Zitat von
Tjordas
Ledersessel waren ihm einfach nicht geheuer. Untermalt von sorgfältig ausgesuchtem Neo-Smooth-Jazz und mit einem gekonnt gemischten Cocktail in der Hand war es durchaus nicht einfach, sich zu beklagen. Und dennoch rutschte Julian unentwegt auf der glatten Oberfläche des Sitzpolsters hin und her und ärgerte sich dabei über die knarzenden Geräusche, die auf dem eigentlich so bequemen Sitzmöbel bei jeder Bewegung entstanden. Jedes Mal, wenn er es sich gerade einigermaßen bequem gemacht hatte, bemerkte er nach weniger als einer Minute, wie er wieder mit dem Körper viel zu weit in den Sessel gerutscht war und sich erneut hochziehen musste. So angenehm diese Hotellobby zunächst schien, so heimtückisch war sie jetzt. Beinahe mürrisch kaute er deshalb auf dem Strohhalm, durch den er seinen Gin Tonic mit Zimt, Minze und Orange sog.
"Unfassbar, nicht wahr?", überfiel ihn eine Frauenstimme von der Seite und noch bevor der Doktor eine aufrechte Sitzhaltung annehmen und aufsehen konnte, verschluckte er sich an seinem Getränk, hustete wiederholt, verschüttete im Versuch, das Glas mit zuckendem Körper abzustellen, den Inhalt auf sein Hosenbein und konnte schließlich erst nach äußerst peinlichen dreißig Sekunden Luft zur Antwort holen.
"Wie bitte?", entgegnete er mit etwas kratziger Stimme und nahm einen Schluck von seinem Getränk um den rauen Hals zu befeuchten. Erst jetzt sah er zu der Frau neben sich auf, die in ihrer Allianz-Ausgehuniform einen wesentlich seriöseren Eindruck machte als er mit seinem fleckigen Hosenbein.
"Ich meine den Prozessausgang. Der ganze Aufwand, beinahe werfen sie den Doktor vielleicht sogar ins Gefängnis und schließlich gibt die Patientin alles zu. Die Dinge sind am Ende doch nie, wie sie scheinen, schätze ich", resümierte die Allianzsoldatin. Erst jetzt erkannte er, dass sie auf sein Datapad blickte, auf dem ein Beitrag zum Prozessverlauf aufgerufen war. Julian lächelte nur leicht, als er verstand, worum es ging und nickte, doch entgegen seiner üblichen Plapperlaune schwieg er zu diesem Thema. Obwohl seine Aussage genau so ausgefallen war wie geplant, war der Prozess schließlich ganz anders verlaufen als erwartet. Dass Dr. Svensson nun aber vorerst nicht auf Proteus zurückkehren würde, blieb nach wie vor unumstößlich. Darum hatte sich Julian daran gemacht, die Ermittlungen zu den Anschlägen selbst näher mitzuverfolgen und seinen Aufenthalt in London direkt hierfür zu nutzen.
"Ich... Nehme an, Sie sind meine Eskorte zum Saint Medard?", wich Julian nur vom Thema ab und war froh, sich endgültig aus dem braunen Ledersessel erheben zu dürfen.
"Sehr richtig Doktor. Specialist Lewin, bereit zur Abholung. Ein Transporter wartet bereits vor dem Gebäude. Wenn Sie nicht zu lang im Militärkrankenhaus bleiben, bekommen Sie vielleicht sogar noch heute Abend ihren Rückflug nach Proteus."
"Kanns kaum erwarten. Ein nebliger, grauer, regnerischer Ort wäre eine willkommene Abwechslung zu London", seufzte Julian mit trockener Ironie in der Stimme, trank seinen Drink eilig aus und folgte nach einer vorausschickenden Geste.
Die Pathologie war auch in diesem hochmodernen Militärkrankenhaus ein wenig prestigeträchtiger Teil der Anlage, versteckt in der zweiten Unteretage und nur mit grauen oder weißen Panelen geschmückt, beleuchtet in kaltem Weiß, das auch die wenigen Lebenden in dieser Stadt der Toten geisterhaft erscheinen ließ. Specialist Lewin schien selbst nicht gern ihre Zeit hier zu verbringen und überhaupt biss sich das kräftige dunkelblau ihrer Uniform mit dem kalkweißen Umfeld, doch auch wenn das Lächeln aus ihrem Gesicht gewichen war, erfüllte sie ihre Pflicht und öffnete Julian die automatische Schiebetür zum Sezierraum. Sie schluckte, schien nicht vorzuhaben, ihre Eskortepflicht zu genau zu nehmen und schickte Julian mit einer kurzen Geste in den Raum, vor dem sie selbst offenbar warten wollte.
Etwas verständnislos darüber zuckte Julian mit den Schultern und betrat den recht großen Raum mit etwa einem Dutzend leeren Metalltischen. Nur einer, der in der Mitte des Raumes, war nicht leer sondern trug die ikonische Form eines abgedeckten Körpers auf sich - nur zu erkennen an der länglichen Form und der im weißen Tuch sichtbaren Erhebung der Nasenspitze am Kopfende. Zusätzlich zu Konservierungs- und Desinfektionsmitteln lag der Geruch von Eisen in der Luft, der sich noch verstärkte, als Julian sich dem Körper näherte. Er zögerte nicht lang, zog routiniert das Laken hinunter bis zu den Knien des Toten - und war bei aller Routine dann doch etwas überrascht über den Anblick: Statt des üblichen weiß-roten oder manchmal schwarzbraunen Massakers bot sich ihm vor allem ein Bild, das im ersten Moment eher an Maschinenräume denken ließ. Hier lag zwar der äußeren Form nach ein menschlicher Körper, doch dadurch, dass der Hinterkopf und Teile des Hirnschädels fehlten, offensichtlich von den Austrittsgeschwindigkeiten von Großkalibern zerborsten, fiel die Einordnung dennoch erstmal schwer. Überzogen war alles mit tiefschwarzen Schlieren und Wunden. Wo sich üblicherweise unsichtbar Arterien und Venen zogen, sah man schwarze Linien deutlich durch die Haut hindurch. Besonders kurios war jedoch der Anblick des bereits eröffneten Brustkorbs, durch den sich vor der Lunge Strukturen zogen, die eher an mechanische Schläuche als an Atemwege erinnerten - noch zu organisch für Implantate, aber mit Sicherheit keine klassischen Organe und Gewebe. Und auch hier: alles in ein tiefes Schwarz getaucht. Instinktiv die Brauen in Skepsis eng zusammengeschoben, griff Julian nach einem Skalpell neben sich, um eine der schlauchartigen Strukturen zu zertrennen und zu sehen, was daraus austreten würde, doch noch bevor die Klinge das Ziel erreichte unterbrach in hallend die Stimme eines Mannes von der anderen Seite des Raumes.
"Bitte nichts anfassen!", rief ein etwas schrullig wirkender Mann mit kahlem Kopf und dafür umso gewaltigerem, grauen Bart und watschelte unter wehendem Ärztekittel zu Julian hinüber.
"Sie müssen Professor Bensson-Fitch sein?", schlussfolgerte Julian schnell und nutzte diese Vorstellung, um das Skalpell unauffällig wieder wegzulegen.
"So ist es, Doktor Ward. Und entgegen meiner Nachricht von vorhin muss ich meine Gastfreundschaft doch kurz ausfallen lassen. Wie Sie sicher unschwer sehen können, haben wir hier einen Fall, der besonderer wissenschaftlicher Aufmerksamkeit bedarf und ich kann daher leider keine Kontamination der Parameter riskieren"
Das typische Handeschütteln blieb aus - Bensson-Fitch trug riesige, weiße Gummihandschuhe, die eher wie für einen Raumanzug gemacht schienen und auch diese waren voll mit der schwarzen Flüssigkeit, die Julian irgendwo zwischen Ferrofluid, geronnenem Blut und Öl einzuordnen suchte.
"Sehr verständlich, Professor. Gibt es hier denn schon eine erste Einordnung, wonach Sie genau forschen möchten?"
"Geth natürlich. Sind Sie so eine Art Idiot?", bellte der kleine, alte Mann nur zurück und ging auf Julian zu, bis dieser keine Wahl hatte, als sich nach hinten abdrängen zu lassen.
"Drachenzahnflüssigkeit?", fragte Julian überrascht und schien den Professor damit für einen Moment zumindest überrraschen zu können.
"Das... Vermuten wir, ja. Allerdings kennen wir Subjekte bisher nur in einem komplett konvertierten Zustand. Dieser hier ist anders. Es schien keinen Einstich um Rückenmark zu geben, wie es sonst notwendig zu sein scheint. Die Metamorphose schien diesmal weniger vom Rückenmark als von der Zirbeldrüse und dem Mittelhirn auszugehen. Hirnferne Regionen sind weniger konzentriert befallen und in der unteren Körperhälfte finden wir noch überwiegend rotes Gewebe und Reservoirs mit unverändertem Blut."
Julian erkannte, wie er dieses Spiel spielen konnte: So verschlossen der kleine und verärgerte Mann war, wenn man sein neues Forschungsobjekt berühren wollte, so war er doch zu fasziniert von diesem Fundus an Wissen, als dass er dieses nicht hätte teilen wollen.
"Hirnzentrierte Metamorphose? Da müsste man doch eine langsamere Umwandlung vermuten. Aber Blutreservoires sprechen dafür, dass die Umwandlung innerhalb weniger Stunden gekippt ist. Das macht keinen Sinn", tauchte Julian sofort in das Gespräch ein und fand sich wenig später bereits Seite an Seite mit dem Professor neben dem fremdartigen Leichnam, den er bis eben noch abzuschotten versucht hatte.
"Hm, jaja, daran hatte ich natürlich auch schon gedacht", murmelte Bensson-Fitch mit einem Ton der Julian eher zu verstehen gab, dass diesem Julians Erkenntnis völlig neu war.
"Es muss einen Auslöser gegeben haben, der die überreife Initialphase schlagartig beendet und in eine beschleunigte Sekundärphase übergeleitet hat. Haben Sie das Mittelhirn schon genauer untersucht?"
"Einen Auslöser, jaja...",wiederholte der Professor zunächst nickend, offenbar angetan von der neuen Theorie, "Aber eine Mittelhirnuntersuchung erweist sich als schwierig. Zwei Kugeln, eine aus dreißig Grad, eine aus fünfundneunzig Grad, haben fast alle Teile jenseits des Frontallappens liquidiert"
"Sie könnten die vorhandene Flüssigkeit entnehmen und zellweise analysieren. Natürlich sehr teuer, aber ich sehe..."
"Sie sagen mir nicht, wie ich das zu untersuchen habe. Jaja, ich kenne das, hätten gerne auch Ihren Nachnamen auf der Veröffentlichung, aber behalten Sie Ihre Ratschläge bitte für sich. Ich schicke Ihnen eine Kopie der Abhandlung gerne in vier bis sechs Monaten zu", schwenkte die Stimmung des dicklichen Zwergs plötzlich um und schon in der nächsten Sekunde spürte Julian auf beiden Seiten bestimmend zupackende Griffe an seinen Oberarmen, die ihn von der Leiche weg in Richtung Tür zogen. Wann hatte Bensson-Fitch den Sicherheitsdienst gerufen?
"Melden Sie sich nächstes Mal bitte früher an. Den vorläufigen Bericht bekommen Sie von der Stationssicherheit, aber alle weiteren Akten halte ich zu Forschungszwecken zurück. Gute Reise, Doktor."
Noch ehe er wirklich eine passende Antwort finden konnte, hatte man ihn aus der Tür begleitet und ließ diese zugleiten. Specialist Lewin, die vorherige Eskorte, begleitete die beiden Lakaien und Julian in deren Griffen lediglich, aber schien davon ebenso irritiert zu sein wie Julian.
"Sieht aus, als könnte ich den Flug doch noch bekommen, Specialist"