Zitat von
Khardim
Die Sicherheitstür glitt lautlos vor ihnen auf. ,,Eine Stunde pro Besuch. Wenn Sie früher gehen wollen ist eine Sprechanlage neben der Tür, ich komme dann vorbei“, sagte der Wachmann und trat beiseite, um Vincent in den Besucherraum zu lassen. Der Mann in Schwarz bedankte sich mit einem Nicken und trat ein.
Ex-Special Agent Juan Munoz saß mit gefalteten Händen an dem ansonsten leeren Metalltisch in der Mitte des Raumes und schaute Vincent mit einer Mischung aus Neugier und Beunruhigung an.
,,Senor Munoz?“, fragte Vincent und blieb einen Schritt vor dem Tisch stehen.
,,Mister Pennywoth?“, entgegnete Munoz, ohne zu antworten. Die Skepsis in seinem Gesicht fand sich auch in seiner Stimme wieder.
Vincent nickte. ,,Darf ich?“, fragte er und zeigte auf den zweiten Stuhl am Tisch.
,,Bitte.“ Munoz deutete mit einer höflichen, wenn auch nicht besonders einladenden Geste auf den freien Stuhl und nickte. Vincent nahm Platz und legte seine Hände mit verschränkten Fingern auf den Tisch. Über ihre Hände hinweg musterten sich die beiden Männer wie Schachgroßmeister über eine festgefahrene Spielsituation. Außer dem Tisch und den beiden Stühlen war der Raum komplett leer. In zwei Ecken hingen kleine Sicherheitskameras, die auf sie ausgerichtet waren und stumm ihren Dienst versahen.
,,Was wollen Sie?“, fragte Munoz. Sein Blick ruhte unbeirrbar auf Vincents Augen, außer seinen Lippen schien sich beim Sprechen kein Teil seines Körpers zu bewegen.
,,Sie wissen, was ich will“, antwortete Vincent und behielt sein Gegenüber ebenso im Blick.
,,Ich glaube nicht, dass ich mit Ihnen darüber sprechen will.
,,Warum haben Sie dann diesem Treffen zugestimmt?“
,,Neugier.“
,,Neugier?“
,,Ich wollte wissen, wer da Wissen sucht, dass einen geisteskrank macht.“
,,Sie sind nicht geisteskrank.“
,,Ach so? Und all die Gutachten und die Medikamente und die Selbstmordversuche und die verweigerte Nahrungsaufnahme? Ich glaube eine Menge Leute sind sich sicher, dass ich geisteskrank bin.“
,,Und was denken Sie?“
Munoz lehnte sich in seinem Stuhl etwas zurück. Eine winzige Bewegung, mehr ein Wechsel des Schwerpunktes als ein Zurückweichen, seine Schultern kreisten in einer kaum zu sehenden Drehung.
,,Ich habe ein Dach über dem Kopf, warmes Essen und kaum Nebenwirkungen von den Pillen. Und hier drinnen fragt niemand nach mir.“
,,Bis jetzt.“
,,Sie werden wieder gehen. Und dann verschwinden Sie entweder endgültig oder enden auch hier, je nachdem wie viel Ärger sie machen.“
,,Ich werde richtig viel Ärger machen.“, versprach Vincent.
,,So so. Und wie? Sie sind kein Cop, darauf wette ich. Privatdetektiv?“
Vincent schüttelte den Kopf.
,,Allianz?“
Abfälliges Schnauben.
Munoz Augen verengten sich. Er lehnte sich wieder ein bisschen nach vorn. ,,Spectre?“
Der Mann in Schwarz grinste und schüttelte erneut den Kopf, langsam.
,,Ich bin nur jemand, dem es nicht gefällt, was Ihnen passiert ist.“
,,Pah!“, blaffte Munoz und rückte auf seinem Stuhl von dem Tisch weg. Die Lehne knarzte und die Metallfüße kratzten mit einem unangenehmen Geräusch über den Boden.
,,Ich bin Ihnen scheißegal. Sie kennen mich gar nicht.“
,,Aber ich kenne Ihre Arbeit. Sie haben auch richtig Ärger gemacht.“
,,Und was habe ich davon?“, fragte Munoz. Er hob die Arme und zeigte auf den Raum um sich herum. Die schmucklosen weißen Wände sprachen Bände über das Leben, das er im Maßregelvollzug führte.
,,Wollen Sie ihn etwa damit durchkommen lassen?“ Jetzt lehnte sich Vincent auf seinem Stuhl vor und bohrte seine Augen noch tiefer in Munoz‘.
Etwas im Gesicht des ehemaligen Special Agent veränderte sich. Er schien Vincent noch einmal neu anzusehen, ihn anders zu betrachten als vorher. Die Skepsis wich nicht aus seinem Blick, aber ein neuer Zug kam hinzu. Es war keine Hoffnung, aber vielleicht lag das nicht daran, dass er nicht hoffen wollte, sondern nach drei Jahren an diesem Ort einfach vergessen hatte, wie das ging.
,,Wissen Sie, wie er es angestellt hat?“
,,Was angestellt?“
Munoz‘ Augen kreisten kurz durch den Raum, erfassten ihn in seiner Leere. ,,Das hier. Alles.“
,,Ich habe Ihre Akte gelesen. Und die Prozessprotokolle. Die Ermittlungsvermerke der Inneren Angelegenheiten.“
Munoz schüttelte den Kopf. ,,Wissen Sie, wie alles angefangen hat?“
,,Mit Ihrer Meldung an den Captain über die Unregelmäßigkeiten in den Büchern. Sie hat zwei Sätze dazu notiert: „Munoz hat die Vhan-Unterlagen noch einmal durchgesehen. Irgendetwas stimme nicht.““
Die Augenbrauen des früheren Steuerfahnders hoben sich leicht. Sein Interesse wuchs, konnte sein Misstrauen aber noch nicht ganz überflügeln. ,,Nicht schlecht.“
Vincent lächelte. Er hatte seine Hausaufgaben gemacht.
,,Von da an ging dann alles bergab“, begann Munoz nun von sich aus zu erzählen. ,,Es fing mit Banalitäten an: Mahnung für nicht gezahlte Rechnungen für Dinge, die ich nie bestellt hatte. Nächtliche Besuche von C-Sec wegen angeblicher Beschwerden der Nachbarn über Ruhestörung, während meine Familie und ich friedlich im Bett lagen. Ärgernisse eben. Ich habe damals noch keinen Zusammenhang gesehen und einfach mit meiner Arbeit weiter gemacht.“ Sein Blick schweifte in die Ferne jenseits der weißen Mauern, ging durch Vincent hindurch. ,,Wenn ich begriffen hätte, was los war, hätte ich die ganze Sache fallen lassen, das sage ich Ihnen.“
,,Haben Sie aber nicht.“, animierte Vincent ihn zum Weiterreden.
Munoz schnaubte ein freudloses Auflachen. ,,Nein, habe ich nicht. Ich habe artig weiter protokolliert und Ermittlungen angestellt. Ermittlungen, die natürlich alle im Sande verliefen, aber ich blieb dran. Bis dann die großen Geschütze aufgefahren wurden.“
Er seufzte. ,,Meine Frau fand fremde Unterwäsche in meinem Schrank. Frauenunterwäsche natürlich. An einem Hemd, das ich seit Monaten nicht getragen hatte, klebte Lippenstift. Ich hatte in den Wochen zuvor massenhaft Überstunden gemacht, weil ich glaubte, an etwas Großem dran zu sein. Auf unserem Konto tauchten Rechnungen von Bars im Rotlichtviertel auf, die ich nie besucht hatte. Ich geriet zum ersten Mal in meinem Leben in eine Verkehrskontrolle und die Kollegen fanden prompt eine Flasche Schnaps im Kofferraum, die ich dort nicht hineingetan hatte. Ich war nüchtern, aber so fing das Gerede auf der Arbeit an.“
Munoz hielt kurz inne und schaute wieder Vincent an. ,,Wissen Sie, wie das ist? Wenn man nicht mehr weiß, ob die Welt um einen herum verrückt geworden ist oder man selbst?“
Er atmete tief durch und fuhr dann fort: ,,Das ganze ging über Monate. Meine Frau wollte mir vertrauen, konnte aber die Hinweise nicht ignorieren. Die Kollegen fingen an, sich abzuwenden. Zuletzt hatte ich gar nicht mehr am Fall gearbeitet, ich kam morgens aufs Revier, schloss mich in meinem Büro ein und hoffte, den Tag unbeschadet zu überstehen. Irgendwann wurde mir klar, dass Vhan hinter allem stecken musste, aber da war es schon zu spät.“
Vincent nickte. Er wusste, was jetzt kam. Er hatte die Bilder gesehen.
,,Eines Morgens wachte ich ohne Erinnerung auf. Ich lag nackt in einem fremden Bett und hatte keine Ahnung, was los war. Überall in dem Raum war C-Sec, alles redete durcheinander. Und neben mit lag eine tote Prostituierte.“ Seine Stimme bebte. ,,Erschossen. Meine Waffe. In meinem Blut waren Spuren von Alkohol und Drogen.“
Er hatte die Berichte vom Tatort und die Laborberichte gelesen, doch die Geschichte nun aus Munoz‘ Mund zu hören, war etwas anderes. In all seinen Jahren hatte er es noch nie erlebt, dass jemand so systematisch zerstört worden war. Vincent nahm sich vor, einige Methoden zu notieren. Für den Fall.
,,Den Rest kennen Sie: Prozess, Urteil, Umwandlung in Maßregelvollzug wegen fehlender Zurechnungsfähigkeit, Scheidung, Sorgerecht weg, Kollegen weg, Freunde weg, alles weg. Zwei Selbstmordversuche, die ich nicht begangen habe, Zwangsernährung über eine Magensonde, weil ich Essen verweigert hätte, das nie in meine Zelle gebracht wurde, Einzelverwahrung, Medikamente. Es gab Phasen, da habe ich mehr als vier Tage nicht geschlafen wegen dem Zeug, das sie mir gegeben haben. Wissen Sie, wie das ist, wenn man vier Tage lang nicht schläft?“
Der Mann in Schwarz schüttelte den Kopf.
,,Sie vergessen, wer Sie sind. Nichts ist mehr real, alles ist löchrig. Es ist die Hölle.“ Munoz schüttelte sich, als wolle er die Erinnerung loswerden. Er rieb sich mit den Händen über die Oberarme und schien dagegen anzukämpfen, noch mehr Bilder aus dieser Zeit vor seinem inneren Auge zu sehen. Vincent schwieg und ließ ihn seinen Kampf austragen.
Eine Zeit lang sagte niemand etwas.
Als Munoz wieder ruhiger wurde, begann Vincent das Gespräch erneut: ,,Und all das, weil Sie Unregelmäßigkeiten in den Geschäftsbüchern der Vhans gefunden hatten.“
Sein Gegenüber grinste ohne sich zu freuen und schüttelte dann den Kopf. ,,Keine Unregelmäßigkeiten. Vhan und seine Schergen sind viel zu schlau für sowas.“
Der Mann in Schwarz wurde hellhörig. Er hatte sich die Unterlagen, um die es damals ging, besorgt und mehrfach prüfen lassen. Die Geschäftsberichte und die Bilanz waren makellos, es fehlte kein Credit. Und trotzdem hatte Munoz sich über Monate daran abgearbeitet, hatte versucht seine Vorgesetzte ins Vertrauen zu ziehen und war dann derart gründlich und erbarmungslos demontiert worden, dass Vincent sich sicher gewesen war, dass Decius Vhan dahinterstecken musste. Was wiederum bedeutete, dass Munoz der Wahrheit auf der Spur gewesen war.
,,Was dann?“
Mit seinem Zeigefinger zog Munoz Kreise auf der glatten Tischplatte. ,,Geld, das nicht da ist, kann nicht verschwinden, richtig?“
Vincent ließ sich nichts anmerken und nickte verständig. Er hatte keine Lust auf einen Vortrag über Steuerrecht, war aber gewillt, sich einen anzuhören, wenn es ihn näher an sein Ziel brachte.
,,Haben Sie die Bücher dabei?“, fragte Munoz. Vincent aktivierte sein OmniTool und rief die Dateien auf. ,,Hier. Damit fing es an“, erklärte Munoz und zeigte auf eine scheinbar willkürliche Stelle in der schier endlosen Auflistung von Posten. Vincent schaute sich den Eintrag an. ,,Aber wie?“
Munoz grinste, dieses Mal aber echt. Und dann zeigte er es Vincent.
Als der Wachmann nach einer Stunde kam, um Vincent abzuholen, reichten sich die beiden Männer im Besucherraum gerade die Hand. ,,Ich danke Ihnen vielmals.“, sagte der Mann in Schwarz. ,,Ich hoffe, Sie können etwas damit anfangen.“, antwortete Munoz. ,,Sie wären überrascht, was ich alles kann. Leben Sie wohl.“
Auf dem Weg zu seinem neuen SkyCar überprüfte Vincent seine Nachrichten. Die Geschäfte liefen wieder auf Hochtouren, Gavros‘ Inhaftierung und das Chaos in den Tips hatten der Nachfrage an Informationen keinen Abbruch getan. Grade im Bezug auf die gescheiterte Kryptogrammkillerin und den Terror, den sie über die Station gebracht hatte gab es Dutzende Anfragen von Journalisten, Privatdetektiven und frustrierten Hinterbliebenen der Opfer. Eine Anfrage war grade vonseiten des Auftragsgebers aktualisiert worden, er hatte eine verzerrte Sprachnachricht geschickt, die von einer V.I. für Vincent bereits bereinigt worden war: >>Van Zan, die Zeit drängt! Ich habe Ihnen alles geforderte Geld überwiesen! Wo sind meine Informationen? Bis morgen früh um 6 Uhr brauche ich einen definitiven, handfesten Beweis in meinem Posteingang dass Anastasia Nix von Nathan Gilles ermordet wurde! Und dass er straffrei damit davongekommen ist!<<
Der Mann in Schwarz verdrehte die Augen, öffnete sein SkyCar und setzte sich hinein. ,,Zum Queen Nefertiti“, befahl er dem Autopiloten und tippte nebenbei auf seinem OmniTool. Die Nachricht kam von Niall O’Grady, dem ehemaligen C-Sec-Officer aus der Entourage von Yuhki. Der junge Cop war offensichtlich nicht so tot, wie man gemeinhin annahm und nicht halb so schlau, wie er selbst dachte. Aus seiner Anfrage schloss Vincent, dass er auf eigene Faust Rache an Gilles und vermutlich auch anderen Handlangern von Gavros nehmen wollte. Wenn er bei diesem Unternehmen jedoch weiterhin so unvorsichtig vorging, wie bei der Verschlüsselung seiner Stimme, würde Gilles den Grünschnabel zum Frühstück verspeisen.
Mit einer Handbewegung über das Display vergewisserte sich Vincent, dass das Geld wirklich eingegangen war und sichtete dann noch einmal die Informationen. Alle Aufträge im Zusammenhang mit Gavros prüfte er noch einmal selbst, anstelle alles von V.I.s abfertigen zu lassen. Aufnahmen oder Zeugen von der Erschießung gab es nicht, aber mehr als genug Indizien. Als er den Auftrag an Gilles noch einmal las, musste Vincent unwillkürlich schmunzeln. Alles eine dämliche Verwechslung. Nix war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Zusammen mit den restlichen Details kam genug Material zusammen, um einem halbwegs fähigen Staatsanwalt alles in die Hand zu geben, was er brauchen würde. Der Mann in Schwarz war sich jedoch sicher, dass O’Grady nicht vorhatte, die Sache vor Gericht zu bringen. Sein Pech. Vincent gab die Informationen frei, rief dann noch einmal die Vhan-Unterlagen auf und betrachtete sie mit dem Wissen, dass Munoz ihm gegeben hatte. Auch hier gab es keine handfesten Beweise, aber jetzt immerhin Hinweise. Hinweise waren eine gute Basis für Gerüchte.
Aus Gerüchten konnten Anschuldigungen werden. Und Anschuldigungen, ob gerechtfertigt oder grundlos, erzeugten öffentlichen Druck. Druck, der Vhan vielleicht im entscheidenden Moment ablenken würde.
,,Ruf die Parteizentrale von Terra Firma an. Das Büro von Martin Trumbo.“, befahl Vincent.
Es war Zeit für eine kleine Schlammschlacht.