waren sie immer, wenn Laido mal außer Haus duschte. Wo lege ich was ab, wohin die alten Klamotten, wo das Handtuch, wo die Shampooflasche, wie schließen die Türen und der Duschvorhang am besten, wie schnell wird das Wasser warm, und selbst die Richtung, in die man an der Duscharmatur drehen musste, war keineswegs immer die gleiche. Als das Wasser dann aber endlich lief, war alles gut, und Laido hatte ein wenig Ruhe, zumindest für einen Moment. Dann aber begannen die Gedanken zu rasen, jetzt wo er mal ein paar Augenblicke für sich hatte. Im Grunde, so überlegte Laido, war er vollkommen in den Plänen, die die Organisation für ihn hatte, gefangen. Er hatte keine Wohnung mehr, war Hals über Kopf mit einem Bus in dieses Hotel verfrachtet worden und wusste nicht einmal genau, weshalb. Dass das alles keinem harmlosen Anlass entstammen konnte, war dabei klar, und auch ohne seine persönliche Neigung anstrengen zu müssen, sämtliche Geschehnisse bis hin zur schlimmstmöglichen Katastrophe durchzudenken, kam Laido unweigerlich zum Schluss, dass in welcher Form auch immer Gefahr gedroht hatte. Gefahr für die Organisation, Gefahr für ihn persönlich. Vielleicht war man, jemand, Konkurrenten, Gegner, Widersacher oder Feinde, der Organisation trotz der ganzen Heimlichtuerei irgendwie auf die Schliche gekommen, hatte ihren Standort herausgefunden – und deshalb hatte man mit dieser Hauruck-Aktion erst einmal alles aufgelöst. Mit guter Wahrscheinlichkeit war vielleicht auch noch gar nichts aufgeflogen, aber das hieß nichts, denn für die Organisation genügte bereits ein schmaler Rauchstreif am Horizont, um gleich die ganze Feuerwehr ausrücken zu lassen. Und trotzdem: Laido war, je länger er darüber nachdachte, mehr und mehr verärgert, dass man ihn wieder einmal völlig im Unklaren gelassen hatte. Die Organisation hatte ihn, als sie ihn unter seine Fittiche genommen hatte, klipp und klar versichert, dass für seine persönliche Sicherheit zu jeder Zeit gesorgt sein würde. Aber gehörte dazu nicht auch, dass er darüber informiert wurde, welche Gefahren drohten oder vielleicht auch nicht drohten? Laido fasste einen Entschluss: Wenn er mit dem Duschen fertig war, dann würde er Andrés zur Rede stellen, ohne Wenn und Aber, und er würde sich diesmal nicht mit irgendwelchen kryptischen Aussagen abspeisen lassen.
    Mit einem Mal schien der Boden wegzukippen. Laido rutschte weg, fing sich wieder, ohne dass er sich in der Hektik an etwas hätte festhalten können, und glaubte kurzzeitig an ein Erdbeben. Dann geriet er wieder ins Rutschen, nur um kurz darauf wieder zu stoppen. Shampoo lief in sein Auge, es brannte höllisch. Nachdem er endlich die Duschstange zum besseren Halt ergriffen hatte und sich das Shampoo halbwegs aus dem Auge gespült hatte, verstand er dann auch, was ihn ins Rutschen gebracht hatte. Natürlich. Der Boden in der Duschkabine war zur Mitte hin ein wenig abschüssig, damit das Wasser in den Abfluss lief. Laido musste über sich selber schmunzeln. Unter einem Erdbeben wollte er es wohl auch nicht mehr machen.
    Nach dem Duschen war Laido tatsächlich in einen der weißen Bademäntel geschlüpft und betrachtete sich nun im Spiegel. Er hatte mal, lange Jahre war es her, beim Herumzappen nach einer ereignislosen Folge Zwei bei Kallwass den Anfang einer sogenannten Reportage gesehen, in der irgendein Typ angeblich professionell Bordelle und Swingerclubs getestet hatte, und der war die meiste Zeit auch in so einem weißen Bademantel herumgelaufen.
    Laido stieß die Tür zu seinem Schlafbereich auf. Draußen war es mittlerweile stockdunkel, nur das Licht aus dem Bad und aus dem Wohnbereich des Apartments erhellte das Zimmer. Unter den wabernden Ventilatorengeräuschen aus dem Badezimmer, den Düften des Duschzeugs in der Nase und dem noch immer hartnäckigen Brennen vom Shampoo in seinem rechten Auge taperte Laido, beschuht in den vom Hotel bereitgestellten weißen Badelatschen, in den Wohnbereich. Andrés war nicht da. Die Zimmerschlüssel lagen neben dem Telefonapparat, er war also vermutlich nicht weit weg. Vielleicht klärte er noch irgendetwas mit der Hotelbesitzerin ab. Laido war das ganz recht, nach dem Duschen hatte er gerne noch ein paar Momente für sich. Er ging in den Schlafbereich zurück, ließ sich, in seinem Bademantel, rücklings aufs Bett fallen und starrte an die dunkle Decke. Manchmal erfrischte ihn das Duschen, jetzt aber hatte es ihn ganz erschöpft. Vielleicht waren es auch die Auswirkungen der Busfahrt oder diese feuchte Hitze, die sich nun im Zimmer auszubreiten schien. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn er die Tür zum Badezimmer geschlossen hätte, und sie war ja auch nicht weit weg, aber jetzt gerade fühlte Laido sich zu kraftlos zum Aufstehen. Am liebsten wäre er für immer so liegengeblieben. Ohne dass jemand kam, ihn ansprach, ohne dass er etwas machen musste, nichts essen oder trinken müssen und dergleichen, einfach nur liegen, für immer und ewig. Er wusste, man sollte zwar vorsichtig sein, mit dem, was man sich wünschte, aber gerade im Moment schien das eine wirklich gute Alternative zu sein, insbesondere zu weiteren anstrengenden Busfahrten.

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    Deus Avatar von John Irenicus
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    Die nächste anstrengende Busfahrt war Laido natürlich nicht erspart geblieben. Er war froh, dass sie jetzt zu Ende war. Immerhin waren sie so früh aufgebrochen, dass Laido nach der halb durchwachten Nacht noch hundemüde war, und die Müdigkeit in seinem Körper hatte die sonst eigentlich obligatorische Busfahrtübelkeit größtenteils draußen gehalten. Nichtsdestotrotz fühlte sich Laido nach der Fahrt durch die menschenverlassenen Gebirgsstraßen ziemlich groggy, und das änderte sich auch nicht, als er mit Andrés aus dem Bus ausstieg. Seine Knie waren wie aus Gummi, der Boden wie aus Watte – oder umgekehrt. Hinter ihnen brauste der Bus wieder ab, wohin auch immer, denn andere Fahrgäste hatte es nicht gegeben. Vielleicht fuhr der Bus nach Hause, und da wäre Laido jetzt auch lieber gewesen statt in diesem Niemandsland. Keine Menschen, keine Häuser, nicht einmal mehr eine richtige Straße, auch kaum Vegetation, gar nichts. Nur der rostbraune Fels, der in der tiefstehenden Sonne einen Rotstich abbekam, und vor ihnen ein Abhang, der zu einer Art kleinem Canyon führte, wenn man das denn so nennen wollte. Andrés hatte ihm erzählt, dass die Farbe der Felsen hier von den Mineralien und Erzen stammte, die den Berg durchzogen, und das war so ziemlich genau die Information, die Laido nicht weiterhalf, zumal er nicht einmal danach gefragt hatte. Seine eigentlichen Fragen hatte Andrés nahezu sämtlich abgeblockt, und auch wenn Laido wusste, dass das die Schweigepolitik der Organisation war, der natürlich auch Andrés unterlag, hatte er im Laufe der zweiten Busfahrt einen auf kleiner Flamme köchelnden Groll gegen Andrés entwickelt, der nur deshalb nicht vollends hochkochte, weil Laido einfach Schwierigkeiten hatte, auf Andrés so richtig böse zu sein. Hinzu kam, dass Laido in dieser Situation schlicht niemand anderen hatte, und da konnte er es sich ohnehin nicht leisten, seinen einzigen Beistand zu vergraulen. Er konnte ihm ja schlecht die Meinung geigen und dann einfach weggehen – wohin denn auch?
    Die Aufgabe, die Andrés ihm noch während der Busfahrt übertragen hatte, hatte Laido dann auch eher schockiert als erzürnt. Wegen verschiedener komplizierter Verhältnisse konnte Andrés, seinen Angaben nach, einen eigentlich ihm obliegenden Auftrag nicht ausführen, weshalb er – woher auch immer – Nachricht bekommen hatte, diesen Auftrag an Laido zu übergeben. Ungefähr genau so hatte Andrés das Gespräch mit Laido eingeleitet, die Behauptungen waren an Vagheit kaum zu überbieten gewesen. Letzten Endes hatte es etwas damit zu tun, dass Andrés' Sicherheit nicht gewährleistet sei, wenn er in den Canyon hinabstieg. Auf Laidos Einwand hin, dass es dann wohl kaum Sinn mache, wenn er selber in den Canyon und die angeschlossenen Höhlen ging, da die Organisation ja vor allem seine Sicherheit garantieren solle, hatte Andrés ihn schnell beschwichtigt: Der Auftrag sei ja gar nicht selbst gefährlich, es sei nur gefährlich, wenn Andrés ihn ausführe, denn es ginge ja einfach nur darum, einen Erzbrocken aus den Höhlen zu holen, den Gomi Naris brauchte, aber Andrés sei gegen diese bestimmte Art von Erz allergisch und möglicherweise noch gegen einige andere Metalle, die in diesem Gebirge waren.
    Laido hatte sich alle diese Erklärungen mit wachsendem Unverständnis angehört. Was er allerdings schnell kapiert hatte, war, dass Andrés das alles Ernst meinte. Und nun standen sie am Rande des Canyons, der Bus längst fortgefahren, zu zweit allein, irgendwo im Nirgendwo. Andrés hatte es ihm zwar nicht ausdrücklich so gesagt, aber es war klar, dass sie nicht wieder hier wegkämen, bevor Laido den Erzbrocken geholt hatte. Laido wagte noch einmal einen verzweifelten Blick auf seinen Begleiter. Dieser zuckte mit den Schultern.
    „Anordnung der Organisation“, sagte er. „Du weißt doch, wie Naris ist. Wenn der etwas Spezielles will, lässt er nicht locker. Es scheint wirklich wichtig zu sein. Hör mal, ich würde doch sofort selbst gehen, aber ich kann nicht. Ich kann jetzt schon kaum atmen in dieser Gegend hier. Ein Schritt weiter in den Berg hinein und ich falle wahrscheinlich um. Du dagegen bist doch topfit. Ganz ehrlich, diese Brocken liegen hier überall herum, du erkennst sie schon, wenn du sie siehst. Vielleicht musst du nicht mal ganz weit rein in die Höhlen.“
    „Nicht mal ganz weit rein?“, wiederholte Laido. Er hätte am liebsten aufgebracht geschrien, aber irgendwie fühlte er sich wie gelähmt. Vielleicht hatte er auch so eine Metallallergie wie Andrés? Die ganze Luft schien von einem rötlichen Sand durchzogen zu sein, vielleicht war das ja irgendwelcher Metallstaub, der sich in ihren Lungen einnistete. Mit einem Mal wollte Laido nur noch weg. Aber da es keinen anderen Ausweg zu geben schien, als den Erzbrocken zu holen …
    „Na gut, ich mach's“, sagte er. Andrés lächelte zufrieden. „Aber du bleibst hier und kümmerst dich darum, dass wir möglichst schnell hier wegkommen, klar?“
    Andrés nickte nur, sagte nichts. Da Laido spürte, wie ihn langsam doch wieder der Mut zu verlassen drohte, zögerte er nicht länger und begann, den Abhang hinabzugehen. Es war wie eine Skipiste, nur mit rotbraunem Staub statt mit Schnee bedeckt. Sie machte eine leichte Biegung und führte Laido bis an den Berg heran. Schon zur Eigensicherung schaute Laido fast unablässig auf den Boden. Erzbrocken sah er dabei nicht. Er stand jetzt direkt vor einem der vielen Höhleneingänge, mit denen der rotbraune Berg gespickt war. Laido wandte sich um, blickte hilflos zu Andrés in die Ferne. Er stand dort oben am Rande des Canyons, erstaunlich weit weg, erschien im roten Nebel vielmehr wie eine geisterhafte Erscheinung in seinem weißen Shirt. Er stand dort und tat nichts, guckte nur, ganz unbeweglich. Irgendetwas herüberrufen wollte Laido nicht, er wusste nicht was und hatte auch die gewisse Sorge, durch unbedachtes Verhalten eine Felslawine herbeizuführen oder dergleichen. Er wandte sich deshalb dem Höhleneingang zu und suchte den Boden ab. Irgendwo hier musste doch einer dieser Brocken liegen. Er tat Schritt für Schritt, achtete darauf, sich nicht zu weit vorzuwagen, damit er noch genügend Licht von außen hatte, aber er fand nichts. Als er wieder vom Boden aufsah und nochmal Kontakt zu Andrés aufnehmen wollte, bemerkte er, dass er bei seiner konzentrierten Suche nun doch schon viel weiter in die Höhle vorgedrungen war als er eigentlich geplant hatte. Links und rechts von ihm sah er Stalaktiten und Stalagmiten, offenbar war das hier sogar eine Tropfsteinhöhle, und alles war nun in ein rotes Licht getaucht. Nach draußen konnte er von hier nicht mehr schauen, er war offenbar unbemerkt um eine Biegung gegangen und hatte gar nicht gemerkt, dass das staubgeschwängerte Sonnenlicht von draußen langsam dem roten Glühen von drinnen gewichen war.
    Laido befand sich auf einem steinernen Pfad, der in die Tiefe führte, und von dort kam auch das rote Glimmen: An der Höhlenwand einige Meter weiter entfernt und abwärts von Laidos Position aus gesehen zog sich großflächig eine Erzader durch den Fels, die den hiesigen Teil der Höhle in schummeriges Licht tauchte und auch noch weiter in die Tiefen abstrahlte. Laido fühlte sich beim Anblick ein bisschen wie betäubt. Er hätte nicht gedacht, dass Erz wirklich selbstleuchtend war, noch dazu in Rot und nicht etwa … in Blau.
    Ein Ziehen in seiner Magengrube wies ihn darauf hin, dass sich neben dem Erstaunen noch ein anderer Affekt in ihm breitmachte: Furcht, Angst. Wie er zur Erzader sah, in die Tiefe dieses in rotem Licht getönten Felsraums, dann war es ein bisschen, als würde er in die Hölle schauen. Das unheimliche Gefühl beschlich ihn, dass etwas Schlimmes passieren würde, wenn er zu weit in diese Hölle hinabstieg. Vielleicht war es auch schon bis zur Erzader zu weit, vielleicht würde er dabei eine Schwelle überqueren, die etwas Furchtbares auslösen würde. Er war noch nicht bereit, das zu tun. Er musste hier raus, vielleicht würde er wiederkommen, aber er musste hier raus. Laido wandte sich zum Gehen, von Schwindel ergriffen, aber dann spürte er, dass es zu spät war, dass er schon zu weit gegangen war. Er blickte wieder in die Tiefen hinab, auf das glimmende Erz. Die Silhouette eines schwebenden Wesens war dort erschienen, ein Kopf mit Oberkörper und ausgebreiteten Armen, darunter nichts, keine Beine, keine Füße. Ein grauer Stofffetzen bedeckte vergilbte Knochen, das Grinsen eines Totenschädels raste auf Laido zu. Ihm wurde heiß und kalt zugleich. Laido rannte den Steinweg hinauf, wollte zurück zum Ausgang, aber auf einmal war der Weg so unglaublich lang und seine Beine waren so schwer. Er spürte den fauligen Atem des fliegenden Skeletts im Nacken und glaubte schon an das Ende, als er endlich die ersten Strahlen des in Rot getauchten Sonnenlichts von draußen vernahm. Ein paar Augenblicke später stand er wieder im Canyon, im Freien, und sah nur noch, wie sich das Skelettwesen hinter ihm wieder in die Höhle zurückzog.
    Laido wollte trotzdem weiterlaufen, aber seine Beine schienen in einem unsichtbaren Morast festzustecken. Durch den dichter gewordenen roten Nebel versuchte er das charakteristische weiße Shirt von Andrés auszumachen, aber er fand es nicht. Er war allein. Bis er auf einmal hinter sich spürte, wie sich eine andere Gestalt aus dem Nebel hervorschälte. Schlurfend, groß, ungelenk. Als die Umrisse klarer wurden, zuckte Laido zusammen, machte ein paar Schritte rückwärts und stolperte dabei über seine eigenen Füße. Wind brauste lärmend auf, als Laido seinen Blick nach oben wandte. Dort stand ein kopfloser Zombie, aber das stimmte nicht einmal, denn dieses Wesen hatte sogar gleich drei Köpfe, nur dass die nicht mit seinem Hals verbunden waren. Stattdessen jonglierte der Zombie mit ihnen im Kreis, gewandt wie ein Zirkusartist, während eine dünne Blutfontäne senkrecht aus seinem Halsstumpf empor schoss und einfach nicht versiegen wollte. Laidos Augen waren wie festgefroren an diesen Anblick, und so konnte er sich auch nicht abwenden, als er das Gesicht der drei Köpfe erkannte. Alle drei Schädel zeigten das gleiche Antlitz: Diego. Dunkle Haare, ein dunkler Schnauzbart, gebräunte Haut, eine strenge Nase, ein leicht faltiges Gesicht, und das alles drei Mal. Dreimal Diego. Aus Diego war ein kopfloser Zombie geworden, oder hatte sich bloß ein kopfloser Zombie dreier Diego-Köpfe bemächtigt, um nun auszuwählen, welchen von ihnen er auf seinen Stumpf setzte? Aber das ergab keinen Sinn, es konnte doch nicht dreimal den gleichen Diegokopf geben, es sei denn, man hatte Diego geklont. War so etwas möglich? Laido wusste es nicht.
    Der Zombie war einfach vor Laido stehengeblieben und jonglierte weiter, aber nun verebbte so langsam die Blutfontäne, sie wurde kleiner und kleiner, bis sie schließlich ganz versiegte. Ein Rumoren zog sich durch den Halsstumpf, die im Nichts endenden Sehnen zitterten angespannt, auch in den blanken Brustkorb des Zombies, ein faulendes Stück Fleisch in rotem Metallstaub paniert, kam nun Bewegung, Wülste schlugen auf, als seien gleich mehrere Tumore zum Leben erwacht, und alles strebte irgendwie nach oben, wo etwas Neues aus dem Halsstumpf der Kreatur herauswuchs. Laido verstand recht schnell, dass dort nun ein neuer Kopf wachsen musste, vielleicht ein weiterer Diego-Kopf, der sich früher oder später in die Jonglage würde einfügen müssen. Noch immer konnte Laido seinen Blick nicht abwenden, so sehr er es auch wollte. Während der Hals gegenüber immer mehr in Bewegung kam und weiter wuchs, war sein eigener wie festgeschraubt. Nun bildete sich langsam ein Kinn auf dem gewachsenen Halsstumpf des Zombies aus. Auch durch die mehr und mehr aufbrausenden Windgeräusche hindurch konnte Laido deutlich hören, wie Knochen knackten und sich hin und her schoben, bis sie ihre vorbestimmte Form angenommen hatten. Der Rest des Wuchses fand mit immer größerer Geschwindigkeit statt, jetzt waren schon die Wangenknochen ausgebildet, junge, unverbrauchte Haut spannte sich über das wachsende Skelett, eine Nase wurde geboren, darüber zwei Augen, die Ohren, noch ein paar Wimpernschläge, dann war alles fertig. Laidos Kehle fühlte sich an, als hätte er zwei Eimer roten Metallsand geschluckt. Er kannte dieses Gesicht. Aber das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Es knallte.
    „Daniel?!“

    Laido wachte auf, schnappte nach Luft und schlug mit seinen Händen seitlings auf die Matratze, wie um einem imaginären Judopartner die Kapitulation erklären. Nach ein paar Schlägen beruhigte er sich, er war wieder im Hotel, nein, nicht wieder, sondern immer noch. Die Eindrücke des Traums begannen sich wie unsichtbare Glassplitter in seinem Schädel zu verteilen. Was vor einigen Sekunden noch eine halbwegs kohärente Geschichte gewesen war, war nun ein Haufen ungleichmäßiger Fragmente. In nur wenigen Minuten würden die Bilder, die sie spiegelten, endgültig zu gläsernem Staub zerfallen sein. Laidos Gedanken eilten hin zu seinem Traumtagebuch, aber es war nicht griffbereit, er war ja nicht mehr in seiner Wohnung. Schläfrig setzte er sich auf; obwohl es dunkel war, fühlte er den Schwindel und sah wie es ihm schwarz vor Augen wurde. Dann hörte er noch einmal den Knall, der ihn geweckt hatte. Jetzt sah er auch den schmalen, hauchdünnen Lichtstreif, der vom Nebenraum in seinen Schlafbereich hinein reichte. Barfüßig und halb schlafwandelnd hievte Laido sich vom Bett. Er bewegte sich wie durch einen dicken Block aus Gelatine, schaffte es aber in den Nebenraum, nur um zu erkennen, dass das Licht gar nicht von dort kam, sondern durch den Türspalt aus dem Flur. Andrés war nicht da, aber von draußen konnte Laido Stimmen hören. Erst jetzt bemerkte er, dass er ja noch seinen Bademantel trug, aber das war gerade nicht so wichtig, denn er glaubte, unter den Männerstimmen auch die von Andrés herauszuhören. Sie klangen eher aus der Ferne zu ihm, und so traute Laido sich, die Tür einen Spalt aufzudrücken. Der Flur war von einem dämmerigen Licht aus den Milchglaslampen an den Wänden erfüllt, die dann aber mit einem Mal erloschen. Laido bewegte sich hektisch ein paar Schritte in den Flur hinein und sie sprangen wieder an. Bewegungsmelder. Mit langsamen, etwas watscheligen Schritten – er war vom Bett aus zurück in die Badelatschen geschlüpft – tapste Laido über den kalten Marmorflur bis ins Treppenhaus. Das Treppenhaus selbst war dunkel, es sprangen auch keine Lampen an, aber unten an der Rezeption war Licht. Dann schrie eine Frau. Laido hatte sofort das Bild der Hotelbesitzerin, Camila, vor Augen. Schritte auf Stein und Teppich hallten durch das Gebäude, dann wieder ein Knall, diesmal ohrenbetäubend. Laido versuchte sich einzureden, dass es kein Pistolenschuss gewesen war. Ein Mann brüllte, vielleicht sogar zwei, aber Andrés war nicht dabei. Das glaubte Laido zumindest, er hatte Andrés noch nie brüllen gehört. Es knallte noch einmal, das Pistolenschussgeräusch, das keines sein durfte. Dann ein leiseres, dumpfes Geräusch, als hätte jemand einen Sack Kartoffeln fallen gelassen.
    Laidos Puls hämmerte durch seinen ganzen Körper. Er hatte sich unwillkürlich in eine Hocke begeben, beide Hände am Treppengeländer festgeklammert, sie zitterten derart, dass die Metallstreben des Geländers ein wenig mitbebten. Noch bevor Laido entscheiden konnte, was er nun tun sollte, zurück ins Hotelzimmer fliehen oder sich nach unten zur Rezeption trauen, geriet Andrés in sein Blickfeld, weißes Shirt, dunkler Haarschopf, die gebräunte Haut im Dämmerlicht schimmernd. Er sprach schnelles, abgehacktes Spanisch mit Camila, die Laido von seiner Position aus nicht wirklich sehen, aber erahnen konnte. Zwischendrin richtete Andrés seinen Blick einmal kurz nach oben, aber es war nicht klar, ob er Laido wirklich wahrgenommen hatte. Er redete weiter auf die Hotelbesitzerin ein, die nur kurze, aufgeregte Sätze erwiderte. Dann machte Andrés mit der rechten Hand eine beiläufige, fast verstohlene Bewegung, die Laido aber gerade deshalb nur umso deutlicher wahrnahm: Er hielt in der Tat eine Pistole in der Hand, die er nun in seinen Gürtel steckte, ganz wie selbstverständlich, ohne das weiter zu beachten, mit einer vielsagenden Routine. Laido schluckte, aber sein Mund war ganz trocken. Er konnte sich viele Deutungen dieses Geschehens ausmalen, von denen eine zum Beispiel so aussah, dass irgendwelche Diebe oder Räuber sich Zutritt zum Hotel verschafft hatten und Andrés die Gefahr gebannt hatte – denn andere Männerstimmen hörte Laido nun nicht mehr. Aber was, und das war eine andere mögliche Deutung aus diesem bunten Strauß an Erklärungsmodellen, was, wenn Andrés selbst der Böse war? Ausgeschlossen war es nicht. Laidos Herz stockte, als Andrés nun wieder nach oben zu Laido schaute und dann die Treppe heraufeilte. Jetzt würde er es wohl erfahren.
    „Zieh dir was an“, raunte Andrés, der auf der Mitte der Treppe stehengeblieben war und offenbar nicht beabsichtigte, noch weiter rauf zu kommen. „Pack die Reisetaschen zusammen und trag sie nach unten. Vergiss auch deine persönlichen Sachen nicht. Wenn sie dir zu schwer sind, kümmere ich mich nachher um die Koffer. Ich muss jetzt aber erst einmal ein Auto holen.“
    Laido war von der ungewohnt hektischen Ansprache des Südländers ganz verwirrt. „Ein Auto holen? Was … wir fahren jetzt los? Aber ich dachte …“
    „Planänderung“, sagte Andrés nur. „Beeil dich.“
    „Was ist passiert? Wer war da? Hast du geschossen? Ich habe es knallen gehört und deine Pistole gesehen -“
    „Momentan ist keine Gefahr mehr, aber wer weiß schon, für wie lang. Los jetzt!“
    Mit diesen Worten machte Andrés auf der Treppe kehrt und verschwand unten im Rezeptionsbereich. Laido hörte eine Tür klappern, offenbar hatte Andrés das Gebäude verlassen. Laido selbst ließ sich von seinen Füßen zurück ins Hotelzimmer tragen. Das Blut in seinem Körper pumpte spürbar und in seinen Ohren sauste es. Er wusste zu der ganzen Situation kaum noch etwas zu sagen oder zu denken, bekam sich selbst kaum dabei mit, wie er auf Andrés Geheiß hin die Reisetaschen aus ihrem Apartment zusammenraffte. Immerhin sah alles ganz danach aus, dass ihm dieses Mal aber wirklich eine Busfahrt erspart blieb.

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