Zitat von
AeiaCarol
In den kommenden Wochen war das Haus leer. Buchstäblich, nicht aber nur wegen diverser, fehlender Möbel - Leif brachte es wenigstens noch auf ein Sofa für das Wohnzimmer - sondern auch, weil er spürte, dass diese Wände für gewöhnlich so viel mehr Leben beherbergt hatten. Ganz egal ob es hitzige Diskussionen eines Mannes mit seiner Tochter, oder der Kaffeeklatsch einer alten Frau mit ihren Freundinnen gewesen war. Nichts davon fand statt. Außer dieser Mann, der eingezogen war. Der so fremd und unnatürlich in dieser Umgebung wirkte, auch weil er sich selten anders fühlte. Sein Tagesablauf war straff organisiert: Es gab keine Anrufe, jene von Vigilio wies er meist ab, kein anderweitiger Kontakt zur Außenwelt, denn selbst Edna bekam nur wenige Updates. Stattdessen pflegte er frühes Aufstehen, irgendwann zwischen vier und fünf, eine Tageszeit, die noch moderate Temperaturen garantieren konnte, welche ihm gestatteten, entweder am Strand spazieren zu gehen oder zu joggen. Erst in der dritten Woche, nachdem Leif eingezogen war, begann er im Garten zu essen. Dieser bewachsene Innenhof, ebenso wie der Vorgarten, waren nun etwas, das sich auch so nennen durfte. Der Rasen erholte sich, wollte allerdings auch täglich Unmengen an Wasser und die Rosen wuchsen mit einer schwindelerregenden Geschwindigkeit, wurden aber von Tag zu Tag schöner. Der Arzt begann zu verstehen, wieso Luceija sie Zeit ihres Lebens hier derart bewundert hatte und wieso sie eine Art Symbol geworden waren. Meistens kümmerte sich der Schwede selbst darum, doch zur Sicherheit - und weil er das Gegenteil eines grünen Daumens besaß - kam der Gärtner wenigstens einmal wöchentlich vorbei und schaute nach dem rechten. Gab dem Fremden Tipps und schwärmte, was sich auf diesem Grundstück noch alles würde umsetzen lassen, wenn er nur die Freigabe erhielt. Für den Moment wies Leif die Vorhaben ab und verwies mit Vigilios Bemerkung, sizilianische Frauen seien gefährlicher als jede Waffe darauf, dass die Hausherrin womöglich nicht damit einverstanden sei. Der Mann nickte jedes Mal wissend und war angenehm unaufdringlich, nahm die Einladung auf einen Espresso gern an, verschwand aber auch rasch wieder. Vielleicht auch mit Blick auf das Papier- und Datapad-Chaos, welches im gesamten Untergeschoss herrschte. Das Haus selbst war einwandfrei sauber, selbst das 'Labor' regelrecht hergerichtet, die ersten medizinischen Geräte schon ausgetauscht und besser verstaut, als ihre Vorgänger, aber niemand kam umhin zu sehen, wie viel und, zugegeben, verzweifelt hier gearbeitet wurde. Daten wurden von einfachem Papier in digitale Akten übertragen, durchgegangen, unterstrichen, unwichtige Notizen wenigstens in Papierform zerstört, mit Fragen und Verweisen an den Professor gesandt, was Leif oft Tagelang auf Antwort warten ließ, bevor er weiterarbeiten konnte. Am vorläufigen Ende seiner Übertragung und kurzfristigen Sichtung aller Dinge stellte sich jedoch heraus, dass durchaus funktionieren konnte, worauf er so großkotzig gesetzt hatte: Mehr Training als Medikamente, weg von Zellzerstörung und anschließender Erneuerung zur Biotik fähiger Neuronen, denn Letzteres war zu einem Automatismus des Körpers der Sizilianerin geworden, wie sich anhand Leifs eigener Daten - die er lange kaum zu interpretieren wusste, ohne dass er Sergios Vorarbeit kannte - hervorging. Er mailte seine Überzeugung Vigilio, wartete aber nicht auf Antwort, sondern schlief anderthalb Tages durch. Wach wurde er dank einer völlig trockenen Kehle, die ihn an den Rande des Erstickungstodes zu bringen schien und einer zu vollen Blase. Ganz davon abgesehen-...Roch er schlimmer als ein nasser Fuchs nach Dauerregen auf Proteus, was ein völlig irrsinniger Gedanke war, wenn man denn tatsächlich wieder dachte. Eben das versuchte der Schwede zu vermeiden. Weg von Gedankengängen, die zu Luceija führten, hin zu allem anderen. Weg von den Zweifeln, der Trauer, den Gewissensbissen. Am Ende der fünften Woche schrieb er Vigilio erneut. Erklärte, er könne langsam aber sicher einen Plan dafür aufstellen, seine Schwester in die richtige Richtung zu bringen. Zu ihm. Hin zu diesem Projekt, von dem sie vermutlich noch immer nichts wusste. Gemeldet hatte sie sich nie und Leif hatte es für besser befunden. Ihr recht gegeben und sich völlig auf die Arbeit konzentriert. Bevor ihm die Augen zufielen, verzog er sich für eine Stunde an den Strand, ging schwimmen, nahm irgendetwas essbares zu sich und arbeitete weiter, bis er einschlief. Irgendwann gingen analytische Arbeiten in einfache Hausarbeiten über. Wenige Sachen von Conti hatte er übernommen, vielleicht waren sie auch noch Teil des Haushaltes Vittore, wenigstens aber die ganze Küche hatte er ersetzt und eingerichtet, einen Esstisch gekauft, zu viele Stühle um ihn herum aufgestellt, sein Zimmer auf Vordermann gebracht und eines für Luceija vorbereitet. Alles wurde wohnlicher, aber alles sah zu sehr nach ihm aus. Roch nach ihm und war regelrecht steril, als nur sauber. Diese Eigenschaft konnte er nie ablegen, selbst dann nicht, wenn es das Haus gemütlicher machen würde.
In der Mitte der sechsten Woche bekam er zum ersten Mal Post. Verwunderlich, denn das Tor wies auf keinen Bewohner hin und schriftliche Post an sich war längst verwunderlich. Sergios Schild war entfernt, gesäubert und poliert worden und hatte einen Platz in Luceijas - vermutlich zukünftigem - Zimmer gefunden. Seinen Namen hatte Leif draußen nicht verewigt. Und dennoch war da dieses Schreiben, unterzeichnet vom Präsidenten der Universität Palermos und dem Dekan der einschlägigen Fakultät, die da ausdrucksstark 'Facoltà di Medicina e Chirurgia' genannt wurde. Der Schwede musste nicht einmal im Ansatz Italienisch beherrschen, um zu begreifen, was das bedeutete. Und der Brief, überaus vornehm und gleichzeitig regelrecht altbacken, bat um ein Gespräch vor Ort, über das Angebot einer Lehrtätigkeit an der Universität selbst. Man schätzte die Kompetenz Leifs über alle Maßen (auch wenn man sie offensichtlich nur an den diversen Auszeichnungen messen konnte) und wies sofort darauf hin, dass man von Prozess und Strafmaß wisse, das Praktizieren jedoch nicht der Lehrtätigkeit glich und deshalb kein Zweifel bestehe, dass der Schwede ganz ausgezeichnet zur Fakultät passe. Ein wenig erschlagen, zeitgleich aber auch wenig motiviert, irgendwelchen geistigen Kartoffeln etwas über chirurgische Künste beibringen zu wollen, legte er den Brief ganze anderthalb Tage zur Seite, ehe er sich kurzerhand und weil er ohnehin in der Nähe war, etwas ZU früh am Vormittag im Büro des Dekans blicken ließ. Man war völlig überrascht von so viel schwedischer Spontaneität und überhaupt war die Zeit der Mittagspause, wie wenigstens Leif sie nannte, an der er allerdings kurzerhand teilnahm. Die Universität war unglaublich. Fachlich aufgestellt in der Region nicht zu übertreffen und im Bau eine Augenweide, auch wenn der Arzt sich viel lieber an den typisch klaren Linien schwedischer Architektur satt sah. Unter Umständen war es aber auch dieser Austausch. Dieser plötzliche Bruch der Stille, dieser Kontakt zu anderen Menschen, die ihm so ähnlich waren und ihn so an Abu und seine eigentliche Arbeit erinnerten, von der er sich vollends entfernt zu haben schien. Es verblieb damit, sich melden zu wollen, doch sein neuer, sizilianischer Fanclub mochte nicht ahnen, dass er nicht vorhatte, genau das zutun. Es wäre ein Traum, sich unter diesen Leuten wiederzufinden. In irgendeiner Form wieder zu arbeiten, aber-...Er erwartete Luceija. Vigilios Startschuss, wann es losgehen würde und diese Universität hatte das Zeug dazu, ihn zu sehr abzulenken.