Kapitel 1: Manni

Seit seine Frau mit dem Geigen angefangen hatte, hatte sich die Zeit, die Thorben in seiner Tischlerwerkstatt verbrachte, drastisch reduziert. Die so entstandene Muße nutzte Thorben, um sich dem Studium der heiligen Schriften zu widmen. Anstatt darin aber Erlösung und Weisheit zu finden, hatte sich sein ohnehin griesgrämiges Gemüt im Laufe der Monate immer weiter verfinstert. Oft saß er am Küchentisch, die heilige Schrift aufgeschlagen, den Blick starr auf die Blumenvase auf dem Fensterbrett gerichtet, und grübelte. Über was er grübelte? Das vermochte Keiner so recht zu sagen, außer vielleicht Thorben selbst, aber der wollte es nicht sagen. Wenn man ihn fragte, antwortete er immer nur vage, er beschäftige sich mit den „großen und wichtigen Fragen“ – falls er überhaupt antwortete, denn für seine seine Umwelt hatte er nur noch Teilnahmslosigkeit und Desinteresse übrig.
Seinem Sohn Lars konnte das Recht sein, denn so blieben ihm die früher so häufigen väterlichen Belehrungen über die rechte Art zu handeln, die rechte Art zu denken, die rechte Art zu beten und die rechte Art Bretter zu zersägen erspart – für Letzteres gab es jetzt ja Mutter! Da sein Vater ihn also kaum noch zur Arbeit in die Werkstatt rief, hatte er nun umso mehr Zeit, die er mit seinem heißgeliebten Freund Manni verbringen konnte. Manni war zwar nicht gerade von der redseligen Art, aber der beste Freund, den Lars sich vorstellen konnte. Manni hatte immer ein offenes Ohr für Lars, ganz gleich was dieser auch zu sagen hatte, und ob dieser überhaupt etwas zu sagen hatte, und war überhaupt ein sehr guter Zuhörer. Wenn las etwas erzählte, saß er immer ganz still da, den Kopf zu Lars geneigt und lauschte andächtig seinen Worten. Nie unterbrach er Lars, sondern gab höchstens alle paar Sätze ein zustimmendes Grunzen von sich und manchmal, wenn er von Lars‘ Worten ganz besonders angetan war, wiederholte er auch mal lallend die letzten Worte, die Lars eben gesagt hatte.
Und wenn Lars einmal nichts zu reden hatte, so nahm er Mannis fetten Körper in den Arm und nahm ihn mit auf einen Spaziergang. So war es auch eines Mittags, als wieder einmal Mutters schriller Geigenklang durch die Gassen des Händlerviertels schallte, und bei den dortigen Anwohnern und Geschäftsinhabern von allerlei Unmut und Flüchen begleitet wurde. Um dem Lärm zu entkommen, hatte er sich Schuhe und Mantel übergeworfen und Mannis tapsigen Pfoten zwei Paar dicke Wollsocken übergezogen, bevor er Manni im Arm das Haus verlassen hatte. Und wie er so ging, bereute er ein bisschen, dass er Manni mitgenommen hatte, denn mit Manni im Arm konnte er sich ja schlecht die Ohren zuhalten, allerdings – kam ihm bald in den Sinn – konnte er Manni ja auch nicht einfach so dem Lärm überlassen, und wenn er sich nur weit genug von zuhause entfernte, würde er eh nichts mehr hören. Nach einer Weile, als der Geigenklang kaum noch lauter war als das Rauschen des Windes, der im Winter kalt und harsch durch die Straßen Khorinis‘ zu wehen pflegte, verlangsamte er seinen Schritt, und begann Manni die Wunder der Stadt zu zeigen: da waren die Geschäfte mit ihren exotischen Waren, die Lars nicht einmal benennen konnte, geschweige denn wissen, wofür man sie brauchte oder wer sie kaufen sollte, da waren die reichen Händler, die mit Frauen und Töchtern, in prächtigen Pelzmänteln durch die Straßen spazierten und dann waren da noch die Huren, die unter ihrer dicken Schminke hervor lächelten, wenn man hinguckte, und ihr Lächeln einfroren und haltbar machten, sobald man wieder wegguckte.
Als Manni und Lars sich eine Weile umgeguckt hatten, kamen sie schließlich an Constantinos Labor vorbei und Lars hielt seinem Freund die kleine, rosane Nase zu, denn die Dämpfe, die aus Constantinos Labor drangen – so sagte Vater immer – machten einen verrückt, wenn man sie zu lange einatmeten. Als sie Constantinos Labor hinter sich gelassen hatten, kamen sie kurze Zeit später zum Galgenplatz, wo der königliche Herold die neusten Neuigkeiten aus dem Festland verkündete. Hastig hielt Lars Mannis Ohren zu, denn die Worte des Herolds – auch das hatte Vater gesagt – machten dumm, wenn man ihnen zu lange lauschte. Als sie kurz darauf über den Marktplatz liefen, wanderte Lars Hand zu Mannis Augen und verdeckte auch diese, denn zwischen all dem bunten Gesindel, den fülligen Marktweibern, den schreienden Marktschreiern, den wuselnden Marktbesuchern, war auch so manches aufgespießte Molerat zu sehen, welches sich fetttriefend über glühenden Kohlen drehte – ein Anblick, Mannis schwaches Gemüt überfordert hätte. Auch Lars wendete angewidert seinen Blick ab, beschleunigte seinen Schritt und ehe er sich versah, hatte er den Markt bereits verlassen und war durchs Stadttor nach außen geschlendert. Und wie er so über Weg und Wiese blickte, mit seinen Augen Berg und Tal vermaß, da kam ihm mit einem Mal eine Idee und die Sorglosigkeit, mit der er eben noch doch die Stadt geschlendert war, war verschwunden. Es war eine gute Idee, aber sie machte ihn auch traurig. In Gedanken versunken trottete er langsam den Weg entlang, welcher zu Orlans Taverne führte.

Unter einer steinernen Brücke angekommen, hielt Lars schließlich inne. Behutsam setzte Lars Manni auf die alte, hölzerne Bank, die dort schon seit Ewigkeiten herumstand. „Weißt du, Manni?“, fragte er Manni, aber Manni wusste wie immer nichts. „Als ich dich zum ersten Mal traf, warst du kaum größer als meine Hand, ein gefundenes Fressen für … naja … alle, die sowas gerne essen. Genau hinter dieser Bank war es. Du standest in einer Blutlache und neben dir – blutüberströmt – lag starr ein fettes Moleratweibchen, das offenbar deine Mutter war. Am Rücken trug sie eine klaffende Wunde, aus der das Blut noch im schwachen Rinnsal weitertropfte. Als ich das sah … ja … da musste ich erstmal kotzen, und habe mir vorgenommen, von nun an keinen Brocken Fleisch mehr zu essen. Tja, und als ich mich dann ausgekotzt hatte, habe ich dich nach Hause mitgenommen und seitdem heißt du Manni.“ Manni nickte ernst und blickte Lars aus dankbaren Augen an – zumindest bildete sich Lars das ein. „Weißte Manni“, fuhr Lars gerührt fort, „vielleicht solltest du dir das auch mal überlegen, also kein Fleisch mehr zu essen. Ich meine, die Ratten, die haben dir doch nichts getan, oder?“ Manni schüttelte den Kopf. „Naja, und andere Sachen sind doch auch lecker, nech?“ Manni machte nichts, mit glasigen Augen blickte er an die Felswand hinter Lars. „Mmmh, also ich fände es gut, wenn du mir zuhören würdest, du hörst mir doch auch sonst immer zu. Aber diesmal liegt es mir wirklich am Herzen, weißdu?“ Manni blickte immer noch starr auf die Felswand. Lars drehte sich um und blickte er auf die Felswand. Zuerst konnte er nichts besonderes erkennen, doch nachdem er seine Augen ein paar Mal zusammengekniffen und wieder aufgesperrt hatte, erkannte er, dass dort Buchstaben eingeritzt waren. Vorsichtig strich er mit der Hand darüber und spürte Rückstände von Steinmehl in den Ritzen. Die Buchstaben musste also noch frisch sein. Wieder kniff er die Augen zusammen und entzifferte Buchstabe für Buchstabe die Inschrift an der Wand:

In Gedenken an eine Mutter, die ihr Leben für das Leben ihres Kindes geopfert hat
Mit besten Wünschen für das Kind, das ohne Mutter aufwachsen muss
In ewiger Reue:
Kai Hansen


Das Blut schoss ihm in den Kopf. Kai Hansen? Der Kai Hansen? Der von Lars so verehrte, allseits bekannte Sänger und Lautenspieler Kai Hansen? Doch ganz gleich ob, es der Kai Hansen war oder ein anderer, er musste beim Tod von Manfreds Mutter dabei gewesen sein und schien davon ebenso berührt zu sein wie Lars. Mit einem Schlag aber verdunkelte sich sein Gemüt: Was, wenn dieser Kai Hansen schuld am Tod von Mannis Mutter war? Warum sollte er sonst „in ewiger Reue“ geschrieben haben? Er musste Kai Hansen finden! Aber wo sollte er suchen? Kai Hansen war nicht gerade für seine Sesshaftigkeit bekannt. Tausend Ideen und Gedanken brandeten in ihm auf und erloschen sogleich wieder. Mehrere Minuten lang konnte Lars kaum zwei zusammenhängende Gedanken fassen. Lars atmete tief durch und versuchte an irgendetwas zu denken, das seine Gefühle zügeln und Ordnung in seine Gedanken bringen konnte, wodurch seine Gedanken aber nur immer wirrer wurden. Erst als er sich einer Melodie entsann, die er einst von einem alten Seemann im Hafenviertel aufgeschnappt, und die ihn seitdem nicht mehr losgelassen hatte, gelang es ihm, sich zu beruhigen. Und wie er die Melodie vor sich hersummte, kam ihm ein Text dazu in den Sinn:

Verloren, verlassen, zerbrechlich und fein
Fand ich dich einst bei der Brücke aus Stein
Die Mutter verstorben, der Vater verrückt
Blicke stets vorwärts und niemals zurück.


Zwar wusste er nicht, ob Mannis Vater wirklich verrückt geworden war – er hatte ihn ja nie getroffen – aber auf „zurück“ war ihm einfach kein besserer Reim eingefallen und so hatte er Mannis Vater wohl oder übel für verrückt erklären müssen. Trotz dieses offensichtlichen Mangels war Lars zufrieden mit seiner Schöpfung – sie war so traurig und hoffnungsvoll zugleich, dass er nicht wusste, ob er lachen oder weinen sollte – und so begann er zu singen. Zwar hörte sich das ganze nicht besonders schön an, da er gerade in der Hochphase seines Stimmbruchs steckte, doch besser ging es wohl einfach nicht.
Und weil ihm das Lied so gut gefiel, sang er es, nachdem er geendet hatte, noch ein weiteres Mal, und danach noch einmal, und danach noch einmal, und so weiter, bis ihm die Kehle heiser wurde und das Lied in einem Hustenanfall sein Ende fand.
Sein Husten war noch nicht verklungen, als er plötzlich von hinten eine kühle, trockene Stimme vernahm: „Was für ein beschissenes Lied.“
Wütend drehte Lars sich um und erblickte einen hochgewachsen Mann in bunter Fransenkleidung und großen Schnallenschuhen, die an ihrer nach oben gewölbten Spitze mit silbernen Glöckchen geschmückt waren. In seiner Hand trug er eine Harfe, an der er von Zeit zu Zeit zupfte um seine Worte effektvoll zu untermalen. Lars hätte bei diesem Anblick laut gelacht, wäre er nicht so wütend gewesen. „Dann sing doch ein Besseres!“, rief Lars dem Fremden trotzig zu.
„Nichts leichter als“, sagte der Mann in den merkwürdigen Klamotten und begann sogleich zu singen:

„Verloren, verlassen, verbittert, allein
Fand ich dich einst im schattigen Hain
Von Klagen verzaubert, von Tränen verzückt
Machte aus Kummer ich ewiges Glück.“

„Aber das Lied passt doch gar nicht“, rief Lars erbost.
„Pah, als ob du davon was verstehen würdest! In dieser Jahreszeit der kalten Böen und warmen Öfen kann es doch nichts Passenderes geben als ein Liebeslied, das kalt beginnt und warm endet. Wie bei einem Menschen, der aus eisigem Winterwetter in die warme Stube tritt, erwärmt das Lied die Herzen der Zuhörer. Deines dagegen … nunja, das würde jetzt zulange dauern, dir die Mängel deines Textes alle aufzuzählen, und dieses Machwerk würde eine solche Aufmerksamkeit auch keinstenfalls rechtfertigen. Und was war das überhaupt für eine Melodie, die du da gesungen hast? So ein grässliches Gejaule habe ich ja meinen Lebtag noch nicht gehört!“
„Die ist …“ Lars versuchte sich zu erinnern, was der Seemann über den Ursprung der Melodie gesagt hatte. Plötzlich erhellten sich seine Züge. „Die ist von Kai Hansen!“
„Kai Hansen?“, der Fremde spuckte auf den Boden. „Kein Wunder, dass es so beschissen klingt.“
„Wer bist du überhaupt, dass du so über Kai Hansen redest?“
„Das wirst du ja wohl selber wissen, wer ich bin.“
Lars dachte eine Weile nach und schüttelte schließlich den Kopf. „Nein, das weiß ich nicht.“
„Naja gut, kann ja sein, dass du mich noch nie gesehen hast. Ist ja auch nicht so leicht, nech? Aber doch zumindest schon einmal von mir gehört?.“
„Das weiß ich nicht“, sagte Lars. „Dafür müsstest du mir erst mal sagen, wie du heißt.“
„Nun gut“, sagte der Fremde und ließ die Harfe klimpern. „Meine Name ist …“ Er machte eine Pause, in welcher er an seiner Harfe eine dramatische Melodie zupfte. Lars hatte gerade genug Zeit, dass er seine Augen dreimal hätte herumrollen können, da sagte der Fremde: „Kato von Bridowitz, Harfenvirtuose und – das darf ich ganz unbescheiden sagen – der beste Sänger der Welt.“
„Aber der beste Sänger der Welt ist Kai Hansen!“, sagte Lars empört, denn der beste Sänger der Welt war in der Tat Kai Hansen. Daran bestand nicht das geringste bisschen Zweifel. Ja, das war sogar so klar, dass selbst Manni zustimmend mit dem Kopf nickte.
„Pah!“, sagte Kato von Bridowitz. „Das wird sich noch zeigen, wer von uns beiden der Bessere ist … Also natürlich wird sich zeigen, dass ich der Bessere bin.“
„Das glaube ich nicht“, antwortete Lars nur kühl.
„Ich!“, sagte Manni bekräftigend.
„Wer war das?“, rief Bridowitz und schaute sich nach allen Seiten um, konnte aber außer sich selbst und Lars weit und breit keinen Menschen entdecken.
„Das!“, entgegnete ihm Manni ihm Stolz und stellte sich auf zwei Beine, dass sich der Rücken streckte und die Brust in die Höhe ragte.
Nun fiel auch Bridowitz‘ Blick auf Manni. Mit offenen Augen starrte er den rosanen Riesennnager an. „Kann der etwa sprechen?“, fragte er verblüfft.
„Ja!“, sagte Lars stolz.
„Ja!“, sagte Manni stolz.
„Okay“, sagte Bridowitz gedehnt und runzelte die Stirn, als grübelte er über irgendetwas nach. Plötzlich erhellte sich sein Blick und ein gönnerhaftes Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit.
„Was steht da eigentlich auf der Wand hinter dir?“, fragte er.
Lars wiederholte die Worte an der Wand. Beim Klang des Namens Kai Hansen fuhr ein Zucken durch Bridowitz‘ Gesicht, doch nach einem Augenblick war da wieder dieses Grinsen, das aussah, als hätte er, seit er dem Mutterleib entsprungen war, niemals etwas Anderes getan als gegrinst.
„Nun gut. Wenn du meinst, Kai Hansen wäre der beste Sänger der Welt, dann will ich dir eine Gelegenheit geben, dies unter Beweis zu stellen.“
„Soll ich dir was von ihm vorsingen?“
„Nein, nein, um Innos‘ Willen!“, sagte Kato von Bridowitz. „Damit tätest du dir … und äh … Kai Hansen keinen Gefallen. Ich meine du kannst einfach nicht so gut singen, verstehst du?“
Lars verstand.
„Ich habe mir stattdessen etwas anderes ausgedacht“, sagte Bridowitz stolz.
„Was denn?“
„Wir spielen verstecken. Du zählst bis tausend und ich verstecke mich in der Zeit. Wenn du mich findest, ist Kai Hansen der beste Sänger der Welt, wenn nicht, dann nicht. Einverstanden?“
„Ist bis tausend nicht ein bisschen lang?“
„Naja, es geht hier immerhin um meine Sängerehre! Da darf es nicht zu leicht für dich werden.“
Lars nickte. Das machte irgendwie Sinn und lieber als Singen war ihm das allemal.
„Na gut, bis tausend also.“
„Gut“, sagte Bridowitz und deutete auf eine Höhle in der Felswand. „Geh da rein und zähle. Wir sehen uns dann später … oder auch nicht. Alles klar soweit?“
Lars nickte und ging hinüber zur Höhle
„Aber nicht heimlich rausgucken“, rief Bridowitz ihm hinterher. „Es geht hier immerhin um meine Sängerehre!“