Zitat von
Tjordas
Zehn Stunden später
Yenny Vandernot
Ein staubtrockener Mund riss Yenny aus einem unruhigen Schlaf. Ihre Zunge fühlte sich pelzig an und hatte Mühe, die rauen Schleimhäute irgendwie zu befeuchten. Ihr erster Reflex war der Griff zum Nachttisch für ein Glas Wasser - doch ihre Hand gehorchte ihr nicht. Sie seufzte kurz. Nicht zum ersten Mal erwachte sie mit einer tauben Hand. Die nur niedrig eingestellten Gravitationsfelder der Billigfrachter, in denen sie so oft schlief, hatten sie zu seltsamen Schlafhaltungen verzogen, die sie zurück auf Illium oder der Erde dann wieder bereute. Denn dort klemmte die selbe Schlafhaltung ihr häufig die Blutzufuhr zum Arm ab, sodass ihre Gliedmaßen am nächsten Morgen kalt und taub waren und erst nach unangenehmem Kribbeln und Beißen wieder ihrer Herrin gehorchten. Yenny hob den Unterarm einige Male. Er fühlte sich ungewöhnlich schwer an, doch sie beachtete es in ihrem dösigen Zustand nicht weiter, sondern wartete im Halbschlaf mit geschlossenen Augen einfach auf das Gefühl der Bisse von tausend Ameisen, mit dem sich der Blutstau meist schnell löste. Doch nichts dergleichen setzte ein. Die Maschinistin wurde etwas unruhig, schob sich mühsam an den Ellenbogen etwas mehr in die Sitzhaltung. Schon dieses Aufsetzen kostete sie mehr Kraft als erwartet, und da sie nun ohnehin wach war, öffnete sie die verklebten Lider und suchte in einem dunklen Raum nach Orientierung. Einige Gerätelichter erkannte sie verschwommen und in der Ferne eine geöffnete Jalousie, durch die sehr kühlblaues Mondlicht drang. Yenny stutzte. Sie hatte keine Erinnerung daran, an einem Raumhafen angedockt zu haben, geschweige denn auf einem Planeten aufgesetzt zu haben. Allmählich sammelte sich wenigstens von selbst wieder etwas Speichel in ihrer vertrockneten Mundhöhle, womit sie versuchte, ihre Lippen zu befeuchten. Dabei bemerkte sie einen Fremdkörper in ihrem Mundwinkel, der sich nach Abtastung mit der Zunge als ein Schlauch entpuppte, der dort locker eingehakt war. Yenny spuckte ihn in Ermangelung händischer Koordination einfach aus. Erst jetzt ahnte sie die Antwort auf die Frage nach ihrem Aufenthaltsort. Allmählich erkannten ihre Augen etwas mehr im Raum, fielen auf ihre tauben Hände, die auf ihrem Schoß drapiert lagen, doch etwas war seltsam an ihnen. Zuerst glaubte sie, lange Handschuhe zu tragen, aber als sie die Finger der beiden Hände aneinandertippte, ertönte ein seltsam metallisches Klacken. Ihre Hände waren in steife, unbewegliche und hautenge Manschetten gehüllt.
"Schwester?", versuchte sie bei diesem Schock direkt zu rufen, als dem Rückschluss, dass sie in einem Krankenhaus lag, nichts mehr widersprach, doch der Ruf entwich ihr nur als einsamer Krächzer. Es war daher wenig verwunderlich, dass niemand den Raum betrat. Als Yenny in dieser Zeit ihre seltsam fremden Hände betrachtete, formten sich Assoziationen und Erinnerungen, die zwar in ihrem Kopf waren, jedoch so fremdgesteuert wirkten wie die Erinnerung an einen Film. Momenteindrücke, in denen sie Menschen von sich stieß, die sie kannte und mochte. Wie sie Kabel aus einer laufenden Recheneinheit bündelweise herauszog. Wie sie schließlich in einem gewaltigen Ruck durch den Bauch ihres vertrauten Frachters geschleudert wurde. Sie hatte einen Unfall erlitten, so viel war sicher, doch es mischte sich so viel Schuldgefühl in diese Gewissheit, dass sie Angst vor der Antwort hatte, nach der sie gerade in ihrem Gedächtnis grub. Und so konzentrierte sie sich dann doch eher auf das Hier und Jetzt und rief erneut etwas kraftvoller mit krächzender Stimme "Schwester! Hilfe!"
Keine Schwester betrat den Raum, doch ein grelles Leuchten richtete sich plötzlich auf Yenny und mit einem leisen Surren näherte sich eine gespenstisch anmutende, kugelförmige Holoprojektion, die mit etwas synthetischer aber freundlicher Stimme versicherte "Medizinisches Personal ist unterwegs, bitte bewahren Sie Ruhe", was ihr sicher leichter gefallen wäre, wenn die VI dabei nicht permanent ihren Scheinwerfer in ihr Gesicht gehalten und selbigen Satz immer und immer wieder wiederholt hätte.
Lt. Maksim Cherenkov
Der gebürtige Russe lag, wie der Großteil der Stationsmitglieder, noch im Bett und seine Schicht hätte erst in fast fünf Stunden begonnen, aber dennoch war er bereits wach. Gerade hatte er die Meldung der Nachtschichtleiterin im Patientenblock bekommen, dass die überlebende Komapatientin des Frachterabsturzes endlich erwacht war und da er selbst so idiotisch gewesen war, in der Station schon vorher bei Änderung der Situation um 'sofortige Meldung' zu beten, konnte er sich eigentlich kaum beschweren, dass man seine Bitte sehr genau genommen hatte. Dennoch hätte er sich nicht beklagt, wenn man den Beginn seiner Schicht abgewartet hätte, denn mit seinen Arbeitszeiten nahm es Maksim nun mal sehr genau. Als er die Implikationen der Neuigkeiten durchdacht hatte, griff er nach seinem Omnitoolimplantat an der Ellenbeuge und sprach eine schnelle Sprachnachricht an seine neue Kollegin Akina ein.
"Morgen Watabe - Hab grade an Sie gedacht", begann er sie mit ironischem Grinsen und wartete eine Reaktion ab, bevor im auffiel, dass er ja gerade nur eine Aufzeichnung machte.
"Hören Sie - Der Patientenblock hat mich kontaktiert. Tatsächlich hat sich etwas getan. Ihr Pflichtbewusstsein scheint jeden hier aufzuwecken, selbst die Leute im Koma. Sie haben richtig gehört, die Überlebende aus dem Frachter ist eben wach geworden. Falls Sie beim Fall Iiyama und Ward eine Sackgasse erreicht haben, wie wäre es denn, wenn Sie hier einmal an der anderen Leine ziehen und schauen, wie weit Sie dort kommen. Die Pfleger wissen bescheid. Schauen Sie doch einmal bei unserem Frühaufsteher rein. Der Name ist Yenna Vandernot - Zivilistin und laut ID-Datenbank Frachtermaschinistin und wohnhaft auf Illium. Schauen Sie doch mal, was Sie herausfinden können, wenn Sie Ihren Grüntee ausgetrunken haben. Cherenkov out."
Maksim seufzte auf, als er die Nachricht unter mittlerer Priorität abgeschickt hatte. Kein Grund, Watabe ebenfalls vor ihrem Schichtbeginn zu wecken. Viel lieber war es ihm, sie würde seine gute Nachricht mit wachem Gemüt erhalten. Skeptisch sah er anschließend seinen Wecker an, rümpfte die Nase und verschob seine Aufstehzeit eine halbe Stunde nach hinten. Es musste heute auf dem Wasserplaneten auch mal ohne Dusche gehen. Mürrisch drehte sich der Russe wieder auf die Seite, um wenigstens noch etwas seines so heiligen Schönheitsschlafs zu finden.