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    Deus Avatar von Laidoridas
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    Post [Story]Die geheime Taverne




    Diese Geschichte ist ein gescheiterter Beitrag zum Wettbewerb Schreim naoch Buchstohm 5.

    Buchstabenzuordnungen:
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    Achtung Spoilergefahr, bitte erst nach dem Lesen anschauen!
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    Person A: Minkai / Das Molerat ohne Ringelschwanz
    Person B: Alwin
    Person C: Sagitta
    Person D: Die Mondkrähe

    Gegenstand A: Alwins Schlachtbeil
    Gegenstand B: Kreidestein

    Ort A: Alwins Zucht- und Schlachtanlage im Hafenviertel von Khorinis
    Ort B: Onars Hof
    Ort C: Der Mond

    Gebrechen A: Das Fehlen des Ringelschwanzes
    Geändert von Laidoridas (09.09.2019 um 19:52 Uhr)

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    Deus Avatar von Laidoridas
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    Laidoridas ist offline
    Es war fast Mitternacht, und es stank nach Sumpfkraut, Bier und Halvors Kotze. Kardif hatte den gräulichen, stückigen Brei, der vom einzigen unbesetzten Stuhl im Raum tropfte, schon den ganzen Abend nicht aus den Augen lassen können. Wenn hier alle raus waren, dann würde er mal ordentlich mit dem Lappen drüber gehen, wie er es am liebsten schon längst getan hätte. Aber wenn er es vor den ganzen Leuten machte, dann war bestimmt wieder ein verkappter Oberviertler dabei, der von ihm erwarten würde, den Lappen danach über einem Eimer auszuwringen oder abzuwaschen, und auf so eine Scheiße hatte er keine Lust. Er hieß nicht Coragon oder Orlan, er wusste, dass ein Kneipenlappen Charakter haben musste. Und kein Lappen war charakterloser als ein sauberer Lappen.
    „Gibt’s ja nicht!“
    „Der kann das wirklich!“
    „Mensch!“
    Kardifs Blick löste sich von Halvors Kotze und richtete sich auf den ungewöhnlichen Gast, den er heute hier in der Kneipe hatte. Normalerweise tauchten ja immer bloß die gleichen Gestalten auf, und wenn er jemanden schweben sah, dann nur weil sich wieder irgendwer schlecht gepanschtes Sumpfkraut hatte andrehen lassen. Aber heute war das anders. Dass der Wahrsager Abuyin schweben konnte, davon erzählte man sich in der Stadt schon seit geraumer Zeit. Gesehen hatte es aber noch keiner, zumindest keiner von seinen Stammkunden, und auch Kardif staunte nicht schlecht, als der glatzköpfige Mann aus dem Schneidersitz in die Höhe ging.
    „Und jetzt sagst du uns noch unsere Zukunft?“, forderte Carl, nachdem alle eine Weile gegafft hatten, aber bevor Abuyin etwas dazu sagen konnte, kam ihm Alrik zuvor.
    „Hömma, Kardif! Dein Bier is’ warm! Nich’ mal Mitternacht, und dein verdammtes Bier is’ warm!“
    „Wir haben Sommer“, knurrte Kardif. „Wie soll das Bier da auch kalt werden? Das ist schon die ganze Woche so.“
    „Bei Coragon ist das Bier immer kalt“, behauptete Rengaru. „Sogar im Sommer.“
    „Kein Wunder, da ist ja auch Vatras Stammkunde“, fügte Carl hinzu, der den Gedanken an seine Zukunft offenbar schon wieder verworfen hatte. „Haste’n Wassermagier als Kumpel, haste immer kaltes Bier, ist doch klar.“
    „Wieso sachste nich’ auch ma’m Magier guten Tach, Kardif?“, schlug Alrik vor. „Kannnoch nich’ so schwer sein, wa? Denk auch ma’ an uns!“
    Der Kneipenwirt rotzte zur Antwort einmal über den Tresen und verfehlte Alriks rechtes Hosenbein nur um ein kurzes Stückchen.
    „Nich’ übel, Kardif“, kommentierte Carl, während ihm Rengaru zuprostete. „Nich’ übel.“
    „Ich hab es immer noch drauf“, brummte Kardif und zerquetschte genüsslich eine dicke Fliege zwischen den Fingern, die gerade dabei war, in einer der halb getrockneten Bierlachen auf dem Tresen zu ersaufen.
    „Das war’s mit dir, du Mistvieh.“
    „Also Kardif“, meldete sich Rengaru zu Wort. „Ich sag mal so: Schaden kann das nicht, mit so einem Magier mal ein paar Worte zu wechseln. Bei mir auf dem Marktplatz, da hängt ja öfters dieser Daron rum. Ich wette, wenn du dem mal einen halben Abenderlös zusteckst, dann traut der sich sogar zu euch Hafengesocks hier runter.“
    Grob lachend schlug Alrik mit der Faust auf den Tisch. „Mensch Rengaru, was soll’n Kardif mit so’nem Feuermagier? Feuermagier können nur Feuerzauber, und das Bier is’ warm genug!“
    „Stimmt nicht“, entgegnete Rengaru mit verkniffener Miene. „Feuermagier können auch Eiszauber. Glaubt man nicht, ist aber so.“
    „Was’n Stuss!“, sagte Carl kopfschüttelnd. „Feuermagier, die Eiszauber können. Wo kommen wir denn da hin. In so ’ner Welt will ich nich’ leben, das lass dir aber mal gesagt sein.“
    „In so einer Welt lebst du schon längst. Nicht wahr, Abuyin?“
    Abuyin guckte etwas verdutzt, als sich plötzlich alle Blicke auf ihn richteten.
    „Nun, ich glaube… ich glaube, das hängt vom Magier ab.“
    „Aha“, machte Alrik. „Sach’ ich doch.“
    „Nein, sagst du eben nicht!“, korrigierte ihn Rengaru. „Du hast gesagt – du hast gesagt, dass nur Wassermagier –“
    „Ich hab gar nix von Wassermagiern gesacht, ich hab immer nur was von Feuermagiern gesacht!“
    „Da hat er recht – nur von Feuermagiern hatter was gesagt!“
    Kardif wandte sich wieder dem Kotzfleck zu. Zu den wichtigsten Fähigkeiten eines Kneipenwirts gehörte es, auch mal gezielt nicht hinzuhören. Er hatte es mittlerweile hervorragend drauf, spontan ein Stündchen halb wegzudämmern, wenn es drauf ankam – ohne natürlich wirklich wegzudämmern, denn ein schlafender Kneipenwirt war schnell einer ohne Gold, und dafür mit einem Messer im Rücken. Von diesen Typen war niemandem zu trauen, da machte er sich nichts vor. Halb wegdämmern aber, das war nicht weiter gefährlich und im Gegenteil sogar dringend nötig in Situation wie diesen, in denen es darum ging, das bisschen Restverstand zu verteidigen, das ihm das Hafenviertel noch gelassen hatte. Diesmal aber hielt dieser Zustand nicht lange, denn Abuyin hatte es wohl nicht länger am Tisch ausgehalten und kam zu ihm an den Tresen.
    „Noch’n Bier?“
    Der Hellseher schüttelte den Kopf. „Nein. Ich wollte nur sagen… da ist ein Kotzfleck auf dem Stuhl.“
    „Ich weiß.“
    „Ah. Und außerdem...“
    „Ja?“
    „Also… was… was gibt es denn Neues hier im Hafenviertel?“
    „Informationen?“ Kardif merkte auf. Es hatte schon ewig niemanden mehr gegeben, der Informationen von ihm wollte. Kein Wunder, es passierte ja auch nichts, worüber es sich zu informieren lohnte. Aber auch das war natürlich eine Information, die er erst gegen Bezahlung herausrücken würde. „Fünfzig Gold.“
    „Natürlich… Sohn der klingenden Münze.“ Abuyin drückte ihm einen Batzen Gold in die Hand, den Kardif grob durchzählte und dann zur Seite schob. Würde schon stimmen.
    „Okay“, sagte der Wirt. „Gibt nix. Alles beim Alten.“
    „Ah?“
    „Ja.“ Der Wirt zog ein bisschen Schnodder die Nase hoch. „So ist das.“
    Abuyin sah erst aus, als wollte er noch etwas sagen, wandte sich dann aber nach kurzem Nicken ab, nur um sich im nächsten Moment erneut umzudrehen.
    „Gar nichts?“
    „Nein. Hier ist nix los.“
    „Stimmt doch gar nich’“, kam es vom Tisch her gerufen, wo man die Magierdiskussion offenbar aus Spaß am Belauschen kurzzeitig unterbrochen hatte. „Alwin züchtet jetzt Molerats statt Schafe. Sind billiger, blöken nich’ und schmecken besser.“
    „Sagt Alwin“, setzte Alrik hinzu. „Ich find, sie schmecken scheiße.“
    „Du findest alles scheiße“, entgegnete Rengaru.
    „Es is’ ja auch alles scheiße“, verteidigte sich Alrik.
    „Ganz im Gegenteil.“ Rengaru hob den Zeigefinger. „Es ist sogar weniger scheiße als zuvor. Das ist nämlich der wahre Grund, warum Alwin jetzt Molerats statt Schafe züchtet. Molerats scheißen nicht so viel wie Schafe. Wohl nur zweimal am Tag anstatt drei- bis viermal, und nur kleine Häufchen statt große dampfende Brocken. Das erspart Alwin eine Menge Arbeit, nach allem was man so hört.“
    „Erzählen dir das deine Freunde vonnem Marktplatz?“, giftete Alrik mit verschränkten Armen. „Du glaubst auch alles, was die palavern! Dass Schafe besser schmecken als Molerats, das is’ einfach so, da kannste dich fusselich labern wie du wills’. Sogar im Kloster haben’se Schafe statt Molerats, weil die Magier eben wissen was gut is’.“
    „Das ist so nicht korrekt“, wandte Rengaru mit geschürzten Lippen ein. „Feuermagier essen keine Molerats, weil die Innoskirche Molerats für unrein erklärt hat. Ich bin mir sicher, dass Feuermagier sehr gern Molerats essen würden, wenn sie dürften, vermutlich sogar viel lieber als Schafe, wenn man bedenkt, wie lange sie im Kloster jetzt schon Schafswurst essen. Daron hat da so einige Geschichten erzählt.“
    „Daron is’ aber auch der einzige Feuermagier, den du kennst“, brummte Carl. „Das überzeugt mich jetz’ nich’. Is’ ja auch klar, dass die im Kloster den Leuten nich’ die Schafe schmackhaft reden woll’n. Sonst kriegense die ja nich’ mehr so günstig wie jetzt, wenn alle plötzlich Schafe essen wollen, weißte? Angebot un’ Nachfrage, kannste jeden Händler fragen!“
    Rengaru verdrehte die Augen. „Die kriegen ihre Schafe doch sogar umsonst. Jedes Mal, wenn einer ins Kloster eintritt, kriegen sie eins. Und wenn man erstmal genug Schafe für eine Zucht beisammen hat, dann erledigt sich das mit dem Schafenachschub von ganz alleine. Glaubt mir, die haben im Kloster so viele Schafe, dass ihnen die Viecher oben und unten raushängen. Ich wette mit euch, im Kloster hassen sie Schafe. Novizen, Magier, bis hinauf zum hohen Rat. Alle hassen sie Schafe, aber keiner darf’s zugeben.“
    „Das is’ der letzte Scheiß, den du da erzählst“, pampte ihn Alrik an. „Magier lieben Schafe. Is’ so, liegt doch auffer Hand.“
    „Abuyin?“, wandte sich Carl an den Hellseher, der damit erneut im Zentrum der Aufmerksamkeit stand.
    „Tja, also“, druckste Abuyin herum, während er etwas übertrieben langsam wieder am Tisch Platz nahm. „Ich würde sagen, das hängt vom Magier ab.“
    „Na also.“ Alrik schlürfte zufrieden den letzten Rest Warmbier aus seinem Pott. „Meine Rede.“
    „Dieser ganze Alwinquatsch interessiert Abuyin doch überhaupt nicht“, versuchte Kardif der leidigen Debatte ein Ende zu bereiten. „Das ist jetzt schon wieder Wochen her, dass Alwin auf Molerats umgestellt hat. Und ob Molerats oder Schafe, wen schert das hier im Hafenviertel überhaupt? Wir essen doch eh alle Fisch.“
    „Tja, da haste’n Punkt“, gab Carl zu. Für einen Moment kehrte Schweigen ein, und Kardif liebäugelte bereits wieder mit dem immer intensiver miefenden Kotzfleck, als von draußen ein paar harsche Worte seines Türstehers Moe zu ihnen in den mauschelig verschwitzten Kneipenraum drangen – kurz bevor unverhofft die Tavernentür aufgestoßen wurde.
    „Gibt’s ja nich’!“, entfuhr es Carl verblüfft. „Wenn man vom Erzdämonen spricht!“
    Kardif hingegen war weniger erstaunt darüber, dass sich der Schlachter, von dem gerade erst die Rede gewesen war, nun auf einmal unter ihnen befand – immerhin gehörte er zu seinen Stammkunden und schaute an fast jedem Abend irgendwann mal nach getaner Arbeit für ein oder zwei Bier bei ihm vorbei. Dass der Lappen mittlerweile einen ganz ordentlichen Rotstich hatte, das lag schließlich nicht zuletzt auch an Alwin, der es nicht für nötig hielt, sich vor dem Kneipenbesuch was anderes anzuziehen. Auch diesmal tröpfelte es rot von seinem schludrig hochgekrempelten Ärmel herunter, aber – und das wiederum überraschte Kardif durchaus – alles andere an Alwin war anders als sonst. Es war kein Schafs- und auch kein Moleratblut, das für die stetig größer werdende Pfütze auf dem Kneipenboden verantwortlich war, sondern die klaffende Wunde an der rechten Hand des Schlachters, die sich genau dort befand, wo einmal Mittel- und Ringfinger gewesen waren, und die sich bis zum Ellenbogen hochzog. Sein halber Schlachterkittel war zudem in der Bauch- und Brustgegend verkohlt und zum Teil weggebrannt, sodass nur noch ein paar Fetzen den Blick auf seinen Bauch versperrten, auf dem sich ein paar knallrote bis dunkelbraune Blasen gebildet hatten. Am auffälligsten und für Kardif faszinierendsten aber war die große Brandwunde in Alwins Gesicht. Von seinem linken Auge war nur noch etwas übrig, das Halvors Kotzfleck in Sachen Widerwärtigkeit gerade mühelos den Rang abgelaufen hatte. Ob der Rest des Gesichts von Flammenhitze oder Zorn errötet war, das war schwer zu sagen, aber es mochte gut und gerne beides zugleich sein.
    „Ich bring es um! Ich bringe dieses Scheißvieh um!“, brüllte Alwin und stolperte im nächsten Moment über den am Boden dösenden Halvor. Kaum hatte er sich wieder aufgerichtet, da stieß er Abuyin unsanft zur Seite und krallte sich mit allen ihm verbliebenen Fingern am Tresen fest. „Ich bring’s – ich bring’s um, verdammte Scheiße!
    „Was’n los, Alwin?“
    Der Schlachter gab zunächst nur ein hitziges Schnaufen von sich, und als Kardif die Tränen in seinem verbliebenen Auge sah, da klopfte er ihm in einem auch für ihn selbst ungewohnten Anflug von Sentimentalität ein bisschen aufmunternd auf den heilen Arm. Zwar blieben dabei ein paar Reste der zerquetschten Fliege an Alwins Arm hängen, aber der Schlachter war ja kein Oberviertelweichei und von seiner täglichen Arbeit mit Sicherkeit ganz andere Sachen gewohnt. Und manchmal, dachte Kardif, da war eine nette Geste einfach das Wichtigste. Nicht als Kneipenwirt, sondern als Mensch. Denn das hatten sie, sollten sie in der Oberstadt auch sagen was sie wollten, hier im Hafenviertel noch nicht verlernt: Was es hieß, ein Mensch zu sein.
    „Trink erstma’n Bier, Alwin“, riet ihm Alrik. „Das weckt die müden Lebensgeister, weißte? Carl gibt dir’n Schluck ab.“
    „Gib ihm doch selber’n Schluck ab, Arschloch.“
    „Schnauze, alle beide“, knurrte Kardif. „Guckt Alwin doch mal an, wie der aussieht. Der braucht kein Bier, der braucht’n Pilz.“
    Der Wirt dreht sich zu den Bierfässern um, die er hinter seinem Rücken an der Wand lagerte, und griff in den dunklen, feuchten Spalt zwischen zwei Fässern, wo er die Pilze für den Notfall aufbewahrte.
    „Hier, zwei Höllenpilze und ein Buddlerfleisch“, sagte Kardif und legte die etwas klebrigen Gewächse auf dem Tresen ab. Deren starker Eigengeruch konnte es zumindest für einen Moment sogar mit dem Gestank von Halvors Kotzfleck aufnehmen, und insbesondere die unförmige Buddlerfleischmasse hatte schon eine ganz ordentliche Bierkruste angesetzt, aber es war ein Notfall und Kardif hatte noch nie davon gehört, dass Pilze schlecht wurden. „Iss ruhig, bezahlen kannst du später.“
    Alwin war nicht wählerisch und stopfte sich den ersten Höllenpilz im Ganzen in den Mund. Dann nahm er sich die restlichen beiden Pilze, setzte sich auf den freien Stuhl und aß schweigend auf.
    „Na also“, sagte Kardif zufrieden, als er sah, wie sich die große Wunde am Arm allmählich ein bisschen schloss und sich um das zermatschte Auge eine Art eitrige Kruste bildete. „Geht doch nix über’n paar Pilze. Und jetzt erzähl mal, was los ist.“
    Alwin schnaufte noch ein paar Mal durch und am Tisch schien sich bereits eine gewisse Ungeduld auszubreiten, als der Schlachter schließlich doch noch das Wort ergriff.
    „Vorhin… kurz nach Sonnenuntergang… kam einer vorbei bei mir“, begann er mit etwas gefassterer Stimme als zuvor. „Ein Magier. Das war dieser Daron, der immer am Marktplatz ist, kennt ihr bestimmt.“
    „Na sicher, is’ Rengarus bester Freund“, sagte Alrik und provozierte damit ein genervtes Schnauben des Taschendiebs.
    „Jedenfalls…“, fuhr Alwin unter einigem mühsam unterdrücktem Stöhnen fort. „Ihr wisst ja sicher, dass ich jetzt seit einer Weile keine Schafe mehr züchte, sondern Molerats.“
    „Klar“, bestätigte Carl. „Für die Info hat Kardif eben dem Allwissenden hier ’n Haufen Gold abgeknöpft.“
    „Das interessiert Alwin doch’n Scheiß“, knurrte Kardif. „Also, was wollte dieser Daron von dir?“
    „Der hat ihm’n Feuerball verpasst, das siehste doch!“, plärrte Alrik aufgeregt. „Feuermagier schmeißen Feuerbälle, ich hab’s euch ja gleich gesacht!“
    „Er wollte Moleratwürste“, sagte Alwin, der die anstrengende Tischgesellschaft offenbar nach Kräften zu ignorieren versuchte. „Dicke Würste. Zehn Stück. Bis morgen früh.“
    „Heute früh“, korrigierte Rengaru. „Mittlerweile müsste es schon nach Mitternacht sein.“
    „Das weißte gar nich’ so genau“, maulte Alrik. „Erzähl nix, wasse nich’ richtig sicher weißt.“
    „Is’ doch egal“, befand Carl, dessen knallrote Biernase nach Kardifs fundierter Kneipenwirteinschätzung darauf hindeutete, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis er Halvor am Boden Gesellschaft leistete. Zum Glück war kein Stuhl mehr frei, auf den er kotzen konnte, und die Tischplatte konnte sowieso nicht mehr dreckiger werden. „Bevor ich nich’ im Bett war, isses auch noch nich’ morgen, sonnern heute. Fertig.“
    „Habe ich das gerade richtig gehört?“, richtete sich nun Abuyin an den Tierzüchter. „Daron wollte Moleratwürste von dir haben?“
    „Zehn Stück“, bestätigte Alwin. „Und das wie gesagt bis morgen früh. Da hätte ich die ganze Nacht für gebraucht, aber… das wird jetzt wohl nichts mehr.“
    „Seht ihr?“, triumphierte Rengaru. „Feuermagier wollen Molerats essen, ich hab es euch ja gesagt. Kaum gibt es eine Gelegenheit, um heimlich an Moleratwürste zu gelangen – schon wird auch ordentlich zugelangt. Da habt ihr den Beweis!“
    „Aber wieso die Eile?“, wunderte sich Abuyin. „Bis morgen früh gleich zehn Würste?“
    „Zehn dicke Würste“, sagte Alwin. „Für die brauche ich noch eine gute Viertelstunde länger pro Stück. Aber ich hätte es schon irgendwie geschafft, wenn nicht… dieses verfluchte Scheißvieh!
    Alwins Faust ließ den Tisch erbeben. Hastig griffen Carl und Alrik nach ihren Humpen.
    „Molerats sind nicht so wie Schafe, wisst ihr?“, schnaufte der schwer mitgenommene Schlachter. „Die lassen sich nicht einfach seelenruhig abstechen. Man muss sie von hinten packen und ihnen die Schnauze zubinden, sonst beißen sie einen kaputt, sobald sie das Beil sehen. Ganz blöd ist so ein Molerat nämlich nicht, solange es noch nicht in der Pelle steckt. Die Klauen habe ich natürlich gleich nach der Geburt bei allen gestutzt, aber die Zähne, die brauchen sie zum Fressen, die kann ich ihnen nicht rausnehmen. Also binde ich ihnen die Schnauze zu, und soweit war ich auch schon beim ersten Molerat, das ich für den Magier schlachten wollte. Ich lege das Vieh also auf den Schlachttisch, und… ja, und nehm so mein Beil… aber weil es mitten in der Nacht ist, seh ich nicht so gut, also stell ich meine Öllampe auf den Schlachttisch, aber ganz an die Seite, wo das Vieh nicht hin kann. Denk ich zumindest. Stellt sich nämlich raus, es kann da doch hin, und gerade als ich mit dem Beil aushole, da fängt das Molerat an zu zappeln und kommt mit der Schnauze an die verdammte Lampe, und – ihr seht es ja selbst, was das Scheißvieh angerichtet hat! Das Öl ist durch den ganzen Raum gespritzt, und ich hab bestimmt die Hälfte abbekommen.“
    „Puh, das is’ echt mal übel gelaufen“, nuschelte Alrik.
    „Das war ja noch gar nicht alles“, sagte der Schlachter. „Bei dem Schreck hab ich natürlich mit dem Beil nicht richtig gezielt und das Molerat nicht am Kopf erwischt, sondern am Hinterteil. Den Ringelschwanz hat’s erwischt, komplett bis zum Ansatz, und das Vieh hat gequiekt wie am Spieß, das könnt ihr euch nicht vorstellen.“
    „Der Ringelschwanz ist die empfindlichste Stelle am Körper eines Molerats“, erläuterte Rengaru. Kardif wollte gar nicht wissen, wo der neunmalkluge Dieb das nun schon wieder aufgeschnappt hatte.
    „Jedenfalls hat es dann noch viel mehr gezappelt, und ich war natürlich auch am Zappeln – mein ganzer Körper war in Flammen, und die halbe Bude hat angefangen zu brennen! – und da ist mir das Beil aus der Hand gerutscht. War mir auch scheißegal in dem Moment, das Beil, das könnt ihr euch ja denken. Ich wusste nicht wo oben und unten war, bin so durch den Raum gerannt und hab nach irgendwas Flüssigem gesucht wo ich meinen Kopf reinstecken kann, der ja am Brennen war wie sonstwas… und da springt mich plötzlich das verdammte Scheißmolerat an und beißt mir in die Hand! Glaubt’s oder nicht, aber das Vieh hat das Seil, das es am Maul hatte, an der Schneide von meinem Beil durchgeratscht! Das hatte ich aber noch gar nicht richtig kapiert, da waren schon ein paar Finger weg, und meinen Arm hat das Mistvieh auch noch kaputtgebissen, bevor es abgehauen ist.“
    „Das Mistvieh hat es aber ganz schön drauf“, sagte Carl, der angesichts der bedrückend hässlichen Visage Alwins vielleicht ein wenig zu belustigt wirkte. „Nich’ übel für’n Molerat, würd ich mal sagen!“
    „Kommt mir wirklich ganz schön schlau vor für so’n Fleischstück auf vier Beinen“, befand auch Kardif. „Vielleicht hast du auch einfach nicht richtig fest zugebunden, was? Kann ja mal passieren.“
    „Ist mir aber nicht passiert!“, stellte Alwin erbost klar. „Ich bin kein Amateur, verstanden? Wenn ich einem Vieh die Schnauze zubinde, dann binde ich sie richtig zu! Dieses Molerat war verflucht schlau, und es ist immer noch irgendwo da draußen.“
    „Es dürfte aber ordentliche Orientierungsschwierigkeiten haben, wenn es keinen Ringelschwanz mehr hat“, meldete sich wieder Rengaru mit seinem erstaunlichen Fachwissen zu Wort. „Molerats können nicht besonders gut sehen, wisst ihr? Und wegen ihrer platten Nase können sie auch nicht besonders gut riechen. Nur ihr Ringelschwanz erlaubt es ihnen, sich zurechtzufinden.“
    Kardif runzelte die Stirn.
    „Der Ringelschwanz?“
    „Ganz genau. Niemand weiß genau, wie es funktioniert, aber die Feuermagier haben festgestellt, dass ein Molerat nicht mehr zu seinem Bau zurückfinden kann, wenn ihm der Ringelschwanz fehlt. Hab ich kürzlich erst mit Daron drüber gesprochen.“
    „Ich sach doch, Magier sind scheiße“, brummte Alrik. „Schneiden Molerats die Schwänze ab, was für Penner…“
    „Das ist eben Wissenschaft“, sagte Rengaru. „Fest steht jedenfalls, dass unser Molerat in Khorinis ziemlich aufgeschmissen sein dürfte. Vermutlich irrt es gerade völlig ziellos durch die Straßen.“
    „Das wird es nicht mehr lange tun“, knurrte Alwin und richtete sich schwankend vom Stuhl auf. „Wegen diesem Biest ist meine halbe Hütte abgebrannt, und ich fast mit. Egal ob ich diese Nacht überstehe oder nicht, eines steht verdammt nochmal fest: Wenn die Sonne aufgeht, dann wird Daron seine Würste bekommen!“

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    Als sie den weißen Fisch zu packen bekam, da kam ihr der Gedanke nicht in den Sinn, dass er der letzte sein könnte.
    Das war anders gewesen, noch einige hundert oder tausend Fische zuvor. Bei jedem Fisch, bei jedem einzelnen, war da die Hoffnung gewesen, dass er der Letzte sein könnte. Das letzte Mal in das trübe Wasser des kleinen Bächleins starren, so lange bis einer der langen hellen Flecken unter dem sanften Blubbern und Plätschern auftauchte. Das letzte Mal zugreifen, mit allen Händen, so fest, dass der Fisch ihnen nicht entgleiten und zurück ins Wasser stürzen konnte, wo es dann nur noch eine kurze Strecke war bis zur Bruchstelle in der Wand, durch die sie ihm nicht folgen konnte. Den Fisch das letzte Mal gegen den Stein schlagen, gegen den feuchten Boden oder gegen das Mauerwerk, bis er sich nicht mehr rührte. Und dann, nicht zu genau hinschauen, wenn der weiße Fisch verspeist werden musste. Nicht zu genau riechen, und vor allem: nicht zu genau schmecken. Alles vergessen, gegen jede Empfindung. Überleben, einen letzten Fisch lang überleben, bis man sie herausholen würde.
    Lange Zeit war da immer dieser Gedanke gewesen, dass sie es vielleicht nur noch einmal tun müsste. Und vor dieser Zeit noch, wie lange das auch her sein mochte, bei den ersten Malen, da war es mehr als nur eine Hoffnung gewesen, sondern beinahe eine Gewissheit. Du musst etwas essen, hatte sie sich gesagt, also reiß dich zusammen und iss einen von denen. Einmal nur, dann bist du satt für diesen Tag, und bis zum nächsten Tag bist du hier raus. Sie können dich unmöglich länger als einen Tag lang hier drin lassen. Das tun sie dir nicht an.
    Aber dann hatte sie nicht einmal zu sagen gewusst, wann der nächste Tag begonnen hatte. Und alles was gekommen war, das war ein schmerzhaftes Ziehen in den Eingeweiden gewesen, das ihr hatte sagen wollen: Zeit für den zweiten Fisch.
    Nach dem neunten oder zehnten Fisch hatte sie sich vorgenommen, niemals mit dem Zählen aufzuhören. Das war gewesen, als die ersten Zweifel gekommen waren. Vielleicht, hatten ihr die Zweifel gesagt, war es diesmal mehr als nur ein weiterer Denkzettel. Vielleicht ging es nicht mehr darum, sie für die Zukunft zu formen, sondern sie ganz auszuschließen aus dieser Zukunft. Auszuschließen aus der Familie. Der Gedanke, dass sie sich auf einen längeren Aufenthalt einzurichten hatte, war nicht mehr abzuschütteln gewesen, und damit kam die Furcht, sich zu verlieren. Sich doch formen zu lassen, ein kleines Bisschen, Fisch für Fisch. Wenn sie mit dem Zählen nicht aufhörte, dann war da immer noch eine Verbindung zum ersten Tag, Zahl nach Zahl nach Zahl, und damit zu der Person, die sie gewesen war, bevor man sie hinab geschickt hatte an diesen Ort. Die Person, die sie da draußen nicht haben wollten, und die sie um jeden Preis bleiben wollte.
    Jetzt, als sie auf der Schwanzflosse des letzten Fisches kaute, wusste sie nicht mehr zu sagen, wann sie mit dem Zählen aufgehört hatte. Jeder Fisch war wie der andere, jeder wie der erste und wie der nächste, und auch dieser letzte Fisch war so fahl und glatt wie all seine Vorgänger, mit jeder schwach durchscheinenden Gräte am gleichen Ort. Zahlen waren ihr gleichgültig geworden. Es hatte den ersten Fisch gegeben, und jetzt gab es den letzten.
    Sie wusste, dass es der Letzte gewesen war, als sie das Rumpeln hörte, das von weit oben kam, vom fernen Ende des Schachts. Ein Geräusch wie aus einem anderen Leben. Sie ließ den halb verspeisten Fisch fallen und blickte hoch in die Dunkelheit, traute sich kaum zu blinzeln, bis sich der Bottich endlich aus der Schwärze abzeichnete. Mit einem dumpfen Schlag kam er auf dem Boden auf, und dann stand er da, ihr Ausweg, wo für so lange Zeit nichts gewesen war als sie selbst. Aber da war noch die Erinnerung an ihre erste Fahrt in diesem Bottich, an die Fahrt hinab, und da war auch der Gedanke, dass sie selbst die Passagierin gewesen war, die nun den Rückweg antreten würde.
    Sie war immer noch die gleiche Passagierin.
    Das Holz knirschte stärker als beim ersten Mal, kam es ihr vor. Es waren noch nicht so viele Fische in ihrem Bauch gewesen, beim ersten Mal.
    Immer noch die gleiche Passagierin.
    Mit plötzlicher Ungeduld zog sie an dem Seil, das an der rostigen Eisenhalterung des Bottichs fest geknotet war. Einmal, zweimal, bis es sich wieder straffte und sich das nasse Holz des Bottichbodens unter ihren Füßen knarrend vom Steinboden löste. Als die Mauerwände an ihr vorüberzogen und sie den Boden des Brunnenschachts in Finsternis verschwinden sah, als sie zum letzten Mal das dunkle Glitzern des verhassten Bächleins sah und das ewige Plätschern endlich in der Tiefe verhallte, da sagte sie sich laut: „Du bist frei.“
    Die Zeit der Gefangenschaft, sie hatte nichts mit ihr angerichtet.
    Sie war frei, und sie würde niemals wieder einen weißen Fisch essen.

    „Dein Vater will dich sehen, Minkai“, sagte der Vetter, der sie am Brunnen abgeholt hatte. Sie hatten jetzt den Eingang der Krypta erreicht. Das Gemäuer war hier weniger feucht als in den weiter unten gelegenen Katakomben, und an den Wänden hingen brennende Fackeln.
    „Wenn er meint“, sagte sie. Es gefiel ihr nicht, dass der Vetter ausgerechnet hier mit dem Reden angefangen hatte, an ihrem Lieblingsort in den unteren Gebieten. Sie mochte die merkwürdigen Gesichter der Menschen zu beiden Seiten der engen Gänge, ihre teils von Steinen und Münzen versperrten, teils offen wie in eine wunde Sonne starrenden Blicke, die ihr vielleicht noch von einem alten Leben erzählen konnten, wenn sie genau hinsah. In ihrer Kindheit hatte sie manchen dieser Menschen Namen gegeben und sich Aufgaben und Schicksale für sie ausgedacht. Das war ihr leicht gefallen, denn damals waren die Blicke der Toten noch wacher und die Farben ihrer Kleidung leuchtender gewesen. Manche, dachte sie gern, waren vielleicht noch lebendig gewesen, ohne es zu wissen. Der Staub hatte sich noch aus den balsamierten Gesichtern pusten und der Rost von den Schilden der Ritter kratzen lassen. Als sie nun hinter dem Vetter diese Gänge passierte, da glaubte sie es hier und da zucken und krabbeln zu sehen auf den Körpern dieser Menschen. Bald würden sie alle noch einmal sterben, diesmal auch für sie sterben, dachte sie. Vielleicht würde es das leichter machen, die Krypta für immer zurückzulassen.
    „Du solltest tun, was er sagt“, durchbrach der Vetter einmal mehr die vertraute Stille. „Du weißt, wie es sonst ausgeht.“
    „Keine Sorge. Ich gehe nicht wieder nach unten. Er kann sein Gespräch haben, gleich wenn wir an der Oberfläche sind.“
    Sie hatten die Krypta nun einmal längs durchquert und waren am Fuße der Wendeltreppe angelangt, die so eng gebaut war, dass sie beide die Köpfe einziehen mussten, um sich nicht zu stoßen.
    „Wir gehen nicht an die Oberfläche“, sagte er.
    Minkai hielt kurz vor der obersten Treppenstufe inne.
    „Das heißt, er ist hier unten?“
    Es klickte im Schloss, als der Vetter die Tür aufschloss. Sie hörte Stimmen auf der anderen Seite.
    „Wir alle. Die ganze Familie.“
    Der Anblick des hell erleuchteten Kathedralenraums überraschte sie beinahe mehr als es das Geräusch des herabgelassenen Bottichs zuvor getan hatte. Wie oft war sie allein hier gewesen, in dem gewaltigen dunklen Raum, dessen tatsächliche Größe sich im Licht ihrer Fackel immer nur hatte erahnen lassen? Stets hatte sie der Gedanke begleitet, dass irgendwo hoch oben in den endlosen Gewölben noch etwas Unbekanntes hausen mochte, geflügelte Nachfahren der Toten in der Krypta womöglich, oder auch nur ein Schwarm riesiger Fledermäuse. Natürlich hatte sie nie etwas gehört, und es hatte sich auch bei keinem ihrer vielen Besuche etwas auf sie gestürzt, lautlos und heimtückisch, nachdem es so viele Male nur geduldig zugesehen hatte, um sie in Sicherheit zu wiegen. Aber das hatte sie nie davon abgehalten, bei jedem Schritt wieder ein bisschen damit zu rechnen. Im Geheimen hatte sie das Fürchten genießen dürfen.
    Als Minkai nun hinter dem Vetter den Chorraum betrat, da hörte sie das leise, aber beständige Summen dutzender schwebender Lichtkugeln, die alles entblößten, was einmal dunkel und ungewiss gewesen war. Die Kathedrale war groß, sehr groß sogar, aber sie konnte unmöglich mit der Kathedrale mithalten, die sie gesehen hatte, als noch nichts zu sehen gewesen war. Der Altar, auf dem sie in Gedanken schon so viele Verwandte geopfert hatte, er war nicht viel mehr als ein hässlicher Steinklotz mit zwei breiten Rissen. Die Fensterscheiben, deren vom Schatten vertilgten Motive sie stets so angestrengt zu deuten versucht hatte, sie waren bis auf ein paar farblose Glasreste an den Rändern nur noch klaffende Lücken, durch die man das triste Gestein des Untergrunds sehen konnte. Am wenigsten aber war von der Einsamkeit geblieben. Wo früher die halb verfallenen Kirchenbänke gestanden hatten, da waren nun Zelte aufgeschlagen und Felle ausgebreitet, auf denen Minkais Brüder, Schwestern, Tanten, Onkel, Vettern und Kusinen, Großeltern und Urgroßeltern schliefen, sich berieten oder meditierten. Es wurde nur wenig geredet, mit gedämpften Stimmen, und dennoch verliehen diese Stimmen dem Ort eine fremdartige Lebendigkeit. Weiter hinten, auf dem Marmorboden vor den großen Toren, da hatten die Schreiber ihre Tische aufgestellt, ganz sorgfältig in einer Reihe. Kein Platz war unbesetzt. Minkai bildete sich ein, das gleichmäßige Kratzen der Federkiele durch das Brummen der Lichter heraushören zu können.
    Der Vetter führte sie am Altar vorbei zu einem der drei Beichtstühle, in denen sie manchmal gesessen und flüsternd Selbstgespräche geführt hatte. Die hölzerne Trennwand, die bereits bei ihren früheren Besuchen zur Hälfte verrottet gewesen war, hatte man vollständig entfernt, um den engen Raum so gut es ging zu einer Wohnung umzubauen. In einer Ecke lagen Decken und Kissen, in einer anderen drei zugeschnürte Säcke, und an der gegenüberliegenden Wand, neben dem zweiten Eingang, hingen die beiden vertrauten Gemälde: Die Quelle und die Mündung. Der Rest des Raumes wurde fast vollständig ausgefüllt von einem abgetrennten Teil einer alten Kirchenbank. Ihr Vater rückte ein Stück zur Seite, als er Minkai eintreten sah, und bedeutete ihr, Platz zu nehmen.
    „Wieso seid ihr alle hier?“
    Sie war vor der Bank stehen geblieben. Dicht unter der Decke, gleich über ihrem Kopf, brummte unruhig kreiselnd eine Lichtkugel.
    „Setz dich“, forderte sie ihr Vater nun auch mit Worten auf. Zuerst wollte sie den Befehl ignorieren, ihm gleich zu verstehen geben, dass die Gefangenschaft – wie lange sie auch gedauert haben mochte – sie nicht hatte ändern können, kein Stück weit. Aber sie wollte die Antwort auf ihre Frage so schnell wie möglich hören, und jede kleine Rebellion hätte sie nur weiter hinausgezögert.
    „Sehr gut“, sagte er, nachdem sie neben ihm Platz genommen hatte. „Die Zeit im Brunnen hat dir gut getan, ich sehe es dir an. Aber es war auch gut, dich jetzt wieder herauszunehmen, wenn es auch den meisten zu früh vorkommt.“
    „Meine Frage“, erinnerte ihn Minkai. „Wieso seid ihr alle hierher gezogen?“
    Sie schaute ihm jetzt zum ersten Mal ins Gesicht, zunächst mit dem Vorhaben, einen nur sehr flüchtigen Blick daraus zu machen und gleich wieder wegzuschauen. Aber dann konnte sie doch nicht anders, als beim Versuch, so viel wie möglich aus seinen Augen abzulesen, eine Weile an ihnen hängen zu bleiben.
    „Wir wurden überrascht“, sagte der Vater, der alle Hände auf seinem Schoß übereinander gefaltet hatte, ein kleiner Berg aus langen Fingern. „Alle Zugänge zu den Stränden versperrt. Der See trockengelegt. Wir waren im Herzen der Insel gefangen, und der einzige Fluchtweg führte nach unten. Und weiter nach unten. Wir leben schon fast so lange unter der Erde wie du, Tochter.“
    Da hatte sie ihre Antwort, und es war die befürchtete. Sie war noch immer in Gefangenschaft, und dazu jetzt auch noch in schlechter Gesellschaft.
    „Ah, ich sehe es schon in deinem Gesicht“, sagte der Vater. „Das passt dir nicht in deine Pläne. Du wolltest fort. Die Insel verlassen, über den Ozean davon. Aus der Familie gehen, so wie deine Tante vor dir, aber auf dem bequemen Weg. Genauso hast du es dir ausgedacht, nicht wahr?“
    „Es wäre das Beste gewesen. Ich hätte dir nie wieder Probleme bereitet. Dir nicht, und niemandem sonst.“
    „Mach dir darum keine Sorgen. Du hast uns schon sehr lange keine Probleme mehr bereitet, da unten im Brunnen. Aber du brauchst nicht so ein Gesicht zu machen, denn du bekommst ja, was du willst. Unsere Pläne passen besser zusammen als du glaubst.“
    Plötzlich spürte sie den dürren Körper ihres Vaters an ihrer rechten Seite, und sie rückte das letzte Stückchen von ihm weg, das ihr auf der kurzen Bank noch blieb.
    „Was soll das heißen?“
    „Solange wir keinen Zugang zum Meer haben, werden wir weiter nach unten gedrängt werden. Aber du weißt am besten von uns allen, dass es nicht mehr viel weiter hinab geht. Nicht mehr lange, und wir werden alle gemeinsam im Brunnen stecken mit nichts als einem Rinnsal, das zwischen unseren Füßen plätschert. Jemand muss vom Ozean her kommen und uns befreien. Jemand aus der Familie.“
    Minkai hatte das Gespräch von Anfang an nicht gefallen, und ihr ungutes Gefühl wuchs mit jedem Satz. Ihr Vater hatte sie nicht ohne Grund zurückgeholt. Er wollte, dass sie irgendeine Rolle übernahm, die er für sie vorgesehen hatte, und solange sie noch nichts Genaues über diese Rolle wusste, konnte sie nur vom Schlimmsten ausgehen.
    „Du willst, dass ich an die Oberfläche gehe? Allein?“
    „Natürlich nicht“, sagte der Vater und schnaufte aus. „Du würdest zugrunde gehen, bevor du einen einzigen Sonnenstrahl zu Gesicht bekommen hättest. Niemand von uns überlebt den Weg an die Oberfläche, und ich habe dich nicht für ein sinnloses Opfer herbringen lassen. Ohnehin habe ich nicht von dir gesprochen.“
    „Von wem dann?“
    „Denk nach, Tochter. Es gibt nur eine aus der Familie, die nicht unter uns ist. Deine Tante lebt jetzt schon seit einer Weile unter den Menschen, und ich denke nicht daran, ihren Verrat zu verzeihen. Aber sie ist die einzige, die über den Ozean reisen und uns befreien kann. Es muss nur jemanden geben, der sie dazu auffordert. Und diese Aufgabe kommt dir zu.“
    „Aber… sie lebt auf einer anderen Insel. Im Reich der Menschen, wie du gesagt hast. Ich kann unmöglich...“
    Die Erkenntnis traf sie trotz aller Vorahnung mit unerwarteter Härte. Jetzt wusste sie, welche Rolle sie zu spielen hatte.
    „Um deine Tante zu erreichen, musst du den gleichen Weg gehen wie sie“, sprach der Vater ihre Gedanken aus. „Du musst ein Mensch werden wie sie. Sicher verstehst du, dass ich keinen anderen für diese Aufgabe auswählen konnte als dich. Niemand hätte es verstanden, ich selbst am allerwenigsten.“
    Tausende Sätze brachen aus ihren Gedanken hervor, aber sie konnte keinen davon aussprechen. Vor dem Eingang des Beichtstuhls hatten sich drei ihrer Vettern aufgestellt.
    „Deine Tante wohnt auf einer Insel namens Khorinis. Wir wissen nichts mehr von ihr, seit wir die Oberfläche verlassen mussten, aber zuletzt wohnte sie in der Nähe eines Bauernhofes, der einem Menschen namens Onar gehört, und hat sich den Namen Sagitta gegeben. Vielleicht ist sie noch immer dort, vielleicht nicht. Du wirst die Menschen nach ihr fragen und nach ihr suchen müssen. Wenn sie die Insel verlassen hat, dann reise ihr nach. Natürlich wirst du warten müssen, bis dein neuer Körper reif genug ist für die Suche. Aber sorge dich nicht, Menschenjahre vergehen schnell und eine kleine Weile werden wir uns hier unten noch halten können.“
    Das Brummen der leuchtenden Kugel dröhnte in ihrem Schädel. Dieses Leuchten, es war mehr als nur ein Lichtzauber, begriff sie. Der Plan ihres Vaters war bereits in vollem Gange.
    „Vater...“
    „Du hast Angst, natürlich. Aber du wirst ja immer deinen Verstand haben. Daran ändert sich nichts, und daran musst du dich festhalten, Tochter. Das wird dich immer unterscheiden von den Menschen.“
    Ihre Blicke wanderten zu den Vettern hinüber, vergeblich nach Hilfe suchend. Ein Gesicht war wie das andere, und keines wollte sie anschauen.
    „Das kannst du nicht machen!“, platzte es aus ihr heraus. „Du kannst mich hinschicken wo du willst, aber ich – ich werde überhaupt nichts tun! Ich werde niemanden um Hilfe bitten, ich lasse euch einfach verrecken hier in den Ruinen – und du kannst nichts dagegen tun, nicht das Geringste!“
    Der Vater hatte noch immer seine Hände gefaltet, und erst jetzt begriff sie, dass er etwas verbarg unter all diesen langen Fingern. Ein Fleckchen kaltes Eisen blitzte auf im Licht des Zaubers.
    „Dann möchtest du wohl ein Mensch bleiben?“, erwiderte er. „Menschen sterben so schnell. Und niemand wird da sein, der dich zurück ins Leben holen wird.“
    „Vater… Ich kann nicht...“
    „Still jetzt“, sagte er leise. „Ich weiß, dass du es sehr gut machen wirst. Erfülle deine Aufgabe, und du wirst wiedergeboren werden in die Familie. Dann ist alles vergessen und vergeben. Denk daran, Sagitta ist der Name, nach dem du fragen musst.“
    „Vater… bitte… lass mich vorher wenigstens...“
    „Nein. Die Zeit des Fressens und des Schlafens ist vorbei, Tochter.“
    Drei, vier Vetterhände packten sie von hinten, ein Arm legte sich um ihren Hals. Der Vater war aufgestanden, die Klinge entblößt.
    „Jetzt ist es an der Zeit, der Familie etwas zurückzugeben.“
    Als das Licht erlosch, war Minkais erstes Leben vorüber.

    „Hey, Freunde, wie sieht’s aus? Die große Wanzenwette geht in die letzte Runde!“
    Coragon schrubbte noch ein bisschen energischer mit dem Stofftuch am Bierglas herum, als er die Stimme des Händlers hörte. Der hatte ihm gerade noch gefehlt.
    „Wir sind nicht deine Freunde, Canthar“, sagte er, ohne aufzusehen. Da war immer noch ein kleiner dunkler Punkt ganz unten im Bierglas. Vielleicht war es nur ein Sandkorn oder ein Luftbläschen, das im Glas eingeschlossen war, aber bei den schlechten Lichtverhältnissen mitten in der Nacht war das nicht eindeutig zu erkennen, und Coragon wollte lieber kein Risiko eingehen. Seine Taverne war keine ranzige Hafenkneipe, und er hatte diese schönen neuen Biergläser ganz sicher nicht angeschafft, damit sie dreckig wurden.
    „Coragon hat recht“, tönte es gelangweilt aus der hintersten Ecke der Taverne, wo Regis lustlos in die Reste seines letzten Bieres starrte. „Wir haben dich noch nie hier drin gesehen. Und jetzt kommst du plötzlich alle paar Minuten rein und willst irgendwas von uns.“
    „Ich möchte euch bloß auf eine einmalige Gelegenheit aufmerksam machen, das ist alles“, verteidigte sich Canthar. „Einmal auf die richtige Fleischwanze gewettet, und ihr könnt Coragon hier jeden Abend den Laden leertrinken! Im großen Geldsack liegen jetzt satte zweitausend Münzen, und ihr habt nur noch ein einziges Mal die Möglichkeit, sie abzusahnen. Danach ist nämlich Schluss für diese Nacht, also ergreift eure letzte Chance und wettet alle mit!“
    „Vergiss es.“ Valentino saß in der anderen Ecke des Raumes und starrte mit leerem Blick auf einen kleinen Ring, den er träge zwischen den Fingern drehte. „Ich verdiene mein Geld ganz bestimmt nicht mit irgendwelchem Wuselgetier. Und das kann ja ohnehin niemand wissen, wohin diese Wanzen krabbeln. Bei dieser Wette gewinnt niemand außer du, das ist doch ganz offensichtlich.“
    „Die Wanzen krabbeln sehr ordentlich entlang des Kreidestriches“, erklärte Canthar. „Es sind nämlich trainierte Wanzen. Ihr könnt euch gerne selbst davon überzeugen, wenn ihr möchtet. Sie krabbeln einmal um den ganzen Galgenplatz herum, immer dem Strich hinterher. Und eine von ihnen wird die Schnellste sein – vielleicht ist es ja genau eure Lieblingswanze, wer weiß!“
    „Nein“, sagte Valentino und klang dabei gerade so verächtlich, wie es ihm möglich war, ohne seine Lethargie aufzugeben. „Ich habe keine Lieblingswanze.“
    „Niemand hat eine Lieblingswanze“, stimmte ihm Regis zu. „Diese Viecher kann doch keiner auseinanderhalten. Wer soll da am Ende schon sagen können, welche die Schnellste war?“
    „Das ist sehr einfach festzustellen“, behauptete Canthar, „wie ihr selbst bemerken würdet, wenn ihr euch das Spektakel denn nur einmal anschauen würdet. Man kann die Wanzenwette nur verstehen, wenn man die Wanzenwette selbst erlebt hat!“
    Seufzend stellte Coragon das Bierglas beiseite. Das dunkle Pünktchen war nicht wegzukriegen, also würde er morgen noch einmal in Ruhe drauf gucken müssen, bei Sonnenlicht.
    „Canthar, niemand hier will deine Wanzen sehen“, versuchte er es mit etwas mehr Nachdruck. „Lass uns einfach in Ruhe.“
    „Hey, kein Problem.“ Canthar hob beide Hände. „Wenn ihr es euch anders überlegt – die Wanzen sind gleich hier draußen, direkt vor eurer Tür!“
    „Coragon, noch ein Bier“, kam es aus Regis’ Ecke. „Ich glaub, ich geh hier nicht so schnell wieder weg.“
    Nachdem der Wirt das Bier abgefüllt und auf Regis’ Tisch abgestellt hatte, war Canthar zu seiner Erleichterung verschwunden. Er konnte den Kerl nicht ausstehen, erst recht nicht seit er die frühere Waffenhändlerin Sarah ins Gefängnis gebracht hatte. Natürlich konnte ihm Coragon nichts Handfestes nachweisen, aber es war ja ganz offensichtlich, dass nur Canthar dahinter stecken konnte, der sich so damit beeilt hatte, nach der Festnahme ihren Marktstand zu übernehmen. Sarah war ganz anders gewesen als dieser schmierige Mistkerl, die hatte Coragon manchmal sogar nett angelächelt, wenn er an ihrem Stand vorbei gegangen war. Das war zwar ab und zu auch ein bisschen gruselig gewesen, weil sie dabei einen Säbel oder eine Nagelkeule in der Hand gehalten hatte, aber dafür hatte sie ja nichts gekonnt, das war eben ihr Beruf gewesen. Wenn Canthar nicht gewesen wäre, dann würde er in den einsamen Nächten nach der Sperrstunde vielleicht nicht mehr ganz allein in seinem Bett liegen. Denn wer wusste schon zu sagen, ob er nicht irgendwann einmal zurückgelächelt hätte? Dann hätte sein Leben vielleicht noch einen anderen Sinn bekommen, als sich unzählige ereignislose Abende mit den immer gleichen paar Langweilern um die Ohren zu schlagen. Aber stattdessen lächelte Sarah nun höchstens noch die Ratten im Kasernenknast an, und ihm blieb nichts anderes übrig, als sich die schönen Zeiten zurückzuwünschen, in denen sich Valentino und Regis noch geprügelt hatten, anstatt sich bloß jeden Abend in stummer Gleichgültigkeit anzuschweigen. Und der einzige, der anscheinend für ein bisschen Abwechslung sorgen wollte, das war ausgerechnet Canthar selbst, der für das ganze Elend überhaupt erst gesorgt hatte. Von Sarah hätte sich Coragon jede Wanzensammlung zeigen lassen, keine Frage, aber dieser Canthar, der konnte bleiben wo der Tränenpfeffer wuchs. Von dem wollte er nicht angelächelt werden.
    „Ich will ja nichts sagen“, murmelte Regis, nachdem er an seinem neuen Glas genippt hatte, „aber ich glaube, das Bier ist schon fast wieder ein bisschen warm.“
    „Wirklich?“ Coragon betastete prüfend das Holz des größten Bierfasses. „Fühlt sich eigentlich immer noch schön kühl an.“
    „Hm“, machte Regis, und damit kehrte wieder Ruhe ein, in der nur ein paar Stimmen von draußen zu hören waren, am lautesten natürlich Canthars Gerede über seine Fleischwanzen. Coragon nahm das weggestellte Bierglas wieder in die Hand. Vielleicht war da ja doch noch was zu machen, was dieses dunkle Pünktchen anging. Man musste ja nicht alles immer bis zum nächsten Morgen aufschieben, und was hatte er schon Besseres zu tun?
    „Klar, es ist kühl“, sagte Regis nach ein paar Minuten des Schweigens. „Aber nicht mehr so kühl wie das Bier davor. Das war schon kühler. Jetzt ist es höchstens gerade noch kühl.“
    „Das reicht ja auch“, sagte Coragon und hielt das Glas mit einem zusammengekniffenen Auge gegen das Licht der brennenden Öllampe auf seinem Tresen. „Hauptsache kühl.“
    „Hauptsache kühl“, stimmte ihm Regis zu. „Aber man muss eben aufpassen, dass es nicht warm wird. Ich meine ja nur.“
    „Jetzt lass doch Vatras mal ein Stündchen schlafen“, sagte Valentino und drehte sich kurz zum benachbarten Tisch um, über dem der Wassermagier zusammengesackt war. „Der ist ein alter Mann, und du willst den alle paar Minuten wegen deinem Bier aufwecken.“
    „Will ich ja gar nicht“, murrte Regis. „Ich habe doch gesagt, dass das Bier noch kühl genug ist. Und seit wann interessierst du dich eigentlich für andere Menschen?“
    „Das nennt sich Respekt vor dem Alter, Regis. Könntest du dir auch mal angewöhnen.“
    Coragon war sich ziemlich sicher, dass Valentino bloß keinen Durst mehr hatte, denn für gewöhnlich war er der Erste, der an Vatras’ Schultern rüttelte, sobald ihm das Bier zu warm wurde. Zum Glück war der Magier viel zu gutmütig, um ernsthaft verärgert zu sein, und einen schnellen Eiszauber konnte er auch aus der Halbschlaf wirken – andernfalls hätte sich Coragon wohl ernsthafte Sorgen darum machen müssen, seinen wichtigsten Stammkunden zu verlieren. Wenn das Bier nicht mehr kalt war, dann gingen die Leute am Ende noch in Kardifs abscheuliche Absteige im Hafenviertel, wo alles nur halb so viel kostete.
    Manchmal, in Nächten wie diesen, da fragte er sich allerdings, ob es nicht auch sein Gutes hätte, wenn er dazu gezwungen wäre, seine Taverne dicht zu machen. Es konnte doch nicht alles so weitergehen wie bisher, bis an das Ende seines Lebens. Bisher aber sah alles danach aus, dass es genauso weitergehen würde, und das nicht nur bei ihm. Die meisten in der Stadt, kam es ihm vor, machten einfach immer so weiter, wurden älter und älter. Kinder wollte anscheinend keiner bekommen, und seit Sarah im Gefängnis saß hatte er selber auch keine große Lust mehr drauf. Wenn es so weiterlief, dann würde Khorinis wohl langsam aussterben, und vielleicht war das ja auch das Beste so. Aber eigentlich wollte Coragon das nicht denken. Wenn bloß mal wieder ein paar Schiffe im Hafen vor Anker gehen würden, mit neuen Leuten drin, damit man nicht immer nur die gleichen paar schiefen Gesichter zu sehen bekam… vielleicht würde sich dann ja noch was ändern. Hoffen konnte man immer, dachte Coragon. Er war ja auch froh um jeden Tag, an dem er Sarah nicht am Galgen hängen sah.
    „Dieses verdammte Scheißvieh! Ich bring’s um!“
    Coragon zuckte ein bisschen zusammen, und um ein Haar wäre ihm das schöne neue Bierglas aus der Hand gerutscht. Auch Valentino und Regis guckten zum ersten Mal seit geraumer Zeit hoch. Ein intensiver Gestank wie von verschmorten Scavengerkeulen breitete sich im Schankraum aus.
    „Ihr da!“, brüllte der Mann, der gerade herein gewankt war, ein bulliger Kerl, der nichts trug als ein paar blutverschmierte Fetzen und ein Gesicht hatte wie eine Eierpfanne, die entschieden zu lange über dem Feuer gestanden hatte. Coragon erkannte ihn erst im zweitem Augenblick als den Schlachter Alwin aus dem Hafenviertel wieder. „Habt ihr ein Molerat gesehen?“
    „Hier gibt es keine Molerats“, sagte Regis. „Nur Bier.“
    „Ein Molerat ohne Ringelschwanz – das muss hier irgendwo rumlaufen, das Scheißvieh!“
    „Ich glaube nicht, dass ich Stammgast in dieser Taverne wäre, wenn hier Molerats herumlaufen würden“, kommentierte Valentino gähnend.
    „Wir haben wirklich nichts gesehen“, sagte Coragon, der Alwin lieber nicht unnötig reizen wollte. So sehr er sich auch nach Veränderung sehnte, es musste ja nicht gleich darauf hinauslaufen, von einem durchgedrehten Schlachter vermöbelt zu werden. „Tut mir leid.“
    „Ich werde es schon finden“, knurrte Alwin und ballte eine verkrüppelte Hand zur Faust. „Das Drecksvieh denkt, es könnte mir entwischen, aber diese Nacht ist noch lange nicht vorbei!“
    Schon hatte er sich umgedreht und war wieder nach draußen gewankt. Als nächstes war die Stimme von Canthar zu hören, der ihm irgendetwas über Wanzen erzählte.
    „Komischer Abend heute“, murmelte Regis. „Man kann nicht mal in Ruhe ein Bier trinken.“

    „Die da hinten! Ich schwör’s dir, die isses!“
    „WANZENWETTE! – Die große Chance auf’s große Gold!“
    „Du hast schon fünfzig Münzen verplempert, Mann. Vielleicht lässt du’s mal lieber gut sein.“
    „WANZENWETTE! – Die letzte Runde startet jetzt!“
    „Guck dir mal die Beine von der da drüben an. Wenn das keine Läuferbeine sind, dann weiß ich’s auch nicht mehr.“
    „WANZENWETTE! – Schnell noch die letzten Wetteinsätze tätigen, bevor es zu spät ist!“
    „Die reinste Scheiße ist das hier.“
    „WANZENWETTE! – Auf Wanzen wetten, Gold einstecken!“
    Die Stimmen waren vielleicht das Schlimmste, dachte sie. Bestimmt hätte sie sich freuen sollen darüber, dass wenigstens ihre Ohren zu etwas zu gebrauchen waren, wenn sie schon kaum etwas sehen konnte, was weiter als einen kräftigen Sprung mit ihren kleinen Beinchen entfernt war. Aber all das sinnlose Gerede der Menschen, all das Gebrüll und Gefluche, es machte den dröhnenden Schmerz in ihrem erbärmlichen unförmigen Schädel nur noch unerträglicher, und es ließ die Welt sich noch schneller drehen in ihrem Kreiseln, das einfach nicht mehr aufhören wollte.
    Du hast immer noch deinen Verstand, erinnerte sie sich an die Worte ihres Vaters. Daran musste sie sich festhalten, das war ihr einziger Ausweg. So oft hatte sie sich diese Worte gesagt, erst noch widerwillig, weil es die Worte ihres Vaters waren, bis es ihr irgendwann gleichgültig geworden war. Es waren die einzigen Worte, die ihr Zuversicht gegeben hatten, bis hierhin. Aber ihr Verstand, hatte ihr der wirklich geholfen in dieser grässlichen Nacht? War nicht alles noch viel schlimmer geworden, als sie versucht hatte, ihn einzusetzen?
    Du steckst das weg, versuchte sich Minkai einzureden. Du bist stärker als diese Menschen.
    Bisher hatte sie alles weggesteckt. Sie hatte den ersten Schock verwunden, als sie begriffen hatte, dass es kein menschlicher Körper war, in den man sie geboren hatte. Sie hatte es ertragen, eine neue Zeit der Gefangenschaft in der Gesellschaft grunzender Tiere zu verbringen, immer mit dem Wissen um den Vorteil ihres Verstandes, der ihr im richtigen Moment zur Flucht verhelfen würde, der zur Stelle sein würde, wenn es darauf ankam. Sie hatte sich an ihren neuen Körper gewöhnt und gelernt, mit ihren neuen Sinnen so gut zurechtzukommen, wie es nur ging. Manchmal, in seltenen Momenten der Entspannung, hatte sie sogar eine Faszination dafür empfinden können, wie sie die Welt nun wahrnahm. Sie wusste nicht zu sagen, was es war, das sie hatte erfühlen können, jedes Mal wenn sie den Schwanz an ihrem Hinterteil zusammengerollt hatte – und wie die Welt plötzlich von einer anderen Seite zu erfühlen gewesen war, wenn sie ihn gerade aufgerichtet hatte. Sie hatte schlicht gewusst, wo sich die Dinge befanden: Wo der Zaun aufgespannt war, wo die anderen Tiere hockten, wo die große Hütte stand. Und auch den Menschen, der sie gefangen hielt, und den die anderen Menschen Alwin nannten, den hatte sie immer im Ganzen wahrgenommen, mit jeder Innerei und allem Blut, das durch seine Adern floss.
    Jetzt wusste sie überhaupt nichts mehr. Von dem Moment an, als das Beil des Menschen sie verstümmelt hatte, war die ganze Welt aus den Angeln gefallen. Nach ihrer Flucht war gerannt, ohne zu wissen wohin, solange bis ihre schwachen Beine einfach unter ihr zusammengeklappt waren. Nun kauerte sie hinter einem Brett, von dem sie nicht einmal sagen konnte, wozu es eigentlich gehörte – ein Haus, ein Zaun, es konnte alles sein. Es war fast wie damals, dachte sie, fast wie damals in der Kathedrale, als sie durch den großen unbekannten Raum geschritten war und nur hatte sehen können, was der Schein ihrer Fackel erhellt hatte. Diesmal allerdings waren die feindlichen Kreaturen, die sie aus der Dunkelheit heraus zu fassen bekommen wollten, keine aufregende Fantasie mehr. Diesmal wurde sie tatsächlich gejagt. Noch war es mitten in der Nacht, aber früher oder später würde sie einer der Menschen sehen. Wenn sie überleben wollte, dann musste sie aus der Stadt verschwinden, bevor es hell wurde. Und danach… Aus den Gesprächen, die Alwin mit anderen Menschen geführt hatte, wusste Minkai, dass sie sich wenigstens auf der richtigen Insel befand. Es war sogar einmal von diesem Onar die Rede gewesen, bei dem ihre Tante leben sollte. Wenn sie die erst einmal gefunden hatte… vielleicht würde ihre Tante sie erkennen, vielleicht würde sie die Hülle ihres neuen Körpers durchschauen.
    Aber sie würde sie ja niemals finden. Sie hatte keine Ahnung, wo sich Onars Bauernhof befand, und sie hätte ihre Tante vermutlich nicht einmal erkannt, wenn sie gleich hinter ihr gestanden hätte. Ihre Tante war ein Mensch und sie selbst ein Molerat – ein hässliches, haarloses Ding, von dem sie bis zu ihrer zweiten Geburt nicht einmal gewusst hatte, dass es die Götter überhaupt in die Welt gesetzt hatten. Sie und ihre Tante, sie würden sich niemals erkennen. Sie konnte ja nicht einmal sprechen, wie konnte sie da überhaupt hoffen…
    „...und das war sie, die letzte Gelegenheit aufs Mitwetten. Der Sack ist zu, jetzt heißt es Daumen drücken! Die Wanzen gehen an den Start, also aufgepasst und mitgefiebert: Drei… zwei… eins… Wanzenalarm!
    Die Stimmen wurden plötzlich lauter und schienen von überall her zu kommen, alle Menschen redeten und brüllten wild durcheinander. Minkai presste sich noch ein bisschen fester an das Holzstück, als sie ein anderes Geräusch durch das Geplärre der Menschen wahrnahm: Das leise Trappeln vieler kleiner Füße. Diese Wanzen waren unterwegs, und ihr Moleratmagen erinnerte sie mit einem Knurren daran, dass sie auch noch ein ganz anderes, dringendes Problem mit sich herumschleppte, das sie bei aller Panik und allem Schmerz am Hinterteil bisher vernachlässigt hatte: gehörigen Hunger.
    Vorsichtig machte sie einen kleinen Schritt in die Richtung, aus der sie die Wanzen herankommen hörte. Wieder schwankte und schwirrte alles um sie herum, und bei jedem kleinen Schritt war es ihr, als drehte sie sich mehrfach um die eigene Achse. Aber wenigstens auf ihre Ohren konnte sie vertrauen.
    „Da drüben! Da drüben ist der Strich, verdammte Scheiße!“
    „Wie konnte ich nur auf dieses dämliche Mistvieh wetten?“
    „Zu blöd, um geradeaus zu laufen! Unglaublich!“
    „Nur die Ruhe, liebe Wanzenfreunde – das kann schon einmal passieren, dass man auf die falsche Wanze wettet, aber die gute Nachricht ist: Neun von zehn Wanzen sind noch immer im Rennen! Es bleibt also spannend!“
    Minkai stöhnte innerlich auf, als das Geschrei der Menschen plötzlich noch lauter wurde und sie die Wanzen kurzzeitig nicht mehr hören konnte. Dann aber war das Getrappel plötzlich wieder deutlich zu vernehmen, und sie beeilte sich, ihm entgegen zu stolpern. Die Menschen hatten sie bisher nicht gesehen, und sie hoffte, dass es vorerst dabei bleiben würde, solange sie im Dunkeln blieb. Nun allerdings wurde es ein wenig heller um sie herum, und auf dem Boden direkt vor ihr zeichnete sich eine lange weiße Linie aus Kreide ab. Sie rang gerade mit sich, ob sie sich weiter voran wagen und es riskieren sollte, sich im richtigen Moment eine Wanze zu schnappen, als sie mit einem Fuß gegen etwas Hartes stieß und zusammenzuckte. Nachdem sie einen kleinen Satz zurück gemacht und den Kopf ganz nah an das Ding heranbewegt hatte, da erkannte sie aber, dass es sich nur um einen harmlosen, länglichen Stein handelte.
    „Ja, da laufen sie, die Wanzen! Genauso ist es richtig, immer schön dem Kreidestrich nach! Die Hälfte haben unsere Wanzen jetzt schon hinter sich, und wir sehen, es zeichnet sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Wanze zwei und Wanze sieben ab!“
    Sie wollte weitergehen, aber der Schwindel wurde zu stark und sie musste für einen Moment verschnaufen. Da erst fiel ihr die ungewöhnlich helle Farbe des Steins auf, und ein neuer Gedanke erwachte in ihr. Kurz entschlossen packte sie den Stein mit dem Maul, biss mit den Zähnen fest zu und ließ ihn einmal quer über den Steinboden vor ihren Füßen kratzen. Es war, wie sie vermutet hatte: Ein dicker weißer Strich blieb zurück, der sogar für ihre schwachen Augen gut zu erkennen war.
    Immer schön dem Kreidestrich nach.
    Ihr Moleratherz schlug noch etwas schneller, diesmal aber aus einer kleinen neu gewonnenen Hoffnung heraus. Was die Wanzen konnten, das konnte sie auch. Mit dem Unterschied allerdings, dass sie sich ihre Striche selbst malen würde. Vermutlich würde ein kleiner Strich alle paar Schritte genügen, damit sie immer wusste, aus welcher Richtung sie gekommen war. Vielleicht würden ihr dann endlich auch Drehungen gelingen, ohne dass sie ständig im Kreis laufen würde. Wenn sie erst einmal von diesen Menschen weg war, dann würde sie es bestimmt schaffen, einen Weg aus der Stadt zu finden – ein paar Stunden musste sie noch Zeit haben, bevor es hell wurde. Und dann, nachdem sie heraus war aus der Stadt…
    Sie merkte, wie sich ihre Gedanken überschlugen und bemühte sich, Ruhe zu bewahren. So weit wollte sie lieber noch nicht denken. Eine Aufgabe nach der anderen. Irgendwie würde sie sich durchschlagen bis zu diesem Bauernhof, sagte sie sich, bis zu ihrer Tante, und dann würde sie ihr ein Zeichen geben. Ein Kreidezeichen. Sie hatte alles, was sie brauchte: ihren Verstand und ein Stück Kreide, um ihn in die Welt zu tragen. Das konnte, das musste genügen, um sich durchzuschlagen.
    „Hey, was soll die Scheiße?“
    „Nicht in diese Richtung, verflucht nochmal!“
    „Das Mistvieh mach ich platt!“
    Minkai quiekte erschrocken auf, als die Wanzen plötzlich auf sie zustürmten, und beinahe hätte sie den Kreidestein gleich wieder fallen lassen. Ein paar der Krabbeltiere liefen den von ihr gemalten Strich auf und ab, andere rannten in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren, und eine weitere Wanze fiel beim aufgeregten Laufen im Kreis auf den Rücken und wackelte hektisch mit den Beinchen herum.
    „Wartet mal, die rennen ja plötzlich alle ganz woanders hin… Guckt mal, da hinten hat irgendwer am Strich rumgekritzelt! Das gibt’s ja nicht!“
    „Betrug! Ich will mein Gold zurück, auf der Stelle!“
    „Immer mit der Ruhe, liebe Wanzenfreunde! Immer mit der Ruhe!“
    Panisch drehte sich Minkai nach allen Seiten um, versuchte vergeblich einen geeigneten Weg zur Flucht auszumachen. Wieder schienen die Stimmen der Menschen von allen Seiten auf sie einzudringen, wurden lauter und drängender, bis sie ganz nah waren...
    „Leute, seht euch das mal an. Da gleich hinter dem Galgen, da hockt ein Molerat neben dem Strich!“

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    Wenn Gritta aufwachte, dann lag das meistens daran, dass ihr Onkel das Hämmern begonnen hatte. Sehr gern hätte sie einmal bis zum Mittag durchgeschlafen, und noch lieber bis zum Nachmittag, aber solange ihr Onkel jeden Tag pünktlich zum Sonnenaufgang in der Werkstatt stand, war ans Ausschlafen nicht zu denken. Früher hatte sie manchmal versucht, einfach weiterzuschlafen, wenn das Gehämmere losging, aber ihr Bett berührte mit der Kopfseite die Trennwand zur Werkstatt, in der ihr Onkel an Schränken und Stühlen und Truhen herumhämmerte, und wenn sie zu lange liegen blieb, dann fühlte es sich irgendwann so an, als hämmerte er direkt auf ihrem Kopf herum. Das war nicht auszuhalten, und da hatte sie bislang jedes Mal sehr schnell aufgegeben. Dann saß sie den Morgen über schlaff und nutzlos am Küchentisch und starrte gähnend Löcher in die Wand, knabberte an einer Feldrübe und wischte dann und wann ein bisschen Staub von einem Möbelstück, den sie sich manchmal auch bloß eingebildet hatte. Nachmittags ging sie gelegentlich auf den Markt und kaufte ein, aber das war auch nur alle paar Tage nötig, und abends, wenn ihr Onkel mit dem Hämmern fertig war, da stellte sie sich an den Herd und kochte etwas für sie beide. Das langweilte sie beinahe noch mehr als das Nichtstun zuvor, denn die frischen Rezepte waren ihr schon vor Monaten ausgegangen und so aßen sie jede Woche das Gleiche. Es waren schrecklich lange und entsetzlich öde Tage. Sogar ihr Onkel Thorben hatte das schon bemerkt. Aber das einzige, was ihm dazu einfiel, das war der Ratschlag an sie, sich wieder einen Mann zu nehmen, und der war für sie nicht zu gebrauchen.
    Gritta hätte ja nichts lieber getan, als sich wieder einen Mann zu nehmen, wenn es denn einen gegeben hätte auf Khorinis, der dafür infrage kam. Im oberen Viertel lebten nur eklige dicke Händler und Kotzbrocken wie dieser Valentino, in ihrer direkten Nachbarschaft wimmelte es vor drögen Handwerkern, die außerdem längst verheiratet oder ihr Onkel waren, und im Hafenviertel waren sie allesamt Stammkunden in der roten Laterne. In eine Reihe mit solchen Damen wollte sie sich bestimmt nicht stellen. Aber wenn sie das ihrem Onkel Thorben erzählte, dann kamen nur lächerliche Vorschläge zurück wie der, sich doch mal auf dem Marktplatz umzusehen oder Brian im Leuchtturm einen Besuch abzustatten. Im Leuchtturm! Wenn es einen langweiligeren Ort gab als die Wohnung, in der sie den ganzen Tag herumhockte, dann konnte das nur der Leuchtturm sein. Dieser Leuchtturm und was Brian da täglich machte, das war ja der Gipfel der Bedeutungslosigkeit. Brian war so überflüssig, er hatte nicht einmal einen Onkel, den er bekochen konnte. Was er tat, das hätte er genauso gut bleiben lassen können, ohne dass es einen Unterschied gemacht hätte: Er hielt ein Signalfeuer am Brennen, das niemand brauchte, weil ohnehin nie ein Schiff kam. Und solange kein Schiff kam mit einem Haufen vernünftiger Männer an Bord, solange würde sich an ihrem Leben wohl auch nichts ändern, dachte Gritta oft. Leider war das Schiff, mit dem noch am ehesten zu rechnen war, eines voller Orks, und auf die war sie nun auch nicht besonders scharf.
    Wenn sie morgens im Bett lag, mit dem Hämmern ihres Onkels im Ohr, dann sinnierte sie häufig darüber, welchen weiteren Weg ihr Leben wohl noch nehmen würde. Manchmal erfasste sie eine kleine Panik und sie stellte sich vor, dass die Orks tatsächlich zu ihnen auf die Insel kämen. Manchmal erfasste sie auch eine große Panik und sie malte sich aus, wie sie irgendwann verzweifelt genug sein würde, um sich vor den Traualtar zu stellen mit einem gealterten Valentino, der sich einen Bottich Rattenfett ins graue Haar geschmiert hatte, sie bei der Rede des Magiers blöd angrinste und mit schwitzigen Fingern ihre Hand knetete, bevor er versuchte, ihr einen viel zu kleinen Ring anzustecken. Meistens aber seufzte sie bloß ein paar Mal, weil sie zum Schluss kam, dass sich nie etwas ändern würde, und dass sie eines öden Tages tot vom Stuhl fallen würde, nachdem ihr Herz vor Langeweile die Lust daran verloren hatte, weiter zu klopfen.
    So war es bis vor ein paar Tagen gewesen, und im Großen und Ganzen war es auch immer noch so. Seit allerdings ihr Onkel eines Abends nicht ins Haus gekommen und am anderen Morgen mit einer blutigen Stoffbinde ums linke Auge zurückgekehrt war, seitdem hatte sich doch ein bisschen was verändert, und das nicht unbedingt zum Guten. Thorben gab ihr keine Ratschläge mehr, er sagte ohnehin nur noch das Nötigste und hämmerte auch nicht mehr so lange. Und obwohl sie sich anfangs hatte einreden wollen, dass ihr das alles ganz gut in den Kram passte, fühlte sie sich seitdem noch ein gutes Stück einsamer.
    Als sie diesmal erwachte, da war jedoch alles so anders, dass es Gritta Angst einjagte. Sie saß aufrecht im Bett und war hellwach, von einem Moment auf den anderen, denn da war kein Hämmern. Es war auch noch nicht hell, und was sie geweckt hatte, das war ein ganz ungewohntes Geräusch gewesen. Ein Quieken.
    Gritta stand auf, schlüpfte in ihre Pantoffeln und tapste in die Küche. Die Lampe neben der Tür war entzündet und tauchte den Raum in rötliches Licht, das in Grittas müden Augen brannte. Auf dem Tisch hockte ein dickes, fleischiges Wesen mit zugebundener Schnauze und zugebundenen Hinterbeinen. Ihr Onkel war gerade dabei, ihm auch noch die Vorderbeine zuzubinden.
    „Thorben?“, sagte Gritta im Flüsterton, obwohl sie niemanden hätte wecken können. „Ist das ein Molerat?“
    „Eins von Alwins“, antwortete Thorben. „Ist ihm weggelaufen. Er sucht gerade die ganze Stadt danach ab.“
    Sie hatte den Eindruck, dass er ziemlich angespannt aussah, wie er sich mit seinen langen Fingern am letzten Knoten abmühte, der ihm im Moment einfach nicht gelingen wollte. Es fiel ihr plötzlich schwer, ihren Onkel in diesem Menschen wiederzuerkennen. Aber dann dachte sie, dass im merkwürdigen Licht der roten Lampe wohl jeder Mensch ein bisschen seltsam ausgesehen hätte. Erst recht wenn er eine ohnehin schon etwas gruselige Augenklappe aus dunklem Fell trug.
    „Und du hast es gefunden?“
    Thorben hatte den Knoten endlich hinbekommen. Das Molerat war jetzt ganz ruhig geworden und blickte sich nur noch mit dem Kopf im Raum um. Viel mehr blieb ihm aber auch nicht übrig.
    „Am Galgenplatz“, sagte Thorben.
    Gritta zögerte, denn sie rechnete gar nicht mit einer Antwort, aber die Frage war zu unvermeidlich, um sie nicht zu stellen.
    „Was hast du denn mitten in der Nacht am Galgenplatz gemacht?“
    „Geld verdient. Wie du weißt, bist du teuer.“ Bevor sie etwas erwidern konnte, fügte er hinzu: „Es gab eine Wette.“
    „Und du hast… mitgewettet?“
    „Ja.“
    „Und gewonnen?“
    Thorben griff in eine Tasche seiner Lederweste. Im nächsten Moment kullerten ein paar Münzen über den Tisch.
    „Das ist aber nicht besonders viel“, sagte Gritta.
    „Mehr war nicht zu holen.“
    Nachdem ihr Onkel das restliche Stück Seil in einer Schublade verstaut hatte, ging er hinüber in den Schlafraum. Gritta glaubte zuerst, er wollte sich ins Bett legen, aber stattdessen holte er seine Wanderschuhe heraus, an denen noch immer ein bisschen getrockneter Schlamm von der letzten Wanderung klebte. Der alte Thorben hätte sie längst gesäubert, dachte Gritta im Stillen. Hoffentlich erwartete er jetzt nicht von ihr, dass sie so etwas machte.
    „Du willst es gleich wegbringen?“, fragte sie.
    „Hm“, machte ihr Onkel nur.
    Das Molerat hatte derweil wieder mit dem Quieken begonnen, das jetzt aber nur noch schlecht durch das zugebundene Maul dringen konnte. Als sie es so hocken sah und die große krustige Wunde am Hinterteil bemerkte, genau da wo eigentlich der Schwanz hätte sein sollen, da tat ihr das Tier ein bisschen leid. So fett wie es war, würde es bestimmt sowieso nicht mehr lange zu leben haben, und nun musste es seine vielleicht letzten Stunden auch noch unter Schmerzen und gefesselt über sich ergehen lassen. Das war eigentlich die einzige Freude, die man auf Khorinis haben konnte, dachte sie: Zu sehen, dass es anderen noch ein bisschen mieser erging als einem selbst. Und nicht einmal die war ihr vergönnt, denn sie fühlte sich bloß noch leerer bei diesem Anblick. Sie war wirklich nicht geschaffen für diese Insel.
    „Was ist das für ein Stein hier?“, fragte sie, als sie das weiße Ding neben dem Molerat auf dem Tisch bemerkte.
    „Den hatte das Molerat im Maul“, sagte Thorben aus dem Nebenraum.
    Zu Grittas Verwunderung schien das Tier auf einmal wieder aktiver zu werden und wackelte so sehr auf dem Tisch herum, wie es ihm mit seinen Fesseln möglich war. Es war ihr fast so, als hätte es die Erwähnung des Steins aufgeschreckt, aber das war natürlich Unsinn. Trotzdem konnte sie den Gedanken nicht ganz abschütteln, dass das Molerat an dem Stein Interesse hatte. Die heftigen Kopfbewegungen, die es jetzt machte, die sahen ein bisschen so aus, als wollte es in Richtung des kleinen Gegenstands schnappen. Ob der Stein wohl salzhaltig war? Sie hatte schon von Tieren gehört, die gerne an Salzsteinen leckten. Nach so einem Stein sah dieser hier zwar gar nicht aus, aber irgendetwas musste es ja geben, das dem Molerat daran gefiel. Denn dass es an den Stein heranwollte, daran hatte Gritta jetzt schon kaum noch einen Zweifel. Plötzlich hatte sie die Neugier gepackt, und sie stupste den Stein zur Moleratschnauze hinüber – nur ganz kurz mit der Fingerspitze, um nicht zu viel Moleratsabber abzubekommen. Das Tier kam nun mit der Schnauze an den Stein heran, aber bekam ihn natürlich nicht richtig zu packen. Rasch warf Gritta einen Blick durch den Zugang zum Schlafraum. Thorben hatte ihr den Rücken zugewandt, während er die Kommode nach irgendetwas durchsuchte. Natürlich wusste sie, dass sie dem Molerat nicht die Fesseln lösen durfte – ein frei laufendes und vor allem frei beißendes Molerat wollte sie nun auch nicht in der Wohnung haben – aber es war ja sicher nichts dabei, das mehrfach um die Schnauze gewickelte Seil ein kleines Bisschen zu lockern und nach hinten zu schieben.
    Kaum hatte Gritta ihr spontanes Vorhaben in die Tat umgesetzt, da hatte sich das Tier schon den Stein geschnappt, den es nun gerade so zwischen den Vorderzähnen halten konnte. Die plötzliche Bewegung des Tiers ließ sie nach Luft schnappen, und sie fürchtete bereits, das Seil doch zu sehr gelockert zu haben, aber das Molerat blieb zum Glück friedlich. Es schien auch keine Anstalten zu machen, am Stein zu lecken oder ihn gar aufzufressen, womit Gritta fast ein bisschen gerechnet hatte. So einem Molerat waren ja einige Dummheiten zuzutrauen. Stattdessen aber kratzte es mit dem Stein nur auf der Tischplatte herum, was Gritta auch nicht besonders gefiel. Der Stein hinterließ nämlich weiße Striche auf dem Holz, und sie konnte sich schon vorstellen, was Thorben zu einem bekritzelten Küchentisch sagen würde.
    „He, lass das!“, zischte sie so leise wie sie konnte, und als das Molerat nicht hören wollte, versuchte sie ihm, den Stein mit einem schnellen Handgriff wieder aus dem Maul zu ziehen. Das Tier hatte aber einen erstaunlich kräftigen Biss, und ehe sie den Stein richtig zu packen bekommen konnte, hatte ihn ihr das Molerat mit einer rabiaten Kopfbewegung wieder aus der Hand gezogen, um mit dem Gekratze fortzufahren.
    „Gib schon her, du…!“
    Sie haderte gerade mit sich, ob sie einen weiteren Versuch starten oder lieber keinen Biss riskieren wollte, als ihr die erstaunlich geraden Striche auffielen, die das Molerat auf der Tischplatte hinterlassen hatte. Nach planlosem Rumgekritzel sah das nun wirklich nicht aus. Verblüfft beobachtete sie, wie das Molerat mit dem weißen Stein Strich um Strich setzte und dabei etwas auf den Tisch zeichnete, das ganz nach bewusst gewählten Symbolen aussah… nach Buchstaben? Noch nie hatte sich Gritta so sehr gewünscht, lesen zu können.
    Schritte aus dem Schlafzimmer schreckten sie auf. Als sie sich umdrehte, stand ihr Onkel bereits im Durchgang. Er hatte seine Wanderkleidung angezogen. Sie rechnete bereits halb mit einem Wutanfall, aber dann erinnerte sie sich daran, dass Thorben in den letzten Tagen kaum noch mit ihr gestritten hatte. Auch diesmal ließ er sich weder Verärgerung noch Überraschung anmerken. Ruhig, aber zielstrebig ging er zum Küchentisch, packte das quiekende Molerat und zog das Seil an der Schnauze wieder straff. Als der weiße Stein zu Boden fiel, hob er ihn auf und steckte ihn in eine Hosentasche.
    „Thorben“, redete Gritta derweil aufgeregt auf ihn ein, „das Molerat hat etwas geschrieben! Ich weiß es klingt verrückt, aber diese Zeichen auf dem Tisch, das war das Molerat!“
    Ihr Onkel schaute gar nicht richtig hin.
    „Ich bringe es jetzt weg“, sagte er.
    Von einem plötzlichen Entsetzen gepackt sprang Gritta auf. „Du kannst doch das Molerat nicht zu Alwin bringen! Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Es kann schreiben! Vielleicht ist es ein verzauberter Mensch, oder –“
    Ein verwandelter Magier, dachte sie, und für einen kurzen Augenblick hatte sie einen jungen Feuermagier vor Augen, der es mit dem Keuschheitsgelübde nicht so genau nahm und gekommen war, um sie von dieser schrecklich langweiligen Insel in seinen magischen Palast zu holen. Schon im nächsten Moment schämte sie sich ein wenig für diese alberne Phantasie, aber selbst wenn das Molerat bloß ein schreibendes Molerat war, dann hätte es immer noch eine interessantere Gesellschaft abgegeben als alle Brians und Valentinos dieser Stadt zusammen.
    „Ich bringe es ja nicht zu Alwin.“
    „Aber… wo willst du denn dann mit ihm hin, mitten in der Nacht? Kann das nicht bis morgen warten?“
    Thorben schüttelte den Kopf. Er hielt das Molerat jetzt mit beiden Händen gepackt und war schon bei der Tür angekommen.
    „Keine Sorge“, sagte er, als er die Tür öffnete und die kühle Nachtluft hereinließ. „Bis zum Sonnenaufgang sollte ich zurück sein.“
    Dann fiel die Tür ins Schloss, und Gritta war allein. Kurz fühlte sie den Drang, ihm nachzulaufen, das Molerat zurückzuholen. Aber sie wusste gleich, dass sie dafür zu träge war und dass sie sich gegen ihren Onkel ohnehin nicht durchsetzen würde.
    Das Molerat war fort, und alles was ihr blieb, waren eine Nachricht, die sie nicht lesen konnte, und ein paar Münzen, von denen sie sich nichts kaufen konnte, weil sie alles Kaufenswerte in dieser Stadt schon längst gekauft hatte. Einige schwermütige Minuten lang hockte sie am Tisch und dachte an das Molerat. Dann nahm sie sich die Münzen, schlurfte zurück ins Bett und plante den nächsten Besuch im oberen Viertel. Wenn es nichts Neues zu kaufen gab, dann musste man die Dinge eben zweimal kaufen.

    „So, Jungs, jetzt aber raus mit euch. Ist schon weit nach Mitternacht.“
    Thekla war gerade damit fertig geworden, die Feldrüben nach Größe und Konsistenz zu sortieren – eine unabdingbare Vorarbeit, um ihrem Eintopf die richtige Mischung zu verpassen. Damit war sie durch für diesen Tag. Es gab nichts mehr, was sie tun konnte, um sich die Zeit zu vertreiben, und müde genug war sie schon seit ein paar Stunden. Zeit also, den Laden dicht zu machen.
    „Das kannst du gar nicht so genau wissen.“
    „Eben. Siehst du hier etwa irgendwo eine Uhr?“
    Seufzend stützte sich die Wirtin mit den Ellenbogen auf der Theke ab und legte den Kopf in die Hände. „Jetzt fangt nicht wieder mit sowas an, Jungs. Wenn Onar wüsste, dass ihr hier immer die halbe Nacht in der Kneipe hockt, dann hätte der euch schon längst den Sold halbiert.“
    „Hey, was soll das denn heißen?“ Fester machte ein Gesicht wie eine zertretene Fleischwanze. „Soll das eine Drohung sein?“
    „Das kannst du doch nicht machen, Thekla“, stimmte sein Kumpel Rod mit ein. „Wir sind halt gerne in deiner Kneipe, das musst du als Kompliment verstehen.“
    „Genau so ist das nämlich. Und außerdem sind wir noch nicht fertig hier. Wir haben beide noch drei Steine, und es wird grade so richtig spannend. Da kannst du uns jetzt nicht einfach rauswerfen.“
    Thekla gähnte. Die Söldner spielten jetzt schon seit Wochen dieses merkwürdige Spiel, bei dem es augenscheinlich darum ging, ein paar Kieselsteine über den Tisch zu schieben, bis einer der beiden Spieler gewonnen hatte. Die genauen Regeln waren so kompliziert, dass sie Thekla immer noch nicht richtig begriffen hatte, aber da schien sie auch bei Weitem nicht die einzige zu sein. Dass die Partien gerne mal einen ganzen Abend in Anspruch nahmen, das lag nicht zuletzt auch daran, dass sich die Söldner regelmäßig über Einzelheiten des Regelwerks zerstritten und an besonders schlimmen Tagen sogar Änderungen daran vornahmen, nach denen ein Neubeginn nötig war.
    „Spielt einfach morgen weiter“, schlug sie vor. „Ich will jetzt ins Bett.“
    „Kannst du ja“, sagte Fester, ohne den angestrengt starrenden Blick von den drei Steinen seines Gegners zu nehmen, die in einer Dreiecksform vor ihm auf dem Tisch lagen. „Wir kommen hier auch allein zurecht.“
    „Genau, Thekla“, pflichtete ihm Rod bei. „Wir kommen schon klar.“
    Thekla verdrehte die Augen. „Na sicher, und morgen früh ist die Hälfte von meinem Eintopf weg. Nee nee, Jungs, das könnt ihr vergessen. Spielt einfach woanders weiter.“
    „Würden wir ja, aber hier ist es so schön gemütlich.“
    „Und so gut beleuchtet.“
    „Genau. Woanders geht das einfach nicht so gut wie hier.“
    „Und wir sind auch schon fast fertig. Du kannst ja zugucken, ist echt spannend.“
    „Ja, Thekla. Gönn dir doch auch mal was.“
    „Bisschen entspannen hier, einfach mal ’ne Runde zugucken.“
    „Tut dir auch mal gut.“
    Thekla schloss für einen Moment die Augen. Sie hatte es auf die nette Art versucht, aber so würde sie nicht weiterkommen. Jetzt waren härtere Bandagen gefragt. Sie tat es nicht gern, aber die beiden Söldner ließen ihr ja keine andere Wahl.
    „Haut ab, oder ihr kriegt morgen keinen Eintopf.“
    Ein paar erschrockene Momente lang herrschte Stille im Raum.
    „Das kannst du doch nicht machen, Thekla.“
    „Willst du, dass wir verhungern, oder was?“
    „Ich will, dass ihr verschwindet“, forderte die Kneipenwirtin. „Und vor allem will ich ins Bett.“
    „So eine Scheiße!“, knurrte Fester und bollerte mit der Faust so fest auf den Tisch, dass die Steinchen ein bisschen in die Höhe hüpften. „Wieso hängen wir eigentlich auf diesem verdammten Dreckshof hier fest, Rod? Kannst du mir das mal sagen, was in Beliars Namen wir hier eigentlich noch machen? Wenn wir in der Stadt wären, dann würde uns niemand unsere Lieblingskneipe vor der Nase dicht machen, kaum dass es ein bisschen dunkel ist draußen.“
    „Aber echt mal, Fester“, brummte Rod. „In den Kneipen von Khorinis, da geht’s jetzt bestimmt gerade erst so richtig los. Da lachen die doch drüber, wenn die hören, dass wir hier ins Bett geschickt werden wie irgendwelche Novizen außem Kloster.“
    „Ja, da gucken die uns an, als ob uns der Troll verkloppt hätte, wenn wir denen das erzählen. Das glauben die uns einfach nicht. ’N verdammter Scheißladen ist das hier!“
    „Ich dachte, das ist eure Lieblingskneipe“, sagte Thekla und ging zur Tür, um sie schon mal aufzumachen. „Und in der Stadt kriegt ihr garantiert keinen Eintopf umsonst. Von einem Sold fürs Rumgammeln mal ganz zu schweigen.“
    „Sold fürs Rumgammeln?“, empörte sich Fester. „Wir sorgen hier für deine Sicherheit, vergiss das mal nicht.“
    „Ja ja.“
    Thekla hatte die Hand gerade an den Türgriff gelegt, da wurde sie plötzlich von außen geöffnet. Sie war zu müde, um überrascht zu sein, aber der Bauer Gunnar, der die Tür aufgemacht hatte, schien ganz offensichtlich nicht damit gerechnet zu haben, so schnell vor der Kneipenwirtin zu stehen.
    „Oh, äh, Thekla, hallo“, stammelte er. „Gut, dass du noch auf hast. Ich dachte schon, ich muss mit leerem Magen ins Bett.“
    „Musst du auch“, eröffnete ihm Thekla. „Ich mach jetzt nämlich zu. Rod und Fester sind gerade dabei zu gehen.“
    Gunnar lugte an ihrem Gesicht vorbei in den Kneipenraum.
    „Die sitzen doch noch da und spielen. Sechs Steine noch? Das dauert dann ja bestimmt noch was.“
    „Das Spiel ist abgebrochen“, beschloss Thekla. „Ich will nämlich ins Bett.“
    „Komm schon, Thekla.“ Die Stimme des Bauern hatte nun einen Jammerton angenommen, mit dem Thekla in unschöner Regelmäßigkeit konfrontiert wurde. „Nur einen Teller Eintopf, bitte. Du kannst mich doch nicht verhungern lassen.“
    „Wir haben schon weit nach Mitternacht“, sagte sie. „Das ist nun wirklich zu spät fürs Abendessen.“
    „Aber – ich konnte ja gar nicht zum Abendessen kommen!“, verteidigte sich Gunnar mit weit aufgerissenen Augen. „Ich musste die ganze Zeit auf Sekobs Feld arbeiten!“
    „Wieso das denn? Du bist doch einer von Onars Bauern.“
    „Ja, schon“, erklärte Gunnar, „aber Onar hat so einen Handel mit Sekob abgeschlossen, dass ein paar von uns ein paar Wochen lang für ihn arbeiten. Hatte ich erst nichts gegen, bis Onar gesagt hat, dass wir trotzdem auch noch weiter für ihn arbeiten sollen. Also muss ich jetzt tagsüber auf Onars Feldern schuften und nachts auf denen von Sekob. Kannst du dir vorstellen wie fertig ich bin?“
    „Ach komm“, kommentierte Fester vom Tisch aus. „Was soll das schon für ’ne großartige Arbeit sein, mitten im Sommer, wenn alles gesät ist und nix geerntet wird? Dem Gras beim Wachsen zugucken oder was?“
    „Das sagt der Richtige“, pampte Gunnar über Theklas Schulter hinweg zurück. „Ihr Söldner macht ja das ganze Jahr über nichts anderes und kriegt dafür auch noch viel mehr Gold als wir Bauern.“
    „Ja, und mit Recht! Ohne uns wärt ihr Bauern schon alle lange tot, so sieht’s nämlich aus.“
    „Andersrum wird ein Schuh draus. Ohne uns Bauern wärt ihr Söldner schon lange verhungert!“
    „Ach ja?“ Rod lachte dreckig. „Also im Gegensatz zu dir bin ich grade ziemlich satt.“
    „Das hast du nicht wirklich gesagt, du Penner! Ich mach dich fertig, du Arschloch!“
    Thekla packte den Bauern am Kragen, als der Anstalten machte, an ihr vorbei in die Kneipe zu stürmen.
    „Schluss jetzt mit der albernen Zankerei“, sagte sie bestimmt. Sie war kurz davor, alle drei rauszuwerfen, aber sie hatte die Befürchtung, dass es dann zu einer handfesten Keilerei zwischen den Frustrierten kommen würde, bei denen rasch der ganze Hof auf den Beinen sein und ihre Bettruhe in noch weitere Ferne rücken würde.
    Seufzend drehte sie sich um und ging wieder hinter die Theke.
    „Okay, ihr beiden könnt noch eine Viertelstunde weiterspielen, und in der Zeit kannst du einen Teller Eintopf essen, Gunnar. Aber nur eine Viertelstunde – und nur ein einziger Teller, klar?“
    „Na klar, Thekla“, sagte Fester, nun schon wieder ein ganzes Stück besser gelaunt. „Du bist die Beste.“
    „Bist du echt“, stimmte ihm Gunnar freudestrahlend zu, und damit war der Haussegen in Theklas Kneipe vom einen Moment auf den anderen wieder gerade gerückt.
    Sie nahm den Deckel von einem der großen Töpfe, zog einen tiefen Teller herbei und schöpfte mit der Kelle eine große Portion Eintopf ab. Gunnar sah wirklich ziemlich fertig aus, dachte sie, als sie ihn so im Licht ihrer tatsächlich ungemein gut ausgeleuchteten Kneipe sah. Wahrscheinlich hatte er keinen Mist erzählt, sondern wirklich Tag und Nacht durcharbeiten müssen. Sie rang kurz mit sich, dann gewann ihr weiches Herz einmal mehr die Oberhand und sie nahm auch noch den Deckel von einem der kleinen Töpfe, um mit der Kelle eine kleine Portion ihres Spezialeintopfes abzuschöpfen. Sie rührte einmal mit dem Löffel durch und stellte den Teller vor Gunnar auf der Theke ab.
    „Hier, bitte.“
    „Danke, Thekla.“ Gunnar war offenbar so hungrig, dass er sich nicht einmal an einen Tisch setzen wollte, und machte sich stattdessen gleich im Stehen über den Eintopf her.
    „Hey, hast du Gunnar etwa was vom Spezialeintopf mit reingetan?“ Fester stemmte erbost die Hände in die Seiten. „Ich hab’s genau gesehen!“
    „Vom Spezialeintopf?“, empörte sich nun auch Rod. „Das gibt’s ja nicht. So ein Bauer kriegt deinen Spezialeintopf ab, und wir Söldner müssen mit dem normalen Kram klar kommen?“
    Theklas Brauen verengten sich. Jetzt hörte der Spaß aber langsam auf.
    „Mein Eintopf ist kein normaler Kram“, sagte sie mit leiser, aber umso festerer Stimme. „Und ich allein entscheide, wer den Spezialeintopf bekommt.“
    „Klar, Thekla, du allein entscheidest das“, versicherte Fester rasch, der offenbar ahnte, dass seine eigenen zukünftigen Chancen auf den Spezialeintopf durch ausgiebigen Protest nicht unbedingt größer werden würden. „Ich mein’ ja nur.“
    „Sag mal, Thekla“, meldete sich Gunnar schmatzend zu Wort. „Ich will ja nichts sagen, aber so ein bisschen kalt ist der Eintopf schon, oder?“
    „Natürlich ist der kalt“, entgegnete Thekla mit einem Schulterzucken. „Ich habe den ja auch schon vor Stunden gekocht. Wie soll der denn so lange warm bleiben?“
    „Naja, wir haben doch Sommer. Da bleibt eigentlich alles ein bisschen länger warm.“
    „Ich glaub’s ja nicht!“, polterte Rod. „Kriegt den Spezialeintopf ab und hat immer noch was zu meckern! Geh doch ins Kloster, wenn du immer alles ganz heiß essen willst. Da kannst du die Magier fragen, ob sie dir beim Essen ’n Feuerball ins Gesicht schmeißen.“
    „Geh doch selber ins Kloster“, konterte Gunnar mit seiner üblichen Portion Schlagfertigkeit.
    „Am besten geht ihr alle zusammen ins Kloster“, schlug Thekla gähnend vor, „und zwar jetzt gleich, damit ich endlich ins Bett kann. Aber so guten Eintopf wie hier kriegt ihr da bestimmt nicht, das ist mal klar.“
    „Da hast du recht, Thekla.“ Gunnar schwenkte zur Unterstreichung seiner Worte den Löffel in der Luft, wodurch er zu Theklas Missfallen ein paar Eintopftröpfchen auf der Holzplatte der Theke verteilte. „Die dürfen da ja auch keine Molerats essen im Kloster.“
    „Was haben denn jetzt Molerats damit zu tun?“, entgegnete Fester, der gerade zum ersten Mal seit gefühlten Ewigkeiten einen Stein auf dem Tisch verschoben hatte, nur um ihn gleich wieder zurückzunehmen. „Sind denn Molerats im Eintopf?“
    „Klar sind Molerats im Eintopf“, behauptete der Bauer. „Das schmeckt man doch.“
    „Hab ich noch nie was von geschmeckt.“
    „Ich auch nicht. Thekla, sag doch auch mal was. Sind etwa Molerats in deinem Eintopf?“
    Thekla lachte trocken auf. „Netter Versuch, Rod. Mein Eintopfrezept bleibt geheim.“
    „Naja, klar, aber wenn keine Molerats drin sind, dann kannst du das ja sagen. Dann hast du ja noch nichts verraten.“
    „Da hast du recht. Damit hätte sie echt noch nix verraten.“
    „Vergesst es“, schmetterte Thekla die Nachfragen der Söldner ein weiteres Mal ab. „Ich sage gar nichts dazu.“
    „Seht ihr“, sagte Gunnar. „Ich hab doch gesagt, dass Molerats drin sind.“
    Thekla machte sich schon auf eine ermüdende Fortsetzung dieser ständig wiederkehrenden Diskussion um ihr Eintopfrezept gefasst, als die Tür plötzlich ein weiteres Mal aufgeschlagen wurde.
    „Ich bring’s um! Ich bring es um, das verdammte Drecksvieh!“
    Vier überraschte Blicke drehten sich zur Tür. Der Neuankömmling war sichtlich aufgebracht und wollte vor Zorn gegen ein Stuhlbein treten, das er allerdings knapp verfehlte.
    „Bronko?“, sprach ihn Gunnar an. „Was machst du denn hier? Ich dachte, du bist noch nicht fertig auf dem Feld.“
    „Bin ich ja auch nicht! Aber das können wir jetzt eh vergessen. Unsere ganze Arbeit hätten wir uns auch genauso gut sparen können, wegen diesem – diesem Drecksvieh! Und mir macht Sekob morgen dann bestimmt die Hölle heiß deswegen, ich seh’s schon kommen!“
    Thekla rieb sich frustriert die Augen. Mit jedem neuen Gast rückte ihr Bett in weitere Ferne.
    „Was ist denn überhaupt los?“, fragte sie mit halbherzigem Interesse. „Feldräuber, nehm ich mal an?“
    „Schön wär’s, wenn’s nur Feldräuber wären.“
    „Jetzt sag aber nicht, dass wieder ’n Snapper aus dem Minental rübergekommen ist?“ Fester sah plötzlich ein bisschen bleich aus, fand Thekla. Vermutlich war das die üble Befürchtung, dass er für sein Gold in naher Zukunft mal wieder etwas tun musste.
    „Ha! Ein Snapper wär ’ne Kleinigkeit dagegen! Was da auf dem Feld hockt, das ist…“
    Bronko machte eine dramatische Pause, um jedem seiner Zuhörer nacheinander einzeln in die Augen zu blicken.
    „…ein Drache! Ein verdammter Scheißdrache, jawohl!“
    „Ach komm“, sagte Fester.
    „Hör doch auf“, sagte Rod.
    „Ehrlich!“ Bronko legte die rechte Hand auf die Brust, wohl um einen Schwur anzudeuten. „Ich dachte erst, ich seh nicht richtig, als da so ein komischer Schatten vor dem Mond zu sehen war. Aber dann fliegt das Vieh plötzlich zu mir runter – naja, nicht ganz zu mir, zum Glück, aber es hätte nicht viel gefehlt, und ich wär platt gewesen! Ja, und platt ist jetzt natürlich auch das halbe Getreide, das könnt ihr euch ja vorstellen. Hat sich mitten ins Feld reingesetzt!“
    „Ein Drache sitzt in Sekobs Feld?“, fasste Gunnar zusammen.
    „Jetzt nicht mehr. Das Vieh ist gleich weitergeflogen und hockt jetzt in einem von Onars Feldern, praktisch gleich nebenan. Zumindest war das gerade eben noch so, als ich abgehauen bin.“
    „Eisdrache oder Feuerdrache?“, wollte Rod wissen.
    „Oder Sumpfdrache?“, setzte Fester hinzu. „Ich glaube, so welche gibt es auch.“
    „Was soll denn ein Sumpfdrache hier bei uns? Wir haben doch keine Reisfelder, das wär dem viel zu trocken.“
    „Na und? Eis und Vulkane gibt’s hier ja auch nicht, für deine Eis- und Feuerdrachen.“
    „Das kommt dann aber, sobald der Drache da ist. So rum funktioniert das nämlich.“
    „Ja und, beim Sumpf etwa nicht oder wie? So ein Sumpfdrache produziert natürlich auch seinen eigenen Sumpf, ist doch klar.“
    „Ich weiß ja nicht. Ich glaub, bei Sumpfdrachen ist das anders. Sümpfe gibt’s ja eh schon so viele.“
    „Jetzt lasst doch Bronko mal ausreden“, forderte Thekla, die insgeheim damit rechnete, dass am Ende der Geschichte eine Blutfliege stehen würde. „Also, was für ein Drache war es denn nun?“
    „Keine Ahnung“, sagte Bronko. „Es ist Nacht, da kann man doch nichts Genaues sehen – Vollmond hin oder her. Aber es war einer mit verdammt großen Flügeln! Das Vieh ist riesig!“
    Beim Blick in seine Augen wurde Thekla auf einmal bewusst, dass hinter der vorgetäuschten Wut in Wahrheit eine durchaus echte Furcht steckte. An die Drachengeschichte glaubte sie zwar nicht, denn selbst wenn es noch Drachen auf der Insel gab, dann hatte sie große Zweifel daran, dass einer von denen tatsächlich ausgerechnet mitten auf einem Getreidefeld landen würde – das war nun wirklich der ungeeignetste Drachenhort, den sie sich vorstellen konnte. Aber irgendetwas hatte Bronko wirklich gesehen, daran hatte sie keinen Zweifel. Irgendetwas, das ihm einen ordentlichen Schrecken eingejagt hatte.
    Thekla wusste, was sie in so einem Fall zu tun hatte. Sie mochte müde und kaputt sein und sie wollte nach wie vor nichts lieber als in ihrem mauschelig warmen Bett liegen, aber wenn sie gebraucht wurde, dann musste sie zur Stelle sein.
    „Bronko“, sagte sie, „du brauchst jetzt dringend eine große Portion Eintopf.“

    Minkai wusste seit einer ganzen Weile, dass etwas auf sie zukam.
    Mutter und Vater hatten ihrem Geburtstag schon immer größere Bedeutung beigemessen als sie selbst. Seit sie denken konnte, war ihr Geburtstag ein sorgfältig durchgeplanter Festakt gewesen, bei dem gemeinsam getrunken, gebadet und meditiert werden musste. Jedem Verwandten mussten einzeln die Hände gereicht werden, von jedem musste sie sich etwas anhören und von jedem ein Geschenk annehmen. Ihre Geburtstage, das waren immer lange und anstrengende Tage gewesen, und ihre Eltern waren schon Wochen vor jedem Geburtstag aufgeregt gewesen, viel aufgeregter als sie selbst.
    Dieser Geburtstag aber, der Zwölfte, war etwas anderes. Zum ersten Mal war das schon an ihrem elften Geburtstag zu spüren gewesen, als einer ihrer Großonkel den Ausblick ins Folgejahr gewagt und sich der Blick ihres Vaters verdunkelt hatte. Es war nur ein kurzer Moment gewesen, aber er hatte genügt, um Minkai ahnen zu lassen, dass dieser zwölfte Geburtstag anders sein würde als die vorherigen. In den Monaten und Wochen zuvor hatte sich dieser Eindruck weiter bestätigt. Ihre Eltern hatten zunehmend angespannt gewirkt, und eines Abends hatte sich ihr Vater zu ihr in das Becken gesetzt, um ihr mitzuteilen, dass ihre Kindheit bald zuende sein würde. Dass er das Vertrauen in sie hatte, alles zu bewältigen. Sie hatte nur genickt und nichts zu sagen gewusst. Vor zwei Wochen hatte ihre Mutter plötzlich ihre Hände genommen, sie eine Weile mit einem ganz seltsamen Blick angesehen und sie auf einmal umarmt. Minkai war wie gefroren gewesen, denn sie hatte die Umarmung nicht kommen gesehen. Spätestens seit diesem Moment stand für sie fest, dass an ihrem Geburtstag etwas auf sie zukommen würde.
    Sie konnte nicht schlafen am Vorabend ihres Geburtstages. Es war so schlimm, dass sie zur Beruhigung die Scherbe der zerbrochenen Urne herausgeholt hatte, die sie heimlich aus der Krypta mitgenommen hatte. Ihr Vater hatte Minkai gedroht, sie in den Brunnen zu stecken, als sie in der Krypta erwischt worden war, und danach hatte er eine Woche lang nicht mit ihr gesprochen, aber die Scherbe hatte er nicht gefunden. Seitdem hielt Minkai sie versteckt und holte sie nur in den Nächten hervor, und das auch bloß, wenn sie gar nicht in den Schlaf finden konnte und etwas brauchte, das sie beruhigte. Die Scherbe war dazu sehr gut geeignet. Es war eine eigentlich gar nicht so besondere Scherbe, schmal und länglich und aus einem ganz gewöhnlichen Ton gefertigt, aber auf der Vorderseite waren mit schwarzer Farbe vier Bilder aufgemalt. Die drei ersten Bilder waren einfache Zeichnungen von Menschen, einer stehend und zwei liegend mit gekrümmten Beinen. Das letzte Bild zeigte den Kopf eines Menschen, aber ohne Augen. Minkai sah die Bilder sehr gerne, obwohl sie so einfach waren. Sie konnte stundenlang am Rand des Beckens sitzen, die Beine knapp über der Wasseroberfläche baumelnd, und sich die Gesichter dieser merkwürdigen Kreaturen anschauen. Sie fragte sich, ob der graue Staub, der noch hier und da in den Rissen auf der Rückseite steckte, wohl die Asche eines dieser Menschen war. Ob vielleicht sogar alle diese Bilder den gleichen Menschen zeigten – in der Jugend, im Alter, im Tod? Sie fragte sich dann oft, wie dieser Mensch wohl gewesen war, damals vor so langer Zeit. Hatte er etwas gemacht aus seinem kurzen Leben, oder war er als Staub in den Ritzen gelandet, bevor er gewusst hatte, wie ihm geschah? Auch in der Nacht vor ihrem Geburtstag wollte sie sich von diesen Fragen ihren Kopf ausfüllen lassen, aber es wollte nicht gelingen. Sie wusste noch zu gut, wie ihre Eltern sie angesehen hatten, bevor sie in ihr Schlafbad gegangen war, bevor sie ihr eine gute Nacht gewünscht hatten. Die Blicke waren starr gewesen, alle Muskeln mühsam unter Kontrolle gehalten. Ihre Mutter hatte ihren Vater am Rücken gehalten, fast so, als müsste sie ihn stützen. Sie wussten beide, dass etwas auf ihre Tochter zukommen würde. Und nur die eine Frage, die Frage nach dem Was, hatte in dieser Nacht Platz in Minkais Kopf.
    Sie schreckte hoch, als sie Schritte auf dem Gang hörte. Hastig richtete sie sich auf und eilte zur hinteren Seite des kreisförmigen Raumes hinüber, zog den lockeren Stein aus der gerundeten Mauer und legte die Scherbe wieder in ihr Versteck. Sie hatte es gerade wieder geschlossen, als ihr Vater den Raum betrat.
    „Komm jetzt, Tochter.“ Der Vater stand vor einem der Fenster, und im Mondlicht sah sein Gesicht beinahe so fahl aus wie das eines der Toten in der Krypta. „Es ist gleich Mitternacht.“
    In diesen wenigen Worten fühlte sie das ganze Grauen ihrer Vorahnung. Sie wollte sich nicht rühren, einfach stehen bleiben, aber im nächsten Moment hatte sie sich schon in Bewegung gesetzt und war ihrem Vater durch den Korridor nach draußen gefolgt.
    Vor dem Haus stand ihre Mutter, die ihre rechten Hände nahm, ohne ihr ins Gesicht zu blicken. Der Vater ging voran, und an der Seite ihrer Mutter folgte sie ihm auf dem Weg aus dem Dorf heraus. Fort von den Kuppelhäusern, fort vom See. Niemand sagte ein Wort. Die Häute zwischen den Fingern ihrer Mutter fühlten sich klebrig an, als hätte sie seit Tagen kein Bad genommen, und Minkai fühlte sich wie festgesaugt. Sie wusste, dass es unmöglich war, sich aus diesen Griffen zu lösen, und dass es unmöglicher wurde mit jedem Schritt. Der Weg, den sie einschlugen, das war der Pfad hinauf zum Gipfel des Berges, zur einzigen Erhebung der kleinen Insel. Minkai war noch nicht sehr oft dort gewesen, und wenn, dann nur bei Sonnenschein. In der Nacht kam ihr der Ort plötzlich ganz fremdartig vor. Mit jeder Windung des Weges rechnete sie halb damit, den Gipfel erreicht zu haben, aber immer waren sie bloß auf einem weiteren Plateau angelangt, von dem ein Weg zum nächsten hinauf führte, das zuvor noch unsichtbar gewesen war. Jedes Mal spürte Minkai eine kleine Erleichterung in sich, die Erleichterung, dem zwölften Geburtstag noch einen weiteren Bergpfad lang entkommen zu sein.
    Dann aber war der Gipfel erreicht. Wohin sie nun blickte, war das endlose Meer zu sehen. Sanfte Wellen glitzerten im Mondlicht. Unten im Tal lag das Dorf in Schwärze, ohne ein einziges Licht. Die Familie schlief.
    „Es ist gleich soweit“, sagte der Vater zur Mutter. „Es muss gleich Mitternacht sein.“
    Ihre Mutter entließ sie aus den Griffen ihrer Hände und ging zur Seite. Minkai wusste nicht, was sie von dieser plötzlichen Freiheit halten sollte. Sie schaute ihre Mutter an, dann ihren Vater, aber beide hatten ihre Blicke in den Himmel gerichtet.
    Minkai spürte eine leichte Brise auf ihrer Haut, und es fühlte sich an wie der lauwarme Atem eines Unsichtbaren neben ihr. Sie überlegte, ob sie wegrennen konnte, einfach den Berg hinunter, aber von dieser Insel kam sie ja doch nicht weg. Gleich war es Mitternacht, gleich war ihr zwölfter Geburtstag angebrochen. Daran war nichts zu ändern.
    „Er kommt“, sagte ihre Mutter.
    Der Vater starrte drei, vier Augenblicke lang weiter in den Himmel, dann drehte er sich zu Minkai um, ging in die Hocke und sagte: „Du bist eine von uns, denk daran. Du kannst alles verwinden.“
    Sie erwiderte seinen Blick, unfähig etwas zu sagen. Ihr Vater richtete sich wieder auf und ging zur Mutter hinüber. Beide standen sie nun am Rand des Gipfelplateaus, die Blicke wieder erhoben gen Himmel. Sie waren wie Fremde, dachte Minkai. Sie musste sich dem zwölften Geburtstag allein stellen.
    Ich kann alles verwinden.
    Zum ersten Mal sah sie selbst in den Himmel.
    Der Vollmond war klar und strahlend, und ein gewaltiger Schatten zeichnete sich vor ihm ab. Minkai hörte das Schlagen großer Schwingen und einen grellen Schrei.
    Dann kam der Schatten auf sie herab.

    „Minkai.“
    Die Stimme, diese schrecklich krächzige Stimme wie die letzten weggebrochenen Worte eines Sterbenden, sie traf Minkai wie ein Pfeil aus der Dunkelheit. Sie wusste nicht, wo sie war, sah nur schwarze Schemen in schwarzer Umgebung und fühlte nichts als den bohrenden Schmerz in ihrer Wunde. Aber die Stimme, diese Stimme erkannte sie wieder, noch bevor sie bei der zweiten Silbe ihres Namens angekommen war. So viele Jahre lang hatte sie die Stimme nur noch in ihren Träumen gehört, und nun war sie zurück, und sie selbst genauso ausgeliefert wie damals.
    „Ist sie das?“, fragte der Mann, der sie hergebracht hatte, von dem sie nur wusste, dass er Thorben hieß.
    „Ja“, krächzte es. „Das ist sie. Aber sie kann mich gar nicht sehen. Halt sie mir vor die Augen.“
    Sie spürte, wie sich der Griff um ihren Bauch verstärkte und sie in die Höhe gehoben wurde. Und dann schälte er sich vor ihr aus der Dunkelheit, der massige Kopf der Kreatur. Im ersten, fernen Blick hätte man diesen Kopf für den eines Vogels halten können, eines Vogels von ungeheurer Größe und mit nachtschwarzem Federkleid, das im Mondlicht bläulich schimmerte. Aber Minkai schaute nicht von fern auf diesen Kopf. Sie war ihm so nah, dass sie seinen süßlichen Atem riechen konnte. Sie sah den großen grauen Schnabel, scharf gebogen wie die Klinge einer Sense. Und sie sah die Augen. Wo Federn hätten sein müssen, da klafften in diesem Vogelgesicht nur Augen, hunderte und aberhunderte von Augen, dicht gedrängt als wildes Geschwür um den Schnabel herum und zur Stirn hinauf. Als sich der Kopf ruckartig drehte, wie er es beständig tat, da erkannte Minkai, dass die Augen bis zum Hinterkopf reichten. Es waren mehr geworden seit damals.
    „Siehst du mich jetzt, Minkai?“, fragte die Krähe. Die Worte kratzten in ihren Ohren wie rauer Stein. „Ja, du siehst mich. Hast du dein altes Auge schon gefunden? Es ist dort oben auf der Stirn, sehr gut zu erkennen. Ich habe ihm einen besonderen Platz gegeben.“
    Minkai konnte nicht anders, als auf die Stirn der Krähe zu schauen. Aber es waren so viele Augen, die auf dieser Stirn wucherten, die sich teils überlagerten und miteinander verwachsen waren, dass sie unmöglich sagen konnte, welches davon einmal ihr eigenes gewesen war. Die Pupillen waren alle in ständiger Bewegung, blickten mal hierhin und mal dorthin. Sie fand bloß ein einziges Auge, das sie direkt anschaute, fast regungslos. Es gehörte zu den größeren und glubschigeren Augen und war blutunterlaufen, und sie verwarf rasch den Gedanken, dass es womöglich dieses Auge war, das einmal ihr selbst gehört hatte.
    „Jetzt ist es beinahe tröstlich, nicht wahr?“, fuhr die Krähe fort. „Dein alter Körper ist nicht mehr, aber wenigstens dieser kleine Teil ist in der Welt geblieben. Ach, Minkai, schau nicht so verschreckt. Du kannst deine Molerataugen behalten. Diesmal bin ich nicht hier, um mir etwas von dir zu nehmen.“
    Der Vogel bewegte seinen Kopf noch ein Stückchen näher an sie heran. Die glänzende Spitze des Schnabels war ihren Augen nun wieder fast so nahe wie damals, wie in der Geburtstagsnacht.
    „Ich möchte dir helfen, Minkai. Nein, wirklich. Du musst schrecklich verloren sein. Wiedergeboren im Körper eines nackten Tiers. Verkrüppelt und gejagt. Das muss nicht leicht zu verwinden gewesen sein, nicht einmal für dich. Aber ich habe eine gute Nachricht für dich. Wir sind auf einem Feld des Bauern Onar, und wolltest du dich nicht an genau diesen Ort flüchten?“
    Minkai versuchte den Kopf zu drehen, um dem Dickicht aus Augen für einen Moment zu entkommen und ihre Umgebung zu erahnen, aber in Thorbens Griff war ihr das kaum möglich. Tatsächlich roch es unter dem Gestank des Krähenatems ein bisschen nach Gräsern, fand sie. In der Stadt waren sie auf jeden Fall nicht mehr, so viel stand fest. Aber hatte sie dieser Thorben tatsächlich bis zu ihrem Ziel gebracht? Und woher wusste die Krähe überhaupt von ihrem Auftrag?
    „Ich weiß, du würdest gerne etwas sagen, Minkai, aber ärgere dich nicht. Ich sage dir schon alles, was du wissen musst. Du bist an dem Ort, an den du wolltest, doch ich fürchte, du wirst deine Tante hier nicht finden. Sie wohnt nicht weit von hier, in einer Höhle im Wald, aber auch dort wirst du sie nicht mehr antreffen. Daran bin ich nicht ganz unschuldig, fürchte ich. Wieso, fragst du? Weil ich sie fortgeschafft habe, sage ich.“
    Die Krähe stieß ein hohes, schrilles Krächzen aus, ein kurzes stechendes Gelächter, das in Minkais Ohren schmerzte.
    „Aus gutem Grund habe ich sie fortgeschafft. Sie hat auf dieser Insel viel Unheil angerichtet, an dem die Menschen hier noch eine Weile zu leiden haben werden. Ich weiß, was du denkst, Minkai, aber du kennst mich nicht gut. Ich bin dir nicht vertraut, nur weil wir einmal gemeinsam Geburtstag gefeiert haben. Also hebe dir dein Urteil auf, bevor du mit deiner Tante gesprochen hast.“
    Der Vogel plusterte sich offenbar auf, denn es war das Rascheln großer Flügel zu hören, und ein heftiger Windstoß wehte Minkai um die Ohren.
    „Oh ja, natürlich bringe ich dich zu deiner Tante“, krächzte die Krähe. „Was hast du denn geglaubt? Dass ich dich herschaffen lasse, nur um dich so hilflos wie zuvor zurückzulassen? Glaub mir, ich hätte dich am liebsten schon in der Stadt abgeholt, aber du verstehst sicher, ich gehe nicht so gerne unter Leute. Doch bevor wir deine Tante besuchen…“
    Völlig unvermittelt schnellte der Schnabel vor, gleich auf ihr Gesicht zu, und hatte ihr im nächsten Moment das Seil vom Maul gerissen. Mit zwei weiteren ruckartigen Schnabelbewegungen hatte die Krähe auch ihre Beine von den Fesseln befreit.
    „,…musst du erst eine Entscheidung treffen. Leg sie auf den Boden.“
    Der letzte Satz hatte sich nicht an sie gerichtet, sondern an den Mann, der sie in den Händen hielt. Thorben tat, wie ihm befohlen, und im nächsten Augenblick hatte sie wieder festen Boden unter den Füßen, oder zumindest etwas in der Art. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass sie auf plattgedrückten Getreidehalmen saß. Offenbar hatte die Krähe zumindest in einem Punkt die Wahrheit gesagt: Sie befanden sich wirklich auf einem Feld.
    „Das hier hat sie im Maul gehabt, als ich sie gefunden habe“, hörte sie Thorben sagen.
    „Ah, sehr schlau von dir, Minkai“, lobte die Krähe. „Den Stein sollst du behalten. Vielleicht möchte ich ja eines Tages doch einmal eine Antwort von dir haben, und wer weiß schon, ob du jemals wieder aus deinem neuen Körper herausfindest?“
    Thorbens Hand senkte sich zu ihr herab, und Minkai schnappte dankbar nach dem Kreidestein, den sie ihr hinhielt. Wenn der Vogel sie tatsächlich zu ihrer Tante bringen würde, dann würde sie einiges mit ihr zu bereden haben.
    „Ich will dir nichts vormachen, die Reise wird nicht angenehm werden“, eröffnete ihr die Krähe, die nun als immenser Schattenkoloss über ihr in den schwarzen Himmel ragte. Minkai hockte direkt zwischen ihren langen grauen Beinen. „Diese Reise wird auch eine kleine Weile dauern. Wenn du davon krabbeln willst, dann werde ich dich nicht aufhalten. Du kannst gehen, wenn du das möchtest, jetzt gleich. Aber weiterhin ohne Halt und Orientierung vor dich hin krabbeln, das ist es sicher nicht, was du dir wünschst, oder? Wenn du sitzen bleibst und dich nicht vom Fleck rührst, dann verspreche ich dir, dich mitzunehmen in meinen Hort. Nicht als Gefangene wie deine Tante. Ich werde dich jederzeit zurückbringen, wenn du danach verlangst. Oh, ich weiß schon, was du denkst, Minkai. Nein, ich würde mir an deiner Stelle auch nicht vertrauen. Aber wenigstens das kannst du mir glauben: Allein wirst du nie dorthin gelangen.“
    Die Krähe schwieg nun, und zum ersten Mal seit dem Beginn ihrer zweiten Begegnung hielt dieses Schweigen länger an als ein paar flüchtige Momente. Von Zeit zu Zeit hob die Krähe eine Kralle oder stieß ein leises Krächzen aus, aber davon abgesehen war es still. Sie meinte es ernst mit der Entscheidung, begriff Minkai. Diesmal hatte sie die Möglichkeit zur Flucht, diesmal konnte sie der Krähe davonlaufen. Vielleicht war die Kreatur danach tatsächlich für immer verschwunden, vielleicht würde sie die Stimme kein drittes Mal mehr zu hören bekommen.
    Aber was dann? Hatte sie einen Grund anzunehmen, dass die Krähe log? Denn wenn sie die Wahrheit sagte, dann würde sie ihre Tante niemals auf sich allein gestellt finden. Dann konnte sie nichts weiter tun als ein erbärmliches Leben als verkrüppeltes Molerat zu Ende zu leben. Und dieses Ende, ahnte sie, es würde nicht lange auf sich warten lassen, wenn sie erst einmal wieder ganz allein war.
    „Sehr gut“, sagte die Krähe. „Ich wusste, dass du keine Dummheit begehen würdest.“
    Minkai hatte noch gar nicht ganz begriffen, dass sie die Entscheidung längst gefällt hatte, da fühlte sie schon die scharfen Krallen der Krähe, die sich in ihren Rücken gruben. Sie quiekte vor Schmerz und Entsetzen, als sie in die Höhe gerissen wurde. Über ihr hörte sie das schwere Schlagen der riesigen Flügel, während der Boden kleiner und kleiner wurde, bis sie ihn mit ihren schwachen Augen nicht mehr erkennen konnte. Kurz erhaschte sie einen Blick auf Thorben, glaubte im dunkelgelben Schemen das große Getreidefeld zu erkennen, in dem sie eben noch gehockt hatte. Aber bald war alles unter ihr nur noch ein großes, graues Nichts.
    Über ihr der schwarze Bauch der Krähe.
    Und dahinter…
    Eine weiße, leuchtende Scheibe, die langsam größer wurde.
    „Oh, tu nicht so, als ob du es nicht gewusst hättest“, hörte sie es über sich krächzen. „Mein Hort ist der Mond. Du wirst das erste Molerat dort sein.“

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    Deus Avatar von Laidoridas
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    „Na, anstrengenden Tag gehabt, Süßer?“
    „Hmm.“ Die Metallteile der Milizrüstung schepperten ein bisschen, als sich Peck aufs Bett legte. Besonders bequem war das nicht, aber er hatte für eine Viertelstunde bezahlt und konnte es nicht ab, wenn fünf Minuten davon fürs Ausziehen der Rüstung draufgingen. Früher hatte er oft eine halbe Stunde gebucht, dann fiel das nicht so ins Gewicht. Aber inzwischen sah er es nicht mehr ein, Bromor die doppelte Summe dazulassen, und sparte die Zeit lieber bei der Rüstung ein. Zum Glück war die lederne Hose so gefertigt, dass man jederzeit mal schnell pissen gehen konnte, und was fürs Pissen reichte, das musste auch für Nadja reichen.
    „Entspann dich“, hauchte sie und fummelte an der Hose herum. Es war aber gar nicht so leicht, sich zu entspannen, wenn der blöde Eisenkragen der Rüstung am Hals drückte. Was für eine Scheiße, dachte Peck, und stieß ein Stöhnen aus, das Nadja offensichtlich fehldeutete.
    „Ja, ich bin auch schon ganz ungeduldig, Süßer. Ich hab die ganze Nacht auf dich gewartet.“
    „Das sagst du jedes Mal“, brummte Peck.
    „Es stimmt ja auch jedes Mal“, behauptete Nadja.
    „Ach komm“, sagte Peck.
    „Nein, wirklich, Süßer“, säuselte Nadja, und als er sich immer noch nicht überzeugt gab, fügte sie hinzu: „Ich habe ja sonst die meiste Zeit nur diesen alten Jack hier. Seit der den Leuchtturm abgegeben hat, ist der noch öfter in der Laterne als vorher. Eben hat der mich für zwei Stunden gebucht. Das ist ganz schön anstrengend, kann ich dir sagen. Und der Gestank erst… ich glaube, der isst nichts als rohen Fisch, und nicht unbedingt den frischesten. Aber am schlimmsten ist das ständige Gesabber. Andauernd läuft dem so ein komischer gelber Schleim aus dem Mundwinkel, das ist echt nicht auszuhalten. Ist auch kaum aus dem Bettzeug rauszukriegen. Und dann zwei Stunden am Stück, kannst du dir ja vorstellen wie das ist.“
    „Hmm“, machte Peck. „Musstest du mir das jetzt erzählen? Ich mein, ich hab nur ’ne Viertelstunde gebucht, und nach der Geschichte...“
    „Tschuldige“, sagte Nadja. „Ich hab ja hier keinen zum Reden. Das musste einfach mal raus, das mit dem Jack.“
    „Schon okay“, sagte Peck.
    „Also, wo waren wir, Süßer?“ Nadja sprach jetzt wieder mit ihrer üblichen Säuselstimme, und Peck fand es fast ein bisschen schade. Mittlerweile ging ihm diese Stimme nämlich ziemlich auf den Sack, aber nicht auf die Art, wie sich das Nadja wahrscheinlich vorstellte.
    „Kannst du nicht mal was anderes machen?“, schlug Peck vor.
    „Was denn anderes machen?“ Nadja schien ein bisschen irritiert, knetete aber weiterhin beharrlich an seinen Weichteilen herum.
    „Naja, vielleicht… weiß auch nicht.“ Peck überlegte. Nadja war einfach ein bisschen langweilig geworden, das war das Problem. „Vielleicht mal eine Perücke tragen oder so?“
    „Eine Perücke? Wo soll ich denn eine Perücke herkriegen?“
    „Ja, keine Ahnung...“
    „Ja eben.“ Nadja schien fast ein wenig eingeschnappt. „Du kannst ja zu Vanja oder Sonja gehen, wenn du eine andere Frisur willst.“
    „Nee, zu denen will ich aber nicht.“
    Die anderen beiden Angestellten in der Laterne hatte er schon vor langer Zeit mal ausprobiert und für untauglich befunden. Vanja hatte einen faulen Zahn, der ihn anwiderte, und Sonjas Gesicht erinnerte ihn an das Portrait einer Harpyie, das er mal in Fernandos Haus gesehen hatte. Da war nichts zu machen, außer Nadja kam hier keine infrage. Und neue Mädels hatte sich Bromor schon seit Jahren nicht mehr angeschafft. Kein Wunder, es kam ja auch niemand auf die Insel, und ansässige Mädchen, die ins Laternenalter hätten kommen können, gab es schon mal gar nicht. Es gab nur die Drei, und die wurden nur noch älter und älter. Peck wollte lieber gar nicht daran denken, wie sich das alles noch entwickeln würde, wenn es immer so weiter ging wie jetzt.
    „Vielleicht kannst du dir wenigstens… einen Zopf machen oder so?“
    „Puh“, seufzte Nadja. „Muss das sein?“
    „Nee, wenn du nicht willst, dann...“
    „Wir machen das einfach so wie immer, was meinst du, Süßer?“
    „Hmm. Ja, okay. Dann eben so wie immer.“
    Aber gerade als alles seinen gewohnten, langweiligen Weg zu gehen schien, klopfte es an der Tür.
    „Peck?“, sagte eine allzu bekannte Männerstimme auf dem Flur. „Tut mir leid, wenn ich störe, aber wir haben hier einen Einsatz.“
    „Fünf Minuten!“, brüllte Peck durch die Tür.
    „Nein, Peck, das geht nicht“, erwiderte sein Kollege Rangar. „Es geht um einen Brand. Wulfgar will alle Männer da haben.“
    „Ach, Scheiße.“ Peck schob Nadjas Hand zur Seite, schloss die Hosenöffnung wieder und stieg aus dem Bett.
    „Schade, Süßer“, sagte Nadja. „Gerade wo wir so richtig in Stimmung waren.“
    „Ja, ja“, knurrte Peck und stieß die Tür so kräftig auf, dass Rangar fast von ihr erschlagen worden wäre.
    „Oh, na das ging ja schnell. Lässt die Rüstung immer an, wie?“
    „Das geht dich’n Scheiß an“, sagte Peck, während sie gemeinsam die Treppe hinunter gingen. „Wo brennt’s denn genau?“
    Peck wechselte einen ausdruckslosen Blick mit Bromor und trat am Türsteher vorbei ins Freie.
    „Bei Alwin, dem Schafzüchter“, berichtete Rangar. „So schlimm ist es aber gar nicht, unter uns gesagt. Ich glaube, wir stehen uns da gleich nur die Beine in den Bauch.“
    „Soll das’n Witz sein? Wieso hast du das nicht gleich gesagt?“
    „Dann wärst du ja nicht mitgekommen.“ Rangar machte ein unschuldiges Gesicht. „Und dann hätten wir beide Ärger mit Wulfgar bekommen.“
    „Du bist echt’n Pisser“, stellte Peck fest und gab dem Kollegen im Laufen einen Tritt gegen das Schienbein.
    „Sei mir mal lieber dankbar. Wenn dich Wulfgar rausschmeißt, war’s das auch mit den Laternenbesuchen. Ohne Zaster keine Nadja, das ist ja mal klar.“
    Peck lachte auf. „Als ob der irgendwen rausschmeißen würde. Der ist doch froh, dass er überhaupt noch ein paar Leute in der Truppe hat, jetzt wo die Paladine weg sind. Ersatz kriegt der ja auch nicht, der muss nehmen was er hat.“
    „Still jetzt“, zischte Rangar. „Sonst hört er uns noch.“
    Um Alwins Hütte war ein Trüppchen Stadtwachen versammelt, fast die gesamte Kompanie. Verbrannte Luft stieg Peck in die Nase, aber von einem Feuer war nichts zu sehen.
    „Wo wart ihr so lange?“, begrüßte sie Wulfgar. „Wir sind hier schon so gut wie fertig.“
    „Was ist denn überhaupt passiert?“, erkundigte sich Peck, weniger aus Interesse als in der Hoffnung, damit die Frage nach seinem Verbleiben in Vergessenheit geraten zu lassen. „Ist Alwin jetzt auf Feuerwarane umgestiegen oder was?“
    Wulfgar machte ein ärgerliches Gesicht. „Was meinst du, was wir gerade versuchen herauszufinden, Rekrut? Wir waren bisher damit beschäftigt, das Feuer zu löschen, und wie du siehst, waren wir erfolgreich. Der Großteil der Hütte steht noch, also können wir jetzt mit der Spurensuche beginnen.“
    Peck machte ein paar Schritte auf die schwarze Ruine zu, die einmal Alwins Hütte gewesen war. Zumindest eine gute Hälfte davon stand noch, und auch die Molerats im Gehege dahinter waren ganz offensichtlich mit dem Schrecken davon gekommen.
    „Gut, dass ihr so schnell vor Ort wart“, sagte Peck. „Scheint ja alles nochmal glatt gelaufen zu sein.“
    Wulfgar schnappte nach Luft, aber bevor er zu einer Erwiderung ansetzen konnte, bekam er plötzlich einen Stoß in die Seite. Bevor Peck begriffen hatte, was geschah, wurde auch er von einem stämmigen Körper umgeschubst, der schnaufend und fluchend zwischen ihnen aufgetaucht war.
    „Was macht ihr Scheißmilizen hier auf meinem Gelände?“
    Ächzend rappelte sich Peck wieder auf. „Alwin?“
    „Ja, verdammt, wer’n sonst?“
    Als sich der Moleratzüchter zu den Stadtwächtern umdrehte, bekam Peck einen kleinen Schrecken. Das schummerige Mondlicht verschluckte zwar die Details, aber wahrscheinlich war das auch besser so: Alwins Gesicht sah aus wie durchgekaut und wieder ausgerotzt, und seinen Klamotten war es nicht viel besser ergangen.
    „Junge“, entfuhr es Rangar. „Du warst wohl hier, als es gebrannt hat, was?“
    „Ja, verdammt! Was denkt ihr denn?“
    Wulfgar räusperte sich und ging auf den aufgebrachten Schlachter zu, die Hand am Griff seines Schwertes. „Dann kannst du uns sicher erklären, was hier vorgefallen ist.“
    „Dieses Scheißvieh hat meine Bude abgefackelt, das ist hier vorgefallen!“, brüllte Alwin und stieß Wulfgar von sich, der prompt seine Klinge zog. Das halbe Dutzend Stadtwachen um ihn herum tat es ihm gleich – mit Ausnahme von Peck, dem gerade auffiel, dass sein Schwert gar nicht am Gürtel hing. Er musste es bei Nadja liegen gelassen haben. Sie hatte was dagegen, dass er es mit ins Bett nahm, also legte er es immer auf dem Nachttisch ab. Er konnte nur hoffen, dass es Wulfgar nicht auffallen würde.
    „Ihr könnt eure Schwerter stecken lassen.“ Alwin drehte sich von den Milizen weg und stapfte durch die Asche der niedergebrannten Hüttenhälfte. „Ich bin nicht wegen euch hier.“
    Peck beobachtete, wie sich der Schlachter nach etwas bückte, das er selbst in der Dunkelheit nicht richtig ausmachen konnte. Als er sich wieder aufrichtete, hatte er ein großes Beil in der Hand.
    „Waffe fallen lassen, Bürger!“, forderte Wulfgar mit schneidender Stimme. „Auf der Stelle!“
    „Vergiss es“, knurrte Alwin und stapfte auf die Milizen zu. „Das Drecksmolerat, das mich so zugerichtet hat, das läuft immer noch irgendwo rum. Wenn ihr es gesehen habt, dann sagt es besser jetzt gleich. Ansonsten labert mich nicht zu wie dieser beschissene Wanzenpenner. Und vor allem, steht mir nicht im verdammten Weg rum!“
    „Also, ich habe nichts gesehen“, meldete sich Ruga zu Wort. „Außer die Molerats im Gehege natürlich.“
    „Die sind mir scheißegal!“, polterte Alwin. „Aber dieses eine Molerat, das mach ich platt. Zehn Würste werd ich rauspressen aus dem Drecksvieh, zehn dicke Würste. Bevor die Sonne aufgeht!“
    Mit plötzlicher, energischer Wucht riss Alwin das Beil empor. Wulfgar, Rangar und Wambo wichen erschrocken zur Seite und ließen Alwin passieren.
    „Lassen wir ihn jetzt, äh, einfach so gehen?“, fragte Ruga nach ein paar Sekunden betretener Stille kleinlaut.
    Peck wechselte einen vielsagenden Blick mit Rangar. Sie waren schon eine echte Gurkentruppe, keine Frage, aber das war ihm immer noch lieber, als Alwins Beil in die Fresse zu kriegen. Wieso hatte Ruga unbedingt diese dämliche Frage stellen müssen?
    „Schnauze, Rekrut“, war Wulfgars Antwort an Ruga. „Du und Rangar, ihr räumt jetzt hier auf, und dann ist Feierabend. Peck, du gehst Alwin nach und schließt ihn in der Kaserne ein. Klar?“
    „Ich… was?“
    „Du hast mich gehört, Peck“, knurrte Wulfgar. „Zeig mir, dass du diese Rüstung nicht ohne Grund trägst.“
    Natürlich trug er sie nicht ohne Grund, dachte Peck verzweifelt. Er bekam ja schließlich Gold dafür. Aber das war bestimmt nicht das, was Wulfgar gemeint hatte.
    „Na… natürlich, Hauptmann“, stammelte er. „Ich… mach mich gleich auf den Weg.“

    „Dasssss issssst dassss letzzzzte Mal, dassss du meine Pläne durchkreuzzzt, Menschling!“
    Kleine gelbe Augen blitzten bedrohlich in der grässlichen Fratze des Echsenmenschen auf, als das Ungetüm drohend seinen Säbel hob. Das schwarze Eisen der in heißer Vulkanasche geschmiedeten Todesklinge war von winzigen, rot glühenden Rissen durchzogen. „Dasssss Gleichgewicht musssss ausssssgelöscht werden!“
    „Ich kann das unmöglich zulassen.“ Er krempelte die Ärmel hoch, machte einen Schritt nach vorn und reckte dem Ungetüm die geballte Faust entgegen. „Du hast die Rechnung ohne den Ring des Wassers gemacht!“
    „Ring des Wasssssers…?“, schnaufte der Echsenmensch, als der Ring am Finger seines Erzfeindes blau aufblitzte. „Wasssss… Wassss hat das zu bedeuten?“
    Aquamarinfarbener Rauch stieg auf, und im nächsten Augenblick fuhr zischend ein Funken sprühender Blitz vom Himmel, direkt in den Stein des Ringes hinein. Der erhabene Gesang uralter Wassermagier stieg aus den Tiefen ferner Meere zu ihnen empor und übertönte sogar das Dröhnen des ausbrechenden Vulkans, auf dessen Kraterrand sie standen.
    „Spüre die Macht Adanos’, Scherge des Bösen!“
    Nein! Dasssss ist nicht möglich! Dassss… dasss kann ja wohl nicht wahr sein! Einfach eingeschlafen hier, während deine Gäste auf dem Trockenen sitzen!“
    „Hrmmm…?“
    Das eindrucksvolle Bild des unter der Macht von Blitzen und Geysiren zerplatzenden Echsenmenschen löste sich jäh in Luft auf, als irgendwer wiederholt mit dem Finger in Orlans Wange piekste.
    „Jetzt komm mal wieder zu dir, Orlan. Das ist ja peinlich. Was soll denn unser Gast denken, hä? Der glaubt nachher noch, das läuft hier immer so, und dann siehst du den nie wieder.“
    Stöhnend rieb sich Orlan die letzten Reste des Traumes aus den Augen. Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, wo er war, aber dann war alles ziemlich schnell klar: Er war da, wo er immer war. In seiner Taverne.
    „Mensch Rukhar, du musst mir doch nicht gleich so im Gesicht rumbohren“, murmelte der Wirt und zwinkerte solange, bis er wieder klar sehen konnte. „Ich hab nur mal kurz die Augen zugemacht.“
    Rukhar grinste sein blödes Rukhar-Grinsen. „Erzähl mir nix. Du warst total weggedämmert. Hast sogar irgendwas vor dich hingebrabbelt, von Adanos oder so.“
    Orlan räusperte sich verlegen. „So ein Unsinn.“
    „Ist kein Unsinn.“
    Rukhar drehte sich zum einzigen besetzten Tisch im Raum um, an dem jemand Platz genommen hatte, der vor Orlans Kampf mit dem Echsenmenschen ganz sicher noch nicht dort gewesen war. Es war ein glatzköpfiger Kerl mit der braunen Haut eines Einwohners der südlichen Inseln.
    „Du hast es auch gehört, oder?“
    Der Angesprochene zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht so genau.“
    „Ist doch auch nicht so wichtig“, brummte Orlan. Er wagte einen kurzen verstohlenen Blick auf den Aquamarinring an seinem rechten Zeigefinger und stellte sich der erwarteten Enttäuschung. Natürlich war der Stein genauso matt wie immer, da leuchtete gar nichts und von Blitzen und Rauch war auch keine Spur. Als ihn Vatras damals in den geheimnisvollen Ring des Wassers aufgenommen hatte, da war Orlan überzeugt davon gewesen, in eine völlig neue Welt der Magie und Abenteuer einzutreten – und das, wie ihm Vatras versichert hatte, ganz ohne seine Arbeit als Tavernenwirt aufgeben und sich auf tatsächliche Abenteuer einlassen zu müssen. Damit hatte Vatras auch recht behalten, aber seit die Bedrohung durch die rätselhaften Suchenden und die Drachen im Minental abgewendet worden war, hatte es auch mit jeglicher Aufregung rund um die Wahrung des Gleichgewichts ein Ende genommen. Den alten Wassermagier hatte er schon seit Ewigkeiten nicht mehr zu Gesicht bekommen, und das letzte Treffen der übrigen Geheimbundmitglieder in seiner Taverne war auch schon wieder ein paar Monate her. Damals hatten Gaan und Cavalorn den ganzen Abend über die Zubereitung von Scavengerkeulen debattiert.
    „Also, was ist jetzt mit dem Bier?“, erinnerte ihn Rukhar. „Abuyin ist den ganzen Weg von der Stadt hierher gekommen, der braucht was zu trinken.“
    Der fremde Gast saß direkt neben einer brennenden Lampe, und Orlan musste seine müden Augen zusammenkneifen, um sein Gesicht richtig zu erkennen.
    „Stimmt das?“, sagte er mit etwas lauterer Stimme. „Bist du dieser Wahrsager Abuyin?“
    Der Angesprochene nickte. „Der bin ich tatsächlich. Wie ich sehe, hast du schon von mir gehört.“
    „Klar hab ich das.“ Orlans Neugier war jetzt ein bisschen geweckt. Man erzählte sich ja so einiges über den Hellseher aus dem Süden. „Kannst du wirklich schweben?“
    „Ja“, sagte Abuyin. „Aber wenn ich ehrlich bin, hätte ich jetzt lieber ein Bier.“
    „Ach, ja, natürlich“, sagte Orlan und machte sich daran, ein frisches Bier aus dem Fass abzuzapfen. Ganz in Gedanken versunken dauerte es eine Weile, bis er bemerkte, dass überhaupt kein Bier in den Humpen floss. Nur ein paar Tropfen waren aus dem Zapfhahn gekommen.
    „Was ist denn da los?“, erkannte nun auch Rukhar das Problem. „Bier alle oder was?“
    „Entweder das, oder da ist irgendwas verstopft“, sagte Orlan. „Ich hab übrigens auch Wein aus dem Kloster hier. Ganz frisch, heute Mittag erst reingekriegt. Oder gestern Mittag, ist ja sicher schon nach Mitternacht.“
    „Solange wir noch nicht geschlafen haben, ist es auch noch kein neuer Tag, oder?“, erwiderte Rukhar.
    Orlan brummte zustimmend. „Da sagst du was. Mir schmeckt dieser Klosterwein jedenfalls sehr gut. Ich find den richtig lecker. Da habe ich noch einiges von auf Lager.“
    „Ah“, machte Abuyin. „Gut zu wissen.“
    „Also, willst du welchen?“
    Abuyin guckte ihn verständnislos an. „Ich habe doch schon ein Bier bestellt. Eins nach dem anderen.“
    „Ja, ähm“, druckste Orlan. „Ich meinte jetzt nur, weil das mit dem Bier gerade ein bisschen schwierig ist. Ob du dann auch einen Wein nehmen würdest.“
    „Achso.“ Abuyin zuckte wieder mit den Schultern. „Na gut. Ich nehme dann einen Wein.“
    „Das ist eine gute Wahl“, kommentierte Orlan zufrieden, nahm sich eine Flasche Wein und stapfte auf noch etwas wackeligen Beinen durch den Schankraum.
    „Lange kommst du damit aber nicht durch“, gab Rukhar zu bedenken, der ihm hinterher trottete. „Eine Taverne ohne Bier, sowas geht ja nicht.“
    Orlan zog mit geübter Hand den Korken aus der Flasche und stellte sie vor Abuyin auf den Tisch.
    „Das geht schon. Auf Onars Hof haben sie grundsätzlich kein Bier in ihrer Taverne, und nicht mal Wein oder sonstwas Alkoholisches. Da gibt’s nur Eintopf und das war’s.“
    „Das ist ja auch keine richtige Taverne.“
    „Nennen die aber so. Kannst du jeden Söldner fragen.“
    „Ach, die“, sagte Rukhar abfällig. „Die fragt man besser gar nix.“
    „Das sagst du nur, weil die zu schlau sind, um auf deine Trinkspiele reinzufallen“, stichelte Orlan und setzte sich, da er zu träge war, um zur Theke zurückzugehen, auf einen der freien Stühle am Nachbartisch. „Aber jetzt sag mal, Abuyin, was bringt dich denn überhaupt hier in die Tote Harpyie? Und das auch noch um diese Zeit?“
    Der Wahrsager hatte seine Flasche noch nicht angerührt. Orlan hoffte, dass er nicht auf ein Glas wartete. Er hielt es für gut möglich, dass Abuyin sowas aus dieser piekfeinen Schnöseltaverne am Galgenplatz gewohnt war. Aber hier in der Toten Harypie, da wurde noch vernünftig aus der Flasche getrunken, so wie sich das gehörte.
    „Das ist schwer zu beschreiben“, sagte Abuyin mit einem Seufzer. „Habt ihr vielleicht irgendwas… Seltsames bemerkt in letzter Zeit?“
    Orlan überlegte, und Rukhar kam ihm mit der Antwort zuvor.
    „Nö. Hier ist alles so wie immer, oder, Orlan?“
    „Ja. Nichts los. Dass du hier bist, ist eigentlich schon das Spannendste, was in letzter Zeit passiert ist.“
    Von dem Traum eben mal abgesehen, dachte Orlan, aber behielt den Gedanken für sich. Leider hatte er die Hälfte davon schon wieder vergessen, wie ihm nun bewusst wurde. Das erschrockene Gesicht des Echsenmenschen, als er ihn mit der Macht Adanos’ konfrontiert hatte, das hatte er schon gar nicht mehr richtig vor Augen.
    „Hm, okay,“, sagte Abuyin. „Wie viel?“
    „Wie viel was?“
    „Wie viel muss ich bezahlen? Für die Information, meine ich.“
    Orlan runzelte die Stirn. „Gar nichts natürlich. Reden ist umsonst bei mir. Und wer würde denn schon für so eine nutzlose Information Gold rausrücken?“
    „Naja.“ Abuyin nahm nun doch die Flasche in die Hand und kippte sich einen ordentlichen Schluck die Kehle runter. „Man weiß ja nie.“
    „Und das war alles?“, wunderte sich Rukhar. „Wegen der Frage bist du jetzt mitten in der Nacht von der Stadt aus hierher gekommen?“
    Der Wahrsager kam nicht zu einer Antwort, denn im gleichen Moment war von draußen lautes, panisches Gebrüll zu hören. Mit einem Knall platzte die Tür auf und ein Mann in Stadtwächteruniform preschte herein, dicht gefolgt von einem wütend kläffenden Wolf. Orlan und Rukhar sprangen auf, zückten ihre Schwerter und hatten das Tier im nächsten Moment mit ihren beiden Klingen durchbohrt. Leise jaulend kippte der Wolf gegen einen Tisch, auf dem klirrend ein paar Teller verrutschten. Der Milizsoldat hatte sich hinter die Theke geflüchtet und kam nun, da die Gefahr gebannt war, schwer atmend wieder zum Vorschein.
    „Was war das denn für ’ne peinliche Vorstellung?“, sagte Rukhar spöttisch grinsend, während er einen von Orlans herumliegenden Putzlappen aufhob, um damit das Blut von seiner Klinge zu wischen. „Seid ihr Milizen jetzt echt schon mit ’nem lausigen Wolf überfordert oder was?“
    Unter heftigem Schnaufen ließ sich der Neuankömmling neben Orlan auf einen Stuhl sinken und wischte sich den Schweiß von der glänzenden Stirn.
    „Ich… hab mein Schwert nicht…“ Das letzte Wort ging in einem plötzlichen Hustenanfall unter. „Ist… ist ’ne lange Geschichte...“
    „So’n Wolf würde unsereins auch noch mit bloßen Händen kaputt geboxt kriegen, oder, Orlan?“ Rukhar beugte sich zum toten Wolf hinunter und verpasste dem Tier einen kräftigen Schlag gegen den schlaff herunterhängenden Unterkiefer.
    „Weiß nicht“, brummte Orlan und wandte sich dem Stadtwächter zu. „Was machst du denn ohne Schwert hier draußen? Mitten in der Nacht? Ganz schön gefährlich, Rüstung hin oder her.“
    „Ja, das… das weiß ich jetzt auch“, keuchte der Mann. „Ich sollte so einen… so einen Typen verfolgen. Den Schafzüchter Alwin.“
    „Moleratzüchter“, korrigierte Rukhar. „Der züchtet doch jetzt Molerats. Keine Schafe mehr.“
    „Der ist… einfach aus der Stadt gegangen“, fuhr der Milizionär unbeirrt fort. „Wollte erst gar nicht hinterhergehen, weil ich ja eben mein Schwert nicht dabei hatte, aber… ja, mein Hauptmann ist sowieso schon echt sickig wegen… so Sachen… und, da dachte ich: Du ziehst das jetzt durch, Peck. Wie’n Mann.“
    „Gute Einstellung“, lobte Rukhar. „Aber an das Schwert hättest du eben denken sollen.“
    „Ja, ja. Jedenfalls… der Typ, also der Alwin, der läuft so ziellos durch die Gegend, und ich bin am Überlegen, wie ich ihn am besten anspreche, weil ich ihn eigentlich ja festnehmen soll. Aber dann kommt der oben am Friedhof vorbei. Ihr wisst schon, bei der Brücke, nicht weit weg von hier.“
    Rukhar zog die Augenbrauen hoch. „Das ist ein übler Ort. Zombies, sag ich nur!“
    „Da würd ich auch nicht nachts hinwollen“, stimmte ihm Orlan zu. „Ein paar von Rukhars Trinkspielopfern torkeln da immer noch rum.“
    „Von Zombies hab ich nichts gesehen“, berichtete Peck weiter. „Aber ich habe auch bloß aus sicherer Entfernung zugeguckt, wie Alwin da so zwischen den Grabsteinen nach seinem Molerat gesucht hat.“
    „Alwin sucht nach einem Molerat?“, ging Rukhar dazwischen. „Wieso das denn?“
    „Eines seiner Tiere hat ihn gebissen und einen Brand in seiner Hütte verursacht“, erläuterte Abuyin. „Er ist mir vorhin schon einmal begegnet. Ich glaube, er ist nicht ganz klar bei Verstand.“
    „Das glaub ich aber auch. Man geht doch nicht auf den Friedhof, wenn man nach’m Molerat sucht.“
    „Also, jedenfalls – ich bin grade am Überlegen, wie ich ihn am besten überwältige – da gibt es ja so verschiedene Griffe, die wir Stadtwächter drauf haben –, und da höre ich so ein verdammt unheimliches Geräusch. Ich bin echt kein Schisser, das könnt ihr mir glauben. Aber dieser Schrei… wie von einem… einem untoten Scavenger oder so! Und dann kommt was Großes vom Himmel geflogen, und setzt sich genau zwischen die Gräber.“
    „Eine Harpyie?“ Orlan bekam ein mulmiges Gefühl bei dem Gedanken, dass es womöglich lebende Harpyien in der Gegend gab. Man konnte ja nicht wissen, wie so einer Harpyie die Inneneinrichtung seiner Taverne gefallen würde, sollte sie die mal zu Gesicht bekommen.
    „Größer“, sagte Peck aber gleich. „Viel größer. Mehr so wie’n Drache.“
    „Hast du denn mal einen Drachen gesehen?“
    „Nicht direkt, aber… okay, es war ein verdammt großes Vieh, ja? Ich hab natürlich die Beine in die Hand genommen und bin abgehauen. Alwin ist jetzt eh im Bauch von diesem Biest, also festnehmen kann ich den ganz bestimmt nicht mehr. Ja, und als ich dann so weggerannt bin...“
    „Da bist du über einen Wolf gestolpert?“, vermutete Orlan.
    „Genau. Danke, dass ihr mir den Arsch gerettet habt.“ Peck erhob sich, um Rukhar und ihm mehrmals auf die Schulter zu klopfen. „Ihr habt was gut bei mir. Bei der ganzen Stadtwache habt ihr einen gut. Das vergisst euch so schnell keiner!“
    „Heißt das, ich darf in Khorinis jetzt einen umbringen, ohne im Knast zu landen?“, erkundigte sich Rukhar blöd grinsend.
    „Nee, das jetzt nicht unbedingt, aber...“
    „Aber beklauen zumindest?“
    „Ich geb euch ein Bier aus, okay?“, schlug Peck vor.
    „Tja“, sagte Orlan. „Mit dem Bier ist das gerade so eine Sache...“

    Als sich die Krallen der Krähe aus den schmerzenden Löchern in ihrem Rücken zurückzogen, hatte Minkai das Gefühl, dass eine lange Zeit vergangen war. Immer wieder hatte sie während des Flugs gefürchtet, der Kreidestein würde ihr aus dem Maul fallen und für immer verloren sein – dann hätte sie ihre Tante nur schweigend anstarren können, vielleicht nie die Möglichkeit gehabt, ihr die Botschaft des Vaters zu überbringen. Und am schlimmsten vielleicht: Dann wäre sie womöglich für immer ein Molerat geblieben. Die Krähe schien zwar Vieles zu wissen, aber Minkai wollte sich nicht darauf verlassen, dass sie ihr im Gespräch mit der Tante helfen würde. Sie brauchte diesen Stein, und sie hatte so fest zugebissen wie ein Molerat zubeißen konnte.
    Bei der Landung aber war ihr das Kreidestück letztlich doch entglitten, und während sich die Krähe über ihr wieder in die Lüfte schwang, suchte sie mit Beinen und Maul den Boden danach ab. Sie konnte nicht sagen, wo die Krähe sie abgesetzt hatte – auf einem Berg, in einem Tal, vielleicht sogar in einer Höhle. Alles was sie sah, war die große Nachtschwärze über ihrem Kopf und der feine, weiße Staub zu ihren Füßen. Daran änderte sich auch nichts, als sie sich um die eigene Achse drehte: Rund um sie herum nur weißer Staub. Sie wühlte mit der rechten Pfote darin herum, und eine Staubwolke stieg auf, die sie husten ließ. Es war kein fester Boden zu erfühlen. Dann aber stieß sie doch auf etwas und stellte erleichtert fest, dass es der Kreidestein war. Rasch packte sie ihn wieder mit den Zähnen und genoss das beruhigende Gefühl in ihrem Maul. Sie hatte immer noch ihren Stein, und sie hatte immer noch ihren Verstand. Zumindest hoffte sie das.
    Nach einigen Momenten des Durchschnaufens wandte sie den Blick wieder nach oben, in das weite Schwarz hinein. Ihren Augen wollte sie nicht vertrauen, aber auch zu hören war nichts mehr von der Krähe. Sie hatte sie wortlos hier abgesetzt und war verschwunden.
    Gut, dachte Minkai, entschlossen nicht den Mut zu verlieren. Du bist auf dem Mond. Das ist unerwartet, aber damit wirst du fertig. Du wirst mit allem fertig.
    Sie bemerkte, dass der Boden eine neue Farbe dazu gewonnen hatte. Ein roter Fleck hatte sich im Staub ausgebreitet. Schuld war ein kleines Rinnsal, das von ihrem Rücken zu ihrer linken Seite herabtröpfelte. Die Wunden an ihrem Rücken mussten tiefer sein, als sie angenommen hatte.
    „Minkai, bist du es?“
    Sie zuckte zusammen, als sie die Stimme hörte. Es war eine Frauenstimme, und sie hatte sie nie zuvor gehört.
    „Ich bin hier drüben.“
    Sie drehte den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Es war zunächst nichts zu sehen, aber als sie ein paar tapsige Schritte durch den weißen Staub gemacht hatte, da sah sie den grauen Umriss eines Menschen vor sich.
    „Dass sie ausgerechnet dich schicken mussten. Ich hätte es mir denken können. Sieh dich nur an, Minkai. Ein Stück blutiges Fleisch.“
    Sie war nun beinahe direkt vor der Frau angekommen, konnte aber noch immer kaum eine klare Kontur ausmachen. Nur Augen glaubte sie zu sehen, zwei kleine schwarze Flecken in der grauen Silhouette, die auf sie gerichtet waren. Minkai senkte den Kopf und malte mit dem Stein drei geschwungene und eine kreuzende Linie in den Staub.
    „Natürlich“, sagte die Frau. „Ich bin deine Tante, Minkai. Nicht zu glauben, dass du mich hier gefunden hast.“
    Ein schepperndes Lachen war zu hören, und der Umriss veränderte seine Form. Vielleicht hatte sie eine Hand gehoben, überlegte Minkai.
    „Nach allem was ich unternommen habe, um meine Ruhe vor euch zu haben… und jetzt, da du hier bist, ist es mir ganz gleichgültig. Als ob es jetzt noch eine Rolle spielt. Ach, schau mich nicht so an, Minkai, da kriege ich ja fast ein schlechtes Gewissen.“
    Sie wusste nicht, was sie darauf sagen sollte, verharrte mit dem Stein im Maul.
    „Ich wusste, dass ihr mir nachkommen würdet. Man kann nicht aus der Familie gehen, nicht einfach so. Das Meer zu versperren, das war nicht schwierig, aber ich wusste auch, das würde nicht genügen. Jeder Mensch, der auf der Insel geboren würde, in jedem hätte einer von euch stecken können. Also durfte kein Mensch mehr geboren werden. Ich habe eine ganze Insel herausgenommen aus der Welt, Minkai, nur damit ihr mir nicht nachkommt. Aber die Tiere, die habe ich nicht für wichtig genug genommen. Und jetzt hast du mich doch gefunden, als Tier. Sogar an diesem Ort, so weit weg von allem.“
    Minkai verstand kaum etwas von dem, was sie gesagt hatte. War ihre Tante etwa schuld daran, dass ihre Wiedergeburt als Mensch gescheitert war?
    „Es tut mir leid, dass es ausgerechnet dich erwischt hat, Minkai. Dein Vater war zu schlau, um selbst zu kommen, und jetzt hast du darunter zu leiden. Das war dein Pech, aber nur ein kleines Pech. Das große Pech war es, in diese Familie geboren zu werden. Unser beider Pech.“
    Minkai wollte von all dem nichts hören. Was ihre Tante sagte, machte ihr Angst, aber es war auch nicht das Wichtigste. Wovon sie hören wollte, das war von einem Weg, wieder sie selbst zu werden. Oder wenigstens kein Molerat zu bleiben. Erneut senkte sie den Kopf und malte mit dem Stein das Symbol für „Hilfe“ in den weißen Staub.
    „Ich soll dir helfen?“, erkannte ihre Tante mitleidig. „Ach Minkai, weißt du denn nicht wo wir sind?“
    Zwei lange Arme kamen aus der Dunkelheit, zwei Hände mit knochigen Fingern packen Minkai und hoben sie heran zum Gesicht der Tante, so nah bis es selbst die dumpfen Molerataugen sehen konnten. Es war ein weißer, starrer Schädel mit zwei tiefen, leeren Augenlöchern.
    Von einem plötzlichen Schrecken gepackt begann Minkai zu zappeln, brachte die Knochenfinger zum Splittern, bis sie dem Halt der toten Hände entglitt und auf den großen Brustkorb stürzte, der krachend brach. Im Fallen kratzte schmerzhaft eine Rippe über ihren Hinterkopf, aber Minkai bemerkte es kaum, befreite sich panisch aus dem gebrochenen Knochenkäfig und krabbelte zurück, über Knochenbeine und Knochenfüße, bis sie wieder weißen Staub unter den Füßen hatte.
    Die Tante regte sich nicht. Die Stimme schwieg.
    Dann ein Kreischen. Eine blitzende Axtklinge zischte unter einem pechschwarzen Schatten hinab. Knochen barsten. Minkai sah Krallen vor sich in der Luft, zwischen ihnen den hölzernen Stiel eines Beils. Immer wieder stieg die Krähe kreischend auf und ab, immer wieder knackten Knöchel und brachen Gebeine. Unter der Arbeit des Vogels schrumpften die Überreste der Tante dahin, bis sie sich als feiner Knochenstaub mit dem Mond vermischt hatten.
    Als sie geendet hatte, landete die Krähe vor Minkai im Staub, das Beil noch in den Krallen. Minkai schaute hoch, den Kopf voller wirrer Gedanken, aber ihre Sicht reichte nicht weit genug, um das Augengesicht der Krähe über ihr auszumachen.
    „Tante und Nichte wiedervereint“, krächzte das gewaltige Tier, „wenn auch nur für einen kurzen Moment. Leider nicht ganz das, was ich mir erhofft hatte. Oder bist du schlau geworden aus dem, was sie dir gesagt hat?“
    Minkai setzte zu einer Erwiderung mit dem Stein an, aber die Krähe wartete nicht einmal so lange, bis sie das Symbol begonnen hatte.
    „Nein, bist du nicht. Ah, ich hätte es wissen müssen. Aber das ist der Preis des Handels. Ein zusätzliches Auge in der Gegenwart, ein Auge weniger in der Zukunft. Manche Dinge muss auch ich abwarten, verstehst du?“ Die Krähe plusterte sich auf, und ein eisiger Windstrom erfasste Minkai. Es war kalt, erkannte sie plötzlich. Eine schreckliche Kälte herrschte an diesem Ort, wie sie Minkai noch nie zuvor gespürt hatte.
    „Nein, verstehst du nicht. Aber etwas anderes verstehst du jetzt vielleicht. Wieso ich deine Tante holen musste, vor vielen Menschenjahren schon. Sie hat eine ganze Insel dahinsterben lassen. Nein, Minkai, so etwas ist nicht in meinem Sinne. Ich blicke immer in die Zukunft, und in dieser Zukunft sehe ich nur Leere. Aber wo Leere ist, da ist kein Leben, und da ist auch kein Sterben. Da ist Nichts, ein ordentliches, ewiges Nichts. So etwas kann nicht in meinem Sinne sein, und in deinem doch auch nicht, oder, Minkai? Ich kenne dich ein bisschen. Leider hat dir deine Tante nicht verraten, wie wir es rückgängig machen können, also wird Khorinis aussterben müssen. Und du wirst aus deinem Moleratkörper, fürchte ich, nicht mehr herauskommen.“
    Diese letzten Worte der Krähe waren es, die in Minkais Kopf steckenblieben. Um diese Worte herum hatte sich eine große, lähmende Mattheit in ihr gebildet. Der verwundete, verkrüppelte Moleratkörper, in dem sie feststeckte, der sollte also ihr letzter sein. Ihre Tante hatte ihr nicht helfen können, vielleicht auch nicht wollen. Minkai wusste plötzlich: Sie war gescheitert, spätestens von dem Moment ihrer Wiedergeburt an. Sie hatte all ihre Hoffnungen auf eine Tote gesetzt.
    „Aber noch ist dein Platz nicht hier“, fuhr die Krähe fort. „Zeit, dich zurück nach Khorinis zu bringen. Ganz so wie versprochen.“
    Die Krähe öffnete ihre Krallen und ließ das Beil zu Boden fallen, wo es gleich vor Minkais Augen eine große Staubwolke aufwirbelte. Sie spürte den großen Schatten über sich, aber gerade als die Krallen in die Öffnungen an ihrem Rücken fahren wollten, da lichtete sich die Wolke und sie konnte zum ersten Mal einen klaren Blick auf das Beil erhaschen, das nun gleich vor ihrem Gesicht im weißen Knochenpuder lag.
    Alwin.
    Sie rollte sich zur Seite, gerade bevor die Krallen in sie hineinstoßen konnten, stürzte kopfüber und sah für einen Moment nichts als Weiß. Als sie sich freigekämpft hatte, kamen die beiden Krallen der Krähe vor ihr auf.
    „Ah, du hast es wiedererkannt?“ Es klang beinahe so, als ob sich die Krähe darüber freute. „Ein gutes Beil, ein sehr gutes Beil, geschärft durch tausend Tode. Für meine Arbeit kann es kein Besseres geben. Wieso ich es besitze, fragst du dich? Du weißt doch, ich kann einem guten Handel nicht widerstehen. Und wenn die Gegenleistung so einfach zu erbringen ist, dann muss es ein guter Handel sein.“
    Ein Frösteln glitt über Minkais geschundenen Rücken. Sie hatte es wissen müssen, dass der Krähe nicht zu trauen war.
    „Sei nicht ungerecht, Minkai“, krächzte die raue Stimme zu ihr herab, während die Krallen vor ihr scharrend Staub aufwirbelten. „Ich habe dich nie belogen, und ich bin auch jetzt sehr ehrlich zu dir. Schau dich doch an, sterben wirst du ohnehin. Aber wieso dich gleich hier lassen, wenn du noch jemandem nützen kannst? Ein Auge und ein Beil für mich, zehn dicke Würste für Alwin. Das ist besser als ein Leben ganz ohne Nutzen, findest du nicht?“
    Die Krähe würde sie zurückbringen, begriff Minkai. Zurück an den verhassten Ort ihrer Wiedergeburt, direkt in die Arme des Mannes, der sie gefangen gehalten und schon einmal versucht hatte sie umzubringen. Instinktiv wich sie zurück, schritt rückwärts durch den weißen Staub, bis die Krähenfüße begannen, ihr in lauerndem Schritt zu folgen. Sie wusste schon bei der allerersten Fußbewegung, dass es zwecklos war. Sie hatte keine Flügel, sie beherrschte keine Teleportmagie oder andere geheime Mittel, also saß sie hier fest. Und selbst wenn es einen Weg gab, auch ohne die Hilfe der Krähe zurück zu gelangen, wie sollte sie ihn jemals finden, wenn sie nicht einmal die Sterne am Himmel sehen konnte? Vor allem aber: Wie sollte sie der Krähe entkommen, hier in ihrem eigenen Hort?
    Ein schwacher Funken Hoffnung glimmte in ihr auf, als ihr mit einem Mal auffiel, dass die Krallen der Krähe außer Sichtweite geraten waren. Vielleicht gab es doch eine Möglichkeit, ihr zu entkommen. Vielleicht nahm sie die Verfolgung gar nicht auf, aus welchem Grund auch immer. Aber dann stieß Minkai mit dem Hinterteil gegen etwas Hartes, das sich genau in die schmerzende Wunde drückte, wo einmal der Schwanz gesessen hatte. Quiekend drehte sie sich um und sah die Krähenfüße direkt vor ihren Augen. Wie immer hatte sie ihr verkrüppelter Orientierungssinn hoffnungslos im Stich gelassen. Sie hatte noch ihren Verstand, ja, aber auch nicht mehr als das. Ihr Körper war nicht mehr zu gebrauchen, und damit war an Widerstand nicht zu denken. Nicht gegen dieses Ungetüm, nicht hier und jetzt.
    Vielleicht, war ihre letzte schwache Hoffnung, bevor die Krallen der Krähe die Löcher am Rücken erneut aufstießen, vielleicht würde sie sich ein zweites Mal gegen Alwin wehren können. Aber noch bevor sie diesen Gedanken ganz zuende gebracht hatte, da übermannte sie der Schmerz. Sie spürte noch den Windstoß der mächtigen Flügel über ihrem Kopf, bevor sie sich im Schwarz der Krähenfedern verlor.

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    „Drei Makrelen, fünf Seeteufel, eine Garnele… und dieser hier.“
    Erst als Amir den großen Fisch schon an der Flosse gepackt und aus der Holzkiste gezogen hatte, bemerkte er, dass der Fisch eine gelbliche, zähflüssige Masse ausgeschwitzt hatte, die den halben Kistenboden verklebte.
    „Das ist ein Dickbutt“, sagte Tarek und machte eine abwehrende Handbewegung. „Den kannst du behalten. Ich nehme die Garnele und die Seeteufel. Zwei Münzen pro Stück.“
    „Nicht so schnell. Das beste kommt erst noch.“ Amir legte den klebrigen Fisch wieder in der Kiste ab, wischte sich die Hand hastig am Holzrand ab und packte seinen größten Fang mit beiden Händen.
    „Ein Krake?“ Tarek zog die pelzigen Brauen hoch. „Wo hast du den denn her?“
    „Na, aus dem Meer, woher denn sonst?“
    Tatsächlich hatte er ihn angespült am Strand gefunden, aber das musste Tarek ja nicht wissen. Das Tier roch nicht mehr besonders frisch, da wollte er lieber keine unnötigen Zweifel an der Genießbarkeit aufkommen lassen – selbst wenn sich in Tareks Lagerhaus ohnehin nichts anderes riechen ließ als das bleischwer in allen Ritzen steckende Gemisch, das sich aus den Ausdünstungen aller erdenklichen Meerestiere zusammensetzte.
    „Fünfzig für alles zusammen“, schlug Amir vor. „Was sagst du?“
    Tarek beugte sich mit gekräuselter Nase tief über den Kraken. Es hätte nicht viel gefehlt, und seine strähnigen, schwarzen Haare hätten einen der schlaffen Tentakel berührt.
    „Lebt der noch?“
    „Ich… weiß nicht?“ Eigentlich war sich Amir ziemlich sicher, die Antwort zu kennen, aber er ahnte schon, worauf die Nachfrage des Fischhändlers hinauslaufen würde.
    „Kraken kann ich höchstens an die Residenz verkaufen, und da wollen sie nur lebende. Wenn der da aber noch zuckt, dann ist er wohl untot. Wie gesagt, ich nehme die Garnele und die Seeteufel.“
    Enttäuscht ließ Amir den Kraken wieder in die Kiste sinken. Natürlich zuckte da überhaupt nichts.
    „Für vierzehn Münzen?“
    „Zwölf.“ Tarek drückte ihm den Zeigefinger auf die Brust und fletschte die Zähne. „Verkauf mich nicht für dumm, Junge.“
    „Dafür war ich den ganzen Tag auf dem Meer. Das ist mehr wert als zwölf Münzen!“
    „Ist es nicht.“
    Der Händler drehte sich wieder zu dem großen Fass um, neben dem er stand, zog einen Aal heraus und machte sich daran, ihn in ein braunes Tuch einzupacken. Der Stoff sah so aus, als wäre er bereits um dutzende Aale gewickelt gewesen, fand Amir.
    „Tarek, bitte. Du weißt, dass Jamala im Augenblick nicht arbeiten kann. Und in ein oder zwei Wochen sind wir zu dritt, dann kommen wir mit zwölf Münzen am Tag erst recht nicht mehr hin.“
    „Klingt nach einem Problem, da hast du recht“, sagte Tarek, platzierte den eingewickelten Aal in einer schon gut gefüllten Kiste und holte das nächste Exemplar aus dem Fass. „Aber nicht nach meinem. Wenn du mehr Gold willst, dann fang mehr Fische. Jeder andere Händler auf der Insel würde dich auslachen, wenn du mit sowas ankommst. Auslachen und gleich wieder wegschicken.“
    Damit hatte Tarek natürlich recht. Aber zu den anderen Händlern hätte er auch mit dem besten Fang des Jahres kommen können, und sie hätten ihn wieder weggeschickt. Seit die Myrtaner in Sadouri herrschten, durfte nur noch Fischerei betreiben, wer eine Erlaubnis des Statthalters besaß. An die war aber nur gegen Gold zu kommen – Gold, das Amir nicht beschaffen konnte, wenn er nicht fischen durfte. Tarek ging bereits ein gewisses Risiko ein, ihm überhaupt etwas abzukaufen, also durfte er sich über die miesen Angebote eigentlich nicht beschweren. Das änderte allerdings wenig daran, dass er mit zwölf Münzen nicht einmal Jamala und ihren Bauch für einen Tag satt bekommen konnte, von sich selbst ganz zu schweigen. Und an die monatliche Abgabe von fünfzig Münzen, die er für ihre kleine Hütte an die Residenz zahlen musste, darüber wollte er am liebsten gar nicht denken. Nächste Woche war die nächste Zahlung fällig und er hatte noch nicht einmal die Summe für den letzten Monat vollständig aufgetrieben. Dazu kam jede Nacht die Gefahr, beim heimlichen Fischen in der Bucht von einer Patrouille der Garde gefasst zu werden. Lange konnte das nicht mehr gut gehen, so viel war Amir bewusst.
    „Du weißt genau, dass ich nicht so lange fischen kann wie die anderen“, verteidigte er sich. „Ich erwarte ja gar nicht, dass du mir das gleiche bezahlst wie denen. Nur so viel, dass wir überleben können.“
    Tarek warf einen flüchtigen Blick über die Schulter. „Du siehst ziemlich lebendig aus, wenn du mich fragst. Und von so einem Kraken wird eine kleine Familie bestimmt für ein paar Tage satt.“
    „Ich habe dir schon hundertmal gesagt, Jamala verträgt keinen Fisch.“
    „Ein Krake ist kein Fisch.“ Der Händler packte einen weiteren eingewickelten Aal in die Kiste und drehte sich wieder zu Amir um. „Pass auf, ich versteh schon, was du willst. Gold anhäufen, dir ein ordentliches Haus anschaffen, es zu was bringen hier. Ich sag‘s dir ganz klar: Das kannst du vergessen, wenn du so weiter machst wie bisher. Das bisschen heimliches Gefische, damit kommst du nirgendwo hin. Was du mir bringst, das kriege ich auch von allen anderen.“
    Frustriert ließ Amir die Schultern sinken. „Was anderes schwimmt halt nicht im Meer. Was soll ich denn machen?“
    „Ganz einfach, in die Minen gehen.“
    Amir schnaufte missbilligend aus. Das war es natürlich, was die Myrtaner mit all ihren Schikanen bezweckten. Wenn es nach ihnen gegangen wäre, dann hätte die ganze Insel Tag und Nacht nach Erz für sie geschürft. Was sie mit dem Erz wollten, darüber gab es eine Menge unterschiedlicher Meinungen. Die glaubwürdigsten Stimmen sprachen davon, dass das Reich mitten in den Vorbereitungen für einen Krieg gegen ein Volk von Wilden steckte, das gerade dabei war, sich vom Norden des großen Kontinents in die myrtanischen Lande hin auszubreiten. Amir hatte aber auch mit Seemännern zu tun gehabt, die ihm mit einiger Überzeugung davon berichtet hatten, dass in der Hauptstadt Vengard gerade an einer riesigen Statue des Königs Rhobar gebaut wurde, die über die Wolken hinaus bis zu den Göttern selbst reichen sollte. Es spielte aber auch überhaupt keine Rolle, wofür die Myrtaner das Erz wollten – Amir würde es ihnen ganz sicher nicht beschaffen. Er gehörte aufs Meer, oder zumindest unter die Sonne. Die Dunkelheit in der Tiefe war ihm nicht geheuer, nicht erst seit er beobachtet hatte, was sie mit einigen seiner alten Freunde angerichtet hatte, die sich an die Myrtaner verkauft hatten. Mit jeder Woche waren die Gesichter blasser, die Blicke starrer und die Worte spärlicher geworden. Die Tiefe hatte das Leben aus ihnen gesaugt, und so wollte Amir nicht enden.
    „Vielleicht wüsste ich da aber auch noch etwas anderes.“
    Amir hatte plötzlich das Gefühl, von den kleinen braunen Augen des Händlers intensiv gemustert zu werden.
    „Aber dafür bräuchtest du mehr Mumm in den Knochen als ich dir zutraue.“
    „Aha.“
    „Pass auf“, sagte Tarek. „Der alte Halid ist dir ein Begriff, ja?“
    Amir runzelte die Stirn. Worauf sollte das denn jetzt hinauslaufen?
    „Natürlich. Ich habe früher häufiger bei dem verkauft, bevor die...“
    „Schon klar“, unterbrach ihn Tarek ungeduldig. „Die Sache ist, Halid ist vor gut zwei Wochen mit allen seinen Leuten aufs Meer hinaus gefahren und seitdem nicht zurückgekehrt. Manche glauben, dass es ihn irgendwo da draußen erwischt hat, aber ich habe da etwas ganz anderes gehört.“
    „Und zwar?“ Amir wartete immer noch auf den Moment, an dem ich klar wurde, was das alles mit ihm zu tun hatte.
    „Dass sie bei der Bandar-Insel vor Anker gegangen sind und sich dort eingenistet haben. Vier, fünf Stunden südlich von hier. Ich weiß aus sicherer Quelle, dass sich Halid beim Statthalter die Besitzrechte für allen Fang und alle Funde im Umkreis der Insel beschafft hat.“
    „Ich kenne die Insel.“ Den Tag vor gut vier Jahren, an dem ihn ein unerwarteter Sturm weit aufs Meer hinaus getrieben hatte, der war ihm noch immer in guter Erinnerung. Auf der kleinen Insel hatte er den Sturm abgewartet und es mithilfe der Sterne in der Nacht zurück geschafft. Das war gewesen, noch bevor Jamala nach Sadouri gekommen war. Der Gedanke, dass sein Leben zuende hätte sein können, noch bevor er sie überhaupt kennengelernt hatte, ließ ihn jedes Mal erschaudern, wenn er daran zurückdachte. Besonders wohl war ihm daher nicht bei der Erwähnung dieses Names, selbst wenn ihm die Insel damals wohl das Leben gerettet hatte.
    „Sehr gut.“ Tarek schien zufrieden. „Ich brauche jemanden, der mal nachschaut, was Halid dort treibt. Wenn er seine ganze Truppe dorthin schickt und beim Statthalter ordentlich Gold lässt, dann muss es um irgendwas Großes gehen. Ein Schiffswrack, ein vergrabener Schatz… irgendwas, für das es sich lohnt, aus dem Fischhandel auszusteigen.“
    Na großartig, dachte Amir. Hatten ihn die Götter damals etwa auf eine Schatzinsel gespült, die er prompt wieder verlassen hatte? Hoffentlich war Halid bloß irgendwelchen exotischen Fischen auf der Spur.
    „Und warum interessierst du dich dafür?“, fragte er den Händler.
    „Kannst du dir das nicht denken?“, kam die prompte Gegenfrage. „Immer gut zu wissen, was die Konkurrenz treibt. Also, was sagst du?“
    Er konnte sich tatsächlich denken, was Tarek im Sinn hatte. Bestimmt nichts Legales, so viel stand fest. Aber wenn es der Fischhändler mit dem Gesetz immer so genau genommen hätte, dann wären sie vermutlich nie in die Situation gelangt, überhaupt das Gespräch miteinander zu führen.
    „Fünfhundert“, sagte Amir.
    „In Ordnung.“
    Amir gelang es mehr schlecht als recht, seine Verblüffung zu verbergen. Er hatte damit gerechnet, dass der Händler ihn herunterhandeln wollte, aber offenbar hatte er viel zu tief gestapelt. Trotzdem konnte er sich über sein schlechtes Verhandlungsgeschick nicht ärgern: Fünfhundert Münzen, davon konnte er für Monate hinweg das Zuhause seiner Familie sichern.
    „Da ist noch etwas“, sagte Tarek und rückte plötzlich so nah an ihn heran, dass es Amir ein wenig unangenehm wurde. „Wenn du geschnappt wirst und im Knast landest, dann werde ich zusehen, dass deine Jamala nicht verhungert. Wenn du allerdings meinen Namen fallen lässt…“
    Amir fühlte sich, als hätte ihn Tarek mit Gewalt unter Wasser gedrückt. Nur mit Mühe schaffte er es, eine Antwort hervorzupressen.
    „Ich lasse mich nicht schnappen.“

    Der beißende Gestank nach verbranntem Fleisch brachte Minkai zurück. Der Gestank, eine immense Hitze – und das drückende, klumpige Gefühl in ihrem Hals.
    Sie bekam keine Luft, begriff sie plötzlich. Irgendetwas steckte in ihrem Rachen. Panisch riss sie die Augen auf und starrte auf eine verwaschene Wand aus gleißenden Flammen. Sie drehte den Kopf, schüttelte ihn hastig hin und her, hustete und quiekte, aber überall nur Flammen – und das Ding in ihrem Hals war nicht herauszubekommen. Das rote Glühen begann noch undeutlicher zu werden, die Finsternis griff wieder nach ihr. Als sie schon kurz davor war, aufzugeben, da löste sich endlich etwas im Rachen, und nach einigem Husten und Krächzen fiel ihr das kleine Ding endlich aus dem Maul. Der Kreidestein, erkannte sie. Ein paar Mal atmete sie tief ein und aus, dann griff sie wieder mit den Zähnen danach. Sie wusste nicht, mit wem sie überhaupt noch reden wollte – wer ihr überhaupt noch helfen konnte, nachdem ihre Tante sie im Stich gelassen hatte. Aber wenn es sonst nichts gab, an dem sie sich festhalten wollte, dann wollte sie wenigstens nicht auch noch diesen Stein verlieren.
    „Die haben uns erwischt, Minkai.“
    Ein großer, schwarzer Schatten zeichnete sich vor ihr aus der lodernden Flammenwand ab. Hätte ihr nicht die krächzende Stimme verraten, dass es die Krähe war, die auf sie zugekrochen kam, sie hätte es nicht gewusst, bevor sie der Schnabel des Vogels fast am Kopf berührt hatte. Der Gestank nach Verbranntem war jetzt stärker als zuvor, und obwohl Minkai nicht einmal die vielen Augen im nahen Gesicht der Krähe genau erkennen konnte, war sie sich sicher, dass dieser Gestank von der Krähe selbst ausging.
    „Den Himmel hat sie nicht abgesperrt… deine Tante…“ Das Krächzen der Krähe klang anders als zuvor, gepresster. Minkai wusste nicht, ob die Krähe Schmerz fühlen konnte, aber ihre Stimme klang ganz danach.
    „Aber einen sicheren Ort hat sie uns hinterlassen…“
    Der Schnabel der Krähe öffnete sich, und ehe sich Minkai versah, hatte er sie gepackt und in die Höhe gerissen. Kurz fürchtete sie, der Vogel wollte sie womöglich lebendig verschlingen, aber er hielt sie bloß gepackt. Nun war es wieder dunkel um sie herum, und nur von der Seite dämmerte rotes Licht zu ihr herein. Minkai erzitterte, als sich das Tier in Bewegung setzte.

    „Das verstehe ich nicht“, sagte die kleine Ratte und rümpfte die Schnuppernase. „Wo sind sie denn nun auf einmal gelandet? Eben waren sie doch noch auf dem Mond.“
    „Ja ja.“ Die Rattenmutter rückte sich die Brille gerade und wippte auf dem Schaukelstuhl hin und her, während sie mit dem Finger auf der aufgeschlagenen Seite des dicken Wälzers herumsuchte. „Das gehört aber so.“
    „Natürlich gehört das so“, sagte der Rattenvater. „Deine Mutter überliest doch nichts, Kind. Deine Mutter hat schon Bücher vorgelesen, da warst du noch gar nicht auf der Welt. Hunderte deiner älteren Geschwister haben schon Bücher von ihr vorgelesen bekommen, da wussten wir alle noch gar nicht, dass es dich einmal geben würde. Sie haben alle artig zugehört, und deine Mutter hat nicht einmal etwas überlesen.“
    „Das stimmt“, bestätigte die Rattenmutter. „Ich überlese niemals etwas.“
    Die kleine Ratte schnüffelte an den Beinen der Mutter herum. Sie hatte die Spur eines großen Betrugs aufgenommen.
    „Was machst du denn bloß, Kind?“, rügte sie der Rattenvater. „Schnüffel nicht an den Beinen deiner Mutter herum. Das gehört sich nicht.“
    Aber die kleine Ratte hatte bereits die ganzen Beine hochgeschnüffelt und war bei den Armen der Mutter angelangt, die das große Buch hielten. Ehe die Mutter es zuschlagen konnte, hatte die kleine Ratte einen Blick erhaschen können.
    „Wusste ich es doch!“, rief sie aus. „Da fehlen ja ein paar Seiten! Man kann noch die abgerissenen Stellen sehen.“
    „Das ist ja unerhört“, sagte die Rattenmutter und klappte das Buch zu.
    „Einen solchen Vorwurf macht ein Kind nicht der eigenen Mutter“, sagte der Rattenvater. „Außer, es will bestraft werden.“
    Er kniff der kleinen Ratte mit den scharfen Krallen in den Schwanz, dass sie aufquieken musste.
    „Aber es stimmt doch! Guckt doch hinein in das Buch, da fehlen Seiten!“, beschwerte sie sich, nachdem der Schmerz vergangen war. „Ich denke mir sowas doch nicht aus. Was soll denn sowas!“
    „Du bist so undankbar“, sagte die Rattenmutter.
    „Du musst von einer anderen Rattenfamilie abstammen“, vermutete der Rattenvater. „Wir müssen dich vertauscht haben.“
    „Das muss es sein“, pflichtete ihm die Rattenmutter bei. „So viele Rattenkinder, da kann man schon einmal durcheinander kommen. Es spielt ja auch keine Rolle, normalerweise.“
    „Nein“, sagte der Vater. „Ein falsches Rattenkind dazwischen, das fällt nicht ins Gewicht. Außer bei dir.“
    „Du bist die Ausnahme“, sagte die Mutter.
    „Du bist schrecklich“, sagte der Vater.
    Die kleine Ratte stellte sich empört auf die Hinterbeine auf. Die Eltern sogen erschrocken die Luft ein.
    „Ich sage doch nur, was ich da sehe! Ihr redet ja völlig am Thema vorbei, alle beide. Mir wird hier eine Geschichte vorgelesen, bei der gar nicht alle Seiten vorhanden sind. Das ist doch das eigentlich Schlimme. Sieht das denn keiner?“
    „Doch, doch“, rief der Rattenopa aus dem Nebenraum herüber. „Ich sehe das schon. Aber ich habe ja nichts mehr zu sagen in diesem Haushalt.“
    „Genau so ist es“, sagte der Rattenvater. „Also halt das Maul.“
    „Ihr seid die schrecklichsten Eltern, die sich eine Ratte wünschen kann“, formulierte die kleine Ratte einen großen Vorwurf. „Aber wenn ihr mir nicht die ganze Geschichte erzählen wollt, dann werde ich einfach nicht mehr zuhören.“
    Die Eltern wechselten einen ernsten Blick.
    „Das geht nicht, Kind“, sagte der Rattenvater. „Wenn eine Geschichte vorgelesen wird, dann muss auch zugehört werden.“
    „Dein Vater hat sehr recht in dieser Sache“, sagte die Rattenmutter. „Sei nicht undankbar.“
    „Ich will ja zuhören“, erklärt sich das Rattenkind. „Aber nur, wenn ich auch die ganze Geschichte zu Ohren bekomme. Teile einer Geschichte interessieren mich nicht. Hätte ich gewusst, dass ich nicht die ganze Geschichte vorgelesen bekomme, dann hätte ich von Anfang an nicht zugehört. Dann würde ich jetzt draußen im Matsch sitzen und den Tag mit Nichtstun verbringen, wie es sich für eine Ratte gehört.“
    „Für eine ausgewachsene Ratte“, berichtigte der Rattenvater. „Du bist ein Rattenkind, und ein Rattenkind hört zu, wenn es eine Geschichte erzählt bekommt.“
    „Ich höre zu, versprochen“, sagte die kleine Ratte. „Aber nur, wenn ihr mir sagt, was es mit den fehlenden Seiten auf sich hat.“
    Die Eltern schwiegen, und wieder wechselten sie lange Blicke. Sie rangen im Stillen mit sich, dachte die kleine Ratte. Schließlich sagte die Mutter: „Vielleicht können wir dir etwas verraten.“
    „Einen Teil wenigstens,“ sagte der Vater. „Aber dann gibst du Ruhe und hörst zu.“
    „Na gut.“ Die kleine Ratte wollte nicht zu viel verlangen. Ein Teil war besser als nichts.
    „Die fehlenden Seiten“, begann die Rattenmutter, „befassen sich mit einem Ort, von dem ich nichts erzählen darf. Dieser Ort ist bekannt als die geheime Taverne. Die Stelle, an der die Taverne erbaut wurde, ist geheim. Der Wirt dieser Taverne ist geheim, das Bier ist es, und die Gäste sind es auch. Allem voran aber sind die Gespräche geheim, die in dieser Taverne geführt werden. Nichts von alledem darf enthüllt werden.“
    „Leider spielt sich ein wesentlicher Teil der Geschichte in dieser Taverne ab“, räumte der Rattenvater ein. „Das macht es schwierig, die Geschichte zu erzählen, selbst für deine Mutter, die schon so viele Geschichten so tadellos erzählt hat. Es ist eine beachtliche Leistung, dass sie überhaupt so lange vorlesen konnte. Viele Mütter wären längst gescheitert.“
    „Es kostet mich einige Kraft“, sagte die Rattenmutter.
    „Das wusste ich nicht“, sagte die kleine Ratte und senkte die Schnauze. „Es tut mir leid.“
    „Nun sei still und lausche den Worten deiner Mutter“, forderte der Rattenvater. „Du wirst später genug Zeit haben, dich zu entschuldigen.“
    „Natürlich, Vater. Ich horche, Mutter.“
    „Nein“, sagte die Rattenmutter und schmiss das Buch in den Ofen, wo es in Flammen aufging. „Jetzt ist es zu spät. Du wirst niemals erfahren, wie die Geschichte ausgegangen wäre.“
    Verblüfft starrte die kleine Ratte ins Ofenfeuer. Da brannte sie nun vor sich hin, die schöne Geschichte.
    „Mach dir nichts draus“, rief der Rattenopa aus dem Nebenraum. „Ist schade drum, aber ich hab schon bessere Geschichten gehört.“

    Ende

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