Portal-Zone Gothic-Zone Gothic II-Zone Gothic 3-Zone Gothic 4-Zone Modifikationen-Zone Download-Zone Foren-Zone RPG-Zone Almanach-Zone Spirit of Gothic

 

Ergebnis 1 bis 8 von 8
  1. Beiträge anzeigen #1 Zitieren
    Kleiner als drei  Avatar von Lady Xrystal
    Registriert seit
    Aug 2006
    Ort
    Dukatia City
    Beiträge
    5.789
     
    Lady Xrystal ist offline

    Post [Story]In der Stille

    Die Buchstaben:

    Spoiler:(zum lesen bitte Text markieren)
    Person A: Ejnaschka, genannt Ejn
    Person B: Königin Irdorath
    Person C: Velaya
    Person D: Der Alte

    Ort A: Die Bergfeste von Königin Irdorath
    Ort B: Eine Tischlerei
    Ort C: Eine Kaserne

    Gegenstand A: Ein goldener Ring mit blauschimmerndem Stein, später genannt Erzring
    Gegenstand B: Ein grüner, saftiger Apfel
    Gegenstand C: Velayas Zunge (mit Erzsiegel)

    Gebrechen A: Sprachlosigkeit, bedingt durch eine abgeschnittene Zunge



    Die zugehörigen Vorgaben befinden sich in diesem wundervollen Thread.
    Geändert von Lady Xrystal (06.06.2023 um 12:12 Uhr)

  2. Beiträge anzeigen #2 Zitieren
    Kleiner als drei  Avatar von Lady Xrystal
    Registriert seit
    Aug 2006
    Ort
    Dukatia City
    Beiträge
    5.789
     
    Lady Xrystal ist offline
    Vorgabe 1:

    Es war einmal in der Myrtanischen See, zu einer Zeit, in der das Midland noch arm und uneins war, eine kleine Insel im Osten der Welt. Sie war frei und unabhängig und hegte, anders als ihre große Schwester Karynis, welche frisch den Händen der Orks entrissen und von tapferen Menschen besiedelt wurde, keinen Kontakt zu den Adelshäusern des Festlands.
    Die kleine Insel wurde von einer ebenso gutmütigen wie stolzen Herrscherin regiert. Königin Irdorath war ihrem Volk und ganz besonders den hart arbeitenden Bauern und Landwirten offen zugeneigt, wusste sie doch, dass ihr kleines Reich nur frei und unabhängig bleiben konnte, wenn es sich selbst zu versorgen wusste.
    Königin Irdorath wusste nicht, wieso ihre Insel so reich an Nahrung und Rohstoffen war. Es handelte sich um eine ganz und gar magische Insel, auf der Erzadern sich regenerierten und die Ernte den heißesten Sommer, ebenso wie den härtesten Winter mit Leichtigkeit überlebte.
    Den Adelshäusern des Festlandes war die Insel ein Dorn im Auge. Das Midland selbst war zu arm und die Grafschaften zu sehr damit beschäftigt, sich gegenseitig zu bekriegen, als dass sie der Garde an der Seite Königin Irdoraths etwas entgegensetzen konnten. Das Wüstenvolk von Varant dagegen wusste um die Rohstoffe, aber auch um die Kampfkraft der Insel bescheid. Und so sandten sie Botschafter in die Bergfeste der Königin, um über ein Rohstoffabkommen zu verhandeln.
    Königin Irdorath war stets geduldig mit den unliebsamen Diplomaten. Sie war eine weise Frau, die bestens um ihre Makel wusste und keine Mühen scheute, sie tief in ihrer Festung zu verstecken. Und nicht zuletzt war die Königin eine Frau, die durchaus gefallen daran fand, von exotischen und doch wortgewandten Männern umworben zu werden.

    Eines Tages betrat ein hagerer Jüngling die Bergfeste. Mit großen Augen bestaunte er den Prunk des Ratssaal, an dessen Ende Königin Irdorath auf einem glänzenden Thron saß.
    Ejnaschka, so hieß der Mann, der Ejn als Rufnamen bevorzugte, denn Ejn ließ sich leichter schreiben als Ejnaschka. Auch er stammte aus Varant, aber er war kein Diplomat, worauf nicht nur sein verschüchterter Blick, sondern auch die schweren Ketten, in die seine Hände gelegt waren, zu hinweisen vermochten. An seiner Seite war ein älterer Mann, der sich unbeirrt vor Königin Irdorath verneigte.
    Ejn verstand kaum ein Wort. Er bemühte sich auch nicht, dem Gespräch der Herrschaften zu folgen, denn er hatte schon als junger Bursche gelernt, gehorsam zu sein und keine Fragen zu stellen. Einmal, da hatte er es gewagt, sich gegen seinen Herren aufzulehnen. Zur Strafe wurde ihm die Zunge entfernt, auf dass er nie wieder protestieren möge.

    Nach einer Weile war das Gespräch beendet. Ejn wurde in die Hände der Königin überreicht und fand sich fortan in einem prunkvollen Zimmer wieder. Einige Jahre lang hatte Ejn alles, was er sich je zu träumen gewagt hatte. Ein weiches Bett, genügend Essen, sogar ein Waschzuber und Schmuck, den die Königin höchstselbst für ihn anfertigen ließ.
    Und dennoch war Ejn unglücklich, denn auch nach Jahren hatte er nicht die leiseste Ahnung, wieso Königin Irdorath ihn in diesem Zimmer gefangen hielt. Nur ab und zu, da schaute sie vorbei, ohne ein Wort zu sagen.
    Die Einsamkeit machte Ejn zu schaffen, So sehr, dass er sich regelmäßig an eines der Fenster in seinem Zimmer setze, um das rege Treiben unter ihm zu begutachten.

    Auch an jenem Tage, an dem seine schicksalhafte Reise begann, sah Ejn aus dem Fenster. Die Tür zu seinem Zimmer öffnete sich und wie so oft, stand Königin Irdorath davor, warf einen langen Blick hinein und ging, ohne auch nur ein Wort zu sagen.
    Ejn wurde wütend. Er fürchtete, nicht mehr nur stumm, sondern auch taub zu werden, da niemand mit ihm sprach. In seinem Ärger schlug er mit der Faust gegen das Fenster und es ertönte ein lautes Knacken, welches ihn erschrak. In der Scheibe zeichnete sich ein kleiner Riss ab, genau dort, wo Ejns Finger das Glas berührt hatten.
    Während er mit seiner Hand über den Riss streichelte, fiel ihm er Ring an seinem Finger auf. Es war ein goldener Ring mit einem kleinen, blauschimmernden Stein darin. Er hatte ihn von der Königin als Geschenk erhalten.
    Ejns Herz pochte, während er einen Entschluss fasste. Mit geballter Faust und voller Kraft klopfte er gegen die Scheibe. Der Stein in seinem Schmuckstück riss das Glas entzwei und mit einem schnellen Sprung fand Ejn den zittrigen Weg in die Freiheit.

  3. Beiträge anzeigen #3 Zitieren
    Kleiner als drei  Avatar von Lady Xrystal
    Registriert seit
    Aug 2006
    Ort
    Dukatia City
    Beiträge
    5.789
     
    Lady Xrystal ist offline
    Vorgabe 2:

    Als Ejns Füße den aufgeheizten Steinboden berührten, überkam ihn ein Gefühl der Übelkeit. Schwer atmend lehnte er sich gegen die Mauer, die sich direkt neben dem zerbrochenen Fenster befand. Die Sonne blendete ihn und so schloss er die Augen, um sich voll und ganz auf seinen Magen zu konzentrieren. Erst langsam realisierte er, dass er es tatsächlich getan hatte. Er hatte sich befreit. Er war frei!

    Vorsichtig warf er einen Blick auf seine Hand. Noch immer schmiegte sich der kleine Ring mit dem blau schimmernden Stein unscheinbar an seinen Finger. Der Stein hatte keinen Kratzer abbekommen, allerdings glaubte Ejn, dass er heller geworden war und feine, glasige Linien zeichneten sich auf der Oberfläche ab.
    Zum Zeichen des Dankes küsste er den Stein. Sein Blick wanderte hinüber zum Fenster. Der Ring hatte ganze Arbeit geleistet, denn es war nichts mehr von der Scheibe zu sehen. Der Raum dahinter aber war leer. Von außen wirkte er dunkel und eng. Ejn überkam eine stille Wut, auf sein Gefängnis, auf die Königin, auf die Tatsache, dass er nicht mal wusste, wie lange er diesen kleinen, dunklen Raum nicht mehr verlassen hatte. Ejn wollte es vergessen. Alles zurücklassen, was ihn an diese grausame Zeit erinnern würde. Und so nahm er den Ring von seinem Finger und warf ihn zurück in das Zimmer. Als der Stein den Boden berührte, ertönte ein Zischen, ein Lichtstrahl stieg auf und Ejn erschrack. Voller Panik stürmte er los, nur um wenige Schritte weiter über seine eigenen Beine zu stolpern.
    Ejn landete auf einer Grasfläche, direkt unter einem großen Baum. So verharrte er für eine Weile, bis eine liebliche Stimme an Ejns Ohr drang. Sie fragte ihn, ob alles in Ordnung sei und sie wurde von hastigen Schritten begleitet. Ejn drehte sich zu einem jungen Mädchen um, das näher gekommen war, um ihm auf die Beine zu helfen. Ejn wich zurück und nickte eifrig, um zu signalisieren, dass er ihre Hilfe nicht brauchte. Erst sah sie ihn an, so als wolle sie erneut eine Frage stellen. Aber dann lächelte sie und das Lächeln drang in Ejns Herz, so tief, dass er sich davon anstecken ließ und ebenfalls lächelte.
    Ein Kichern erklang, doch noch ehe das Mädchen mit dem goldblonden Haar ein Wort sagen konnte, erklang eine laute, tobende Stimme, so tief, dass sie Ejns Körper zum zittern brachte.
    "Mit wem treibst du dich schon wieder rum, Velaya?"
    Ein Mann mit hochrotem Kopf tauchte auf. Plötzlich ging alles schnell. Ohne Ejn auch nur einen Blick zu würdigen, packte der Unbekannte das Mädchen am Arm und zog es hinter sich her, die Straße hinunter zum Marktplatz.

    Später am Tag fand sich auch Ejn am Marktplatz ein. Ein Teil von ihm wunderte sich, dass die königliche Garde noch nicht ausgesand wurde, um Ejn zu suchen. Bestimmt würden sie sein Verschwinden bald merken, denn die Sonne sank bereits gen Horizont und das signalisierte Ejn, dass das Abendessen angerichtet wurde. Deshalb wunderte er sich auch nicht, dass sich ein unangenehmes, fast schmerzhaftes Ziehen in seinem Magen ausbreitete. Zum Glück gab es überall Bäume und so pflückte Ejn sich einen saftigen grünen Apfel, den er sich in seine Tasche steckte.
    Der Marktplatz war noch immer voller Menschen, aber es wurde leiser und kälter. Ejn genoss es zu hungern und zu frieren, denn er hatte bereits vergessen, wie es sich anfühlte. Das einzige, das er vermisste, war ein Ziel. Ejn wusste nicht, wo es ihn hinziehen sollte und so angenehm die Kälte auf seiner Haut auch war, spätestens wenn die Sonne endgültig verschwand und die Müdigkeit in seine Knochen kriechen würde, musste Ejn einen sicheren Schlafplatz finden.
    "Ich glaube sie heißt Velaya."
    Als der Name ertönte, wurde Ejn hellhörig. Er schaute in die Richtung, aus der er das Gespräch vernommen hatte und sah dort zwei Männer mit roten Gesichtern und schwankenden Staturen, die sich laut unterhielten.
    "Ich kannte mal eine Velaya", grölte der eine. "Aber die hatte ne andere Haarfarbe. Und größere Möpse."
    "Die kleinen, spitzen Dinger von der Tischlergöre sind aber auch nicht schlecht."
    Die beiden Männer lachten laut auf und Ejn wandte sich ab. In seinen Gedanken formte sich das Bild des Mädchens, wie es vor ihm stand und lächelte. Wie alt mochte sie gewesen sein? Zwölf? Sprachen die beiden Männer wirklich von ihr?
    Ejn versuchte, mit seinen Lippen ihren Namen zu formen. Ve-la-ya. Aber aus seinem Mund ertönten nur schwere Atemgeräusche. Immer wieder blitze ihr Gesicht in seinen Gedanken auf. Ejn war sich sicher, dass sie ihm für die Nacht unterschlupf gewähren würde. Zur Not würde Ejn sogar seinen Apfel dafür eintauschen.
    Aber wo würde er Velaya finden? Wo wohnte sie? Bei einem Tischler?

    Ejn merkte gar nicht, dass sein verzweifelter Versuch, Velayas Namen auszusprechen, beobachtet wurde. Eine Frau blieb vor ihm stehen. Sie verzog angewidert ihre Miene und fragte:
    "Ist deine Krankheit ansteckend?"
    Ejn schüttelte den Kopf und öffnete anschließend seinen Mund, um zu zeigen, dass ihm die Zunge fehlte. Plötzlich wurde das Gesicht der Frau ganz blass und sie begann zu schreien, ehe sie in Ohnmacht fiel. Alle Augen waren nun plötzlich auf Ejn gerichtet. Sein Körper begann heftig zu zittern. In seiner Panik stürmte Ejn los. Er steuerte direkt das Burgtor an. Einige Männer folgten ihm, riefen dabei:
    "Bleib stehen du Lump!"
    Aber Ejn blieb nicht stehen. Er lief und lief und schaffte es durch das Burgtor und von dort aus in eine kleine Gasse, die von der Dunkelheit der untergehenden Sonne verschluckt wurde.

    Langsam kam Ejn wieder zu Atem. Die Welt um ihn herum wurde still und Ejn wusste, er brauchte eine sichere Unterkunft für die Nacht. Also begab er sich auf die Suche nach dem Geschäft eines Tischlers. Vielleicht, aber nur vielleicht würde er dort Velaya, das Mädchen mit den goldblonden Locken wiederfinden.

  4. Beiträge anzeigen #4 Zitieren
    Kleiner als drei  Avatar von Lady Xrystal
    Registriert seit
    Aug 2006
    Ort
    Dukatia City
    Beiträge
    5.789
     
    Lady Xrystal ist offline
    Vorgabe 3:

    Frierend lief Ejn eine Weile lang umher. Er hatte ein Ziel, wusste aber nicht, wie er das Ziel erreichen sollte. Lesen konnte er nicht und nachfragen ging auch eher schlecht, zumal Ejn ohnehin niemanden auf den Straßen traf, denn es war eine kalte Nacht und die meisten Anwohner verbrachten kalte Nächte lieber in ihren kleinen Hütten.

    Ejn war kurz davor alle Hoffnung auf ein warmes Bett aufzugeben. Es sah sich bereits nach einer kleinen, windstillen Gasse um, die sich als Nachtlager eignen konnte, da kam er an einem kleinen Häuschen vorbei. Am Eingang des Hauses wippte ein hölzernes Schild im seichten Wind. Neben einigen Zeichen, die Ejn nicht entziffern konnte, waren auch die Zeichnungen eines Tisches und eines Hammers in das Holz geritzt. Ejn war sich nicht sicher, wofür dieses Symbol stand, aber er hatte die schwache Hoffnung, dass es sich um die Werkstatt eines Tischlers handeln würde. Er warf einen schüchternen Blick durch das Fenster. Der Raum war in warmes Licht gehüllt und so war es ein Leichtes, von außen all das Blut zu sehen, das den hölzernen Boden verzierte.
    Ejn wurde schlagartig übel. Er blieb auch dann noch wie angewurzelt stehen, als hinter ihm eine tiefe Stimme ertönte.

    "Wusste ich es doch!" Ein hagerer Mann kam aus der Dunkelheit gesprungen und deutete unmissverständlich auf Ejn. "Der Täter kehrt immer an den Ort des Verbrechens zurück!"
    Ejn brauchte einen Moment um zu realisieren, dass er wohl einer kriminellen Tat beschuldigt wurde. Er wandte sich um und nahm mit seinen Armen eine abwehrende Haltung ein. Dann erkannte er die Person vor ihm. Es handelte sich um einen älteren Mann. Ejn kannte den Namen seines Gegenübers zwar nicht, aber er wusste, dass er der Königlichen Garde angehörte, wenngleich er aufgrund seines hohen Alters nur noch für unaufgeregte Arbeiten zuständig war. Papierkram nannte der Alte es immer, wenn er Ejn besuchte. Und das kam gar nicht mal so selten vor. Neben Königin Irdorath und den Bediensteten, die Ejn das Essen brachten, war er der Einzige, der Ejns Zimmer jemals betreten hatte.
    "D-das kann doch gar nicht sein!" Das triumphale Lächeln wich dem hageren Mann aus seinem faltigen Gesicht. "Du? Du bist ausgebrochen? Oh bei Adanos, das kann nicht sein. Das darf nicht sein!"
    Unruhig lief der Alte auf der Stelle umher. Während er undeutliche Worte in seinen grauen Vollbart murmelte, witterte Ejn seine Chance. Er riss sich aus seiner Schockstarre und stürmte - wieder mal - vorwärts, denn er wusste, dass der Alte langsam und gebrechlich war.

    Eigentlich mochte Ejn den Alten. Unter anderen Umständen hätte Ejn gerne seinen Worten gelauscht, aber da der Alte zur Garde von Königin Irdorath gehörte, würde er gewiss dafür sorgen, dass Ejn möglichst bald in sein Gefängnis zurückkehrte.
    Ejn war nur wenige Schritte voran gekommen, da wurde er wieder nach hinten gezogen. Panisch blickte er sich um, während die Welt um ihn herum sich drehte. Es schien fast so, als würden Häuser und Bäume größer werden, um sich anschließend in einen einheitlichen Strudel zu verwandeln. Lichter blitzen auf und hüllten Ejn in ein blaues Nichts.
    Und dann war wieder alles vorbei. Ejn saß auf dem Boden, nur wenige Schritte von den schmalen Beinen des alten Mannes entfernt.
    "Entschuldige bitte, aber ich kann dich nicht einfach so gehen lassen." Im Bart des Alten zeichnete sich wieder ein Lächeln ab, diesmal von freundlicher Natur.
    Ejn wandte sich ab und starrte zu Boden. Sein Körper entspannte sich, aber seine Gedanken kamen kaum zur Ruhe. Konnte es möglich sein? Das blaue Licht erinnerte Ejn an das Schimmern seines Ringes. Besaß der Alte ebenfalls ein solch mächtiges Schmuckstück?
    "Kanntest du den Tischler?" Die Stimme des Alten riss Ejn aus seinen Gedanken. Fragend sah er hoch zum hageren Mann, dann schüttelte er langsam den Kopf. Sein Blick wanderte zur knochigen Hand seines Gegenüber, aber an dessen Fingern war kein Ring zu sehen.
    "Und seine Tochter?"
    Velaya? Ejn wurde hellhörig. War ihr etwas passiert? War sie tot?
    "Die Nachbarn haben von einem lauten Streit berichtet", plauderte der Alte munter los. "Dann ertönte wohl ein lauter Knall. Seit dem ist das Mädchen verschwunden. Ich vermute, dass sie ihren Vater getötet hat."
    Heftig schüttelte Ejn seinen Kopf. Das konnte nicht sein. Wieder blitzte Velayas sanftes Gesicht in seinen Gedanken auf. Ejn wusste, dass er das Mädchen nicht wirklich kannte. Aber er konnte nicht glauben, dass ein so hilfsbereites und unschuldiges Mädchen wirklich einen Mord begehen würde.

    "Ich weiß noch nicht genau, was ich mit dir mache." Der Alte seufzte. "Immerhin bist du offenkundig aus deinem Gefängnis geflohen. Sowas sieht die Königin gar nicht gerne. Bei Adanos, jetzt muss ich gleich zwei Berichte für die Königin schreiben! Wie spät ist es überhaupt? Bei Adanos, wenn ich noch länger hier bleibe, verpasse ich das Verhör!"
    Amüsiert betrachtete Ejn den Alten, der mal wieder nervös in seinen Bart grummelte. Es dauerte einige Minuten, dann blieb der hagere Mann stehen. Er strahlte Ejn an und sagte dabei:
    "Du kommst erstmal mit zur Kaserne. Dort verhören wir das Mädchen und anschließend bringen wir dich zurück zur Königin."
    Ejn zögerte nicht lange. Er wollte unbedingt wissen, ob es sich bei der Verdächtigen wirklich um Velaya handelte. Und wenn ja, ob sie wirklich schuldig war. Langsam stand er auf, um dem Alten zur Kaserne zur folgen. Ejn war zuversichtlich, dass sich noch weitere Fluchtmöglichkeiten für ihn ergeben würden.

  5. Beiträge anzeigen #5 Zitieren
    Kleiner als drei  Avatar von Lady Xrystal
    Registriert seit
    Aug 2006
    Ort
    Dukatia City
    Beiträge
    5.789
     
    Lady Xrystal ist offline
    Vorgabe 4:

    Der alte Mann führte seinen stummen Begleiter quer durch die halbe Stadt. Und während der Alte im Plauderton Anekdoten aus seiner Jugend erzählte, nutzte Ejn den Fußmarsch dazu, die Straßen des Wohnviertels genauer zu studieren. Egal in welche Richtung er blickte, überall sah er nur Häuser, Türschilder und im Hintergrund eine dicke Steinmauer. In den meisten Häusern war es stockfinster, nur gelegentlich sah man den Schein einer Kerze oder Öllampe durch ein staubiges Fenster schimmern.

    "Sie hätte einfach nur nachsalzen müssen!", beendete der Alte seine Erzählung über den ersten Scavangereintopf seiner Schwester. "Dann hätte die Brühe auch geschmeckt!"
    Ejn musste schmunzeln, nicht so sehr über den Inhalt der Geschichte, sondern über den Tonfall des Alten. Er wirkte wie ein kleines Kind, nur mit tiefen Sorgenfalten im Gesicht.
    Ein paar Schritte später ragte die Kaserne vor ihnen auf und mit ihr veränderte sich die ausgelassene Stimmung des Alten. Er seufzte leise und Ejn wurde das Gefühl nicht los, dass den Alten etwas bedruckte.
    "Weißt du, ich habe so sehr gehofft, dass ich bei der Verhandlung einen echten Verdächtigen präsentieren kann", sagte er schließlich. "Wenn die Tochter des Tischlers wirklich für seinen Tod verantwortlich ist, dann haben wir niemanden, den wir zur Rechenschaft ziehen können."
    Mit diesen Worten betrat der Alte die Kaserne. Ejn aber blieb stehen, während er sich fragend umsah. Was meinte der Alte damit, dass sie niemanden hatten, den sie zur Rechenschaft ziehen konnten? Zum ersten Mal seit seiner Flucht spürte Ejn wieder Zorn in sich aufflackern. Er wollte Antworten. Er wollte endlich wissen, wie es Velaya ging. Aber als er seinen Mund öffnete, ertönte nur ein Röcheln.
    "Kommst du?", rief der Alte nach draußen. "Wir haben nicht ewig Zeit!"
    Ejn schloss seinen Mund wieder und ballte gleichzeitig die Hände zu straffen Fäusten. Dann betrat er die Kaserne.

    Nachdem sie einen langen Gang durchquert hatten, betraten Ejn und der alte Mann einen kleinen, fensterlosen Raum. Zahlreiche Öllampen hüllten die Steinwände in ein warmes Licht. In der Mitte befanden sich ein Holztisch und zwei Stühle. Gegenüber der Eingangstür waren einige Bänke aufgestellt. Von dort aus konnte man den gesamten Raum überblicken.
    Der Alte nickte einem bulligen Typen in eiserner Rüstung zu. Der erwiderte den Gruß, dann warf er einen Blick auf Ejn. Er mussterte ihn von Kopf bis Fuß, ehe er seinen Mund öffnete und dabei kaputte Zähne zum Vorschein brachte.
    "Was macht der hier?", fragte der Soldat undeutlich.
    "Er gehört zu mir", erwiderte der Alte.
    "Ach ja?", raunte der Soldat.
    "Oh ja, Moment." Der Alte begann in seinem Lederbeutel zu kramen. "Wo hab ich denn nur ... ach ja, hier ist er doch."
    Stolz präsentierte der Alte einen Ring, in dessen Fassung ein blauschimmernder Stein steckte.
    "Den hast du bei deiner Flucht verloren", sagte er in Richtung Ejn gewandt.
    Also behielt Ejn Recht. Der Alte hatte den Ring genutzt, um Ejns Flucht aufzuhalten. Genauso, wie Ejn ihn genutzt hatte, um überhaupt erst zu flüchten. Welch Ironie.

    Während die drei Männer gemeinsam zu den Sitzbänken schlenderten, spürte Ejn den prüfenden Blick des bulligen Soldaten in seinem Rücken. Ejn vermutete, dass der Typ ebenfalls zur Garde von Königin Irdorath gehörte. Kaum hatten sich die drei Männer gesetzt, da betraten auch schon drei weitere Gestalten den Raum. Einer von ihnen trug eine lange Robe aus braunem Samt, der zweite war ebenfalls in braun gekleidet und führte Pergament und Schreibfeder mit sich. Beim Schlusslicht handelte es sich um einen Soldaten, der einen bläulich schimmernden Stein auf den Tisch in der Mitte legte und sich dann zu seinem Kollegen auf die Bänke setzte.
    Ejn spannte seinen ganzen Körper an. Er hatte sich die Verhandlung anders vorgestellt, aber vor allem hatte er nicht damit gerechnet, schon wieder diesen seltsamen blauen Stein zu sehen. Es war, als würde er Ejn seit seiner Flucht verfolgen.

    Gespannt betrachtete Ejn das Treiben vor ihm. Sein Blick wanderte unruhig zwischen dem Richter und der Eingangstür hin und her, darauf gefasst, Velayas sanftes Gesicht wiederzusehen. Nur aus dem Augenwinkel heraus bekam er mit, dass der Schreiberling den blauschimmernden Stein berührte und einen Strudel aus Lichtern und knisternden Blitzen beschwor. Einen Moment lang wurde Ejns Blick komplett vernebelt, dann verschwand das blaue Licht. Stattdessen tauchte eine durchschimmernde Gestalt auf. Es sah beinahe so aus, als würde ein Geist auf dem Stuhl vor Richter Darek sitzen.
    "Wo bin ich hier?" Die Stimme der Gestalt klang verzerrt, war aber eindeutig weiblich. Ejn rutschte unruhig ein Stück nach vorne. Was hatte das zu bedeutet? Saß vor ihm wirklich der Geist vor Velaya? War Velaya ... tot?

    Der Mann in der Samtrobe setzte sich auf den Stuhl. Sein Schreiberling stellte sich neben ihn, öffnete das Pergament und las laut vor:
    "Im Namen Königin Irdoraths der Ersten und im Beisein von Richter Darek eröffne ich diese Verhandlung. Angeklagt ist Velaya, Tochter des Tischlermeisters Jarob aus dem südlichen Stadtviertel, die ihren Vater, Tischlermeister Jarob getötet haben soll."
    "Was?" Erneut ertönte die seltsam verzerrte Stimme der Geistergestalt. "Ich habe niemanden getötet!"
    Ejn schloss die Augen. Wenn er sich ganz genau auf die Stimme der Gestalt konzentrierte, dann gab es für ihn keinen Zweifel. Es musste sich um Velaya handeln. Sie klang vielleicht etwas reifer, resoluter, aber es war noch immer das freundliche Mädchen, dem er früher am Tag begegnet war.
    Der Schreiberling fuhr unbeirrt fort. "Verhandlungstag Eins. Wir schreiben den fünften Sommertag im Jahre Einhundertsiebenunddreißig."
    "Vielen Dank", sagte der Richter. Sofort wandte er sich seiner Angeklagten zu. Diese aber hatte den Kopf gesenkt und betrachtete ihre Hände, so als handelte es sich dabei um eine seltene Pflanze, die sie zum ersten Mal in ihrem Leben sah.
    "Velaya, gibst du zu, deinen Vater getötet zu haben?"
    "Wie kann das sein?"
    "Wie kann was sein?" Der Richter wirkte sichtlich verwirrt, nahezu unsicher. Seine Mundwinkel zitterten, aber er wartete geduldig auf eine Antwort.
    "Wenn wir heute das Jahr Einhundertsiebenunddreißig schreiben, dann ... " Velayas Stimme zitterte. "Dann bin ich jetzt seit vierunddreißig Jahren tot."

    Ejn glaubte, er würde ohnmächtig werden. Vielleicht träumte er das alles auch nur. Vielleicht befand er sich eigentlich noch in seinem Gefängnis und schlief. Richter Darek dagegen schien völlig unbeeindruckt.
    "Du bist verwirrt, weil dein Vater deinen Geist in diesen Stein gesperrt hat."
    "Er ist nicht mein Vater!" schrie das Mädchen. "Ich meine - er war ... Ich weiß nicht, wieso ich hier bin. Ich weiß, dass ich in einen Fluss gefallen bin. Später wurde ich dann in einen Stein gesperrt und von dort aus in den Körper eines jungen Mädchen transferiert."
    "Also streitest du ab, dass dein Vater nekromantische Experimente an dir durchgeführt hat?" Diesmal schien der Richter nicht auf eine Antwort zu warten. "Er hat deinen Geist von deinem Körper getrennt und aus Rache hast du ihn so sehr erschreckt, dass er sich den Kopf an der Tischkante aufgeschlagen hat. Und damit wir dich nicht zur Rechenschaft ziehen können, hast du dich in diesem Erzbrocken versteckt und deinen Körper zurückgelassen!"
    "Das stimmt doch alles nicht!" Velaya klang verzweifelt und es brach Ejn das Herz, sie so zu sehen. "Ich ... Die echte Velaya ist genau wie ich vor langer Zeit gestorben. Mein Geist wurde in ihren Körper gepflanzt und ich habe diesen Körper gehasst! Ich bin kein kleines Mädchen und dieser Jarob ist auch nicht mein Vater!"
    Plötzlich stand Richter Darek auf. Ejn erkannte jetzt, dass sein Kopf rot angelaufen war. Wütend starrte er die Geistergestalt an.
    "Sag mir, wo dein Körper ist. Dann können wir dich festnehmen und du verbringst ein paar Jahre im Gefängnis. Vielleicht entgehst du so sogar dem Strick."
    "Mein Körper existiert nicht mehr!"
    "Nun denn." Der Richter ließ sich auf seinen Stuhl zurückfallen. "Dann wird dein Geist auch nicht mehr existieren."

    Der Richter nickte dem Soldaten zu, der Ejn und den Alten vor der Verhandlung empfangen hatte. Dieser stand knurrend auf und löste einen Hammer von seinem Ledergürtel.

    "Die Verhandlung ist hiermit beendet", sagte der Richter.
    Und im nächsten Moment traf der Hammer auf den Stein. Der Erzbrocken zersplitterte in tausend teilen und mit ihm verschwand der Geist von Velaya, ganz so, als hätte er niemals existiert.

    Ejn wollte schreien. Wütend hämmerte er auf die Sitzbank. Besorgt sah der Alte zu ihm herüber.
    "Ich kann dich nicht gehen lassen, das weißt du", flüsterte er leise. "Ich unterstehe Königin Irdorath und muss dich zurück in ihre Bergfeste bringen."
    Aber Ejn wollte das nicht. Ejn wollte ihn anschreien. Er wollte dem Alten sagen, dass er sich mal seine Stiefel lecken kann. Ejn wollte ihm sagen, dass er nun aufsteht und geht, wegläuft, ganz weit weg, wo ihn niemand finden würde. Aber Ejn konnte nichts sagen. Er konnte sich nicht wehren. Stumm blieb er sitzen, den Blick geradeaus auf den Tisch gerichtet, an dem zuvor der Geist von Velaya zerstört worden war."

  6. Beiträge anzeigen #6 Zitieren
    Kleiner als drei  Avatar von Lady Xrystal
    Registriert seit
    Aug 2006
    Ort
    Dukatia City
    Beiträge
    5.789
     
    Lady Xrystal ist offline
    Vorgabe 5:

    “Geht’s nich gut?”
    Ejn blickte auf. Der Soldat mit den kaputten Zähnen stand mit besorgter Miene über dem Alten gebeugt. Der Alte wiederum krümmte sich und atmete schwer, aber seine Lippen formten ein strahlendes Lächeln.
    “Es ist so warm hier drin”, sagte er zwischen zwei tiefen Atemzügen. “Ein Schlückchen Wasser wäre ganz nett.”
    “Sofort.” Der Soldat griff an seinen Gürtel und löste eine Trinkflasche aus verfranstem Leder.
    “Ah, danke.” Der Alte nahm den Beutel entgehen. Ein leises Plopp ertönte, während seine knochige Hand den Korken am Flaschenhals entfernte, doch statt zu trinken, schloss der Alte die Augen. Seine Lippen zitterten dabei, so als würde er etwas singen, aber Ejn vernahm keine Worte.
    Die Stille ließ Ejn wieder an die vergangenen Minuten denken. Sein Blick wanderte zurück zum Verhandlungstisch in der Mitte des Raumes, dort, wo vor kurzem noch der Geist von Velaya einem mürrischen Richter gegenüber gesessen hatte. Doch statt Zorn empfand Ejn diesmal Trauer. Velaya war verschwunden, Richter Darek und sein Schreiberling traten gerade zur Tür und zwei Soldaten berieten leise, was sie mit dem zertrümmerten Erzbrocken machen sollten. Der Schimmer des Steins war erloschen und die matten Splitter erinnerten Ejn an den Anblick schwarzer Kohle.
    Ejn spürte einen schwachen Schlag gegen seine Schulter. Der Alte hatte seinen stillen Gesang beendet und hielt seinem Begleiter die Trinkflasche hin.
    “Du bist bestimmt genauso durstig wie ich”, sagte er mit seinem unverkennbaren Lächeln.
    Ejn nahm die Trinkflasche an, aber er zögerte. Der Beutel lag unerwartet leicht in seiner Hand und ein Blick durch den Flaschenhals verriet ihm, dass nur noch ein oder zwei Schlücke Flüssigkeit enthalten waren.
    “Es ist nur Wasser.” Der Alte klang reichlich vergnügt. “Kein Gift, kein Schnaps, kein Grund zur Sorge. Ich lebe schließlich auch noch.”
    Hatte der Alte überhaupt getrunken? Ejn war sich unsicher, aber andererseits gab es für die Königliche Garde keinen Grund, Ejn zu vergiften. Schließlich war er offiziell ein gefangener von Königin Irdorath und Ejn ging jede Wette ein, dass sie ihn lebend zurück haben wollte. Es war wohl Zeit, Abschied zu nehmen. Von der Freiheit, die kaum einen Tag angehalten hatte. Von Velaya, die nicht einmal Ejns Namen erfahren durfte. Und all das nur, weil ihm das freundliche Mädchen mit dem goldenen Haar nicht aus dem Sinn gegangen war.
    Ejn trank. Und dann wurde er müde und schlief ein.

    Als Ejn erwachte, wurde er von den Strahlen der aufgehenden Sonne geblendet. Er versuchte, sich den Schlaf aus den Augen zu reiben, und während er sich problemlos mit seiner rechten Hand an das eigene Gesicht fassen konnte, war sein linker Arm taub und gelähmt.
    Ejn brauchte einen Moment, um wieder klar zu sehen. Zu seinem Erstaunen befand er sich nicht wieder in jenem Zimmer, das ihm in den vergangenen Jahren als Gefängnis gedient hatte. Der Raum vor ihm ähnelte vielmehr einer Scheune, mit hölzernem Boden, zahlreichen Deckenbalken und schmutzigen Vorhängen, die mehr von den Wänden als von den Fenstern verdeckten. Außerdem stank es ganz gewaltig nach Verwesung.
    “Ah, du bist wach!” Der Alte saß auf einem Hocker und hielt einen dicken Stapel Papier in seinen knochigen Händen. “War ne ganz schöne Arbeit, dich hierher zu schleppen. Ich wusste gar nicht, dass stumme Menschen so laut schnarchen können.”
    Ejn blickte nach unten. Ihm gingen tausend Fragen durch den Kopf. Wo war er? Wie hatte der gebrechliche alte Mann es geschafft, ihn zu tragen? Wieso hatte er nicht den Ring benutzt? Und was um alles in der Welt hatten das Stück Papier und die Schreibfeder zu bedeuten, die auf dem Tisch direkt vor Ejns Nase lagen?
    “Du kannst ja nicht reden”, sagte der Alte. “Falls du also Fragen hast, schreib sie mir auf. Ich schau gleich drüber, wenn ich hier fertig bin.”
    Der Alte widmete sich wieder den Papieren in seinen Händen und murmelte dabei unverständliches Zeug vor sich hin. Ejn fühlte sich noch benommen, aber ausgeruht. Er griff nach der Feder, tunkte sie in das kleine Tintenfässchen.
    Das Erste was er schrieb war sein Name. E-J-N. Den strich er durch, dann schrieb er, langsamer, seinen vollständigen Namen E-J-N-A-S-C-H-K-A. Das waren alle Buchstaben die er schreiben konnte. Also schrieb er:
    EAJA
    AM
    Seinen Namen strich er dann wieder durch, denn er brauchte ihn nicht mehr, um die Buchstaben abzumalen.

    Eine Weile verging und Ejn wurde langsam wieder müde. Immer wieder fielen ihm die Augen zu, aber er wollte nicht schon wieder schlafen. Seine Haut hatte sich bereits an die Sonnenstrahlen gewöhnt, aber der Verwesungsgestank hing immer noch unangenehm in seiner Nase.
    Gerade, als er fast weggedämmert wäre, nahm der Alte das Stück Papier an sich. Sofort wurde Ejn wieder wach. Er richtete sich auf und blickte zum Alten, der den Zettel mit gerunzelter Stirn begutachtete.
    “Eaja?”, fragte er schließlich. “Meinst du Velaya?”
    Ejn nickte eifrig, denn er wollte wissen, wie es in der Verhandlung nun weitergehen sollte.
    “Gut, dass du mich daran erinnerst!” Der Alte klang erneut vergnügt und tänzelte über den hölzernen Boden zu einem der Vorhänge. Als er diesen zur Seite schob, konnte Ejn sehen, dass sich eine dunkle Nische dahinter versteckt hatte. Der Alte vollführte eine Handbewegung, die so aussah, als würde er einen unsichtbaren Kelch in die Höhe halten. Und plötzlich schwebte aus der Nische der leblose Körper eines jungen Mädchen mit goldblonden Haaren.
    Ejn beugte sich vor. Erneut überkamen ihn Zorn und Trauer, als Velayas Körper sanft zu ihm schwebte und sich auf dem Tisch vor ihm niederließ. Der Alte schlenderte ebenfalls zurück, aber während auf seinen Lippen immer noch ein strahlendes Lächeln zu sehen war, zeichneten Falten und Schweißperlen wilde Muster auf seine Stirn.
    “Hilf mir mal suchen”, sagte der Alte schließlich. Er beugte sich über Velayas Körper, mit einem Messer in der Hand. Während er die Kleidung des Mädchens zerschnitt, um ihre Haut freizulegen, sah er zu Ejn hinüber und bemerkte den fragenden Ausdruck in seinem Gesicht.
    “Ich suche ein Siegel”, sagte der Alte schließlich. “Ein runder Kreis mit Symbolen drin. Er müsste irgendwo auf ihre Haut geritzt sein.”
    Hastig blickte Ejn zwischen dem Alten und Velayas Körper hin und her. Er griff nach der Schreibfeder, die mittlerweile auf dem Boden gelandet war und versuchte, dem Alten damit deutlich zu machen, dass Ejn Antworten wollte.
    Der Alte seufzte. Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht.

    “Eigentlich sollte ich dir das nicht erzählen.” Der Alte zog seinen Hocker näher an den Tisch. Während er Velayas Oberkörper von ihrer Kleidung befreite, sprach er weiter. “Ich bin ein gläubiger Mann, weißt du? Ich glaube fest an Innos’ Reich, an Beliars Reich und an alles dazwischen, das von unserem Herren Adanos bewacht und behütet wird. Dieses Reich, auf dem wir verweilen, ist nur von temporärer Schönheit. Irgendwann, wenn unsere Körper sterben, wird unser Geist zu Innos oder Beliar geschickt.”
    Gespannt lauschte Ejn den Worten des Alten. Ejn hatte sich nie um die Götter gekümmert, aber während ihm Beliars Reich ein Begriff war und Adanos selbst von Königin Irdorath und ihren Anhängern angebetet wurde, war ihm der Name Innos völlig fremd.
    “Vor langer Zeit lebte ich mit meiner Frau und unserer kleinen Tochter auf dem Festland. Wir waren Bauern auf einem kleinen Hof, mitten auf dem Weg zwischen Faring und der großen Hafenstadt Vengard.”
    Ejn nickte wissend, obwohl er keinen dieser Namen jemals zuvor gehört hatte.
    “Eines Abends überquerte ein Krieger unseren Hof. Er nannte sich selbst einen Avatar Innos’ und er sah in meiner Frau eine Bestie, geschickt von Beliar persönlich.”
    Tränen sammelten sich in den Augen des Alten.
    “Ich habe ihm natürlich nicht geglaubt! Aber der Krieger begann, unseren Hof in Brand zu stecken, unsere Tochter zu bedrohen. Sie war damals noch ein kleines Kind, kaum fähig zu laufen. Meine Frau … sie hatte keine andere Wahl. Um uns zu beschützen verwandelte sie sich in die Bestie, die der Krieger in ihr gesehen hatte. Eine Bestie, so groß wie unsere Scheune, von schwarzem Fell und mit einem mächtigen Horn auf der Stirn.
    Der Krieger … nun, er erschlug das Tier und es ging ein in Beliars Reich … und ich wurde zu einem gebrochenen Mann. Meine Tochter überlebte, aber mein Hof war zerstört, meine Frau ermordet. Und ich begann, die Götter zu hassen. Beliar, der meine Frau zu seinem Sklaven gemacht hatte. Und Innos, der seinen Avatar gesandt hatte.”
    Der Alte hämmerte seine Faust auf den Tisch, so heftig, dass Ejn zusammen zuckte. Selbst Velayas Körper zitterte und ihr Kopf verrutschte von ihrem Hals, kullerte zur Seite und ihre leblosen Augen ließen Ejn erschaudern.
    “Entschuldige”, sagte der Alte. Er nahm Velayas Kopf in beide Hände und rückte ihn wieder zurecht. “Jedenfalls, wo war ich? Ach ja!
    Mit meiner Tochter floh ich in nach Vengard, um neue Arbeit zu finden. Ein paar Jahre später heuerten wir auf einem Schiff an, das einen Diplomaten zu Königin Irdorath fahren sollte. In einer Taverne lernte ich einen Anhänger Adanos’ kennen und entschied, dass meine Tochter und ich fortan auf dieser Insel leben würden.
    Ich stellte mich in den Dienst der Königin und begann, als Kampfmagier die Magie des Wassers zu studieren. Schnell lernte ich, dass Adanos für all das Gute auf dieser Welt verantwortlich war. Anders als Innos und Beliar folgt Adanos keinem Drang nach Sieg oder Macht.
    Mein Entschluss stand fest: Ich wollte diese Welt, Adanos’ Reich niemals verlassen. Ich möchte kein Sklave seiner Brüder sein, sondern auf ewig an seiner Seite verweilen. Also begann ich, das magische Erz zu studieren.”
    Der Alte präsentierte nun den goldenen Ring, den Ejn nur allzu gut kannte. Der blaue Stein schimmerte wieder kräftig, nicht mehr so blass wie am vorigen Morgen, als Ejn ihn für seine Flucht verwendet hatte.
    “Dieses Erz findet sich zuhauf in den Höhlen unter der Insel. Königin Irdorath hat angeordnet, das Erz zu schürfen, weil seine magische Macht gewaltig ist. Aber vor allem ermöglicht diese Magie, einen Geist an diese Welt zu binden.
    Als ich diese Erkenntnis erlangte, veränderte sich mein ganzes Leben. Ich wollte meinen Geist und den Geist meiner Tochter von unseren Körpern lösen, damit wir nicht mehr sterben mussten. Aber, was ich tatsächlich tat … sie wird mir das nie verzeihen.”
    Der Alte stand auf und ging zum anderen Vorhang. Als er auch diesen beiseite schob, verstärkte sich der Gestank nach Verwesung schlagartig. Ejn musste sich seine Hand vor die Nase halten, um nicht in Ohnmacht zu fallen.
    Den alten Mann schien der unangenehme Geruch nicht zu stören. Er stellte sich zur Seite, sodass Ejn einen weiteren leblosen Körper entdecken konnte. Die nackten Beine sahen gewöhnlich aus, wie die eines gesunden, hellhäutigen Menschen. Aber die Füße waren von dunklen Flecken gezeichnet und die Fußnägel gelb und so lang, dass sie vom hüfthohen Bett, auf dem die Leiche lag, bis auf den Holzboden reichten.
    Ohne sich umzudrehen sprach der alte Mann weiter. Mit jedem Wort wurde seine Stimme zittriger.
    “Ich habe oft an den Fischen geforscht, die im Fluss am Stadtrand leben. Velaya war gerade siebzehn geworden, als ich es endlich geschafft hatte, eine Schriftrolle zu erschaffen, die den Geist eines Fisches von seinem Körper trennen konnte. Mein Plan war genial. Ich brachte meine liebste Tochter … meine Velaya mit zum Fluss.”
    Ejn richtete sich stärker auf. Hatte der alte Mann Velaya gerade als seine Tochter bezeichnet?
    “Ja, ganz recht.” Es war, als hätte der Alte Ejns Gedanken gelesen. “Der Geist, den du bei der Verhandlung gesehen hast, war der Geist meiner geliebten Tochter. Ich habe sie im Fluss ertränkt und es mithilfe meiner Spruchrolle geschafft, ihren Geist von ihrem Körper zu trennen. Ich sperrte ihren Geist in einen Erzbrocken, dann nahm ich diesen und ihren Körper wieder mit nach hause. Und hier liegt sie nun. Seit vierunddreißig Jahren.”
    Ejn musste husten. Das erklärte zumindest den Gestank.
    “Ich wollte ihren Geist zurück in ihren Körper übertragen. Sie sollte weiterleben, so lange, bis ihr Körper nicht mehr zu leben vermag. Aber statt nach ihrem Tod in Beliars Reich einzugehen, wäre ihr Geist frei auf Adanos’ Pfaden gewandelt.
    Was stattdessen geschah? Nun. Während der Transfer eines Geists in einen magischen Erzbrocken problemlos möglich ist, sieht es mit menschlichen Körpern nicht ganz so einfach aus.”
    Der Alte stand auf und zog den Vorhang wieder zu. Langsamen Schrittes begab er sich wieder an den Tisch, an dem die andere Velaya lag.
    “Jahrelang versuchte ich mit allen Mitteln, Velaya in ihren Körper zurückzuschicken. Aber egal was ich versuchte, es gelang mir nicht. Und irgendwann, als ihr Körper zu verwesen begann, musste ich all meine Energie darauf verwenden, den Verwesungsprozess aufzuhalten. Ich hatte keine Kraft mehr, weiterzuforschen, aber ich gab die Hoffnung nicht auf. Den Erzbrocken trug ich immer bei mir, ganz nah an meinem Herzen.”
    Der Alte setzte sich wieder vor den mittlerweile nackten Körper der anderen Velaya. Unbeirrt nahm er ihren Fuß in die Hand und begann damit, jeden Zeh genau zu mustern, während er seine Geschichte weiter erzählte.
    “Vor einigen Jahren spazierte ich nichtsahnend durch die Straßen im Südviertel, als ich eine Stimme hörte. Jemand rief nach einer Velaya. Natürlich wusste ich, dass damit nicht meine Velaya gemeint war, aber dennoch blieb ich stehen, um zu sehen, woher die Stimme kam. Das war der größte Fehler meines Lebens.”
    Ejn wollte protestieren. In seinen Augen war die Ermordung Velayas und das jahrelange Einsperren ihres Geistes in einen verdammten Stein ein wesentlich größerer Fehler, aber was wusste Ejn schon von der Welt hier draußen?
    “Die Stimme kam näher, rief deutlich Velayas Namen. Und Velaya gehorchte. Sie brauch aus dem Erzbrocken aus und fuhr in den Geist des Mädchen, dessen Körper du nun vor dir siehst.
    Erst Jahre später verstand ich, was passiert war. Jarob mochte ein gewöhnlicher Tischler sein, aber er hatte keine gewöhnlichen Freunde. Er hatte Bekanntschaft mit Wassermagiern gemacht. Mit Leuten, die sich auf meine Studien stützten, um Jarobs verstorbene Tochter wiederzubeleben.
    Ich weiß nicht genau, was mit Jarobs Velaya geschehen war. Vermutlich wurde sie geköpft oder sowas. Aber aus irgendeinem Grund haben Jarobs Freunde versucht, den Geist dieses Mädchen zu retten. Was sie stattdessen getan hatten, war den Geist meiner Tochter in diesen Körper zu sperren.”
    Der Alte hatte nahezu jedes Körperteil der Leiche vor ihm durchsucht. Erst, als er ihren Mund öffnete und die Zunge anhob, legte sich ein breites Grinsen auf seine Lippen.
    “Na sieh mal einer an. Wer hätte das gedacht? Ausgerechnet die Zunge!”
    Der Alte zog wieder sein Messer und trennte die Zunge vom leblosen Leib des Mädchens.
    “Siehst du das?”, fragte er, die Zunge triumphierend in der Hand haltend. “Das hier ist ein Erzsiegel. Es wird als eine Art Tür für Geister benutzt und besteht aus derselben Magie wie das magische Erz. Ich werde sie meiner Velaya annähen. Und weil Richter Darek so freundlich war, mit der Zerstörung des Erzbrocken Velayas Geist freizusetzen und damit fangbar zu machen”, demonstrativ zeigte der Alte nun auf den Erzring. “kann ich Velaya endlich ihren eigenen Körper zurückgeben. Wobei ich ihr vermutlich die Füße amputieren sollte. Und die rechte Gesichtshälfte.”
    Ein fieses Lachen ertönte. Alle Freundlichkeit war aus dem Gesicht des Alten gewichen und doch strahlte er wie ein kleines Kind. Ejn dagegen wurde übel. Zum einen von der Tatsache, dass er von verwesenden Leichen und abgetrennten Körperteilen umgeben war. Und zum anderen, weil in ihm eine schreckliche und zugleich verführerische Idee kam.
    Ejn blickte zum Papierstapel, den der Alte zuvor in der Hand hatte und mittlerweile sorgfältig auf einen Schrank abgelegt hatte. Waren das die Schriftrollen, die den Geist-vom-Körper-trennen-Zauber enthielten? Und wenn ja, könnte Ejn sie benutzen, um seinen eigenen Geist von seinem Körper zu trennen? Könnte Ejn sich die Zunge annähen, seinen Geist anschließend trennen und sofort wieder in seinen Körper zurückkehren? Ejn hatte nichts mit Adanos und den anderen Göttern am Hut. Aber er wollte endlich wieder sprechen können. Und diese Zunge, so widerlich der Gedanke auch war, konnte ihm diesen Wunsch erfüllen.
    Der Alte stand auf und Ejn nutzte die Gelegenheit, um ihn zu schubsen. Schreiend verlor der gebrechliche Mann seinen halt und während er fiel, schmiss er die Zunge zu Boden, nur anderthalb Armlängen von Ejn entfernt. Dummerweise lag die Zunge auf seiner linken Seite und da sein Arm aus unerklärlichen Gründen - denn die zweite Frage auf dem Zettel hatte der Alte noch nicht beantwortet - noch immer wie gelähmt war, konnte Ejn die Zunge nicht greifen.
    Aber musste. Er strengte sich an, so gut er konnte. Dann ertönte wieder das Lachen des alten Mannes.
    “Welch Ironie, dass das Siegel ausgerechnet auf ihre Zunge gebrannt wurde! Aber falls du jetzt denkst, dass du sie nutzen kannst, um dich von deinem kleinen Gebrechen zu befreien … vergiss es! Die Zunge gehört … AAAGRAHGHG!”
    Ejn sah, wie der alte Mann verkrampfte. Es sah schmerzhaft aus und sein schriller Schrei bekräftigte diesen Eindruck nur. Und dann ertönte erneut ein Lachen. Dunkler, boshafter und vor allem: Weiblich.
    Ejn sah wieder zu der Zunge. Genau in diesem Moment wurde sie von den schlanken Fingern einer grazilen Gestalt hochgehoben.
    “Sehr erfreut, meine Herrschaften”, sagte Königin Irdorath. Grinsend stand sie vor Ejn und dem Alten und hinter ihr hielten ihr zwei schwer bewaffnete Männer in dunkelblauen Kutten den Rücken frei.

  7. Beiträge anzeigen #7 Zitieren
    Kleiner als drei  Avatar von Lady Xrystal
    Registriert seit
    Aug 2006
    Ort
    Dukatia City
    Beiträge
    5.789
     
    Lady Xrystal ist offline
    Vorgabe 6:

    Als die Schreie des Alten verstummten, starrte Ejn ihn sofort an. Kaum ein Kratzer zierte die alte, faltige Haut und doch atmete er so schwer, dass Ejn befürchtete, der Alte würde neben ihm zusammenbrechen. Für einen kurzen Moment sah es auch so aus, als könnte der Alte sich nicht mehr auf seinen Beinen halten, aber schon einen Wimpernschlag später realisierte Ejn, dass der Alte sich lediglich hinkniete, um seinen Respekt gegenüber der Königin zum Ausdruck zu bringen.
    Er fand das komisch. Ejn hatte noch nie vor der Königin gekniet. Aber andererseits war er ihr noch nie außerhalb der Bergfeste begegnet. Verunsichert ließ auch Ejn sich auf seine Knie sinken, wobei er wieder zu Königin Irdorath schaute und sie nicht mehr aus den Augen ließ.
    "Ich wünsche, dass mir sämtliche Berichte zum Todesfall von Tischlermeister Jarob augenblicklich zukommen."
    Die Stimme, die soeben ertönt war, klang haargenau wie jene, die die beiden Herrschaften nur wenige Augenblicke zuvor begrüßt hatte und doch verwirrte sie Ejn, denn das Grinsen war noch immer nicht aus dem Gesicht der Königin gewichen.
    "Sie liegen auf dem Schrank dort hinten." Der Alte deutete auf den Papierstapel, den er sorgfältig dort abgelegt hatte und in Ejn machte sich Enttäuschung breit. Es waren wohl doch keine Spruchrollen, deren Magie einen Geist von seinem Körper trennen konnten. Aber das änderte nichts daran, dass Ejns Plan seine Hoffnung darauf, endlich wieder sprechen zu können, in sein Herz gerammt hatte.
    Und dann geschah etwas, womit Ejn nicht gerechnet hatte. Die Königin nickte ihren Begleitern zu und trat, grazil und ohne Hast, an den Schrank mit den Berichten heran. Hinter ihr kam eine Gestalt zum Vorschein, die ihr wie ein Schatten auf Schritt und Tritt folgte. Die Person war komplett in Schwarz gehüllt und sie trug eine Kapuze, die so tief in ihr Gesicht gezogen war, dass man lediglich zierliche Lippen und ein weiches Kinn erkennen konnte.
    Mit nervöser Stimme durchbrach der Alte die Stille.
    "Meine Königin. Ich habe die Berichte nach bestem Gewissen erstellt und nichts gefälscht. Ich habe lediglich nicht ergänzt, dass der Körper der Verdächtigen, nun ja, gefunden wurde. Offiziell wurde er ja auch nicht gefunden, weil ich ihn noch immer hier versteckt halte. Ich kann ihn natürlich übergeben, aber der Fall ist doch abgeschlossen, oder nicht?"
    Die Königin reichte ihrem Schatten eine kleine Pergamentrolle. Dann ertönte erneut die Stimme der Königin. Erst jetzt sah Ejn, dass ihr Schatten für sie sprach.
    "Ich dachte mir bereits, dass du etwas ähnliches sagen würdest. Nun, es mag richtig sein, dass der gesuchte Körper der Mörderin nicht mehr von Belang ist. Dennoch muss ich dich darum bitten, mir den Körper auszuhändigen."
    Die Erwiderung des Alten blieb ihm im Halse stecken, als die Königin fertig ihren Kopf schüttelte. Sie hielt Velayas Zunge in die Höhe.
    "Es geht um die Zunge", schlussfolgerte der Schatten der Königin. Sie klang unsicher, aber sie widmete sich wieder dem Schreiben in ihren Händen. "Ich wurde bereits darüber informiert, dass sich Ejnaschka bei dir aufhält. Auch, wenn ich nicht verstehe, wieso er ausgebrochen ist, schließlich habe ich dafür gesorgt, dass es ihm an nichts fehlt."
    Mir fehlt meine Freiheit, dachte sich Ejn und er hätte es der Königin auch gerne gesagt. Und wenn er erstmal eine Zunge, diese Zunge sein eigen nennen konnte, würde er der Königin all das erzählen und sogar noch mehr. Er versuchte, seinen Arm wieder zu bewegen, aber es war hoffnungslos. Also musste er einen anderen Weg finden, um der Königin die Zunge abzunehmen. Und, um gleichzeitig zu fliehen.
    Der Schatten der Königin sprach weiter:
    "Nun, mein kleiner Ejnaschka, hast du dich nie gewundert, wieso ich nicht mit dir spreche? Oh, wie töricht von mir, das zu fragen. Du hast ja keinen Sprecher, der darauf antworten könnte."
    Sprecher? Ejn wurde wütend. Es hasste es, dass jeder ihrer Sätze eine neue Frage aufwarf und er hasste es noch mehr, dass sich Königin Irdorath offenkundig zu fein war, direkt mit ihm zu reden. Machte sie sich etwa über seinen Zustand lustig?
    So schlagartig, wie Ejns Wut aufgeflammt war, verschwand sie wieder, als der Schatten der Königin folgenden Satz sagte:
    "Wir sind gar nicht so verschieden."
    Denn im selben Moment öffnete die Königin ihren Mund, nur gerade so weit, dass Ejn hineinsehen konnte. Hinter ihren geraden, nur leicht vergilbten Zähnen befand sich nichts weiter als ein dunkler Gang hinab zur Kehle. Genau wie Ejn hatte Königin Irdorath keine Zunge. Die Erkenntnis traf ihn so hart, dass seine Beine zitterten und er sich am Tisch neben ihm festklammern musste.
    "Ich war so töricht", las der Schatten der Königin weiter vor. "Ich habe dich jahrelang beobachtet, deinen Körper jahrelang erforscht, aber ohne Ergebnis. Ja, mein lieber Ejnaschka, du, oder viel mehr dein Körper, war das Versuchsobjekt. Adanos' Magie sei Dank hast du meine Experimente nie bewusst erlebt, aber ich hatte so sehr gehofft, dass ich lernen würde, wie man abgeschnittene Körperteile rekonstruieren kann."
    Es mochte seltsam klingen, aber Ejn war erleichtert. Er wusste nun, wieso die Königin ihn jahrelang in ihrer Bergfeste festgehalten hatte und wieso er, abgesehen von der Freiheit selbst, stets alles hatte.
    Der Schatten der Königin wandte sich nun wieder dem Alten zu.
    "Wie gesagt, ich war töricht. Zu spät erkannte ich, dass nicht der zungenlose Körper der Weg zur Heilung ist. Es ist die Zunge selbst. Hätte ich das früher erkannt, dann wäre Velaya vermutlich noch am Leben."
    "Meine Königin!" Der Alte trat ein paar Schritte näher. "Wie meint Ihr das?"
    Der Schatten schien auf dem Pergament nach einer passenden Antwort zu suchen. Zu Ejns Überraschung fand sie diese sogar.
    "Nachdem ich erfahren habe, welche Möglichkeiten das magische Erz bietet, das tief in den unterirdischen Hallen der Insel verborgen liegt, habe ich es für meine Forschungen genutzt. Mittlerweile kenne ich die Magie, die einem Erzsiegel innewohnt, aber weder ich selbst, noch meine Vertrauten wissen, wie man ein solches Siegel herstellt. Der Magier, der für das Siegel an Velayas Zunge verantwortlich war, hat sein Geheimnis mit ins Grab genommen. Velayas Zunge ist die einzige Möglichkeit, mein Gebrechen zu heilen."
    "Bei allem Respekt, meine Königin", sagte der Alte. "Aber die Zunge gehört mir!"
    Der alte Mann war völlig wehrlos. Er verzichtete darauf, sich mit seinem magischen Können gegen seine Herrin zu wenden, stattdessen fiel er auf die Knie und sprach mit gebrochener Stimme:
    "Ich werde für Euch herausfinden, wie die Erzsiegel funktionieren. Ich habe mit meinen Forschungen schließlich den Grundstein dafür gelegt. Aber bitte, meine Königin, bitte nehmt mir nicht meine Tochter!"
    Königin Irdorath schenkte dem Alten keinen einzigen Blick. Sie wandte sich Ejn zu und ihr Schatten las unbeirrt weiter vor.
    "Mein lieber Ejnaschka. Wie du dir vielleicht schon denkst, brauche ich dich nicht mehr. Du bist frei."
    Ejn fühlte sich, als hätte ihn ein Stein erschlagen. Hatte er sich verhört? Meinte die Königin das ernst? War er ... frei? Sein Blick fiel auf Velayas Zunge, aber seine Gedanken wanderten zu den Erinnerungen der vergangenen Stunden. Ejn hatte so vieles gewollt. Er wollte Velaya nochmal wiedersehen. Lebendig. Er wollte wieder sprechen könnten. Und er wollte seine Freiheit behalten. Aber er wusste, dass er nur eines davon haben konnte und die Entscheidung dafür lag ganz alleine darin, in wessem Besitz sich die Zunge am Ende des Tages befinden würde.
    "Bedenke allerdings eines", fuhr der Schatten fort. "Ich bin kein Freund davon, ehemalige Sklaven einfach so gehen zu lassen. Deshalb habe ich ein Gesetz erlassen, laut dem sämtliche Menschen, die keine Zunge haben, exekutiert werden. Du solltest also sehen, dass du bis Mitternacht die Insel verlässt, wenn du deine Freiheit noch länger genießen wirst."
    Damit schied eines der drei Dinge aus. Ejn wollte frei sein, aber nicht in andauernder Lebensgefahr. Königin Irdorath war nicht diejenige, die Velayas Zunge in ihren Händen halten sollte.
    "Ich hoffe Ihr zungenloses Biest werdet selbst exekutiert!" Der Alte war aufgestanden. Sein Ärger war nicht zu überhören und dicke Tränen hatten seinen Bart benetzt. Aber als er zu Ejn sah, presste er ein kleines Lächeln hervor.
    "Das ist schon möglich", antwortete der Schatten. "Auch ich bin von der drohenden Exekution betroffen. Aber keine Sorge, bis Mitternacht werde ich diese Zunge an meinen Körper angebracht haben und mich endlich von dieser Krankheit befreien."
    Ein Hoffnungsschimmer. Wenn Ejn die Zunge nutzen konnte, um sein Leiden zu heilen, würde er der Lebensgefahr entkommen und Königin Irdorath in den Tod führen. Sie würde sterben. Und Ejn würde es genießen. Also stürmte er los, direkt auf Königin Irdorath zu. Der Überraschungsmoment war auf seiner Seite, denn als er die Königin erreichte, konnte er sie mühelos zu Boden ringen. In ihrem Sturz fiel der Königin die Zunge aus der Hand. Diesmal war Ejn nah genug dran, um sie zu greifen. Er spürte die raue Oberfläche, das feuchte Fleisch, das nur von purer Magie am Leben gehalten wurde.
    Obwohl Ejn die Zunge so fest umklammerte wie er konnte, wurde sie ihm aus der Hand gerissen. Nicht durch eine andere Hand. Die Zunge schien ein Eigenleben zu entwickeln und sie schwebte empor, direkt über seinen Kopf. Ejn sprang auf und versuchte, erneut nach der Zunge zu greifen, doch genau in diesem Moment wurde sie von einem blauschimmernden Schild umhüllt.
    "Ihr wollt euch um die Zunge duellieren?", fragte der Alte. "Das meint ihr nicht ernst!"
    Die Königin nickte.
    "Ejn ist kein Magier. Er hat keine Ahnung von den Duellregeln. Er hat nichtmal ein Runendeck!"
    "Dann erklär ihm die Regeln." Der Schatten hatte die Pergamentrolle wieder eingesetzt. In der anderen Hand hielt er einen kleinen Erzbrocken, den er Ejn überreichte.
    Der Alte seufzte, aber er wandte sich an Ejn, um die Regeln zu erklären.
    "Jeder Duellant besitzt ein Runendeck, das sich in einem magischen Erzbrocken befindet. In jeder Runde erscheinen aus dem Deck fünf Runen, die der Duellant nutzen kann. Jeder Duellant darf ein Mal pro Runde angreifen und sich unendlich oft verteidigen. Wenn jeder Duellant einmal angegriffen hat, wird das Deck neu gemischt."
    Noch während Ejn der Erklärung lauschte, begann der Erzbrocken in seiner Hand zu vibrieren. Ejn lockerte seinen Griff und sah, wie das magische Material leuchtete und über den Boden schwebte. Kurz darauf erschienen fünf Symbole in unterschiedlichen Farben. Ejn hatte keine Ahnung, was diese Zeichen bedeuteten.
    "Lasst mich die Regeln demonstrieren", sagte der Alte. Er schob eines der Symbole nach oben und rief: "Ich beschwöre einen mächtigen Blitzschlag!"
    Über dem Kopf des Alten manifestierte sich ein zischender Strahl purer Magie. Augenblicklich deutete der Alte auf die Königin, woraufhin der magische Blitz nach vorne schoss und am Zielort aufschlug. Staub wurde aufgewirbelt und von der Königin fehlte jede Spur. Erst, als Ejn genauer hinsah, erkannte er die Fleischwanze, die auf dem Boden umherkrabbelte.
    "Sie hat meinen Angriff mit einer Verwandlung gekonntert", kommentierte der Alte. "Du bist dran, Ejn. Such dir einfach eine Rune aus."
    Ejn betrachtete die fünf Symbole vor ihm. Drei davon waren so kryptisch, dass er sich keinen Reim auf den damit verbundenen Zauber machen konnte. Ein weiteres Symbol zeigte einen Scavanger und Ejn vermutete, dass es sich dabei um einen anderen Verwandlungsspruch handelte. Also wählte er die fünfte Rune, die ihn an einen Stern erinnerte. Er ahmte die Bewegungen des Alten nach und wurde mit einer leuchtende Kugel belohnt, sie sich über seinem Kopf bildete. Ejn zeigte dann ebenfalls auf die Königin, die sich in genau diesem Moment wieder in ihre menschliche Gestalt zurückverwandelte.
    Nichts passierte. Und zum ersten Mal in seinem Leben hörte Ejn die Königin lachen.
    "Licht ist kein Angriffszauber." Der Alte klang besorgt, suchte aber nach motivierenden Worten. "Deine nächste Runde wird besser, keine Sorge."
    Ejn hatte gar keine Zeit, sich Sorgen zu machen. Denn kaum war sein Zug beendet, schleuderte die Königin einen Eispfeil in seine Richtung. Der Zauber flog um einiges langsamer als der Blitzschlag des Alten. Ejn blickte auf die verbliebenen Symbole vor ihm. Die Verwandlung in einen Scavanger würde vermutlich nichts bringen, denn Scavanger waren wesentlich größer als Fleischwanzen. Einen Scavanger mit einem Pfeil zu erschießen war leicht.
    Ein anderes Symbol leuchtete in einem hellen Orangerot. Die Farbe erinnerte Ejn an Feuer und irgendwie hoffte er, dass die Rune den kommenden Eispfeil zum Schmelzen bringen würde. Ejn zog die Rune nach oben und beschwor einen Feuerball, der mit dem Eispfeil der Königin kollidierte. Ein lautes Zischen ertönte, dann verschwanden beide Zauber im Nichts.
    "Nicht schlecht", kommentierte der Alte. "Dann bin ich wieder dran."
    Als das Zischen aufhörte, verschwanden die übrigen drei Symbole wieder im Erzbrocken. An ihrer Stelle traten fünf neue Symbole und, zu Ejns Leidwesen, war eines davon wieder dieser unsägliche Lichtzauber.
    "Ich spiele die dornigen Wurzelschlingen!"
    Kaum hatte der Alte seinen Zauber ausgewählt, begann der Boden zu beben. Dunkle, fast verdorrte Ranken sprossen hervor und schlängelten sich um Ejns Beine. Die Dornen taten nicht weh, aber Ejn fühlte sich, als würden sie seine Lebensenergie direkt aus deinem Körper saugen.
    "Nur zur Sicherheit", kommentierte der Alte seinen Angriff, "damit du dich nicht versehentlich wegteleportierst."
    Ejn war nun wieder an der Reihe. Als Ejn sich seine Runen genauer ansah, bekam er zum ersten Mal in diesem Duell ein gutes Gefühl. Eines der Symbole war ganz eindeutig eine Reihe von Totenköpfen, die allesamt über einer Schwertklinge schwebten. Das musste ein mächtiger Angriffszauber sein. Ejn beschwor den Zauber und erneut begann der Boden zu beben.
    Plötzlich war Ejn sich nicht mehr so sicher, ob er den richtigen Zauber gewählt hatte. Denn obwohl er auf die Königin zeigte, wurde er selbst von dichtem Nebel umhüllt. Aus dem Nebel heraus traten Totenköpfe, Knochen und Säbel, die sich langsam zu einem halben Dutzend Skelettkrieger formten und sie alle sahen direkt in Ejns Richtung.
    "Untote vernichten!", rief der Alte. Ein heller Strahl erschien über seinem Kopf, breitete sich dann über den gesamten Raum aus und hüllte das Schlachtfeld in ein warmes Licht. Die Skelette zerfielen wieder in ihre Einzelteile und dann zu Staub.
    "Ejn! Du kannst doch nicht einfach so eine Armee der Finsternis beschwören! Du weißt doch gar nicht, wie man Monster in diesem Duell kontrolliert!"
    Ejn zog die Schulter in die Höhe. Der Alte mochte recht haben, aber er vergaß offenkundig, dass Ejn keine Ahnung von Magie hatte. Wie sollte er da überhaupt zwischen Beschwörungen und anderen Zaubern unterscheiden können?
    Viel Zeilt zum überlegen blieb ihm ohnehin nicht, denn er hörte erneut das Geräusch von rasselden Knochen. Ein Blick in Richtung der Königin versicherte ihm: Sie selbst hatte nun ein Monster beschworen. Ein Skelett, um genau zu sein, aber es war kleiner und hibbeliger als Ejns Armee und es machte höchst seltsame Geräusche.
    "Ich werde Euer Goblinskelett nun freundlich stimmen!" Der Alte hielt erneut eine Rune in die Höhe. Ein grüner Strahl schoss aus ihr und umhüllte das Monster der Königin, woraufhin es seine Waffe fielen ließ.
    "Bei Adanos", murmelte der Alte, während sein Zug begann. "Nur Flächenzauber. Nun, soll mir recht sein. Ich rufe einen Großen Feuersturm!"
    Ejn spürte die Hitze aufflammen. Über dem Kopf des Alten breitete sich ein riesiger, feuerroter Wirbel aus. Er war langsam, aber groß genug, um den gesamten Raum in Brand zu setzen.
    Hastig sah Ejn auf seine eigenen Runen. Schon wieder kannte er kein einziges Symbol, das auf den Steinen abgebildet wurde. Er blickte zur Königin, die sich selbst in einen riesigen Eisblock verwandelt hatte. Ejn musste an ihren Eispfeil denken und daran, wie er diesen mit einem Feuerball gekontert hatte. Aber was konterte Feuer? Wasser?
    Ejn hatte nur eine Rune, die ihn irgendwie an Wasser erinnerte. Die Abbildung zeigte einen runden Fleck, aus dem blaue Striche geysirartig in die Höhe schossen. Es war seine einzige Chance. Ejn schob die Rune nach oben und hielt sich den Arm vor das Gesicht. Die Hitze kam so nah, dass Ejn das Feuer auf seiner Haut spüren konnte, aber ehe er einen wirklichen Schmerz empfand, hörte er ein Zischen. Er blickte auf und sah, wie tatsächlich ein großer Geysir vor ihm aufgetaucht war und ihm als eine Art Schutzschild vor dem Feuersturm bewahrte.
    Wenige Augenblicke später verschwanden die Flammen und mit ihnen auch die Hitze. Ejn sah, wie die Königin schwer atmend Halt suchte. Ihr Eisblock hatte sie sicherlich vor größerem Schaden bewahrt, aber er hatte das Feuer nicht vollständig aufhalten können. Und ihr Skelett war ebenfalls zu Asche zerfallen.
    Auch der Alte schien am Ende mit seinen Kräften. Der Zauber musste ihn verdammt viel Energie gekostet haben. Als er bemerkte, dass Ejn ihn beobachtete, lächelte der Alte.
    "Ich habe in den letzten Stunden ein wenig viel magische Energie verbraucht." Er keuchte schwer. "Ich musste dich schließlich irgendwie von der Kaserne aus mitschleifen, weil du eingeschlafen bist. Oh bei Adanos, Schlaf hätte ich auch gerne gehabt."
    Der Alte verfiel wieder in seine übliche Schwafellaune. Ejn war das nur recht, war so doch auch die Aufmerksamkeit der Königin auf ihn gerichtet. In aller Ruhe konnte Ejn seine Runen durchgehen.
    "Einmal", plauderte der Alte weiter, "auf dem Weg hierher, bin ich sogar fast im Stehen eingeschlafen! Da habe ich deinen Körper glatt auf den Boden fallen lassen. Ich hatte ja kurz Angst, dass ich deinen linken Arm dabei gebrochen habe, weil er so laut geknackt hat. Aber du hast einfach weitergeschlafen, da dacht ich mir, so schlimm wird der Schmerz wohl nicht sein."
    "Genug!" hallte die Stimme der königlichen Sprecherin durch den Raum.
    Ejn ließ sich davon nicht beirren. Für seinen nächsten Zug wählte er eine Rune, dessen Symbol eine grüne Faust zeigte und er feuerte den Zauber direkt in die Richtung der angeschlagenen Königin. Wind kam auf, als sich die magische Faust manifestierte und unter Toben und Zischen auf ihr Ziel zuschoss.
    Für einen kleinen Moment war sich Ejn sicher, dass er die Königin überrascht hatte. Sie sah zu ihm auf, die Augen leicht zusammengekniffen. Ohne auf ihr Runendeck zu schauen, machte sie eine elegante Handbewegung, so als würde sie mit einem unsichtbaren Pinsel in den Wind malen. In genau diesem Moment schoss eine Rune in die Höhe und beschwor einen Steinhaufen.
    Es war ein elendiger Kampf. Die Steine der Königin versuchten sich zu einem Golem aufzurichten, doch all ihre Versuche wurde von Ejns wirbelnder Faust zunichte gemacht. Am Ende legte sich der Wind und reglose Trümmer lagen auf dem Boden, direkt vor der Königin, die sich selbst kaum mehr auf den Beinen halten konnte.
    Ejn überkam Panik. Er spürte, dass das Beschwören der Windfaust an seinen Kräften gezerrt hatte, mehr noch als alle anderen Zauber zuvor. Es ging ihm gut. Aber bis zu diesem Zeitpunkt hatte ihn auch noch kein Zauber seiner Kontrahenten getroffen und angesichts des gemeinsamen Banners, unter dem sowohl die Königin als auch der alte Mann kämpften, würden sie sich gewiss nicht gegenseitig töten.
    Oder?
    Ejn war sich sicher, dass er recht hatte. Er war sich sicher, dass der nächste Zauber ihn zum Ziel haben würde. Er war sich so verdammt sicher, dass er erstarrte, während die Königin ein Band aus blutrotem Nebel knüpfte und dem Alten seine Energie raubte. Der Alte schrie nicht, während er starb. Er lächelte. So wie immer.

  8. Beiträge anzeigen #8 Zitieren
    Kleiner als drei  Avatar von Lady Xrystal
    Registriert seit
    Aug 2006
    Ort
    Dukatia City
    Beiträge
    5.789
     
    Lady Xrystal ist offline
    Vorgabe 7:

    Ejn brauchte einen Moment, um zu begreifen, was geschehen war. Der Körper des alten Mannes hatte sich zu einem reglosen Häufchen zusammengekrümmt, aber schlimmer noch als die Gewissheit, dass Ejns Begleiter nicht mehr aufstehen würde, war die erstaunliche Tatsache, dass Königin Irdorath nun wieder aufrecht an ihrem Platz stand und dabei mächtiger als je zuvor wirkte.
    Das Duell ging weiter und Ejn wusste, dass er an der Reihe war. Aber ihn überkam eine unmenschliche Angst. Er hatte jetzt erst realisiert, dass es bei diesem Kampf um mehr als ein magisches Objekt ging und insgeheim wusste er, dass er gegen die Königin nicht gewinnen konnte. Panisch sah Ejn sich nach einem Fluchtweg um, aber er fand nichts, das ihn aus diesem Duell befreien konnte.
    "Nun mach schon!", fuhr ihn der Schatten der Königin an. Sie alle wurden ungeduldig, was es Ejn gewiss nicht einfacher machte, einen klaren Gedanken zu fassen. Erst jetzt sah er auf die Runensymbole, die sich nach dem letzten Zug der Königin vor ihm aufgetan hatten.
    Ejn wollte schreien. Erneut sah er fünf Symbole, von denen er kein einziges kannte.
    Wie viele verdammte Runen gibt es eigentlich?!
    Er versuchte sich zusammenzureißen. Immer wieder wurde sein Blick trüb. Er musste sich entscheiden. Er musste einen Zauber wählen und auf das Beste hoffen.
    "Die Zeit ist um."
    Ejn wollte gerade ein Symbol berühren, da erklang die Stimme des königlichen Schatten. Verwirrt sah er zu der Gestalt, die treu an der Seite ihrer Königin stand und keine Anstalten machte, ihre vorherigen Worte näher zu erläutern. Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte Ejn, wie die Königin ihre Hand in die Höhe streckte und einen Zauber kanalisierte.
    Hastig sah Ejn wieder auf die Runen vor ihm. Dann traf ein Blitz auf seinen Brustkorb. Ejn schrie er auf, auch wenn sein zungenloser Mund nur undeutliche Laute von sich geben konnte. Ein tiefer Schmerz fuhr durch all seine Glieder und ließ seinen Körper unkontrollierbar zucken. Im selben Moment zog sich sein Magen zusammen und er versuchte vergeblich, sich den Mund zuzuhalten. Als der Schmerz nachließ, sank Ejn zu Boden und spuckte Blut. Die Königin lachte.
    Die Runen wurden neu gelost, aber Ejn konnte sie kaum richtig sehen. Schwerfällig richtete er sich wieder auf und wischte sich das Blut von den Lippen. Dann wählte eine Rune aus und beschwor den Zauber. Es war ihm mittlerweile egal, was die Symbole bedeuteten. Er wollte das Duell so schnell wie möglich beenden.
    Der Boden beebte und dornige Ranken brachen durch das Holz unter der Königin. Diese konterte den Angriff mühelos, indem sie sich in eine Blutfliege verwandelte. Ejn konnte nur schmunzeln. Natürlich konterte sie seinen Angriff, schließlich kannte sie das Spiel bereits. Ejn wollte gar nicht wissen, wie oft Königin Irdorath ihre Lakaien bereits auf diese Weise umgebracht hatte.
    Langsam verwandelte sich Königin Irdorath zurück in ihre menschliche Form. Sie brauchte nicht lange, um eine Rune zu wählen. Ejn war sich sicher, dass ihr nächster Zauber ihm den Gnadenstoß versetzen würde und irgendwie war es ihm sogar recht. Immer wieder trübte sich sein Blick und so hatte er Schwierigkeiten, die kleinen Insekten zu sehen, die auf ihn zuflogen, sich auf seinen Körper setzen und mit winzigen Stacheln Kleidung und Haut durchbrachen.
    Ejn brach zusammen. Langsam, aber dafür umso schmerzvoller saugten die kleinen Insektenstiche jeden Tropfen Blut aus seinem schlaffen Körper. Es waren so viele von ihnen, dass jeder noch so kleine Hautfetzen von dem schwarzen Leib eines Käfers bedeckt wurde. Lediglich seine Augen wurden verschont und so konnte Ejn hinauf zur Königin blicken, die ihn angrinste, siegessicher und zugleich belustigt.
    In diesem Moment fasste Ejn einen Beschluss. Er würde nicht kampflos aufgeben. Ejn war sich sicher, dass Königin Irdorath die nötigen Runen hatte, um ihn auf seinen Schlag zu töten. Aber statt das Duell zu beenden, labte sie sich an den Schmerzen ihres Kontrahenten. Ejn fiel es schwer, seinen Körper zu bewegen. Es war, als würde das Sekret der Insekten seine Muskeln lähmen und seine Augen betäuben. Mühsam neigte er seinen Kopf zur Seite, um sich seine Runen anzusehen. Diesmal war ein vertrautes Symbol darunter: Der Feuerball.
    Ejn lächelte.
    Er wählte den Zauber, wohlwissend, dass er ihn auf die Insekten auf seinem Körper anwenden musste. Also zeigte er auf sich selbst, nachdem die Flammen sich manifestiert hatten. Der Feuerball schoss auf ihn herab und entlockte Ejn einen höllischen Schrei, während die Insekten verbrannten und ihre toten Körper mit seiner Haut verschmolzen. In diesem Moment wusste Ejn, dass er tot war. Er war noch bei Sinnen und er konnte seine Muskeln noch bewegen, wenn auch schwerfällig. Aber seine Haut war versengt und sein Körper von den Insekten leergesaugt. Alles, was Ejn jetzt noch tun konnte, war es, die Königin zu töten.
    Neben dem Gestank von verkohltem Fleisch drang ein weiterer Geruch an Ejns Nase. Es roch nach gebratenem Apfel.
    Ejn tastete seinen Körper ab, so schnell seine Muskeln es ihm noch erlaubten. Und tatsächlich fand er in einer seiner Taschen jenen Apfel, den er am Abend zuvor von einem Baum gepflückt hatte.
    "Was bei Adanos machst du da?"
    Ejn ignorierte die Stimme der königlichen Sprecherin. Vielleicht waren seine Sinne zu benebelt, um die Situation in ihrer Gänze zu begreifen, aber wenn es eine Sache gab, die ihm die nötige Stärkung verleihen konnte, um die Königin mit in den Tod zu reißen, dann wäre es sicherlich dieser Apfel. Oder zumindest bildete Ejn sich das ein, während er die halb verkohlte, aber wohlriechende Frucht in seinen lädierten Fingern hielt.
    Herzhaft biss er in den Apfel. Er brauchte nur wenige Sekunden, um ihn zu verspeisen und tatsächlich überkam ihn das Gefühl einer neuen Stärke und er konnte zumindest etwas besser sehen. Als er sich seinem neuen Runenblatt zuwendete, entdeckte er auch diesmal ein bekanntes Symbol. Ejn hatte keine Zeit zu zögern und es gab keinen alten Mann mehr, der ihn daran hindern würde, diesen Zauber auszuüben.
    Also beschwor Ejn eine Armee der Finsternis.

    Als die Skelette erschienen, setzte sich ein tiefer Schmerz in Ejns Kopf fest. Immer wieder wurde ihm Schwarz vor Augen, aber er konzentrierte sich so gut er konnte auf sein Ziel. Mühsam deutete er auf Königin Irdorath, die ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Nur langsam setzten sich seine Skelette in Bewegung, aber sie schlenderten zielgerichtet auf die Königin zu. Diese wiederum sah hastig ihre Runen an, aber es schien, als hätte sie tatsächlich keinen Konter parat.
    Und so erschlugen die Skelette Königin Irdorath und sie ging ein in Beliars Reich.

    "Ergreift ihn!" schrie der Schatten der Königin. Ejn hatte die Augen bereits geschlossen. Er hatte das Ende der Königin nicht mehr gesehen, aber er wusste, dass das Duell beendet war und ein erleichtertes Lächeln legte sich auf seine Lippen. Ohne die Augen zu öffnen deutete Ejn nach oben, dorthin, wo er Velayas Zunge vermutete. Er hatte das Duell gewonnen und somit oblag ihm die Entscheidung, was mit dem Preis geschehen sollte.
    Mit letzter Kraft öffnete Ejn die Augen. Einer der beiden Männer, die die Königin begleitet hatten, stand vor ihm und hielt Velayas Zunge in der Hand. Ejn nickte und deutete auf den Körper der älteren Velaya, der echten Tochter des alten Mannes. Er war sich sicher, dass er mit dieser Geste wenigstens einen retten konnte. Als er wieder die Augen schloss, packte ihn jemand am Arm und zerrte ihn irgendwo hin. Ejn sah nicht, wohin er gebracht wurde und als sein Körper am Zielort ankam, war er bereits tot. Das Letzte, woran Ejn sich erinnern würde, war das Lächeln der kleinen Velaya mit ihren goldfarbenen Locken.

    Tatsächlich hatte Ejn es geschafft, Velaya wiederzubeleben. Der Soldat, der Ejns letzten Wunsch erfüllte, war ein Mann der Ehre und stellte sicher, dass Zunge und Geist der Verstorbenen wieder an ihren rechten Platz gerückt wurden. Was Ejn nicht bedacht hatte, oder vielleicht auch gar nicht wusste, war, dass mit dem Tod des Alten auch der Verwesungsprozess von Velayas Körper fortgesetzt wurde. Als Velaya erwachte, war ein Großteil ihrer Gliedmaßen bereits verfault. Und so wurde Velaya zu einem Zombie, der unter den unterirdischen Hallen der Insel hauste - jenen Hallen, in denen auch der Leib der großen, gutmütigen und von ihrem Volk geliebten Königin Irdorath begraben wurde.

Berechtigungen

  • Neue Themen erstellen: Nein
  • Themen beantworten: Nein
  • Anhänge hochladen: Nein
  • Beiträge bearbeiten: Nein
Impressum | Link Us | intern
World of Gothic © by World of Gothic Team
Gothic, Gothic 2 & Gothic 3 are © by Piranha Bytes & Egmont Interactive & JoWooD Productions AG, all rights reserved worldwide