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    Post [Story]Zwielichtlodern

    Zwielichtlodern
    Flügel der Freiheit


    Spoiler:(zum lesen bitte Text markieren)

    Personen:
    A: Karna
    B: Innos
    C: Hane
    D: Rei

    Gegenstände:
    A: Hammer Innos'
    B: Die linke Scherenhälfte
    C: Jadeflügel

    Orte:
    A: Säulenkäfig
    B: Das Innere des Flötzenwurms
    C: Der Lavasee unter dem Vulkan Argaans

    Gebrechen:
    A: Nukleozid
    Geändert von MiMo (14.05.2019 um 20:53 Uhr)

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    Arn war sich sicher, dass er so nie ein Auge zu bekommen würde. Die kalte, raue Felswand in seinem Rücken ließ seinen Körper schmerzen. Er verlagerte noch einmal seine Position, doch selbst wenn er in dem weichsten Federbett gelegen hätte, an diesem Ort würden seine brennenden Augen keine Linderung erfahren. Der Wind zog schon lange nicht mehr heulend durch die Tunnel, dafür hörte man nun ab und zu ein unnatürliches Grollen aus den Tiefen, das viel beunruhigender war als das Pfeifen der Höhlenwinde. Arn malte sich aus, wie sie irgendwann auf eine riesige Kreatur stießen, die seit Jahrtausenden hier unten überdauerte und dessen unregelmäßiges Atmen dieses Grollen verursachte.
    Sein Blick glitt zu ihrer letzten Fackel, die in das unstete Licht ihrer vorletzten Fackel getaucht war. Die Flamme wurde schon kleiner. Bald würden sie zur letzten greifen müssen. Er starrte ins Feuer, kniff die Augen zusammen, um zu erkennen, wie abgebrannt die verkohlte Spitze war.
    Im nächsten Moment rüttelte ihn ein glatzköpfiger Magier an der Schulter. „Es geht weiter“, teilte er ihm mit und wandte sich ab.
    Arn musste überrascht feststellen, dass er doch noch eingenickt war, er fühlte sich aber nur noch müder und zerschlagener als zuvor. Er bemühte sich auf die Beine zu kommen, was ihm einen sengenden Schmerz durch den Rücken jagte. Allmählich gewann die Vorstellung an Verlockung, dass dies sein letzter Tag war – wenn es denn überhaupt Tag war. Als er nach der schweren Tasche griff, die zu schleppen seine Aufgabe war, wurde ihm klar, dass dies noch schlimmer war als einfach hier liegen zu bleiben und auf den Hungertod zu warten. Pflichtschuldig schulterte er die Tasche, die ihm vom Hinterkopf bis zu den Kniekehlen reichte. Ein Bündel, in das seine Auftraggeber wer weiß was eingewickelt hatten. Fackeln und Proviant jedenfalls nicht, wie man ihm versichert hatte.
    Seine Auftraggeber, das waren nun nur noch zwei Magier. Die restlichen Mitglieder ihres einst zwanzig Mann starken Trupps hatten sie auf dem Weg in die Tiefe bereits verloren. Ihr Führer, der sich damit gebrüstet hatte, die Höhlen in den Gebirgsausläufern vor Thorniara wie seine Westentasche zu kennen, war als erstes gestorben. Eine alte Brücke war einfach unter ihm zusammengebrochen und die Finsternis der Schlucht hatte ihn verschluckt. Ein Dutzend Magier und Novizen von der fernen Insel Khorinis waren ihm zwar nicht in denselben Abgrund, aber in den Tod gefolgt. Genauso wie die anderen vier Lastenträger, die mit Arn zusammen auf dem Marktplatz angeheuert worden waren. Und nun war er mit dem unentwegt übellaunigen Serpentes und dem immerhin anfangs noch bemüht freundlichen Alchemisten Neoras der letzte Überlebende ihrer Expedition. Was nicht heißen sollte, dass sie wirklich eine Chance hatten, die Expedition zu überleben. Sie waren einfach nur noch am Leben, mehr nicht.
    Als ihr Führer mit der Brücke in die Tiefe gerauscht war, hatte er ihnen gleichsam den Rückweg abgeschnitten. Warum der Führer in diesem Moment das Schlusslicht ihrer Gruppe gewesen war, hatte sich niemand erklären können. Damals hatte sich die Frage, ob man weiter nach unten vorrücken oder umkehren sollte, nicht gestellt. Später jedoch, als hie und da Wege abgezweigt waren, die mehr oder minder steil nach oben führten, hatte Serpentes jeden Vorschlag einen dieser Wege zu nehmen, vehement abgeschmettert. Er hatte sich stets für den steilsten, finstersten und anscheinend auch gefährlichsten Weg nach unten entschieden. Und inzwischen waren sie so tief unter der Erde, dass Arn sich sicher war, dass er selbst den direktesten Weg zurück an die Oberfläche nicht mehr durchhalten würde. Und da diesen Weg zu finden auch noch der Suche nach einer Stecknadel im Heuhaufen glich, hatte er sein Leben abgeschrieben. Er wusste nicht, warum er sich nicht rechtzeitig gewehrt hatte. Warum er diesen unangenehmen, knarzigen Magiern bis hierher gefolgt war. Vielleicht weil sie es gewesen waren, die den Angriff der Albino-Harpyien in den höheren Ebenen abgewehrt hatten. Nun, wo sie nur noch zu zweit waren, vermochten sie wohl nicht einmal mehr das. Doch Arn glaubte ohnehin nicht daran, dass so tief unter der Erde noch etwas lebte. Abgesehen natürlich von der riesigen Urbestie, die von Zeit zu Zeit ihr Grummeln die Tunnel hinaufschickte.
    Mit zunehmender Depression stellte er fest, dass es ihre letzte Fackel war, die Neoras in Händen hielt. Das Ende ihrer vorletzten hatte er wohl einfach verschlafen. Sein Magen knurrte, doch er merkte es kaum. Er wusste nicht, ob sie erst drei oder schon fünf Tage in diesen Gängen umherirrten. Und schon seit dem ersten Tag hatten sie nichts mehr außer ein paar leuchtenden Pilzen gegessen. Neoras hatte zur Vorsicht gemahnt, da er sich mit den Fungi der südlichen Inseln nicht auskannte, doch ihr Führer hatte in überzeugtem Tonfall erklärt: „Wenn der Pilz leuchtet, ist er auch essbar!“ Angesichts seines frühzeitigen Endes konnten sie wohl von Glück sprechen, dass er wenigstens damit vorerst Recht behalten hatte. Denn kurz darauf waren auch die beiden Lastenträger mit ihrem Proviant abhanden gekommen.
    „Wir sind stets weiter nach unten gegangen, nie haben wir auch nur ein kleines Stück bergauf genommen“, knurrte Serpentes finster vor sich hin. „Warum sind wir dann immer noch nicht am Ziel?“
    „Wenn die Steinplatte von Guuv existiert“, antwortete Neoras heiser, „muss sie sehr weit unten sein. Sie stammt schließlich aus einer Zeit, aus der keine Überlieferungen erhalten geblieben sind. Seit Menschengedenken ist niemand auch nur in ihre Nähe gekommen.“
    Arns Unbill züngelte nur kurz auf. Diese verrückten Magier von Khorinis waren sich also nicht einmal sicher, dass überhaupt existierte, wonach sie suchten? Wäre er nicht so erschöpft, hätte er diese Erkenntnis gewiss nicht unkommentiert gelassen. Doch was machte er sich vor? Er war nie jemand gewesen, der sich bei anderen Gehör verschaffte. Er hätte mit einer zynischen Erwiderung vielleicht den einen oder anderen Lacher von den anderen Lastenschleppern eingestrichen, aber doch nichts an seinem Schicksal geändert.
    Und gerade bei diesem Gedanken trat sein linker Fuß ins Leere. Er kippte zur Seite weg, merkwürdig lautlos. Er hatte irgendwie immer gedacht, dass es mehr Lärm machen würde, von einer Klippe zu fallen. Seine trockene Kehle gab nur einen gurgelnden Laut der Überraschung von sich, während sich seine Finger halbherzig nach irgendetwas streckten, an dem er sich hätte festhalten können. Doch da war nichts. Und alles ging so schnell. Die Magier hatten sich noch nicht einmal umgewandt, da war ihre Fackel schon nur noch ein kleiner heller Punkt über ihm.
    Als nächstes spürte er den Aufprall, der ihm alle Luft aus den Lungen trieb. Das harte Bündel grub sich schmerzhaft in sein Rückgrat. Er hörte Serpentes unartikuliert schreien und fluchen. Seltsam, das hatte er bei den anderen nicht gemacht, die in die Tiefe gestürzt waren. Nicht einmal bei diesem Karras, der stellvertretender Expeditionsführer gewesen war.
    Arn hatte keine Gelegenheit darauf zu lauschen, was der knarzige alte Magier genau brüllte, denn mit dem Aufprall war sein Sturz noch nicht vorbei. Er war wohl auf einem steil abfallenden Felshang aufgekommen und überschlug sich ein ums andere Mal, während er tiefer und tiefer in den Abgrund kollerte. Das Bündel schlug ihm gegen den Hinterkopf, seine Stirn gegen den Fels, eine Kante bohrte sich unangenehm zwischen seine Rippen. Er japste nach Luft, bekam aber keine Zeit, um welche einzusaugen, bevor ihm der nächste Stoß schon wieder die Brust zusammendrückte. Bald schmeckte er Blut in seinem Mund. Sein Arm brach krachend. Und während er sich zum vielleicht hundertsten Mal überschlug, fragte er sich, wann er endlich starb. Endlich riss der Riemen von dem Bündel und es wurde von ihm fortgeschleudert.
    Er stürzte nicht in einen weiteren Abgrund. Irgendwann blieb er einfach liegen. Schleim und Blut verklebten ihm Nase und Mund. Er konnte sich nicht bewegen, nicht einmal, um sich die Matsche von der Nase zu wischen und wieder freier atmen zu können. So lag er da und holte rasselnd Luft, ein ums andere Mal. Er hatte solche Schmerzen in seinem Kopf, dass er keinen klaren Gedanken fassen konnte. Selbst bis er sich sicher war, dass er noch lebte, vergingen zähe Minuten. Warum hatte er das überleben müssen? War sein Ende nicht schon erbärmlich genug? Konnte es nicht einmal schnell gehen? Er hoffte inständig, dass der Blutverlust ihn bald umbrachte, doch er hatte schon zu viele Straßenkämpfe gesehen, als dass er sich da Hoffnungen machte. Vielleicht blutete er ja stärker als er annahm. Irgendetwas hatte seine Bauchgegend durchnässt. Aber bald kam ihm der Gedanke, dass es vermutlich bloß sein aufgeplatzter Wasserschlauch war.
    Zum ersten Mal in seinem Leben war er erleichtert, dass Zuhause weder Frau noch Kind auf ihn warteten. Was wäre er doch für ein Rabenvater gewesen, wenn er sie so erbärmlich im Stich gelassen hätte? So würde ihn immerhin niemand vermissen. Seine Eltern hatten noch seine fünf größeren Brüder, die allesamt schon eine Frau gefunden und insgesamt bereits sechs Enkelkinder in die Welt gesetzt hatten. Seine Familie war auch ohne ihn groß und stark. Er würde keine Lücke hinterlassen. Er wünschte sich nur, dass er seiner Mutter zum Namenstag mehr als eine Blume vom Wegesrand geschenkt hätte. Irgendetwas, das länger hielt und sie an ihn erinnerte. Im nächsten Moment wurde ihm klar, was für eine Belastung ein Erinnerungsstück an einen gescheiterten, toten Sohn sein musste. So würde sie ihn bald vergessen haben. Es war gut so.
    „Was für ein erbärmliches Wesen“, knurrte eine Stimme in der Dunkelheit.
    Arn war sich nicht sicher, ob sie aus der Welt der Lebenden oder der Toten zu ihm herüberdrang.
    „Seit Ewigkeiten hat sich kein atmendes Wesen zu mir verirrt, und dann ist es so jämmerlich.“ Ein keckerndes Lachen. „Ich sollte mein Maul nicht so weit aufreißen. Ich bin ja selbst kaum noch ich selbst.“
    Die Stimme sprach langsam und offenbar höchst angestrengt, wie ein Betrunkener, dem es schwerfiel, die Worte richtig herauszubringen. Arn öffnete sein rechtes Auge einen Spalt breit, das andere war vom Blut verklebt. Zwei glühende, rote Augen schwebten vor ihm in der Dunkelheit. Der Rest der Kreatur war vollständig von Schatten verborgen.
    „Bist du ein Gott oder ein Tier?“, fragte ihn das Wesen und verengte seine Augen argwöhnisch zu Schlitzen. „Du siehst mir aus wie ein Gott, aber du bist so schwach… Selbst für ein Tier ungewöhnlich weich und nutzlos.“ Es knallte markerschütternd. Arn zuckte zusammen und überall in seinem Körper loderte der Schmerz auf. Die Kreatur hatte gegen etwas geschlagen, was zwischen ihnen war. In dem roten Licht seiner Augen erkannte Arn verschwommen so etwas wie eckige Steinsäulen. „Rede mit mir, wenn du ein Gott bist!“, brüllte die Kreatur, lange schwarze Finger um die Steinsäulen geschlungen. Das Echo seiner Worte hallte sowohl in der Höhle als auch in Arns Kopf ungewöhnlich lange nach.
    „Ich… bin kein Gott“, lallte Arn und war überrascht, dass es ihm gelang. Irgendetwas blockierte seine Zunge.
    „Nein?“ Die Stimme nahm einen überraschten, aber kaum weniger bedrohlichen Ton an. „Wieso redest du dann mit mir, Tier?“
    Arn verstand nicht, was der Fremde meinte. Er lutschte auf dem Ding in seinem Mund herum und als ihm klar wurde, was es war, spuckte er mühselig zwei seiner Zähne aus. Langsam zog er den gesunden Arm zu seinem Gesicht, um sich Blut und Sabber aus dem Mundwinkel zu wischen.
    „Hat das Tier in all den Äonen meiner Gefangenschaft etwa gelernt, das Wort zu gebrauchen?“
    In Arns Kopf dröhnte es. Er war kaum imstande den Worten dieses Geschöpfs zu folgen.
    „Antworte mir gefälligst!“, brüllte es und schlug wieder gegen die Steinsäulen. „Du redest immerhin mit Karna, dem Schöpfer der Sonne und des Lichts! Wenn ich erstmal aus diesem Gefängnis entkommen bin, werde ich jedes Wesen, egal ob Gott oder Tier, das es gewagt hat, mir dumm zu kommen, über meiner Sonne braten!“
    Ächzend richtete sich Arn auf. Ihm war schwindelig und alles tat ihm weh, doch es schien nicht so schlecht um ihn zu stehen, wie er angenommen hatte. Allerdings auch nicht viel besser. „Ich bin ein Mensch“, brachte er mühsam heraus. Seine Worte klangen ungewohnt unscharf. Er leckte sich mit seiner Zunge über die Zähne und stellte fest, dass es seine oberen Schneidezähne waren, die fehlten.
    „Mensch? Ist das ein Gott oder ein Tier?“, fragte Karna.
    „Weder noch“, antwortete Arn müde. Er hatte keine Lust auf dieses seltsame Gespräch. Die Schmerzen in seinem Körper waren so stark, dass er sich nichts sehnlicher wünschte als eine Felsspalte zu finden und sich sie hinab zu stürzen. Doch da seine Beine ihn nicht trugen, blieb ihm nichts anderes übrig als sich mit diesem seltsamen Karna zu unterhalten und ihm möglichst wenig Anlass zu geben, seine Fäuste gegen die Felssäulen zu schmettern.
    „Eine dritte Gattung also? Wie viele gibt es noch? Wie viel Zeit ist vergangen, seit ich hier eingekerkert wurde?“ Karna leckte mit einer langen, spitzen Zunge über sein raues, schwarzes Gesicht.
    „Ich weiß nicht, wie lange du schon hier bist“, erklärte Arn.
    „Was?“, entfuhr es Karna und erhob wieder seine Fäuste.
    Arn beeilte sich schnell fortzufahren. „Soweit ich weiß, gibt es nur zwei Gattungen, wie du es nennst. Menschen und Tiere. Mehr kenne ich nicht.“
    „Das kann nicht sein“, widersprach Karna. „Mein Vater hat zwar fast alle Götter im Nichts versiegelt, aber ein paar haben es geschafft ihm zu entkommen, da bin ich sicher. Ich zum Beispiel.“ Da schien Karna etwas aufzufallen und seine Augen blitzten unheilverkündend. „Du belügst mich“, zischte er hasserfüllt. „Du behauptest keinen Gott zu kennen, dabei sitze ich hier direkt vor dir, oder? Du willst mich in eine Falle locken, nicht wahr?“
    Arns Stirn pochte. Die Worte Karnas ergaben für ihn immer weniger Sinn. „Du glaubst also… Ich meine… Du bist ein Gott?“
    „Natürlich bin ich ein Gott, du infantiler Haufen verschwendeter Organe!“, tobte Karna und hämmerte dreimal gegen die Felssäulen, dass es krachte und knallte. Als er sich wieder beruhigt hatte, verengte er wieder seine Augen. „Menschen also, hm? Sie benutzen das Wort wie ein Gott, sind aber noch erbärmlicher als das räudigste Tier. Was für eine Laune der Natur. Welchem Gott habt ihr dieses Sein zu verdanken?“
    „Ich bin mir nicht sicher“, sagte Arn und Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er wollte diesen Irren nicht noch weiter in Rage versetzen, doch er schien immer genau das Falsche zu sagen. „Ich weiß nichts über die ersten Menschen. Sie sind schon seit vielen tausend Jahren tot. Niemand erinnert sich mehr an sie.“
    „Jahre?“, echote Karna. „Moment, sagtest du tot?“
    Arn nickte vorsichtig.
    „Das Konzept des Todes hat also die Zeit überdauert… Aber niemand hat den Stein von Guuv seither bewegt, das hätte ich sonst bemerkt. Wie kann das sein?“ Karna schien inzwischen mehr mit sich selbst als mit Arn zu sprechen. „Die Menschen kennen keine Götter. Sie erlangen aber die Erlösung des Gottes Hasrudil, anscheinend sogar ohne seine Hilfe. Doch wenn sie so mächtig sind, wieso sind sie dann so erbärmlich? Vielleicht funktionieren sie als Kollektiv und dieses Exemplar hier ist nur ein kleines Teil, wie bei einem Schwarm Insekten oder einem Rudel Wölfe. Allerdings ist sein Körper offensichtlich nach dem Vorbild der Götter geformt… Doch wenn er die Wahrheit spricht, dass nicht einmal mehr mein Vater auf dem Morgrad verweilt…“ Da fiel Karnas Blick auf etwas, das auch Arn in diesem Moment im Licht seiner Augen funkeln sah. Karna stürzte sich auf das Glitzern zu, krachte aber nur gegen weitere Steinsäulen. Er war nun völlig aus der Fassung. „Das ist der Hammer meines Vaters und sein Schild, die Aura!“
    Arn folgte seinem Blick und entdeckte das aufgeplatzte Bündel, das er so viele Schritte in die Tiefe geschleppt hatte. Ein rot glänzender Schild mit goldenen Ornamenten und ein riesiger Hammer aus dunklem Metall lagen in dem halb offenen Bündel.
    Karna warf ihm einen forschenden Blick zu. „Wie kommst du an zwei der mächtigsten Artefakte meines Vaters?“ Zum ersten Mal war die Neugier in seiner rauen Stimme größer als der Groll.
    Arn war selbst ganz überrascht von dem Anblick. Der Schild glänzte wunderschön und der Hammer war so groß, dass er eigentlich nicht in der Lage sein dürfte, ihn zu tragen. Er hatte von diesen Artefakten gehört, als die Magier sich beim abendlichen Lagerfeuer über sie unterhalten hatten. Und er hatte sie seit Tagen direkt an seinem Körper getragen.
    „Antworte“, befahl Karna, um einiges beherrschter als beim letzten Mal.
    „Magier trugen mir auf, diese Gegenstände für sie zu tragen“, erklärte Arn. Die Aufregung, die der Anblick der Artefakte in ihm ausgelöst hatte, linderte seine Kopfschmerzen. Doch das erste, was sein wiedererwachtes Gehirn kombinierte, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. „Dein Vater… ist Innos?“, stammelte er.
    „Mein Vater und mein Kerkermeister. So ist es.“
    „Innos?“, wiederholte Arn noch einmal, um ganz sicher zu gehen. „Der Gott des Lichtes, des Feuers und der Ordnung?“
    Arn zuckte fürchterlich zusammen, als Karna sich mit seinem ganzen Körper gegen die Felslanzen warf, die ihn gefangen hielten. Mit Händen und Füßen klammerte er sich an die Stangen und starrte mit gefletschten Zähnen auf ihn herab. Arn stockte der Atem. Die Mordlust in Karnas Augen allein schien tödlich.
    „So nennt er sich also heute?“, fragte Karna mit gefährlichem Unterton. „Dieser Heuchler!“, brüllte Karna und Arn war sich fast sicher, dass dieser Schrei auch noch an der Oberfläche zu hören war, so gewaltig rollte der Schall durch die Höhle. „Wie kann er es wagen, sich mit meinen Federn zu kleiden? ICH habe die Sonne und das Licht erschaffen. ICH bin der Gott des Lichtes. Nicht er, die erbärmliche Funzel.“ Karna atmete ein paar Mal schwer. „Merk dir das, Mensch“, fauchte er. Dann schien ihm noch etwas einzufallen und er ließ sich wieder auf Arns Augenhöhe herab. „Du sagtest, du kennst keine Götter. Und doch kennst du meinen Vater. Du hast mich schon wieder belogen.“
    „Ich kenne ihn nicht wirklich“, beeilte Arn sich zu erklären. „Ich habe lediglich Geschichten von ihm gehört. Man erzählt sich, dass Adanos ihn vom Morgrad vertrieben hat. Vor sehr, sehr langer Zeit!“
    „Adanos ist tot. Schon bevor mein Vater mich hier einsperrte, tötete er die meisten anderen Götter. Und ich bin mir sicher, dass Adanos eines seiner Opfer war. Ich habe es selbst gesehen. Denn die tödliche Falle, die mein Vater den Göttern stellte, war auch für mich bestimmt. Vor meinen Augen starben all die Götter, auch die mächtigsten unter ihnen. Nur eine Hand voll entkam Innos.“
    Karnas Augen huschten wieder zu den Artefakten herüber. „Ob mein Vater noch auf dem Morgrad verweilt, werden wir gleich wissen. Gib mir den Hammer.“
    Arn überlegte, wie er ihm erklären sollte, dass er nicht aufstehen konnte und vermutlich erst recht nicht mehr den Hammer heben konnte.
    „Gib mir den Hammer, Mensch!“, befahl Karna und sein Befehl war so mächtig, dass Arn sich augenblicklich erhob. Zunächst knickte er ein, ihm wurde schwarz vor Augen. Doch schon nach dem zweiten Versuch schwankte er auf seinen Beinen zu dem Hammer und dem Schild hinüber. Er bückte sich nach dem Hammer, wobei sein gebrochener Arm dem gesunden in die Quere kam. Als sich seine Hand um den Griff schloss, stellte er erneut fest, dass der Hammer viel leichter war als er aussah. Er konnte ihn tatsächlich nicht anheben, sein Arm zitterte unter der Last. Schließlich hing er sich mit seinem ganzen Gewicht an den Hammer und schleifte ihn so drei Schritte über den Boden. Bis er mit dem Rücken gegen Karnas Gefängnis stieß.
    „Zur Seite“, schnauzte der selbsternannte Gott und versetzte ihm einen ungeduldigen Stoß in den Rücken. Arn stolperte über seine eigenen Füße und fiel wieder zu Boden. Als er seinen Kopf hob, um zu Karna zurückzublicken, streckte der gerade seinen dürren Arm zwischen die Felssäulen hindurch und griff nach dem Hammer Innos‘. Die Haut an seinem Arm war rau und schwarz. Wie verbrannt.
    Karna konnte ihn mit nur einer Hand heben, doch der Kopf des Hammers passte nicht zwischen die Felsstäbe hindurch. Er schwang den Hammer aufwärts gegen eine der Säulen. Es krachte, doch an der Felslanze blieb nicht einmal ein Kratzer zurück. „Die Magie ist verbraucht, aber definitiv noch aktiv“, frohlockte Karna und sein Grinsen zog sich in die Breite. „Mein Vater ist hier. Und ich werde ihm bald gegenüber stehen. Endlich!“
    Im nächsten Moment war es taghell in der Höhle. Karnas rote Augen verschwanden in dem gleißenden Licht, das von seinem ganzen Körper ausging. Feuerrote Runen erschienen auf dem Hammer, der das Licht gierig aufzusaugen schien. Arn fühlte Wärme in seinem Körper aufsteigen. „Ich bin Karna, Gott des Lichtes und Schöpfer der Sonne. Vater, der du mich selbst in dieses Verlies gesperrt hast: Meine Rache wird fürchterlich sein!“ Schlagartig verebbte das Licht wieder. Der Hammer in Karnas Hand glühte rot. Als er dieses Mal mit ihm ausholte und ihn aufwärts schwang, gab es ein gewaltiges Krachen. Risse kletterten die Steinsäule hinauf, fraßen sich tiefer in den Stein, platzten auf. Die Säule zerbarst in Myriaden winziger Gesteinssplitter. Eine Kaskade aus Schutt und Staub ging auf Karna nieder und raubte Arn die Sicht. Nur die roten, runden Augen waren durch die Schwaden deutlich zu erkennen.
    Karna trat aus seinem Käfig hervor und zum ersten Mal konnte Arn seinen Körper vollständig erkennen. Arn stieß einen rasch unterdrückten Schrei aus, als er den Arm des Gottes erkannte. Oder zumindest was davon übrig war. Etwa auf Höhe des Ellenbogens endete Karnas Arm einfach in einer lang gezogenen, dünner werdenden Matsche. Im selben Moment erkannte Arn, dass der Griff des Hammers hinter Karna in die Höhe ragte. Er lag auf dem Stumpf der zerstörten Säule und Karnas Hand hielt seinen Griff immer noch fest umschlossen. Das abgerissene Stück Arm baumelte trist hinunter.
    „Kein schöner Anblick, was?“ Karnas Leuchtfeueraugen hatten Arn beobachtet.
    Arn war zu eingeschüchtert, um etwas zu erwidern. Jetzt, da die Säulen sie nicht mehr voneinander trennten.
    „Du bist also wirklich kein Gott, was?“, hakte Karna nach, wartete dieses Mal jedoch gar nicht auf eine Antwort. „Zwischen einem Gott und seinem Attribut gibt es eine mächtige Verbindung, aus der der Gott seine Kraft zieht. Wird diese Verbindung getrennt, so ist dies unwiderruflich und der Gott muss fortan von seiner Quelle getrennt leben. Das kostet ihn nicht nur einen Großteil seiner Macht, auch sein Körper wird instabil. Ich hätte nicht so fest zuschlagen sollen. Mein Körper macht sowas nicht mehr mit.“
    Arn starrte Karna fassungslos an, seine eigenen Verletzungen erschienen ihm plötzlich beinahe klein. Wie kaputt musste ein Körper sein, wenn sein Arm vom bloßen Hammerschwingen abriss?
    „Guck nicht so entgeistert, der wächst doch nach!“, schnauzte Karna ihn an, plötzlich wieder gereizt. „Meine Regenerationszeit scheint aber ziemlich nachgelassen zu haben.“ Er hielt sich das schlackernde Ende seines Arms vor Augen. Dann richtete er seinen Blick nach vorn. „Früher oder später wird meine Hand nachgewachsen sein und dann kann mein Vater sich auf was gefasst machen. Äonen habe ich in diesem Käfig verbracht, mit nichts anderem beschäftigt, als mir meine Rache auszumalen. Er hat mich bestimmt schon längst vergessen, aber jetzt werde ich ihn daran erinnern, wer hier der Gott des Lichts ist! Ich, Karna, Schöpfer der Sonne, werde mir die Macht zurückholen, die mir zusteht!“ Die letzten Worte brüllte er in die riesige, leere Höhle hinein. Er verharrte, lauschend, bis die Echos restlos verklungen waren. Dann wandte er sich nach Arn um. „Du hast mich befreit. Egal wie erbärmlich du auch sein magst, ich schulde dir was.“
    Aus irgendeinem Grund war Arn sich nicht sicher, ob das gut oder schlecht war.
    „Was ist dein Wunsch?“, drängte Karna. „Ich hasse es, in anderer Leute Schuld zu stehen.“
    „Ich…“ Arn traten Tränen in die Augen, als ihm klar wurde, wie innig dieser Wunsch in ihm brannte. Wie sehr er sich etwas vorgemacht hatte. „Ich will wieder zurück an die Oberfläche!“
    Karnas Augen blitzten gefährlich auf. „Sonst nichts?“ Er machte eine Pause, die Arn die Luft anhalten ließ. „Dann folge mir.“ Noch unsicher auf den Beinen lief Karna los. Bis er an den rotgoldenen Schild stieß. „Die Aura Innos‘“, zischte er und für Arn war es unmöglich herauszuhören, welche Gefühle er bei dem Anblick des Schilds empfand.
    Karna wandte sich wieder zu Arn um, der immer noch auf dem Boden saß. „Ich sagte doch, du sollst mitkommen. Und bring den Hammer mit, den kann ich noch gebrauchen.“ Mit seiner verbliebenen Hand griff Karna nach der Aura und hob sie hoch. „Ich werde den Schild nehmen.“
    Arn blinzelte seine Tränen weg. Vielleicht gab es ja doch noch Hoffnung für ihn, aus diesem unterirdischen Labyrinth zu entkommen. Ob dieser Karna nun ein Gott war oder nicht, er hatte einen Plan. Es mochte gefährlich sein mit einem so jähzornigen selbsternannten Gott zu reisen, doch welche Wahl hatte er schon? Er musste sich bloß bemühen, ihn nicht zu reizen.
    Arn kam langsam auf die Beine, aber immerhin kam er auf die Beine. Die Schmerzen in seinem Körper waren ein wenig abgeklungen. Trotzdem strengte ihn noch jeder Schritt an. Er schleppte sich zu dem Hammer, packte den Griff mit beiden Händen und zog, doch plötzlich konnte er ihn kein noch so kleines Stückchen mehr bewegen. Er hing sich mit seinem ganzen Gewicht an den Hammer und trotzdem rührte er sich nicht.
    Arn spürte Karnas Blick im Nacken. Er jagte ihm Schauer über den Rücken. „Ich-Ich“, stammelte Arn. „Ich verstehe das nicht. Eben konnte ich den Hammer doch noch bewegen!“
    Karna seufzte schwer. „Eben war er ja auch leer.“
    „Soll das heißen…“ Verdutzt suchte Arn nach den richtigen Worten. „…dass Magie Gewicht hat?“
    „Natürlich hat sie das“, entgegnete Karna und verengte seine roten Augen zu Schlitzen. „Du bist einfach zu erbärmlich, um zu etwas Nütze zu sein, weißt du das?“ Arn fragte sich, ob Karna ihn gleich angreifen würde. Doch der Moment verstrich. „Dann komm halt einfach so mit, du jämmerlicher Wicht.“
    Erleichtert atmete Arn auf und hinkte Karna hinterher.

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    Die Aufregung, die Arn bei seinem Aufeinandertreffen mit Karna verspürt hatte, die Hoffnung, als dieser erklärt hatte, er würde ihn zurück an die Oberfläche bringen, das alles war inzwischen vollkommen versiegt. Ihr Aufbruch konnte erst wenige Stunden her sein und doch war es Arn, als würden sie seit Tagen im Kreis laufen. Die Felsen, die sich nur Dank dem Glühen von Karnas Augen gegen die Dunkelheit abhoben, sahen überall gleich aus, und der Boden unter ihren Füßen verlief frustrierend waagerecht. Der Schmerz und die Erschöpfung taten ihr Übriges, um ihn zu zermürben. Bald schon konnte er seine Füße nicht mehr vom Boden heben. Schlurfend zog er seine ausgewetzten Sohlen über den unnachgiebigen Fels.
    Karna war stets eine Manneslänge vor ihm. Langsam und schnaufend, ruckartig, aber regelmäßig setzte er einen schwarzen Fuß vor den anderen. Er wandte sich nicht ein einziges Mal um, um nach seinem Anhängsel zu sehen. Entweder hatte er wirklich die Sinne eines Gottes und spürte seine Präsenz, oder er hatte ihn einfach vergessen. Karna jedenfalls hielt nie inne, um sich zu orientieren. Endlos ließ er die Aura Innos über den Boden schleifen, zog einen schier endlosen weißen Kratzer in den kahlen Fels. Und dieser Kratzer war zugleich der dünne Faden, an den Arn sich klammerte, denn solange der Kratzer sich nicht selbst kreuzte, konnten sie nicht allzu sehr im Kreis laufen. Das Knirschen des Schildes war alles, was die Stille störte.
    Plötzlich tauchten vor ihnen die Umrisse eines Körpers auf. Karna schlurfte einfach an ihm vorbei, doch Arn hielt kurz inne und musterte den zerschlagenen Leib. Die Gliedmaßen standen in grotesken Winkeln ab. Der Körper lag in einer Lache seines eigenen Blutes, das bereits trocken und schwarz war. Die Robe der Magier aus Khorinis schien seltsam unversehrt, doch der Stoff beulte an Stellen aus, an denen er nicht ausbeulen sollte. Arn sah dem alten Mann ins Gesicht und meinte diesen Karras zu erkennen, der ihr stellvertretender Expeditionsführer gewesen war. Es war Tage her, dass er in die Tiefe gestürzt war, und in der Zwischenzeit war Arn viel tiefer in die Stollen vorgedrungen. Sein eigener Sturz war ihm endlos vorgekommen, doch dieser Magier musste noch viel länger gefallen sein, dass er nun hier vor ihm lag. Arn hatte bisher keine Vorstellung davon gehabt, wie tief manche der Schluchten waren, doch nun wurde ihm klar, dass sie viel tiefer sein mussten, als er es sich vorstellen konnte. Es erschien ihm seltsam, dass man in Sekunden von ganz oben zu ihnen herunter gelangen konnte. Für die umgekehrte Richtung aber Tage brauchte.
    Ihm fiel auf, wie leise das Kratzen des Schildes geworden war, und er beeilte sich, zu Karna aufzuschließen.
    Allmählich wurde die Höhle unebener und steiler. Arn war erleichtert, endlich einen Schritt in Richtung Oberfläche zu gehen, nachdem er so lange nur bergab gegangen war. Der Weg war immer noch genauso lang und unbezwingbar wie zuvor, doch endlich hatte er das Gefühl, den Weg zu beschreiten. Schon nach wenigen Schritten wurde dieser seltsame Anflug von Euphorie wieder von seinem protestierenden Körper verschlungen. Seine Beine mochten die steigende Belastung gar nicht und krampften unangenehm. Er musste irgendwie die Krämpfe loswerden und zugleich mit Karna mithalten, denn er war sich sicher, irgendwann war die Geduld des Gottes überstrapaziert. Keinesfalls wollte er ihn um eine Pause bitten. Ihm brach der Schweiß aus, was ihn ein wenig wunderte, da seine Kehle zur selben Zeit vor Trockenheit brannte. Seine Sinne trübten sich, während er sich fragte, wie lange er nun schon nichts mehr getrunken hatte.
    „Vermaledeiter!“, brüllte Karna plötzlich und fiel seitlich zu Boden.
    Erst verstand Arn nicht, was passiert war, doch dann erkannte er, dass Karnas Bein zur Seite abgeknickt war.
    „Ist das wieder dieser… Nukleozid?“, erinnerte Arn sich an das Wort.
    „Natürlich ist er das!“, spie Karna und seine Augen loderten auf. „Mein dämlicher Körper ist zu nichts mehr zu gebrauchen. Wegschmeißen sollte ich ihn!“
    „Und… was jetzt?“ Karna hatte zwar behauptet, dass sich sein Körper von selbst heilte, doch seine Hand war immer noch nicht nachgewachsen.
    „Was jetzt“, äffte Karna ihn nach. „Entweder wir warten, bis mein Bein sich geheilt hat oder du stützt mich!“ Ohne viel Federlesens packte er sein abgeknicktes Bein und rückte es mit einem ekelerregenden Geräusch zurück in die Ausgangslage. Ungeduldig warf er Arn einen Blick zu.
    „Und? Wie entscheidest du dich?“
    Arn rang um Worte. Er konnte Karna unmöglich stützen. Er konnte sich ja selbst kaum auf den Beinen halten. Er konnte aber auch nicht tagelang hier warten, bis dahin war er ganz sicher verdurstet. Was er in wenigen Stunden aber wohl ohnehin sein würde. Die Unmöglichkeit seines Unterfangens wurde ihm jäh wieder bewusst und die Erkenntnis schien ihn zu Boden zu drücken.
    Ungeduldig kniff Karna die Augen zusammen und der ganze Höhlenboden begann zu beben.
    Arn war vor Angst wie erstarrt. Der göttliche Zorn, der selbst die Erde zum Beben brachte, verschlug ihm die Sprache. In diesem Augenblick war er sich sicher, nicht mehr genug Lebenszeit zum Verdursten zu haben. Es würde dieser verkrüppelte Gott sein, der seinem Leben ein grausames Ende bereiten würde.
    Dann brach der Boden auf. Staub und Trümmer schossen in die Luft. Ein Felsen groß wie sein Kopf traf ihn vor die Brust und warf ihn hinterrücks zu Boden. Ächzend schaffte er es, den Stein zur Seite zu rollen.
    Von Karnas roten Augen unheilvoll beleuchtet stieg eine riesige, schleimig glänzende Wand hinter Karna in die Höhe. Die schleimige Oberfläche reflektierte das Licht und spiegelte es in die ganze Höhle wider. Arn hatte den Eindruck, dass diese glänzend schwarze Oberfläche die Haut einer riesigen Kreatur war. Langsam neigte sich das Monstrum und verschwand weit von ihnen entfernt in der nächsten Felswand. Doch immer noch schoss hinter Karna der Rest ihres Körpers aus dem aufgerissenen Erdreich.
    „Noch nie den Flötzenwurm gesehen, was?“
    Arn wandte den Blick von der schleimigen Haut ab und sah, dass Karna den Mund zu einem schiefen Lächeln verzogen hatte. „Hätte nicht gedacht, dass der alte Haudegen hier immer noch rumkreucht. Hätte ruhig mal den Säulenkäfig zerstören können.“
    „Ich hab es von Zeit zu Zeit in den Tunneln grummeln hören. War das der Flötzenwurm?“
    „Quatsch. Hörst du nicht? Der ist so ölig, dass er nicht das geringste Geräusch verursacht. Du meinst wahrscheinlich den Fakir.“
    Arn schluckte bei dem Gedanken, dass es hier unten noch mehr gruselige Kreaturen gab. In diesem Moment flutschte das Ende des Wurms aus dem Boden und verschwand wie der Rest in der Wand im hinteren Teil der Höhle. Er hinterließ nichts als das Loch, aus dem er gekommen war. Und es war so gigantisch, dass Arn fast wetten mochte, dass ganz Thorniara in dem Loch Platz hatte.
    Indes warf Karna einen Blick zurück. Einen langen, nachdenklichen Blick zurück. Dann ließ er sich unbeholfen auf dem Schild nieder, den er fallen gelassen hatte. „Komm mit, Kleiner. Planänderung.“
    Ehe Arn auch nur verstanden hatte, was er gerade gesagt hatte, stieß Karna sich vom Boden ab und schlitterte auf dem Schild den Abhang wieder hinunter, den sie gerade erst erklommen hatten.
    „Karna, warte!“, rief Arn ihm nach. Plötzlich war er wieder den Tränen nahe. Endlich war es bergauf gegangen und nun bemühte sich sein Führer doch bloß wieder, ihn noch tiefer in diese verfluchten Höhlen zu bringen. Alles Rufen half nichts, Karna hielt nicht inne, wandt sich nicht noch einmal um. Schniefend trottete er ihm nach und verfluchte noch einmal alles, was zu dieser aussichtslosen Lage geführt hatte. Angefangen bei der Tatsache, dass er keine vernünftige Ausbildung absolviert hatte und sich deshalb als Tagelöhner verdingen musste, und endend mit dem Umstand, dem Gutdünken eines eigenwilligen selbsternannten Gottes ausgeliefert zu sein.
    Er verfiel in einen Laufschritt, um Karna einzuholen. Sein Atem wurde schneller und schon bald rasselte jeder Luftzug in seiner papierneren Gurgel. Er stolperte über seine eigenen Beine. Abermals überschlug er sich ein paar Mal, doch dieses Mal endete die unfreiwillige Talfahrt schon nach kurzer Zeit. Mühsam hob er den Kopf.
    Karna stand direkt vor ihm. Mit einer Hand stützte er sich schwer auf den rotgoldenen Schild, während er sein gebrochenes Bein eine Handbreit über dem Boden hielt.
    „Nun komm schon, Schlappschwanz“, murrte er. Mit einem Ruck riss er den Schild hoch und setzte ihn einen Meter weiter klingend wieder auf. Sein gesundes Bein zog er nach. Dann riss er wieder den Schild hoch und rammte ihn ein Stück weiter in den Boden.
    Arn beobachtete benommen, mit welcher Verbissenheit Karna seinen Körper vorwärts schleppte. Oder rückwärts, wenn man bedachte, wo sie eigentlich hin wollten. Einen Moment lang verlor Arn sich in dem wunderbaren Schimmer des makellosen Schildes. Wie konnte es nach der Schlitterpartie noch frei von jedem Kratzer, ohne jede Beule sein?
    „Komm schon, hab ich gesagt!“, schnauzte Karna ihn an, ohne sich ihm zuzuwenden. „Zu Fuß schaffen wir es nie nach oben.“
    Mechanisch hob Arn sich vom Boden auf. Einen Fuß vor den anderen setzend folgte er Karna in den Tunnel, der vor ihnen lag. Es war nicht nur der Durst, der ihm in der Kehle brannte und seinen Kopf dröhnen ließ. Es war der Gedanke daran, dass alles sinnlos war.
    „Ich habe eine viel bessere Idee!“, verkündete Karna und lachte keckernd. „Wenn der Flötzenwurm noch lebt, ist es nicht unwahrscheinlich, dass noch ein Gott die Säuberungsaktion meines Vaters überlebt hat, obwohl er sie bis hierher gelockt hat.“
    „Das alles muss ewig her sein“, krächzte Arn ohne groß nachzudenken. „Wieso sollte jemand so lange in diesen Höhlen geblieben sein, wenn er nicht hier eingesperrt war wie du?“
    „Ihr Menschen seid komisch“, entgegnete Karna ungeduldig. „Zeit, Zeit, Zeit. Gibt es denn nichts anderes, worum ihr euch Sorgen macht? Ist doch schnurzegal, wie lange man irgendwo ausharrt. Tausend Äonen, Milliarden Äonen, wen kümmerts? Hane war sich sehr bewusst, was mein Vater mit ihr anstellen würde, wenn er sie in die Finger bekommt. Innos hätte sie für die Schande gefoltert, die sie seiner Ansicht nach über die vom Feuer Abstammenden gebracht hat. Wenn ihr ihr Leben lieb war, ist sie nie wieder aus ihrem Versteck gekommen.“
    „Und wer ist diese Hane?“, fragte Arn ohne ehrliches Interesse.
    Karna lächelte schaurig. „Die Göttin der Flügel. Sie wählte Lebewesen aus, die ihr würdig erschienen, den Himmel für sich zu erschließen.“
    Arn wusste nicht, ob seine Worte wirklich keinen Sinn ergaben, oder ob er einfach nicht mehr imstande war, sie zu verarbeiten.
    „Ich wollte sie eigentlich erst einsammeln, wenn ich dich an der Oberfläche abgesetzt habe.“ Karna blieb stehen.
    Arn brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er nicht von Hane sprach. Zuerst dachte er, dass vor ihnen ein langes Schwert aus rotem Metall im Boden steckte. Dann erkannte er den riesigen, runden Griff, und das Loch in der Klinge, wo Griff und Schneide ineinander übergingen.
    „Die linke Scherenhälfte. Auge, Aura, Hammer, Schere und Schloss. Die fünf Artefakte, die Innos von der Meisterschmiedin Kaya persönlich anfertigen ließ und die aus ihm selbst gefertigt wurden. Wenn selbst ihr Ruf nicht bis heute überdauert hat, muss ich wirklich lange eingesperrt gewesen sein.“ Karna warf ihm einen geringschätzigen Blick von der Seite zu. „Vielleicht bist du aber auch kein Maßstab.“
    Klappernd ließ er die Aura fallen und packte den Griff der Scherenklinge. Vollkommen lautlos glitt sie aus dem Stein. Karna begutachtete die schlanke Klinge kurz, dann hielt er sie Arn hin. Arn rührte sich nicht. Er hatte viel zu viel Angst, dass er sie wieder nicht heben konnte und Karna endgültig zur Weißglut brachte.
    „Nun nimm schon. Die Schere wiegt nichts.“
    Zaghaft griff Arn nach der Hälfte und als Karna losließ, erschrak er beinahe. Karna hatte es wörtlich gemeint. Die Scherenhälfte wog wirklich nichts. „Ohne eigenes Gewicht ist sie imstande alles ohne jeden Widerstand zu schneiden. Also sei vorsichtig damit. Mit ihr könntest du sogar mich entzwei hacken. Aber so dumm bist selbst du nicht. Ich bin schließlich deine einzige Hoffnung.“
    „Wofür brauchte Innos solch eine Schere?“, fragte Arn und wog sie immer noch verwundert in seiner Hand.
    „Früher einmal brauchte er sie halt“, lautete die gereizte Antwort. „Würde er sie immer noch brauchen, hätte er sie wohl kaum hier zurückgelassen, nachdem er mich weggesperrt hatte.“
    Arn spürte, dass das nur ein Teil der Wahrheit war. Und noch ehe er seine nächste Frage stellte, fuhr Karna tatsächlich fort. „Innos trennte mit dieser Scherenklinge die Verbindung zwischen mir und meinem Attribut auf. Danach stieß er sie hier in den Boden. Es muss einen Grund geben, warum er sie nie abgeholt hat. Ich jedenfalls konnte die Aura der Schere die ganze Zeit fühlen. Wo die andere Hälfte ist, weiß ich aber nicht.“
    „Und was machen wir jetzt mit der Schere?“, fragte Arn.
    „Ist doch klar“, schnauzte Karna ihn an. Als er Arns verwirrtes Gesicht sah, seufzte er. „Na, wir schlitzen ein Loch in den Körper des Flötzenwurms und sehen uns das Ungetüm mal von innen an. Hane hat sich damals in ihm vor meinem Vater versteckt. Seine dicke Haut tilgt jede Aura, weshalb es ihre einzige Chance war, meinem Vater zu entkommen. Es gibt nicht viel, was durch die Haut des Flötzenwurms dringt, aber mit der Scherenklinge müsste es ein Kinderspiel sein!“
    Arn war die Kinnlade heruntergesackt. „Du willst in diesen ekligen Wurm rein?“
    Karna lächelte wieder auf seine boshafte Art. „Wir wollen in diesen Wurm rein.“

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    Irenicus-Bezwinger  Avatar von MiMo
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    Arn hatte geglaubt, dass er die Scherenhälfte als Gehstock gebrauchen und so seinen Weg etwas erträglicher gestalten konnte. Zu seinem Leidwesen musste er feststellen, dass Karnas Beschreibung bezüglich der Schärfe der Scherenklinge höchst zutreffend war: Jedes Mal, wenn er mit der Spitze den Höhlenboden berührte, versank sie wie ein Stein im Wasser, bis nur noch der Griff aus dem Boden ragte. Also hielt er das Artefakt nun einfach seitlich weg von seinem Körper.
    Sie verließen den Tunnel und standen wieder am unteren Ende der schräg abfallenden Höhle, die sie kurz zuvor noch zu erklimmen versucht hatten.
    „Oft scheint dieser Flötzenwurm hier aber nicht vorbeizukommen“, fiel Arn auf. „Sonst wären hier doch viel mehr Löcher.“ Allmählich kam es ihm unrealistisch vor, dass seit unzähligen Jahren dieser riesige Wurm unter Argaan tobte und die Insel trotzdem noch nicht in sich zusammengefallen war.
    „Auch der Flötzenwurm kann nicht endlos fressen, ohne sich zu entleeren“, gab Karna ungeduldig zu Bedenken. „Ich glaube, wir könnten hier sogar am Rande eines Haufens von ihm stehen.“
    Arn musterte irritiert den unebenen Höhlenboden vor ihnen.
    „Wenn es für den Flötzenwurm an der Zeit ist, sich zu entleeren, sollte man nicht in seiner Nähe sein. Nur so als Tipp.“ Karna lächelte gefährlich. Dann wurde sein Grinsen noch breiter und er hielt sich seinen Armstumpf vor Augen. Schaudernd erkannte Arn, dass der Stumpf pulsierte und kleine Würmer aus dem Fleisch schossen, sich miteinander verknoteten und mit dem Armstumpf verschmolzen. Als nächstes bildete sich eine Handfläche heraus und gleich darauf brachen fünf schwarze Finger aus ihr hervor. „Geht doch.“ Karna öffnete und schloss seine Hand mehrere Male. Dann streckte er sie nach der Scherenklinge aus.
    Arn überreichte sie ihm vorsichtig. Karna schwang sie durch die Luft, probierte seine neuen Muskeln aus, und verfehlte Arn dabei nur knapp. „Den Flötzenwurm lockt man mit seiner Leibspeise an.“ Er ließ die Scherenklinge in seiner Hand kreisen. Dann stoppte er sie, die Spitze direkt auf seinen Bauch gerichtet. Arn zuckte unwillkürlich zusammen, als er die Spitze der Scherenklinge in seinen Unterleib rammte und sie als Hebel benutzte, um ein Stück Fleisch herauszuklappen. Er zog die Klinge zurück, schwarzes Blut tropfte von ihrer Spitze. Arn nahm die Klinge wieder entgegen, vollkommen überfordert von dem Anblick, der sich ihm bot. Karna griff sich ohne jede Zurückhaltung in seine klaffende Wunde. Arn kämpfte schon mit seinem Würgreflex, als Karna an etwas zu ziehen begann. Mit einem furchtbar schleimigen Ratschen riss er sich ein Organ heraus. Die letzten Sehnen, die es noch mit seinem Körper verbanden, rissen schnalzend. „Götterleber. Kein Lebewesen, das schon einmal ihren Geschmack gekostet hat, kann ihr widerstehen.“
    Arn war zu geschockt, um etwas zu erwidern.
    Karna holte aus und schleuderte die Leber den Abhang hinauf. Im selben Augenblick setzte das Beben wieder ein. Schneller als beim letzten Mal folgte das Krachen, begleitet von einer riesigen Staubwolke und dem Trümmerhagel. Der Höhlendreck brandete über sie hinweg und Arn erkannte, dass die schleimige Haut direkt vor ihm aus dem Erdreich aufstieg. Um ein Haar hätte der Flötzenwurm nicht nur die Götterleber, sondern auch sie mit einem Haps verschlungen. „Steh nicht so rum, eine zweite Chance bekommen wir so schnell nicht wieder!“, herrschte Karna ihn an und riss ihm die Scherenklinge aus der Hand. Mit einer beinahe lässigen Bewegung rammte er sie in den vorbeischnellenden Wurm. Augenblick ergoss sich eine Kaskade Flötzenblut über sie, während der Wurm ungehemmt weiter in die Höhe stieg und die Klinge einen immer länger werdenden Riss in seine Haut schnitt.
    Arn fragte sich, wie um Himmels willen sie jetzt in das Innere des Wurms gelangen sollten, da klemmte Karna ihn plötzlich unter den Arm, mit dem er die Scherenklinge hielt und rammte mit der anderen Hand die Aura Innos‘ in die klaffende Wunde. Augenblick wurden sie in die Höhe gerissen. Arns Nacken knackte protestierend. Karna fluchte und Arn sah auch sofort, warum: Der Schild hatte sich zwar fest in dem Flötzenwurm verkeilt, doch Karnas Arm wurde nur noch von wenigen Sehnen zusammengehalten. Der Ruck war für den nukleozidgeplagten Körper zu viel gewesen.
    Dann konnte Arn nichts mehr sehen, nicht mehr atmen. Ein beißender Gestank stieg ihm in die Nase und in seinem Mund hatte er einen brennenden Geschmack. Er strampelte um sich, aber überall war nur diese weiche Masse, die auch auf seine Nase drückte. Er hatte sich in den letzten Tagen schon oft seinen Tod ausgemalt, doch nie hatte er geglaubt zu ersticken. Seine Sinne begannen bereits zu schwinden, als ein gleißender Schmerz ihn zurück in die Realität riss: Etwas zerrte ihn an seinem gebrochenen Arm aus dem Flötzenwurmfleisch.
    Mit fremdartigem Blut überströmt und gierig nach Luft schnappend klatschte er vor Karna auf den Boden. Den unangenehm weichen Boden. Er war noch gar nicht wieder ganz bei Atem, da rappelte er sich schon wieder auf, weil die rote Flüssigkeit, in der er kniete, ihm alles andere als ein sicheres Gefühl gab.
    „Wir haben den alten Haudegen ganz schön ausbluten lassen“, sagte Karna ungerührt. Das Strahlen in seinen Augen wirkte mit einem Mal viel lebendiger. Arn hatte das sichere Gefühl, dass Karna dieses irrsinnige Unterfangen einen Heidenspaß bereitete. „Sollten uns beeilen, bevor sich seine Wunde schließt und hier wieder Blut ankommt.“
    „Wir sind hier… in der Blutbahn des Flötzenwurms?“, fragte Arn heiser. Allmählich fragte er sich, ob er in Wirklichkeit nicht irgendwo in einem Fieberwahn vor sich hinfantasierte. Genau genommen war ihm das sogar lieber als tatsächlich in der riesigen Hauptschlagader eines überdimensionalen Wurms herumzuirren. Das Blut an seinem Körper klebte unangenehm und die Gefäßwände pulsierten in aufgeregtem Takt.
    „Du wolltest jawohl nicht in der Haut des Flötzenwurms ersticken, oder? Sei gefälligst etwas dankbarer.“
    Trotz seiner schroffen Ausdrucksweise schien Karna um einiges weniger gereizt als noch zuvor. Mit einem Hieb schnitt er die gegenüberliegende Wand der Arterie auf. Wortlos streckte er Arn wieder die Scherenklinge hin. Nachdem Arn sie angeekelt entgegengenommen hatte, riss Karna sich zuerst seinen halb abgetrennten Arm ab. „Der stört sonst nur beim Nachwachsen.“ Dann steckte er seine verbleibende Hand in den Schlitz, der sie tiefer in den Wurm hinein führen würde und hielt Arn den Durchgang auf, wie einen abstrusen Vorhang. „Nach dir, Memme.“
    Arn schluckte, betete noch einmal, dass alles nur ein Traum war, und stieg in den Schlitz. Nie hatte er sich vorgestellt, wie es sich anfühlte geboren zu werden. Doch als er mit seinem Kopf voran in den nächsten Hohlraum vorstieß und sich das Fleisch beim Übertreten hauteng an ihn presste und seinen Schleim an ihm zurückließ, da konnte er sich die Vorstellung nicht verkneifen, dass es sich genau so anfühlte.
    Erst als Karna ihm folgte, wurde der vor ihm liegende Bereich in schummriges Licht gehüllt. Ein grünes Rinnsal floss das schlauchförmige Organ entlang, das sie betreten hatten. Der Geruch biss Arn unsanft in die Nase.
    „Aaah“, sagte Karna, kniete sich nieder und schöpfte etwas von der grünen Flüssigkeit ab. „Flötzenextrakt.“ Seine lange Zunge schnellte hervor und schleckte das Extrakt aus seinen verbrannten Handflächen.
    Arn schauderte vor Ekel. Gleichzeitig verkrampfte sich sein Bauch gierig. „Kann… Kann man das trinken?“, fragte er zaghaft und hoffte irgendwie, dass die Antwort Nein war.
    „Na klar, was für eine dumme Frage“, erwiderte Karna und schöpfte ein zweites Mal nach der Flüssigkeit.
    Arns Denken setzte aus. Als er wieder zu sich kam, war er schon auf den Knien und hielt sich die warme, dicke Flüssigkeit vors Gesicht. Einen Moment beäugte er sein schemenhaftes Spiegelbild in seiner Hand. Dann schlürfte er das Extrakt gierig in sich hinein. Er hatte erwartet, dass es klebrig, fettig, schwer zu schlucken war, dass ihm sofort schlecht würde, wenn seine Lippen diese grüne Flüssigkeit auch nur berührt hatten. Doch genau das Gegenteil war der Fall. Die Flüssigkeit befeuchtete seinen ganzen Mund. Die vertrockneten Schleimhäute sogen sich mit der willkommenen Erfrischung voll und doch blieb genug übrig, um den Weg seinen brennenden Hals hinab zu finden. Das Brennen war augenblicklich vorbei. Erst als seine Sinne sich plötzlich wieder schärften, wurde ihm klar, wie trüb seine Wahrnehmung geworden war. Sein Geist bebte vor Erquickung. Gierig schöpfte er noch einmal nach dem Extrakt.
    „Flötzenextrakt wird allerhand nachgesagt“, erzählte Karna abschweifend. „Heilkräfte. Illusionen. Flüche.“ Er griente. „Bin ja mal gespannt, was davon wahr ist.“
    Arn hielt inne, als er Karnas unbarmherzigen Blick auf sich ruhen spürte.
    „Wir sollten weiter.“
    „Können wir nicht noch kurz rasten?“, wagte Arn zu fragen.
    „Und wenn der Flötzenwurm die Richtung ändert?“, wandte Karna ein. „Möchtest du diese Extraktbahn etwa runterfallen?“
    Arn sah beklommen in die Dunkelheit, in der sich der Gang verlor. Der Gedanke war ihm noch gar nicht gekommen.
    „Ich spüre Hane“, fuhr Karna fort. „Die Haut des Flötzenwurms mag ihre Aura verborgen haben, aber jetzt spüre ich deutlich, dass sie noch hier ist.“ Karna stapfte los, ohne sich noch einmal nach Arn umzuwenden. Arn griff nach seinem Wasserschlauch, doch dann fiel ihm wieder ein, dass er bei seinem Absturz geplatzt war. Er beschloss, auf jeden Fall noch einmal ausgiebig zu trinken, bevor sie den Flötzenwurm wieder verließen. Er spürte, wie ein übermächtiges Gefühl ihn ergriff. Er ging wirklich davon aus, dass sie diesen Riesenwurm wieder verließen. Wann war seine Hoffnung zurückgekehrt?
    Karna schlitzte dem Flötzenwurm noch viele Male Innereien auf. Seine übernatürliche Wahrnehmung führte sie wie ein Kompass durch diese pulsierende, schleimige Welt. Tatsächlich änderte der Flötzenwurm von Zeit zu Zeit seine Richtung, doch dann schnitzte Karna ihnen jedes Mal rasch eine Nische in das weiche Fleisch des Wurms. Als sie den Darm passierten, begannen Arns Schuhsohlen beunruhigend zu qualmen und die Dämpfe brannten so sehr in seinen Augen, dass er sie unmöglich öffnen konnte. Doch Karna schien ohnehin nicht lange im Darm verweilen zu wollen und schnitt direkt die gegenüberliegende Darmwand auf. Dieses Mal mussten sie sich durch eine besonders dicke Schicht aus Fleisch und Muskeln quetschen.
    Bis sie schließlich an einem Ort herauskamen, der größer und unheimlicher war als jeder andere, den sie bislang gemeinsam bereist hatten. Ein riesiges, rhythmisch pumpendes Organ hing mitten in dem Hohlraum an den unzähligen Adern, die von überall her zu ihm führten. Das Pochen des Organs war beinahe ohrenbetäubend.
    „Das Herz des Flötzenwurms“, kommentierte Karna geringschätzig. „Hier muss irgendwo…“
    Arn sah zu ihm auf, als er sich unterbrach. Zum ersten Mal wirkte Karna wirklich überrascht.
    „Du bist nicht Hane“, rief er und grinste breit. „Damit erhöht sich die Anzahl der Götter, die meinem Vater entkommen konnten, auf sechs. Rei, Göttin der Bewegung.“
    Und als Karna nun zu dem Herzen aufsah und es wie ein Leuchtfeuer erhellte, erkannte auch Arn die zierliche Frau, die dort in einem Knäuel aus Adern an das pulsierende Herz gefesselt war. Die Fesseln bedeckten ihren ganzen Körper. Nur ein nackter, zerbrechlich wirkender Fuß und ein Kopf guckten aus der Masse heraus. Strähnen ihres weißen Haares hingen fast bis zu ihnen herunter. Von jedem Pulsschlag wurde ihr Körper durchgeschüttelt, sodass ihr Haar seicht schlingerte.
    „Göttin der Bewegung?“, echote Arn verständnislos. „Heißt das, sie hat… Bewegung erschaffen?“
    „Was ist daran so schwer zu verstehen?“, herrschte Karna ihn an. „Vor ihrer Geburt gab es halt keine Bewegung. Alles war starr. An den Raum-Zeit-Koordinaten fixiert, an denen es halt verankert war. Erst durch Reis Existenz wurden diese Anker gelöst. So wie das Feuer meines Vaters erst nach meiner Geburt leuchtete. Und jetzt stell keine dummen Fragen mehr.“
    Arn nickte. Er durfte nicht vergessen, dass Karna ihn jederzeit töten konnte. Letztendlich war es doch egal, ob er diese Zusammenhänge verstand, solange Karna ihn nur wieder an die Oberfläche brachte.
    Die Göttin namens Rei hatte ihre Augen einen Spalt weit geöffnet. Rubinrot lugten sie in ihrem fast weißen Gesicht hervor. „Karna“, sagte sie, mehr nicht.
    „Wo ist Hane?“, fragte Karna sie unwirsch. „Ich habe nur ihr davon erzählt, dass der Flötzenwurm einen vor meinem Vater verbergen kann. Wie also kommst du hierher?“
    „Ich“, sagte Rei und schien sich kaum daran zu erinnern, was dieses Wort bedeutete. „bin viel älter als du, Karna. Was du Wissen nennst, ist allgemein bekannt. Meine Tochter…“ Sie schloss die Augen, während der Puls des Herzens sie wieder durchschüttelte. „…ist in Sicherheit. Der Flötzenwurm war als Versteck nicht gut genug. Sie hätte ihn nie wieder verlassen können.“
    „Wo hast du sie hingeschickt?“, drängte Karna. Arn bekam allmählich den Eindruck, dass er Hane nicht nur suchte, um ihm einen Weg an die Oberfläche zu ermöglichen. Wenn er Hane den Trick verraten hatte, wie sie seinem Vater entkommen konnte, mussten sie sich nahe gestanden haben.
    „Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir…“ Rei ließ sich von weiteren Pulsschlägen schütteln, bevor sie weitersprach. „Doch, ich kann dir vertrauen.“ Ihre Augen öffneten sich wieder einen Spalt breit. „Als Innos uns alle zu sich rief, bin ich mit der Obsidian von Zuuruul über die südsphärische Lavastraße angereist. Zuuruul verankerte sein Schiff an dem See, der sich unter dem Vulkan dieser Insel befindet. Als wir von Innos‘ Plan erfuhren, versprach Zuuruul, mir Zeit zur Flucht zu verschaffen. Ich sollte zurück zu dem Schiff und ohne ihn verschwinden. Doch ich machte mich auf die Suche nach meiner Tochter.“
    „Du kannst sie unmöglich im Inneren des Flötzenwurms gefunden haben“, fiel Karna ihr verächtlich ins Wort.
    „Was verstehst du schon von dem Band zwischen Mutter und Tochter“, erwiderte Rei mit ihrer matten Stimme. „Seit jenem Tag frage ich mich, ob ich sie gerettet oder verurteilt habe. Die Wahrscheinlichkeit, dass Zuuruul sein Schiff erreicht hat, ist verschwindend gering. Und außer ihm war nur ich in der Lage, es zu steuern. Doch Innos war uns bereits auf der Spur und ich musste mich darauf konzentrieren, ihn von ihr abzulenken.“
    „Wenn sie die Obsidian erreicht hat, würde das erklären, warum sie meinem Vater entkommen ist. Das Material des Schiffs schirmt selbst göttliche Magie ab, wenn ich mich richtig erinnere.“ Verbittert schloss er die Augen und für einen Moment wurde es dunkel. „Und da sie das Schiff nicht lenken kann, treibt sie seither führungslos auf dem Lavasee umher, mutterseelenallein und ohne jede Aussicht auf eine Veränderung.“
    „Du hast ihr doch ein viel schlimmeres Schicksal gemeißelt“, flüsterte Rei vorwurfsvoll in die Finsternis. „Wenn es nach dir gegangen wäre, wäre sie auf ewig in dieser schleimigen Welt versauert. Mein liebes Mädchen… Sie wäre eingegangen.“
    Karna riss seine Augen auf und der Raum war urplötzlich in Zornrot getaucht. „Ich wollte sie doch nur in Sicherheit bringen, während ich meinen Vater erledige! Ich hätte sie sofort im Anschluss abgeholt.“
    „Niemand kann deinem Vater die Stirn bieten, seit er die Ordnung in sich aufgenommen hat. Du bist so ein törichter Junge.“
    „Kinder rebellieren gegen den Willen ihrer Eltern“, schrie Karna, offenbar ernsthaft von ihren Worten getroffen. Arn wich hastig vor seinem Partner zurück. „Das ist Gesetz. Das ist Ordnung. Ich war und bin der einzige, der meinem Vater das Handwerk legen kann, ohne die Ordnung zu überwinden. Ich hatte eine Chance!“
    „Söhne mögen ihre Väter eines Tages überflügeln“, sagte Rei kalt. „Aber nicht, wenn die Söhne es glauben. Sondern wenn die Väter es anerkennen.“
    Karna grollte vor Wut. „Ich bin aus eigener Kraft aus dem Säulenkäfig ausgebrochen, den mein Vater mir für die Ewigkeit gebaut hat. Seine Artefakte erkennen mich immer noch als würdigen Träger an. Dieses Mal werde ich es sein, der ihn von seinen Attributen trennt, egal wie viele er sich in der Zwischenzeit auch angeeignet haben mag!“ Karna schwang die Scherenklinge. Arn war sich zunächst nicht sicher, doch mit einem Mal sah sie viel länger aus. „Und du wirst mir nun helfen, deine Tochter zu finden und sie in Sicherheit bringen!“ Mit einem einzigen Hieb durchtrennte er die meisten der Adern, die zu dem Knäuel liefen, das Rei so fest umschlungen hielt. Das Herz hinter ihr krampfte sich zusammen und erschauerte. Reis Silhouette verschwamm durch die zittrige Bewegung. Die durchtrennten Adern fielen eine nach der anderen von ihr ab. Dann sackte das Herz mit einem schweren Seufzer zu Boden.
    Karna schulterte überlegen grinsend die Scherenklinge, die wieder auf ihre ursprüngliche Länge zusammengeschrumpft war. Arn hatte eigentlich fragen wollen, ob der Flötzenwurm nun starb. Doch die Frage blieb ihm im Halse stecken, als er Reis Körper erkannte. Ihre linke Körperhälfte war mit dem Herzmuskel hinter ihr verwachsen.
    „Ich kann diesen Ort nie wieder verlassen“, erklärte Rei monoton.
    „So weit bist du also gegangen, um Hane zu beschützen“, sagte Karna und zum ersten Mal schwang so etwas wie Anerkennung in seinen Worten mit. „Du hast dich mit dem Flötzenwurm verbunden, um ihn lenken zu können und Innos so anzugreifen. Er hat geglaubt, dass der Wurm nur rein zufällig seinen Weg kreuzt, nicht wahr?“
    „Das Verhalten von Tieren unterliegt seiner Ordnung nicht“, antwortete Rei.
    Schweigen breitete sich bleiern zwischen ihnen aus. Arn hatte das unangenehme Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, so schwül war es in dem Herzraum.
    „Und du bist Hane in all der Zeit nicht suchen gegangen?“, fragte Karna.
    Rei schloss ihre Augen und schwieg.
    „Sie ist seit einer Ewigkeit allein auf der Obsidian und treibt auf dem Lavasee umher und du hast sie nicht ein einziges Mal besucht.“
    Rei schwieg.
    „Du weißt nicht mal, ob sie es lebend dorthin geschafft hat, oder?“
    „Sie lebt. Das spüre ich. Ich bin ihre Mutter.“
    „Dann such sie gefälligst!“, brüllte Karna. „Wie kannst du Hane so ein beschissenes Leben zumuten und sie dann einfach allein lassen! Du hast sie auf die Obsidian gesperrt und ihrem Schicksal überlassen, sie seit jenem Tag, der die Rasse der Götter fast vollständig auslöschte, zu Einsamkeit verdammt.“
    Zum ersten Mal lächelte Rei. Freudlos, doch ihre Mundwinkel hoben sich. „Du bist so unverschämt wie eh und je, Karna. Du warst meiner Tochter nicht würdig und wirst es nie sein. Ich habe ihr das Leben im Inneren des Flötzenwurms erspart, das du ihr zugedacht hast. Wäre es hier drin besser gewesen? Wohl kaum. Die Obsidian ist rustikal, doch sie bietet mehr Komfort als die Innereien eines schlibbrigen Gewürms.“
    Karna ballte seine Hände zu Fäusten. Doch dass er nichts mehr erwiderte, sagte mehr als es Worte vermochten.
    „Ich habe sie nicht besucht, weil ich den Flötzenwurm nicht verlassen konnte. Ich hätte ihn in die Nähe des Lavasees bringen können. Sehen können, ob sie lebt.“ Reis Stimme bebte plötzlich. „Ich würde es nicht ertragen, nicht zu ihr gehen zu können, wenn ich sie unter ihrer Einsamkeit leiden sehe. Ich wäre daran zerbrochen. Doch Hasrudils Erlösung ist von Guuv versperrt. Es war egoistisch.“
    Arn versuchte sich in die Gefühle der Mutter hineinzuversetzen, doch irgendwie wollte es ihm nicht gelingen. Auf ihn warteten weder Frau noch Kind. Er hatte niemanden, den er so dringend beschützen wollte. Dann fiel ihm wieder ein, wie er an seine Mutter gedacht hatte, als er sich sicher war zu sterben. Es beschämte ihn, als ihm klar wurde, dass er bei dem Gedanken an ihre Trauer ebenso zu zerbrechen gedroht hatte wie Rei bei dem Gedanken an ihre Tochter. Er schüttelte den Gedanken ab, bevor er sich wieder dafür bemitleiden konnte. Dass seine Mutter immer noch der Mensch war, der ihm am nächsten stand.
    „Bring mich zum Lavasee“, forderte Karna plötzlich. Seine Hände waren noch immer zu Fäusten geballt.
    Rei öffnete ihre Augen weit und sah ihn mit ihren durchdringenden, roten Pupillen an.
    „Du bringst uns zu ihr und setzt uns bei ihr ab. Wir werden zu ihr gehen und sie aus ihrer Einsamkeit befreien.“
    Das pumpende Herz schüttelte sie immer wieder durch und ihr Kopf wackelte auf ihren Schultern hin und her. Doch Reis durchdringender Blick hielt an. „Ich wollte nie, dass du mit meiner Tochter die Ewigkeit verbringst. Doch nun scheint mir keine Wahl zu bleiben.“ Leiser fuhr sie fort: „Alles ist besser als Einsamkeit.“
    „Das ist wahr.“ Karna lockerte seine Finger.
    Rei gab ein Ächzen von sich, das überhaupt nicht zu ihrer zarten Statur zu passen schien. Ein Zittern durchlief ihre verbliebenen Gliedmaßen und ihre Augäpfel rollten in ihren Kopf hinein. Das Herz des Flötzenwurms begann wieder zu pumpen, schneller und schneller zu schlagen.
    „Ist der Flötzenwurm jetzt tot oder nicht?“, entrutschte Arn die Frage, bevor er sie sich recht überlegt hatte.
    „Pah, der Flötzenwurm hat Dutzende Herzen“, antwortete Karna mit belegter Stimme. „Den kriegt niemand klein.“
    Plötzlich wurde der Raum auf die Seite geworfen. Die abgetrennten Adern peitschten durch die Luft und trafen Arn im Gesicht. Das Herz schwang herum und klatschte gegen die fleischige Wand.
    Arn schob die ausgelaugte Ader schaudernd von sich. Sie war dicker als sein Unterarm. „Lenkt sie den Flötzenwurm?!“, entfuhr es ihm entgeistert.
    Karna warf ihm nur seinen verächtlichen Blick zu, der eine Antwort erübrigte. „Es wird nicht lange dauern, bis wir Hane gefunden haben“, sagte er ungewohnt ruppig.

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    Der Flötzenwurm hielt an. Die riesigen Muskeln beförderten den zuletzt gefressenen Unrat weiter in den Magen. Der Wurm riss sein kreisrundes, zahnloses Maul weit auf. Schummriges, rot glühendes Licht beschien die schleimige Mundhöhle.
    Ohne Arn zu beachten, warf Karna die Falte der Mundschleimhaut beiseite, hinter der sie sich versteckt hatten, um nicht mitsamt dem gefressenen Material in den Magen des Flötzenwurms befördert zu werden. Er stakste über das weiche Fleisch bis hin zum Rand der Kreatur. Arn folgte ihm mit hastigen, unsicheren Schritten. Er konnte es kaum erwarten, das Innere des Wurms endlich zu verlassen.
    Als er über die schwulstige Lippe des Wurms geklettert war und auf hartem Fels landete, wusste er nicht, an wen er sein Stoßgebet senden sollte. Er hatte die unglaubliche Reise in dem Riesenwurm tatsächlich überlebt.
    Der Flötzenwurm ragte wie der riesige Ausgang eines Tunnels aus einer senkrecht abfallenden Felswand, die sich weit über ihren Köpfen in Dunkelheit verlor. Als Arn sich von dem Wurm abwandte, spürte er Hitze auf seinem Gesicht. Vor ihm lag ein riesiger Lavasee, dessen Ende er nicht einmal erahnen konnte. Doch fern am Horizont, von Hitzeschlieren verwischt, meinte er ein riesiges schwarzes Schiff zu erkennen, ohne Mast und Ruder, aber mit deutlich ausgeprägtem Bug.
    „Wie sollen wir denn da jetzt rüberkommen?“, murrte Karna ungeduldig. Kaum hatte er es ausgesprochen, begann das Schiff sich zu drehen, bis die Spitze des Bugs direkt auf sie zeigte. Arn erinnerte sich daran, dass Rei gesagt hatte, dass nur noch sie in der Lage war, die Obsidian zu steuern.
    Als das stolze Schiff näher kam, lichteten sich auch die Hitzeschlieren und Arn erkannte, dass das Schiff aus einem schwarz glänzenden, grob geschliffenen Stein bestand. Karna wartete reglos auf die Ankunft des Schiffes. Er verengte seine Augen, offenbar auf der Suche nach Hane. Doch auch Arn konnte sie auf dem Deck nirgends entdecken.
    Karna ließ die Aura Innos‘ achtlos fallen. Dann warf er einen Blick über die Schulter. „Du kommst auch mit, Jämmerling.“
    „Was?“ Arn wollte auf keinen Fall mit auf diesen Stein, von dem ihm völlig unklar war, wieso er auf der Lava trieb wie ein Holzschiff auf Wasser. Achtlos packte Karna ihn im Genick und stieß sich mit einem Satz vom Boden ab.
    Sie flogen über die Lava und die Hitze brannte auf seiner Haut, wo Löcher in seinen zerschlissenen Kleidern waren. Auf dem Deck ließ Karna ihn ebenso achtlos fallen wie zuvor den Schild. Dachte er zumindest. Doch der Griff von Karnas Hand in seinem Nacken lockerte sich nur langsam. Und als Karna übers Deck zu der Tür lief, die ins Innere des Schiffs führte, rutschte der abgetrennte Arm Arns Rücken herunter und landete mit einem Flatschen auf der Obsidian.
    Arn strich mit seinen Fingern über die glatte, schimmernde Oberfläche. Sie war sehr kühl, obwohl das Schiff Reis Erzählung nach schon seit einer Ewigkeit auf dem Lavasee trieb.
    Plötzlich hallte Karnas Schrei aus dem Schiffsinneren zu ihm herauf und durch die ganze Höhle. Der Schrei war so unmenschlich, so voll unbändiger Kraft, dass Arn einen Moment brauchte, um die Trauer herauszuhören. Es war ein ganz anderer Schrei als bei den vielen Wutausbrüche, die er schon miterlebt hatte.
    Langsam stand Arn auf, unsicher, was er nun tun sollte. Schritt für Schritt näherte er sich der Tür, durch die Karna aus seinem Sichtfeld verschwunden war. Hinter ihr lag eine Treppe. Auf dem Treppenabsatz wuchs ein leuchtender Kristall, offenbar direkt aus dem Obsidian.
    Karnas Schreie hielten an, wieder und wieder brüllte er sich die Seele aus dem Leib und je mehr er sich verausgabte, desto menschlicher klangen sie. Arn nahm die Treppe Stufe für Stufe. Er war sich nicht sicher, ob er dem Gott in dieser Verfassung wirklich unter die Augen treten wollte. Doch als er den Raum erreichte, in dem Karna über einem menschlichen Umriss kniete, beschienen von einem halben Dutzend Kristallen, schien Karna ihm nie weniger gefährlicher gewesen zu sein.
    Arn trat neben den reglosen Körper und stellte fest, dass es mehr der Schatten eines Körpers war. Eine zusammengefallene, leere Hülle. Mit weit aufgerissenem Mund, leeren Augenhöhlen und aufgekringelten Fingern.
    „Ist das Hane?“, fragte er vorsichtig.
    Karna antwortete nicht, hörte aber auf zu schreien. Arn hörte so etwas wie Schluchzen, konnte aber keine Tränen in den roten Augen erkennen.
    „Das war Hane“, antwortete Karna nach einer gefühlten Ewigkeit.
    „Wie ist sie gestorben?“, fragte Arn. Er konnte den Blick einfach nicht von diesem vollständig erhaltenen, aber in sich zusammengefallenen Körper lassen. Obwohl die Augenhöhlen leer waren, wirkte ihr Gesicht noch so frisch.
    „Götter sterben nicht. Nur Tiere sterben“, erklärte Karna gereizt. „Viele Götter hätten sich gewünscht, ihrem Sein dem Tier gleich ein einfaches Ende bereiten zu können. Irgendwann ist jeder seiner Existenz überdrüssig. Irgendwann hat jeder alles erlebt, was er erleben wollte. Alles erkundet, was er sehen wollte. Alles getan, was er tun wollte. Sie beneideten die Tiere, die so leicht verendeten. Die Ewigkeit lastete wie ein Fluch auf manchen Göttern. Bis Hasrudil als Sohn des Gotts des Todes geboren wurde. Sein Werk ist das Virnana, in dem alles aufhört zu existieren. Die Götter dankten ihm für seine Gnade und betraten das Virnana mit Erleichterung. Mein Vater lockte die versammelte Götterschaft in eine Falle und stieß sie alle in das Virnana hinab. Niemand kann dem Virnana entkommen, doch um ganz sicher zu gehen, versiegelte er den Eingang mit dem sagenumwobenen Stein von Guuv. Seither ist Hasrudils Attribut versiegelt und die Götter haben die Gnade des Endes verloren.“
    Arn musterte Hanes leeren Körper zu seinen Füßen. „Aber was ist dann mit Hane geschehen?“
    „Sie ist… gestorben.“ Karnas Stimme brach. Arn gab ihm kurz Zeit sich zu sammeln, dann fuhr er fort. „Vor Hasrudils Geburt gab es nur eine Art, wie Götter sterben konnten. Es sind Gefühle, die eine Seele am Leben halten. Positive Gefühle. Bar jeder Gesellschaft und voll Kummer, von der Aussichtslosigkeit ihrer Situation gebrochen, von den Erinnerungen an alles, was sie verloren hat, zermürbt… Hanes Gefangenschaft auf diesem Schiff hat ihre Seele aufgefressen. Es dauert Jahrtausende, bis eine Seele vollständig aufgezehrt ist. Hane hat hier unten eine Ewigkeit gelitten, bis sie endlich nichts mehr fühlen musste und ihr Leben endete. Weil das die einzige Alternative ist, empfanden wir Hasrudils Virnana als Gnade.“
    Wieder hörte Arn dieses Schluchzen, das tief aus Karnas Kehle zu dringen schien und seine Miene völlig unberührt ließ. Dann sackte Karna vornüber zusammen – so schien es. Arn stieß einen Schrei aus, als Karna, kurz bevor sein Gesicht auf Hanes Brust traf, seine Kiefer auseinanderriss und seine Zähne in dem toten Fleisch versenkte. Entsetzt sah Arn zu, wie Karnas Zähne sich um etwas schlossen und es aus der Brust der toten Göttin rissen. Karna reckte seinen Kopf hoch, eine matt schimmernde Perle zwischen den Schneidezähnen eingeklemmt, die Augen groß, rund und ausdruckslos. In diesem Augenblick hatte Arn nicht das Gefühl, das noch etwas Menschliches in ihm steckte. Karna öffnete seine Kiefer und ließ die Murmel einfach in seine Kehle fallen. Geräuschvoll schluckte er sie hinunter. Doch gleich darauf krümmte er sich vor Schmerzen. Arn sah hilflos dabei zu, wie Karna sich unter Todesqualen wand. Die Schmerzen warfen ihn flach auf den Rücken und genau in dem Moment, in dem seine Schulterblätter die Obsidian berührten, ploppte die Murmel einfach aus seiner Brust hervor. Schwer atmend blieb Karna liegen, während die Murmel träge über den glatten Boden kullerte.
    „Ich hätte wissen müssen, dass es nicht funktionieren würde“, grollte Karna nach einer Weile, in der Arn sich nicht einen Mucks zu sagen getraut hatte. „Nimm du sie, Arn.“
    Bei der Erwähnung seines Namens zuckte Arn zusammen. „Ich?“
    „Du willst doch nicht für alle Zeiten so ein Waschlappen bleiben, oder?“, ätzte Karna und hob sich umständlich wieder auf die Füße. „Der Nucleos verbindet uns mit unserem Attribut. Er verankert sich in unserer Seele und macht uns Götter zu dem, was wir sind. Entfernt man einen Nucleos gewaltsam aus einer Seele, zerbricht die Verankerung und die Seele wird sich nie wieder mit einem Nucleos verbinden können. Weil mein Vater mir die Sonne nahm, kann ich Hanes Nucleos nicht in mir verankern. Aber du… Wenn du fliegen willst, das Licht meiner Sonne wiedersehen willst, eigne dir ihr Attribut an. Dann lebt wenigstens ein Teil von ihr weiter.“
    Schlurfend näherte sich Karna der Treppe.
    Arn musterte die unscheinbare Murmel mit gemischten Gefühlen. Konnte sie ihn wirklich zurück an die Oberfläche bringen? Oder würde er genau wie Karna bloß unter ihren Kräften leiden? „Ich bin kein Gott“, sagte er zögernd. „Wieso sollte meine… Seele so einen Nucleos aufnehmen können?“
    Karna setzte einen Fuß auf die erste Stufe. „Du hast gesagt, du bist kein Tier. Wenn du mehr als ein Tier bist, wird der Nucleos sich in dir verankern.“
    „Wie kannst du dir da so sicher sein?“
    „Halts Maul!“, schnauzte Karna und stampfte mit dem Fuß auf. Er zitterte plötzlich am ganzen Leib. „Ich bin fertig mit dir, wir sind quitt. Ich habe dir viel mehr gegeben als ich dir geschuldet habe. Mit Hanes Attribut wirst du deine Jämmerlichkeit abschütteln und ein würdiges Leben führen können. Wag es nicht, mir noch länger auf die Nerven zu gehen.“
    Und mit diesen Worten ließ er Arn allein. Arn stand da, musterte abwechselnd die Murmel und den göttlichen Leichnam. Ihm kam der Gedanke, ob Hane damit einverstanden wäre, wenn er ihren Nucleos aß. Selbst vor einem toten Gott empfand er irgendwie Respekt.
    Von draußen hörte er ein dröhnendes Heulen. Die Obsidian vibrierte unter dem Klagelied wie eine Orgelpfeife. Hastig hob er den Nucleos auf und lief zurück aufs Deck. Er fluchte, als er Karna bereits wieder am Ufer stehen sah. Die Obsidian war schon ein ganzes Stück zurück zur Mitte des Lavasees getrieben. Arn fasste den armlosen Umriss Karnas ins Auge und fragte sich, ob er irgendetwas rufen konnte, dass Karna ihm über den See half. Doch der gebrochene Sonnengott schien ihm seit dem Fund von Hanes Leichnam noch unberechenbarer als zuvor.
    Das Heulen verstummte und erst jetzt wurde Arn klar, dass es der Flötzenwurm gewesen war, der geweint hatte. Karna stand ihm reglos gegenüber.
    „Das ist alles deine Schuld!“, schrie er den Riesenwurm an. „Wie konntest du sie allein auf diesem Schiff lassen. Jederzeit hättest du zu ihr gehen können. Aber du hast lieber die Ewigkeit in diesem Wurm verbracht und dich vor meinem Vater verkrochen.“
    Zu Arns Verwunderung antwortete Reis Stimme sofort: „Du Narr. Niemand kann sich deinem Vater noch widersetzen. Er ist zu mächtig, um von einem gewöhnlichen Gott gestoppt zu werden.“
    Arn lief es trotz der Hitze kalt den Rücken hinunter. Aus dem weit aufgerissenen Maul des Flötzenwurms torkelte eine unförmige Gestalt ins Freie.
    „Er hatte mir versprochen, Hane kein Haar zu krümmen, wenn ich ihm zu Diensten bin. Äonen lang habe ich dich bewacht und auf den Tag gewartet, an dem du einen Weg aus deinem Gefängnis findest.“
    Rei trat auf zitternden, dünnen Beinen aus dem Maul des Flötzenwurms. Von Adern an ihren Rücken gekettet, pulsierte das Herz des Wurms nun unheilvoll von der Lava beschienen. Hinter ihr spannten sich die Blutgefäße von dem Herz auf ihrem Rücken bis zu der Dunkelheit in dem Schlund des Flötzenwurms. Ihr vorhin noch apathischer Blick erschien Arn selbst von der Obsidian aus wutentbrannt.
    „Dachtest du wirklich, dein Vater hätte uns in all der Zeit nicht gefunden?“, rief Rei und keuchte vor Anstrengung sich Karna einen weiteren Schritt zu nähern. „Mir blieb nichts außer meinem Leben und dem meiner Tochter. Ich hatte keine andere Wahl als mich seinem Willen zu fügen und dich zu bewachen, den er nicht töten durfte. Hane war ihm egal, also ließ er sie im Austausch für meine Dienste leben. Ich habe am eigenen Leib erfahren, welche Einsamkeit meine Tochter durchmachen musste. Und als du endlich aus deinem Käfig ausbrachst, beschloss ich, dich zu ihr zu lotsen, damit du ihr auf der Obsidian Gesellschaft leisten kannst. Ausgerechnet du, doch ich hatte keine andere Wahl. Und dann kommst du einfach so wieder und erzählst, dass sie tot ist?“ Es gab ein metallisches Klirren, als die Aura Innos‘ sich vom Boden erhob und um Rei zu kreisen begann. „Innos ist der allmächtige Gott. Er allein wird sie wieder zum Leben erwecken können. Ich werde meinen Fehler korrigieren und dich zurück in deinen Säulenkäfig sperren, auf dass du dort bis ans Ende deiner Tage versauerst und dasselbe elendige Schicksal erleidest, wie meine arme Tochter!“
    Mit einem Ruck befreite sich die Scherenklinge aus Arns lockerem Griff. Hilflos musste er mit ansehen, wie sie zu Rei herüberflog und sich dem Schild beim Kreisen anschloss.
    „Jaaa… Meine Tochter gegen deinen Sohn. Wenn du befiehlst, wird Hane wieder auferstehen. Denn dein Wort ist Gesetz. Denn dein Wort ist die Ordnung, die diese Welt unterwirft. Du allein kannst das Prinzip von Ursache und Wirkung ins Gegenteil verkehren.“
    Wie aus dem Nichts gesellte sich der Hammer Innos‘ zu dem Schild und der Scherenklinge. Zu dritt umschwirrten sie Rei, die Schritt für Schritt vorrückte. Karna sah ihr unnachgiebig entgegen. Ohne seine Arme kam er Arn so hilflos vor wie eine Fleischwanze auf der Speisekarte eines Trolls.
    „Das sieht meinem Alten ähnlich“, sagte Karna und spuckte verächtlich aus. Im Gegensatz zu der hysterischen Rei sprach er ruhig. Arn musste sich alle Mühe geben, um zu verstehen, was er sagte.
    Doch zu seinem nächsten Satz kam er gar nicht, als die Scherenklinge knapp an seinem linken Bein vorbeisirrte.
    Arn wusste, dass Karna keine Chance hatte. Sein Blick verirrte sich zu der schimmernden Perle in seiner Hand. Hatte er eine Chance, Karna zu retten, wenn er sie sich einverleibte? Tausend Gedanken schossen durch seinen Kopf. Er war nur ein Mensch, kein Gott. Warum wollte er Karna überhaupt retten? Er an seiner Stelle hätte sich gewiss nicht eingemischt. Und würde sich Hanes Kraft im Kampf gegen ihre eigene Mutter überhaupt entfalten?
    Kinder rebellieren gegen den Willen ihrer Eltern. Das ist Gesetz. Das ist Ordnung. Ich war und bin der einzige, der meinem Vater das Handwerk legen kann, ohne die Ordnung zu überwinden.
    Bei der Erinnerung an Karnas Worte lief es ihm kalt den Rücken herunter. Er hatte noch nie Macht besessen, hatte immer nur in den Tag hineingelebt. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass es sich durch diesen unscheinbaren Nucleos ändern würde.
    Noch während er sich vorstellte, wie es sich wohl anfühlte, wenn die Murmel seine Gurgel passierte, donnerte der Hammer Innos‘ auf Karna herab. Karna hatte sich offenbar zur Seite geworfen und war dem Schlag so entkommen, doch der Boden brach auf und eine Schockwelle brandete über den Lavasee, der die Obsidian ins Schwanken brachte.
    Arn hielt sich verzweifelt am Rand des schwarzen Steins fest, während er sah, wie Karna um sein Leben rannte. In diesem Moment wurde Arn bewusst, dass selbst der sonst so überhebliche Gott des Lichts keine Chance für sich sah. Er hatte kein Ass mehr in der Hinterhand.
    Das Schiff neigte sich immer stärker. Lava schwappte auf der gegenüberliegenden Seite aufs Deck. Erschrocken wurde Arn bewusst, dass die Obsidian kenterte. Die Druckwelle des voll aufgeladenen Hammers war zu viel gewesen für das Gleichgewicht des Schiffs. Verzweifelt klammerte er sich mit beiden Händen weiter an der Reling fest. In der einen schmerzhaft den Nucleos zwischen Hand und Obsidian eingeklemmt. Doch wenn er sich einfach weiter festklammerte, würde er schon bald rücklings in die Lava gedrückt werden. Wie schon so oft in den letzten Stunden malte er sich seinen Tod aus, der dieses Mal umso deutlicher vor sein inneres Auge trat, umso unausweichlicher ihm dieser Tod erschien. Quälend langsam kippte das Schiff. Ihm wurde klar, dass ihm nur eine letzte Chance blieb.
    Er ließ los. Während er über das Deck unaufhaltsam auf die Lava zu donnerte, presste er sich mit beiden Händen den Nucleos in den Mund und würgte ihn hastig hinunter. Er spürte die Krämpfe nicht mehr, die der Nucleos in seinem Magen auslöste. Schon bevor er auf der Lava aufschlug, war die Hitze unerträglich. Als die zähe, glühende Masse über ihm zusammenschlug, war der gleißende Schmerz alles, was er wahrnahm. Mit jeder Faser seines Körpers fühlte er die Verbrennungen, spürte, wie er Faser für Faser zu Asche zerfiel und sich auflöste. Bis alles endete.
    Und er war froh, dass er seiner Mutter nur Blumen geschenkt hatte.

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    Arn brach aus der Lava hervor, stieg heftig trudelnd in die Luft. Er war nicht nur vom Schmerz geblendet. Er spürte, dass die Lava seine Augäpfel aus den Höhlen gebrannt hatte und Reste von ihr langsam tiefer in seinen Schädel hineinsickerten. Der Schmerz überstieg alles, was er sich je hatte ausmalen können. Alles in ihm schrie vor Pein, doch kein Laut drang über seine verschmorten Lippen, denn auch seine Lungen waren verkohlt. Den unsanften Aufprall am rettenden Ufer merkte er kaum. Erstarrende Lava aushustend krümmte er sich auf dem heißen Fels, fuhr sich mit den verstümmelten Fingern an die bröselnde Gurgel.
    Er sah nichts, hörte nichts, selbst die Schmerzen verebbten schnell. Bald schon nahm er nichts mehr wahr. Und wusste doch, dass er noch existierte. Gefasst auf den Tod fragte er sich, was wohl als nächstes geschehen würde. Nun, da alles vorbei war, waren seine Gedanken seltsam ruhig.
    Plötzlich war sein Gehör zurück. Er hörte ein heiseres Röcheln. Jemand rang krampfhaft um Luft. Irgendwo. Ein Husten, ein Würgen. Offenbar starb jemand ganz in seiner Nähe. Hörte man die Menschen sterben, die mit einem zusammen in das Reich der Toten kamen? Dann war der Schmerz urplötzlich zurück. Die Wucht seiner Verbrennungen traf ihn so unvorbereitet, dass er schrie. Und er schrie. Er hörte es. Er hörte den kräftezehrenden, beinahe animalischen Schrei, der das Röcheln und Würgen ablöste.
    Als er die Augen aufschlug, sah er bloß die von dem glimmenden Lavasee beschienene Höhlendecke. Für einen Moment glaubte er, dass ihn nicht einmal der Tod aus diesen endlos tiefen Höhlen errettet hatte. Doch dann wurde ihm klar, dass er noch lebte. Er setzte sich auf, hielt sich seine Hand vor Augen und meinte gerade noch zu erkennen, wie sich neue Haut über seinen Fingerkuppen schloss.
    Früher oder später wird meine Hand nachgewachsen sein und dann kann mein Vater sich auf was gefasst machen.
    Der Nucleos verbindet uns mit unserem Attribut. Er verankert sich in unserer Seele und macht uns Götter zu dem, was wir sind.

    Schwer atmend versuchte er die Realität zu begreifen. Macht uns Götter zu dem, was wir sind.
    „Du bist am Leben“, krächzte eine Stimme aus der Dunkelheit.
    Arn schreckte auf. Viel zu schnell kam er auf die Beine und verlor gleich wieder das Gleichgewicht. Irgendetwas hing an seinem Rücken und zog ihn zu Boden.
    „Ich hatte nicht damit gerechnet, dich noch einmal wiederzusehen.“ Serpentes sah aus tief in den Höhlen liegenden Augen auf ihn herab. Flackernd erschien magisches Licht über seinem Kopf. Nun konnte Arn auch Neoras hinter ihm erkennen. Seine buschigen Augenbrauen hingen so tief, dass sie seine Augen verdeckten.
    Arn verschlug es die Sprache. Während er mit Karna alles versucht hatte, um an die Oberfläche zurückzukehren, waren die beiden Magier also unbeirrt weiter in die Tiefe vorgedrungen. Neoras wirkte unendlich erschöpft und auch Serpentes war die Zermürbung anzumerken, doch glomm bei ihm ein Fanatismus in den Augen, der Arn einen Schauer über den Rücken jagte. Dieser Mann war am Ende seiner Kräfte und wohl gerade deshalb gefährlicher denn je.
    Die Lichtwolke über seinem Kopf begann flackernd zu verschwinden. Arn wurde klar, dass ihre letzte Fackel schon seit einer Ewigkeit erloschen sein musste. Seither schienen sie sich mit magischem Licht weiter vorgekämpft zu haben.
    „Neoras“, krächzte Serpentes gebieterisch. „Noch mehr Tränen.“
    Mit zittriger Hand holte Neoras eine unscheinbare Feldflasche aus dem Ärmel seiner Robe. „Schon wieder?“, hauchte der Alchemist kaum hörbar. „Sie waren nur für den Notfall gedacht.“
    „Das hier ist ein Notfall“, erklärte Serpentes verbissen. „Diese Mission darf nicht scheitern. Wenn wir aufgeben, ist ganz Khorinis verloren. Wir müssen die Artefakte finden.“ Serpentes nahm einen Schluck aus der Feldflasche und schraubte sie danach sofort wieder zu. Umsichtig gab er sie Neoras zurück, während das Licht über ihren Köpfen mit neuer Kraft erstrahlte.
    „Nun zu dir, Lastenbursche“, raunte Serpentes.
    Arn versuchte erneut auf die Beine zu kommen. Als er wieder zu Boden gezogen wurde, sah er über seine Schulter und stellte erschrocken fest, dass riesige, weiß gefiederte Flügel aus seinen Schultern ragten.
    „Wir haben dir zwei Artefakte von unsäglichem Wert anvertraut“, fuhr Serpentes mit drohendem Unterton fort. „Wo sind sie?“
    Arn fiel es schwer, dem Hohen Magier zuzuhören. Er versuchte entgeistert die Flügel aus seinem Rücken zu ziehen, doch als es wehtat, ließ er es schnell wieder bleiben. Im nächsten Augenblick riss ihn eine Windfaust in die Höhe und schmetterte ihn gegen die nahe Höhlenwand.
    „Rede, du Unwürdiger!“, krähte Serpentes mit winzigen Pupillen in blutunterlaufenen Augen.
    Arn krachte zu Boden und spürte sein Bein brechen. Doch als er aufstehen wollte, gelang es ihm ohne Probleme. Trotzdem hatte er panische Angst vor dem wahnsinnigen Magier, der langsam auf ihn zukam und über seiner linken Hand schon den nächsten Zauber kreisen ließ.
    „Wenn du nicht redest, töte ich dich“, knarzte er und beschwor auch mit der rechten einen Zauber. „Keine Ahnung wie du an diese Flügel gekommen bist, aber wenn die Inschriften stimmen, gibt es hier unten wohl allerhand Überbleibsel göttlicher Magie. Wir brauchen aber nur die Artefakte. Sonst ist Beliar kein Einhalt mehr zu bieten. Sein neuer Avatar hat schon eine der Khor-Inseln vollständig ausradiert. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er den ganzen Morgrad vernichtet. Und wir waren so dumm, dir zwei der drei Artefakte in unserem Besitz anzuvertrauen.“
    Versuchsweise spannte Arn seine Schultern an und tatsächlich spreizten sich seine Flügel. Wenn er sich aus eigener Kraft aus dem Lavasee gerettet hatte, musste er schon einmal mit ihnen geflogen sein. Von Karna, Rei und dem Flötzenwurm jedenfalls war nichts mehr zu sehen.
    Eine weitere Windfaust schmetterte ihn gegen die Wand. „Anfangs waren wir sehr zufrieden mit dir. Während all diese Trottel starben, hast du, mit unserer wichtigsten Fracht, überlebt. Bis du in die Tiefe gestürzt bist. Alles schien verloren. Aber wenn du lebst, musst du doch auch wissen, wo die Artefakte sind!“ Serpentes‘ Krächzen wurde plötzlich schrill. „Der Hammer! Die Aura! Wo sind sieeeee?“
    Arn war es leid, sich wieder und wieder seinen Tod auszumalen. Ob er von einer Albino-Harpyie in Fetzen gerissen, ob er in einen Abgrund fiel und am Boden zerschmettert wurde. Karna ihn in einem Wutanfall erwürgte. Er verdurstete, verhungerte oder von der Magensäure des Flötzenwurms zersetzt wurde. Ob er in einem Lavasee zu Asche verbrannte oder ein wahnsinniger Magier auf heiliger Mission ihn hinrichtete. Es kam alles aufs Selbe hinaus.
    Arn rutschte die Felswand hinab. Benommen lag er am Boden und nahm kaum wahr wie der Hohe Magier weiter auf ihn einredete. Er weigerte sich, schon wieder an seine Mutter zu denken. Es war einfach genug. Bis hierher war er gekommen. Doch die lange Reihe von Strapazen würde nicht abreißen, bis sein Lebensfaden dem Druck endlich nachgegeben hatte. Mit der Kirche hatte er nie viel am Hut gehabt, doch er war froh gewesen, als die Magier aus Khorinis ihn angeheuert hatten. Ehrfürchtig hatte er ihren Auftrag angenommen und sich bedankt. Doch hier, tief unter Argaan, in der undurchdringlichen Finsternis, zeigte sich, in welcher Seele ein Licht brannte.
    „Du willst also nicht kooperieren“, erkannte Serpentes und die über seiner Hand schwebende Windfaust wich einem kleinen Inferno. „Dann bist du ein Feind der Kirche und Innos selbst.“
    Doch auch über Arns Hand bildete sich ein Zauber. Das Abbild eines grau gefiederten Flügelpaars. Arn kannte das Gefühl des nahenden Todes. Doch dieses Mal war es anders.
    Serpentes warf seinen Feuersturm. Die Flammen entfalteten sich mitten in der Luft und flogen auf Arn zu. Blindlings setzte Arn auch seinen Zauber frei, doch die Flammen erreichten ihn, umhüllten ihn komplett und explodierten. Seine Haut zerbrannte augenblicklich zu Asche und seine Kleider fingen Feuer. Doch im Vergleich zu den Schmerzen im Lavasee war es nichts.
    Die Augen des Hohen Magiers weiteten sich, als Arn sich kohleschwarz und glühend erhob. Arn fühlte den Nucleos in seiner Brust schlagen wie ein zweites Herz. Das Herz einer Göttin.
    „Vielleicht bin ich wirklich Innos‘ Feind. Das ist mir egal“, sagte Arn, als seine Lippen nachgewachsen waren. „Ich will einfach nur leben. Egal, welchem Gott ich damit krumm komme.“
    Wie aus dem Nichts kam ein geflügelter Felsbrocken angerauscht und rammte sich Serpentes in die ungeschützte Seite.
    Die Göttin der Flügel. Sie wählte Lebewesen aus, die ihr würdig erschienen, den Himmel für sich zu erschließen.
    Arn begriff, dass sie nicht nur Lebewesen Flügel verleihen konnte. Ein paar Schwanenflügel erschien über seiner leeren Hand, als er sie ausstreckte. Gleich gefolgt von den schwarzen eines Raben und denen einer Fledermaus. Achtlos warf er die Flügel von sich und sammelte gleich darauf neue in seiner Hand. Jetzt spürte er die Macht, die der Nucleos verströmte, ganz deutlich. Das Gefühl berauschte ihn. So hatte er sich noch nie gefühlt.
    Serpentes breitete seine Arme aus und hoch über ihnen begann ein Feuerregen zu funkeln. „Wer sich uns in den Weg stellt, wird für das Ende der Welt mitverantwortlich sein“, schrie er. „Wir sind auf einer heiligen Mission!“
    „Ihr seid über Leichen gegangen“, entgegnete Arn unwirsch. „Dutzende Männer habt ihr in den Tod geschickt, obwohl eure Mission von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Die Leben der anderen haben euch nichts bedeutet, so sinnlos ihre Tode auch waren. Mein Leben hat euch nichts bedeutet. Wegen euch sitze ich jetzt hier unten fest!“ Hunderte Flügelpaare strömten aus seiner Hand. Vor seinem inneren Auge flackerten Erinnerungen auf. Eine junge Frau mit einem freundlichen Lächeln hockte sich zu unzähligen kleinen, schwachen Kreaturen ins Gras. Und sie schenkte ihnen allen nicht nur ihr Lächeln, sondern auch ihre Flügel, worauf sie sich erhoben, ihren Fressfeinden entkamen und den Himmel eroberten.
    Arn taumelte, als all diese Bilder auf ihn eindrangen. Plötzlich fühlte sich die Realität für ihn so fern an. Dass der Feuerregen über ihn hereinbrach, sich Tausende geflügelte Felsen verschiedener Formen und Größen schützend über ihm sammelten, nahm er nur ganz am Rande war. „Hane war ein wunderbarer Mensch“, murmelte er benommen. „Und Innos hat sie zum Tode verurteilt! Sie hätte noch bis in alle Ewigkeit ihre Güte über die Welt gebracht, aber Innos…“ Stechender Schmerz bohrte sich in seinen Kopf und blendete die Realität vollends aus.
    „Ich habe dir schon hundert Mal gesagt, dass du das lassen sollst!“, schrie Reis Stimme in seinem Kopf. Er sah sie sogar vor sich. Doch ohne das Herz des Flötzenwurms auf ihrem Rücken. Mit energischem Blick und kraftvollen Bewegungen.
    „Und ich habe dir schon hundert Mal gesagt, dass du mich nicht rumkommandieren sollst!“, brüllte ein breitschultriger Mann mit borstigem Bart zurück. „Es ist meine Sache, was ich tue und nicht tue.“
    „Aber sie hassen es!“
    „Na und? Ich hab sie ja auch erschaffen. Das ist mein gutes Recht!“
    Dann schrien sie beide gleichzeitig los und Arn verstand kein Wort mehr. Neben ihm hockte Hane, offenbar noch jung, die Arme um ihre Beine geschlungen und mit der Stirn auf ihren Knien. Sie zitterte am ganzen Körper.
    Die Szene löste sich auf, doch gleich darauf setzte sie sich mit denselben Personen wieder zusammen.
    Der Mann verpasste Rei eine Ohrfeige, die sie zu Boden schickte. „Das hast du dir verdient und das weißt du!“
    Hane, dieses Mal deutlich größer, sprang auf und stürzte sich aus dem Fenster. Mit libellenartigen Flügeln flog sie dem Mond entgegen.
    In der nächsten Szene fehlte der Mann. Rei saß schluchzend und am ganzen Körper zitternd an einem Tisch und Rei hatte von hinten ihre Arme um sie gelegt.
    Dann war Rei plötzlich eine erwachsene Frau. „Mutter?“
    Rei wandte sich zu ihr um, tiefe Ringe unter den Augen.
    „Du vermisst ihn immer noch, nicht wahr?“
    Rei machte eine wegwerfende Handbewegung. „Nach so langer Zeit? Nein, bestimmt nicht. Ohne ihn sind wir besser dran. Das weißt du.“ Doch ihre Züge verhärteten sich.
    Hane streckte ihre Hand aus und die Projektion von grün schimmernden Flügeln erschien.
    Rei musterte sie argwöhnisch. „Aus Jade? Ist das nicht viel zu schwer? Wem willst du die denn geben?“
    Hane antwortete zunächst nichts. Sie schien sich sammeln zu müssen. „Sie sind etwas ganz Besonderes“, sagte sie. „All meine Flügel tragen die Tiere und Götter in die Höhe und Weite, verbinden weit entfernte Orte miteinander als wären sie nur einen Flügelschlag entfernt. Doch diese hier sind anders. Ich habe sie für dich gemacht.“
    „Was meinst du damit?“ Reis Argwohn wuchs sichtlich.
    „Sie lassen ihren Träger nicht den Raum, sondern die Zeit überwinden.“
    „Das ist verboten!“, zischte Rei schockiert. „Wenn dich damit jemand erwischt…!“
    „Ich hab auch nur dieses eine Paar angefertigt“, verteidigte Hane sich hastig und offenbar den Tränen nahe.
    „Aber warum?“
    „Wenn wir sie der Bindung zwischen dir und Papa verleihen, wird sie wieder zu dem, was sie einst war. Es wird wieder alles so sein wie in den Tagen, in denen wir alle noch zusammen glücklich waren. Dann können wir noch einmal ganz von vorn anfangen. Als Familie.“
    Rei entglitten die Gesichtszüge. Im nächsten Augenblick hatte sie ihrer Tochter mit der flachen Hand einen Schlag verpasst, wie es ihr Mann einst bei ihr getan hatte.
    „Mama!“, rief Hane und nun rannen ihr tatsächlich Tränen über das Gesicht.
    „Fang nie wieder davon an, hörst du? Wir sind ohne deinen Vater besser dran. Du solltest diese Flügel so schnell wie möglich vernichten, bevor die anderen Götter Wind davon bekommen. Du weißt, was sonst passiert.“
    Arn spürte Reis Tränen auf seinen eigenen Wangen. Ihre Gefühle waren so stark, dass sie wie die seinen waren.
    Als er blinzelte, stand er wieder Serpentes gegenüber, die Jadeflügel in der Hand.
    Die geflügelten Steine prügelten auf Serpentes ein. Blut spritzte aus seiner nackten Kopfhaut. Die Schreie des Magiers wurden immer kraftloser. Mit einer Windfaust beförderte er ein paar der Steine in den Lavasee, doch es waren einfach zu viele. Das Licht über seinem Kopf begann bereits zu flackern. Neoras hatte sich hinter einem Fels verkrochen und presste sich beide Hände auf die Ohren.
    Wie hypnotisiert betrachtete Arn die wunderschönen Jadeflügel in seiner Hand. Hane hatte sich nichts sehnlicher gewünscht als mit ihrer Familie zusammen glücklich zu sein und war schlussendlich vollkommen allein auf der Obsidian vergangen.
    Er ballte die Hand zur Faust und ließ die Jadeflügel so verschwinden. Versuchsweise schlug er mit den Flügeln auf seinem Rücken. Karna und Rei waren nirgendwo mehr zu sehen. Ihr Katz- und Mausspiel hatte sie wohl tiefer in die labyrinthartigen Tunnel getrieben. Als er die Augen schloss, konnte er sie sehen wie zwei Leuchtfeuer mitten in der Nacht. Allmählich begriff er, warum Hane eine so lange Zeit auf der Obsidian ausgeharrt hatte. Ohne ihren Schutz wäre sie für Innos wie auf einem Silbertablett präsentiert gewesen.
    Er stieß sich vom Boden ab, überließ Serpentes und Neoras ihrem Schicksal, und flog über den Lavasee in Richtung der Leuchtfeuer.

    Als er Karna und Rei endlich einholte, schien es für den Gott des Lichts schon fast zu spät zu sein.
    Der Flötzenwurm hatte ihn fast erreicht. Rei ritt in seinem weit aufgerissenen Maul, das Herz auf ihrem Rücken hektisch schlagend. Wie aus dem Nichts schleuderte sie die Aura zwischen Karnas Beine. Karna stürzte und mitten im Flug durchbohrte die Scherenklinge seinen Torso und nagelte ihn so bäuchlings auf den Höhlenboden. Direkt vor einer graphitfarbenen und runenverzierten Steinplatte, die mit zwei goldenen Ketten und einem ebensolchen Vorhängeschloss direkt an den Boden gekettet zu sein schien.
    Rei stoppte den Flötzenwurm und ließ den Hammer Innos‘ drohend über Karnas Kopf pendeln.
    „Hab ich dich endlich!“, frohlockte die Göttin der Bewegung. „Gleich wirst du nicht mehr weglaufen können. Und wenn ich dich zurück in deinen Säulenkäfig gesperrt habe, wird Innos mir für meine guten Dienste einen Wunsch nicht ausschlagen können.“
    Langsam begann der Hammer zu fallen. Arn erinnerte sich noch gut an die Druckwelle, die die Obsidian zum Kentern gebracht hatte, an das Gewicht, dass er nicht hatte heben können, nachdem Karna ihn magisch aufgeladen hatte. Doch dass er in seinem jetzigen Zustand den Hammer nicht würde aufhalten können, erschien ihm unmöglich. Aus beiden Seiten des Griffs wuchsen die Flügel einer Albino-Harpyie. Hektisch schlagend bremsten sie den Sturz des Hammers ab.
    Rei keuchte auf. „Hane?“ Sie sprang aus dem Maul des Flötzenwurms und sah sich in alle Richtungen um.
    Etwas ungelenk landete Arn mit seinen weiten Schwingen zwischen ihr und Karna.
    „Du undankbarer Bastard“, grummelte Karna, den Mund voll Dreck. „Hast dir ja ganz schön Zeit gelassen.“
    Reis Augen waren erfüllt von einer Sehnsucht und Wärme, die Arn nicht ganz deuten konnte. Es verschlug ihm für einen Moment die Sprache, so dass er die Gelegenheit verpasste, ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. Denn schon im nächsten Augenblick war Reis Gesicht wutverzerrt.
    „Du hast es gewagt, die Leiche meiner Tochter zu schänden!“, kreischte sie. „Wie kannst du es wagen, ihr ihren Nucleos zu rauben? Leichenschänder, Moralverräter, Abschaum!“
    „Ich habe einen Weg gefunden, wie wir Hane wiederbeleben können!“, rief Arn gegen ihr Gekeife an und schlagartig war sie still.
    „Sprich!“, verlangte sie schneidend.
    Arn erinnerte sich daran, dass Hane ihr die Jadeflügel bereits gezeigt und erklärt hatte. Wortlos hob er seine linke Hand und ließ sie aus dem Vorrat ihrer Tochter vor ihrem Auge erscheinen.
    „Die Jadeflügel“, erkannte sie sofort. Sie schlug die Hände vor ihren Mund. „Hane hat sie also nicht zerstört. Was für ein riskantes Spiel sie getrieben hat…“
    „Damit geht es, oder?“, hakte Arn nach. „Damit können wir Hane in ihren ursprünglichen Zustand zurückversetzen.“
    Rei nickte langsam. „Richtig angewendet müsste der Zauber dies bewerkstelligen können. Aber es ist seit jeher verboten, mit der Zeit zu spielen. Die Folgen sind nicht abzusehen.“
    „Scheiß auf die Regeln“, mischte Karna sich ein. „Es gab schon immer Götter, die mit Zeitzaubern experimentiert haben. Und nie ist irgendwas passiert.“
    Rei sagte nichts. Sie war von den Jadeflügeln gebannt, die sich auf Arns Handteller langsam um sich selbst drehten.
    Arn trat ein paar Schritte zurück. Dann griff er nach der Scherenklinge und zog sie aus Karnas Rücken. Rei zeigte keine Reaktion. Arn hatte darauf gehofft, dass sie nun, da sie einen anderen Weg gefunden hatte, Hane wiederzubeleben, nicht mehr den Befehlen Innos‘ gehorchte.
    Karna schaffte es wieder auf die Beine zu kommen, obwohl ihm immer noch beide Arme fehlten. Er spuckte ein wenig Dreck aus. „Was sind das für Flügel?“, wollte er wissen.
    „Sie können etwas in ihren ursprünglichen Zustand zurückversetzen“, versuchte Arn Hanes Erklärung zusammenzufassen. „Lebewesen, Gegenstände… Offenbar sogar abstrakte Dinge wie die Bindung zwischen zwei Menschen.“
    Arns Augen leuchteten auf.
    „Nein!“, durchschnitt Reis Stimme den Raum, so voller Zorn, dass Arn unwillkürlich zusammenzuckte. Sie funkelte Karna mit einem Hass in den Augen an, der ihn erschreckte.
    „Was ist denn…?“, wandte Arn sich an Karna, unterbrach sich aber, als auch er den gierigen Ausdruck in seinem Gesicht sah.
    „Das heißt, damit kann ich meinen Nukleozid heilen, richtig?“ Geifer tropfte von Karnas Kinn.
    Hastig ließ Arn die Flügel verschwinden.
    „Du schuldest mir noch was!“, rief Karna und rückte näher an ihn heran. „Du schuldest mir diese Flügel, Wurm!“
    Womm. Der Hammer schleuderte Karna durch die Luft, bis er krachend in einer Höhlenwand einschlug.
    „Karna, du gieriges Biest!“, schrie Rei. Ihre Augen traten fast aus den Höhlen. „Hane hat diese Flügel verdient! Ich werde meine liebe Hane wieder in die Arme schließen können!“
    Karna stieß sich mit seinen Beinen von der Wand ab, schoss direkt auf Arn zu. Arn flog in die Luft, um ihm auszuweichen. Karna krachte unsanft auf den runenverzierten Stein.
    „Du bleibst hier!“, kreischte Rei und plötzlich spürte Arn einen widernatürlichen Druck auf seinem ganzen Körper. Nur einen Moment konnte er Reis Telekinese standhalten, dann wurde er einfach in den Boden gerammt. Der Druck war so überwältigend, dass er nicht einmal einen Finger heben konnte.
    „All die Jahre habe ich in dem fürchterlichen Flötzenwurm ausgeharrt, um meine kleine Tochter zu beschützen!“ Die Scherenklinge steuerte pfeilschnell auf Karna zu. „Sie war schon immer mein Ein und mein Alles. Ich werde sie wieder ins Leben zurückholen, koste es, was es wolle. Wenn nötig, opfere ich auch mein eigenes Leben, wenn nur meine Hane wieder leben kann!“
    Die Scherenklinge verfehlte Karna um Haaresbreite. In genau dem Moment sprudelten Muskeln aus Karnas abgetrenntem Arm. Mit seiner neuen Hand griff er nach der Scherenklinge, wirbelte sie in seiner Hand herum und durchschnitt die Luft vor ihm. Arn glaubte zu wissen, warum: Er hatte die Telekinese zerschnitten, mit der Rei die Scherenhälfte gehalten hatte.
    „Ich habe Rei geliebt“, verkündete Karna mit blitzenden Augen. „Nichts würde mich glücklicher machen, als sie wieder in meine Arme schließen zu können. Doch bevor dieser Traum Wirklichkeit werden kann, muss ich mit meinem Vater abrechnen. Hane hat Erlösung gefunden, während ich jeden Tag unter dem Nukleozid leide. Meine Heilung ist der erste Schritt in die Zukunft, die ich mir für mich und Hane wünsche!“
    Karna holte mit der Scherenklinge aus und plötzlich wuchs sie in die Länge. Innerhalb von einem Augenblick hatte sie die Felswand hinter Karna erreicht und bohrte sich schier unaufhaltsam in den Berg. Arn wurde klar, dass etwas Ähnlich bereits im Inneren des Flötzenwurms passiert sein musste, als Karna versucht hatte, Rei loszuschneiden. Und als ihm wieder einfiel, wie Karna ihm die Scherenklinge erklärt hatte, ging ihm ein Licht auf: Wenn diese Klinge in der Lage war, alles zu zerschneiden, musste sich ihre Größe auch der Größe des zu spaltenden Gegenstands anpassen.
    Unter Aufbietung all seiner Kraft, hob er seinen Kopf. „Karna!“, presste er hervor, doch der Gott hörte ihn gar nicht. „Hör auf damit!“, wollte er brüllen. Die Menschen aus Thorniara traten vor sein inneres Auge. Doch wenn er Karna nicht aufhalten konnte, waren nicht nur sie es, die in Gefahr waren. Doch er brachte nicht einen weiteren Laut hervor. Reis Zauber drückte ihn wieder zu Boden.
    Rei brachte die Aura schützend vor sich in Stellung. „Die Klinge, die alles schneidet. Und der Schild, der jedem Angriff standhält“, rief sie. „Wollen wir doch mal sehen, welches von beidem eine Lüge ist.“
    Karna stieß ein monströses Brüllen aus und riss die scheinbar unendlich lange Scherenklinge über seine Schulter. Beinahe lautlos zerschnitt sie den Berg, trieb eine Schneise in den uralten Stein, beschrieb einen perfekten Halbkreis. Die Klinge verfehlte Rei und die Aura um ein Weites. Scheinbar wirkungslos krachte die Klinge in den Fels neben dem Flötzenwurm. Doch Arn war sofort klar, dass Karna gar nicht das Ziel hatte, Rei in zwei Hälften zu schneiden. Denn sonst wäre die Klinge niemals auf diese Größe angeschwollen. Er hatte sein Ziel erreicht und die ganze Insel gespalten.
    Schwer atmend ließ Karna die tief im Erdboden versunkene Scherenklinge los. Er warf seinen Kopf in den Nacken und zum ersten Mal seit Wochen sah Arn Tageslicht. Ein dünner Streif nur, doch er fand den weiten Weg den Schnitt herunter zu ihnen in die dunkelste Höhle und traf auf Karna und den runenverzierten Stein zu seinen Füßen.
    Und als das Licht seinen Körper traf, glühte Karna auf, wie fast erloschene Asche, in die jemand vorsichtig hinein blies. Seine schwarze Haut strahlte plötzlich in einem hellen Licht, verstärkte den kleinen Schimmer des Tageslichts, der seinen Weg in die Höhle fand, um ein Vielfaches.
    „Ich verstehe“, sagte Rei mit ernster Miene. „Auch ohne deinen Nucleos ist es dir möglich, die Kraft zu absorbieren, die dein Attribut allen Lebewesen zur Verfügung stellt.“
    „Solange ich im Licht meiner Sonne stehe, wirst du mich nicht daran hindern können, mir die Jadeflügel unter den Nagel zu reißen“, erklärte Karna und griente. „Denn ich bin Karna, Gott des Lichts und Schöpfer der Sonne.“ Und mit diesen Worten warf er sich auf Rei, schneller und wilder als Arn ihn je erlebt hatte.
    Ein metallisches Klingen, dann prallte Karna von der Aura ab, die Rei abermals schützend vor sich in Stellung gebracht hatte. Doch Arn entging nicht, dass sich das Blatt gewendet hatte. Plötzlich war Rei in der Defensive.
    Der Zauber, der ihn zu Boden drückte, ließ ein wenig nach, so dass er erneut den Kopf heben konnte. Und im selben Augenblick hörte er ein Schlurfen hinter sich, gleich gefolgt von einem Stöhnen. Als er einen Blick über seine Schulter warf, traf ihn fast der Schlag: Es war ihr alter Führer, der alles erster in einen Abgrund gestürzt war, und nun scheinbar seelenruhig auf ihn zu humpelte.
    Mit ausgemergeltem, weißen Gesicht, nur einem Auge und bloß liegenden Rippen schleppte er sich auf ihn zu. Und durch seine Brust ragte die Hälfte einer Schere.
    Arn hatte noch nie einen Untoten gesehen, doch der leere, einäugige Blick, der schlurfende Gang und das lang gezogene Stöhnen… Das war nicht mehr der unbedarfte, überhebliche Führer, der sich selbst in ein frühes Grab geführt hatte. Langsam schlurfte er an Arn vorbei, würdigte ihn keines Blickes. Arn folgte mit den Augen der Richtung, die er einschlug, und erkannte, dass er auf die andere Scherenhälfte zustrebte, die immer noch im Boden steckte und im fahlen Sonnenlicht glitzerte.
    Karna und Rei beachteten ihn gar nicht. Sie waren verbissen in ihren Kampf vertieft, griffen sich immer brachialer an und wehrten doch jeden einzelnen Angriff des anderen mühelos ab.
    „Er muss am Ende seines Sturzes von der Scherenklinge aufgespießt worden sein“, ertönte da eine Stimme, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. „Und weil die eine Hälfte den dringenden Wunsch verspürte, wieder mit der anderen vereint zu sein, ergriff sie Besitz von seinem toten Körper und führte ihn hierher. Das ist perfekt, nun ist alles versammelt. Neoras, die Tränen!“
    Serpentes kam gefolgt von Neoras aus der Dunkelheit. Blutüberströmt und doch noch am Leben. Wieder hatte er den Flachmann mit den Tränen in der Hand, die seine magischen Kräfte auffüllen konnten. Doch dieses Mal nahm er nicht nur einen kleinen Schluck, sondern kippte sich den ganzen Rest in den Rachen.
    „Vorsicht!“, erschrak Neoras über seine Gier. „Das wird dich umbringen!“
    Serpentes schleuderte die leere Trankflasche von sich und leckte sich die letzten Tropfen von den Lippen. „Dies ist der falsche Moment, um zu zögern, Neoras. Du musst meinen Platz einnehmen, wenn die Beschwörung des Meisters mich umbringt. Es ist meine Bestimmung, hier zu sein.“
    Sein Blick fiel auf Arn zu seinen Füßen. Völlig wehrlos musste er sich von dem Hohen Magier belächeln lassen.
    „Nun wirst du sehen, dass diese Expedition all die Opfer Wert war.“ Seine Pupillen glommen golden auf. „Die beiden Hälften der Schere, der Hammer, die Aura, das Schloss. Und…“ Serpentes griff sich an den Hals und zog ein Amulett unter seiner Robe hervor. „…das Auge. Sie sind alle hier vereint.“
    Mit weiten Schritten betrat Serpentes die Höhle, in der noch immer der Kampf zwischen den Göttern tobte. Arn hatte keine Ahnung, was gleich passieren würde. Und selbst wenn, waren ihm doch immer noch die Hände gebunden. Sein zweiter Herzschlag, der des Nucleos, beschleunigte sich unangenehm.
    Serpentes betrat den runenverzierten, schwarzen Stein.
    „Der Stein von Guuv“, hauchte Neoras ehrfürchtig. „Es gibt ihn wirklich. Dann ist also alles wahr.“
    Serpentes breitete die Arme aus. Im selben Augenblick lösten sich seine Füße von dem Stein und er begann aufzusteigen. Seine Silhouette war von dem Streif Tageslicht scharf umrissen. Das Amulett an seinem Hals begann rot zu leuchten. Das Schloss auf dem Stein von Guuv folgte dem Beispiel des Auges. Die Scherenhälften, der Hammer und die Aura leuchteten nacheinander auf.
    Erst jetzt hielten Karna und Rei inne und wandten sich Serpentes zu. „Nein!“, schrien sie wie aus einem Mund, als auch Arn die überwältigende Aura spürte, die sich ihnen rasant näherte. Ein breiter Lichtstrahl traf auf den Stein von Guuv. Serpentes erschlaffte und stürzte in die Tiefe. In dem Lichtstrahl materialisierte sich der Umriss eines Gottes, der selbst Karna überragte.
    Im selben Augenblick wie Innos auf die Erde herabkam, fiel auch der Telekinesezauber von Arn ab. Hastig kam er auf die Füße, während der Lichtstrahl versiegte.
    Innos öffnete die Augen. Gebannt warteten Karna, Rei, Arn und Neoras auf seine Reaktion. Selbst der untote Führer war verstummt und sah zu der imposanten Gestalt auf.
    „Ich bin wahrlich zurück“, waren die ersten Worte des wiedergekehrten Gotts. „Meine Diener haben also endlich einen Weg gefunden, den Bann meines Bruders zu brechen.“ Er griente auf eine Weise, die Arn sehr an Karna erinnerte. „Siehst du das, Beliar? Ich bin zurück. Und wo bist du? Wer ist jetzt der Stärkere?“
    Arn war entsetzt. Er hatte viele Geschichten über die ewige Fehde zwischen Innos und Beliar gehört. Schließlich töteten sich auch heute noch Schwarz- und Feuermagier, Assassinen und Paladine im Namen ihrer Herren. Doch er hatte sich nicht vorstellen können, dass dieser Hass tatsächlich von dem Gott herrührte, wo doch alle Welt davon sprach, wie tugendhaft und makellos Innos war.
    „Vater!“, brüllte Karna. Er zog die Scherenklinge aus dem Fels und stürzte sich auf seinen Erzeuger.
    „Ich hab keine Zeit für solche Kinkerlitzchen“, erklärte Innos. „Ich muss einen Krieg gewinnen.“ Mühelos wich er dem Angriff aus. Dann packte er seinen Sohn am Kopf, zerquetschte Karnas Schädel und warf ihn zu Boden. „Wer sich meiner Ordnung widersetzt, hat nichts als Strafe verdient“, verkündete Innos.
    Sein Blick fiel auf Rei. „Du hast mir dein Wort gegeben, Rei. Wieso ist mein Sohn nicht in seinem Käfig?“
    „Ich bitte vielmals um Vergebung!“ Rei fiel auf ein Knie, wobei das pochende Herz sie kurz ins Wanken brachte.
    Als nächstes streifte Innos mit seinem Blick Serpentes. Er sagte nichts und fasste Neoras ins Auge. Doch erst als er Arn fokussierte, sagte er: „Was bist denn du für einer? Fünf Götter sind meiner Falle entkommen. Aber du gehörst ganz bestimmt nicht dazu. Du bist ein Mensch, oder? Findest du es witzig, Gott zu spielen? Das ist respektlos. Dir werde ich deine gerechte Strafe zukommen lassen.“ Er hob einen Arm und über seiner Hand bildete sich eine kleine Sonne. „Stirb und übergib mir deinen Nucleos. So will es das Gesetz.“

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    Irenicus-Bezwinger  Avatar von MiMo
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    Die Hitze der Sonne verbrannte Arns Gesicht, obwohl sie noch immer über Innos‘ Handfläche kreiste. Die leuchtenden Augen des Gottes durchbohrten Arn voll Abscheu. In diesem Moment war ihm der Unterschied zwischen Gott und Mensch voll und ganz bewusst. Er konnte nicht eine Faser seines Körpers bewegen, obwohl alles in ihm danach schrie, wegzurennen, zu fliehen, dieser aberwitzigen Attacke irgendwie zu entkommen. Er spürte förmlich, dass sein Körper sich von den Verbrennungen dieser Sonne nicht erholen würde. Nach all seinen Nahtoderfahrungen jagte Innos ihm eine bislang noch unbekannte Angst ein. Dieser Tod war keine Laune der Natur. Er schien Gesetz.
    Und dann war der Moment vorbei. Die Muskeln an Innos‘ Arm traten hervor, als er ausholte, um seine kleine Sonne zu werfen, doch in genau diesem Moment zerbröselte seine Hand zu Asche und der Feuerball verpuffte.
    Arn lebte einfach weiter. Mit klopfendem Herzen starrte er zu seinem göttlichen Richter hinauf, nicht imstande, zu begreifen, was ihn dieses Mal gerettet hatte.
    „Nukleozid“, sprach Karna das Wort aus. In Arns Gedanken hallte es vielfach wieder, bis ihm klar wurde, was das bedeutete.
    Karna trat an Arns Seite. Sein Schädel war gebrochen, eine unförmige Masse, aus der eine grüne Flüssigkeit hervorsickerte, doch seine Kiefer schienen noch intakt. „Als du mich in den Säulenkäfig sperrtest, hattest du bereits drei Nucleos in deinen Besitz gebracht. Und nun hast du keinen mehr.“ Karna lachte trocken, voll Schadenfreude. „Wie kam es denn dazu, Vater?“, höhnte er.
    Innos‘ Miene verfinsterte sich. „Du bist wie immer schlecht informiert“, schalt er seinen Sohn. „Wie sonst sollte es diesem Eiferer wohl gelungen sein, mich des Morgrads zu verweisen? Es liegt doch auf der Hand, dass er mir meine Nucleos geraubt hat. Sonst hätte ich ihn in Stücke gerissen.“
    Karna schwang die Scherenklinge durch die Luft, wie um zu testen, ob sein Arm auch nichts abbekommen hatte. Sein wildes Grinsen war zurück und wirkte wegen der nach innen gedrückten Augäpfel nur umso durchtriebener. „Wie langweilig. Dann wird es ein Leichtes, mich an dir für unzählige Äonen der Gefangenschaft zu rächen.“
    „Bald werde ich sterben, so oder so. Aber von einem ungehorsamen Bengel wie dir lasse ich mich gewiss nicht richten.“
    „Du und sterben?“, höhnte Karna und lachte erneut. „Freiwillig wirst du dich wohl kaum ins Virnana stürzen. Und da du kein Herz hast, bist du auch davor gefeit, von ihm dahingerafft zu werden. Nein. Ich oder niemand wird deiner Existenz ein Ende setzen!“ Und mit diesen Worten stürzte er sich auf seinen Vater.
    Der untote Führer stand inzwischen direkt vor dem Stein von Guuv und kratzte mit seinen verstümmelten Fingern gierig an dem Stein. Innos riss ihm die zweite Scherenhälfte aus der Brust. Augenblicklich sackte der Leichnam in sich zusammen. Funkensprühend trafen die Scherenklingen aufeinander, als Vater und Sohn die Klingen kreuzten. „Obwohl du noch länger an dem Nukleozid leidest als ich, ist es dir immer noch nicht bewusst?“, wunderte Innos sich. Arn meinte fast so etwas wie Mitleid aus seinen Worten herauszuhören. Mitleid für den Sohn, mit dem er seit einer Ewigkeit verfeindet war.
    „Hör auf zu schwatzen und konzentrier dich auf den Kampf!“, entgegnete Karna und stieß Innos hinterrücks von dem Stein von Guuv, nur um direkt nachzusetzen.
    Innos parierte auch den nächsten Angriff. „Von dem Moment des Nukleozids an, fällt die Regenerationsrate des Gottes rapide ab“, erklärte er seinem Sohn wie beiläufig. „Auch jetzt noch regeneriert sich dein Körper jedes Mal ein wenig schleppender, weil die Zerfallrate des Nukleozids unaufhaltsam steigt. Und schon bald wird sowohl bei dir als auch bei mir der Punkt erreicht sein, an dem der Zerfall die Regeneration übersteigt und unsere Körper einfach in sich zusammenfallen. Ohne Körper hält selbst die Seele eines Gottes nichts mehr am Morgrad. Dann sterben wir wie ein Tier.“
    Karna zuckte zurück. Reglos starrte er seinen Vater aus zerknautschtem Gesicht an.
    „Du hast die Ewigkeit in dieser Sphäre verbracht, ohne dich um deine Zukunft zu sorgen, nicht wahr?“ Nun schlich sich Hohn zurück in Innos‘ Worte. „Ich suchte eine Ewigkeit außerhalb dieser Sphäre nach einem Heilmittel, doch kein Gott hatte diese Welt seit Anbeginn allen Denkens verlassen. Selbst in der Unendlichkeit und darüber hinaus fand ich nichts, was auch nur ansatzweise dazu imstande war, mich zu heilen, nichts, woraus ich mit meiner verbliebenen Kraft ein Heilmittel erschaffen konnte. Selbst hier auf dem Morgrad, wo so viele Götter ihre Spuren hinterlassen haben, wird es so lange Zeit nach meiner Säuberungsaktion kaum noch ein Mittel geben, das uns von unserem Schicksal erlösen kann. Wenn man ewig Zeit hätte, würde man vielleicht einen Weg finden. Aber du saßt müßig in deinem Gefängnis aus Runenstein und warst dir deiner Sterblichkeit gar nicht bewusst. Was für eine Schande du für deinen Vater bist!“
    Karna schlug noch einmal halbherzig nach seinem Vater. Innos wich dem Hieb mit Leichtigkeit aus, doch statt nachzusetzen, wandte Karna sich ab und sprang über den Stein von Guuv hinweg. Karnas Körper glühte im Sonnenlicht auf, als er direkt vor Arn aufkam. Arn erschauderte, als Karnas entstelltes Gesicht sich dem seinen näherte. „Gib mir die Flügel, Arn, sofort!“, schrie er.
    Karna schloss seine Pranke um Arns Hals und drückte erbarmungslos zu. „Flügel?“, rief Innos irgendwo im Hintergrund. Arn zog und kratzte in Panik an den glühenden Fingern des Gottes, doch er hätte sich genauso gut ergeben können.
    Plötzlich wurde Karna in die Luft gerissen, während etwas Bleischweres Arn zu Boden drückte. Karnas Klauen rissen ein großes Stück aus seinem Hals. Röchelnd fuhr Arn sich an seine offene Luftröhre.
    Als er wieder zu sich kam, erblickte er zuerst ein riesiges, pochendes Herz über sich. „Diese Flügel sind für Hane!“, schrie Rei. Arn sah kurz den Hammer Innos‘ neben ihrer Hand auftauchen, dann schleuderte sie ihn auch schon wieder fort. Gefolgt von einer gewaltigen Druckwelle.
    Rei wandte sich halb zu ihm um. „Komm wieder auf die Beine! Wenn wir Hane retten wollen, dürfen wir keine Zeit verlieren! Diese beiden stehen mit dem Rücken zur Wand, sie werden dich nie in Ruhe lassen, solange die Jadeflügel sich noch in deinem Besitz befinden. Du musst Hane zurückholen! Die Obsidian ist unterwegs hierher, aber du solltest ihr entgegengehen, während ich diese grausamen Holzköpfe in Schach halte!“
    „Du?“ Arn war überfordert. Ihm drehte sich noch alles. „Schaffst du das denn?“
    „Mach dir keine Gedanken, lauf endlich!“, schrie Rei und wandte sich schon wieder von ihm ab. „Ich bin die einzige Vollblutgöttin mit Nucleos hier unten. Die beiden werden sich noch wundern, zu was eine Mutter imstande ist, die ihre Tochter beschützt!“
    Arn starrte entgeistert auf zu dem schmalen Rücken der Göttin, der das riesige Herz trug. Karna stieß mit der einen Scherenklinge nach ihr, doch die Aura fing den Hieb im letzten Moment ab. Innos schwang die andere Scherenklinge, wurde jedoch von dem Hammer zurückgeworfen.
    Wie von Geisterhand hob Arn vom Boden und wurde in den Gang geschleudert. Dieses Mal fühlte sich die Telekinese nicht so grob an wie noch zuvor. Die Berührung war sanft und behutsam, und doch stark.
    Arn landete hart auf dem unnachgiebigen Höhlenboden, überschlug sich mehrere Male und kam schließlich zum Liegen. Mühsam hob er seinen Kopf. In nun weiter Ferne griffen Vater und Sohn erbarmungslos an, doch Rei warf sie mit ihrer Telekinese immer wieder zurück. Druckwellen bliesen ihm Staubwehen entgegen. Die Obsidian ist auf dem Weg hierher. Steuerte Rei trotz des erbitterten Kampfes noch zeitgleich das riesige Schiff durch die Höhlen hierher?
    Der Flötzenwurm stieß ein infernales Brüllen aus, als Karna seine Scherenklinge in seinem riesigen Herz versenkte. Sofort wurde er von Rei fortgeschleudert, wobei die Klinge einfach in dem immer wilder pochenden Organ stecken blieb. Eine Blutfontäne ergoss sich über die Kämpfenden.
    Das Brüllen ging Arn durch Mark und Bein. Er hatte die Angst nicht vergessen, die er bei Innos‘ Angriff empfunden hatte. Und auch jetzt fürchtete er den Zorn der beiden sterbenden Götter. Arn ballte die Hände zu Fäusten. Hatte er nicht endlich genug durchgemacht. Konnten sie ihn nicht endlich in Frieden lassen? Selbst als er sich Hanes Sehnsucht nach einer heilen Familie in Erinnerung rief, scherte es ihn plötzlich kaum noch. Wenn er sie mit den Jadeflügeln rettete, würden Karna und sein Vater nicht eher ruhen, wie sie sich an ihm gerächt hatten. Im wortwörtlichen Sinne.
    Als Arn wieder auf die Beine kam, erinnerte ihn das merkwürdige Gleichgewicht wieder an seine Flügel. Er war frei und konnte an die Oberfläche zurückkehren, wann er wollte. Er musste nur die Götter loswerden.
    Karna rang mit Rei. Nur ein winziger Augenblick der Unachtsamkeit erlaubte es Innos an der Göttin der Bewegung vorbeizuhuschen. Arn verkrampfte sich als der einstige Gott von Ordnung, Licht und Feuer auf ihn zurannte, die Augen vor Erregung aufblitzend. Er machte einen Schritt zurück, doch schon hatte Innos ihn erreicht. Er streckte seine freie Linke nach seiner Brust aus – und erstarrte. Auge in Auge standen sie sich gegenüber, doch Innos Finger bewegten sich plötzlich kaum noch vorwärts. Arn erkannte, dass Innos gegen Reis Telekinese kämpfte, die Finger nur Millimeter von seiner Brust entfernt. Und Arn fasste einen Entschluss. Das zweite Herz in seiner Brust begann einen rasenden Trommelwirbel.
    Arn schwang sich in die Luft, setzte über Innos hinweg. Mit zwei kräftigen Flügelschlägen war er hinter Rei. All die Vögel, denen Hane ihre Flügel verliehen hatte, hatten auch nach ihrem Ableben ihre Schwingen behalten. Als Arn seine Finger zu seiner Brust führte, tauchte der Nucleos wie selbstverständlich an die Oberfläche. Er zog ihn heraus – ein merkwürdig ziehendes Gefühl, tief in seinem Brustkorb – und drückte ihn in den Teil des Rückens, der nicht von dem Herz des Flötzenwurms verdeckt wurde. Wie Rei gesagt hatte, sie war eine Vollblutgöttin. In ihr würde der Nucleos Wurzeln schlagen.
    „Was hast du getan?“, schrie sie und wirbelte zu ihm herum. „Du solltest doch meine Tochter retten!“
    Sie wollte ihn an den Schultern packen, doch er wich zurück und erhob sich in die Luft. „Ich habe dir die Möglichkeit gegeben, sie selbst zu retten. Ich lasse mich nicht länger in euren Krieg hineinziehen.“
    Rei setzte zu einer wütenden Erwiderung an. Doch in diesem Moment brach eine Scherenklinge aus ihrem offenen Mund hervor. Ein Stück Zunge fiel zu Boden. Karna klammerte sich an das Herz und hatte die darin steckende Scherenklinge tiefer hineingetrieben. Sein Arm steckte nun bis zu der Achsel in dem träge pochenden Organ. Arn verharrte mitten in der Luft. Dann erinnerte er sich an die Selbstheilungskräfte eines Gottes und wandte sich ab. Rei hatte nun natürlich einen noch schwereren Stand. Aber sie war die einzige mit Nucleos. Sie würde Innos und Karna schon irgendwie überwältigen.
    Ein spitzer, gurgelnder Schrei bewog ihn, sich noch einmal umzudrehen. Karna hatte seinen Arm und die Scherenklinge noch nicht aus dem Herz befreit, doch Innos hatte seinen Arm in die Brust Reis gerammt. Nun zog er sie wieder hervor, zwei Nucleos in der Hand. Reis Pupillen verengten sich zu winzigen Punkten, das Herz auf ihrem Rücken setzte aus. Jetzt begann auch Arns menschliches Herz zu rasen.
    „Ich kann sie mir zwar nicht selbst einsetzen. Aber ich finde schon einen Lakaien, der sie für mich benutzt“, frohlockte Innos und reckte die Nucleos triumphierend in die Höhe.
    „Nur über meine Leiche!“, brüllte Karna und riss seinen Arm samt Scherenklinge aus dem Herz.
    Plötzlich wurden beide von Rei weggeschleudert. „Ihr glaubt, ohne Nucleos sei ich keine Gefahr mehr für euch?“ Rei spuckte Blut und grinste. „Ihr leidet schon seit einer Ewigkeit an Nukleozid. Ich hingegen bin noch fast im Vollbesitz meiner Kräfte! Ich lasse meine Tochter nicht im Stich.“
    Es klickte schallend. Innos stand neben dem Stein von Guuv. Sein Finger steckte in dem goldenen Schloss und drehte sich langsam. Ein zweites Klicken ertönte.
    „Meister Innos!“, rief Neoras ihn mit tränenüberströmtem Gesicht von der Seite her an. Arn erkannte Serpentes hinter ihm am Boden liegend, alle Viere von sich gestreckt. Seine Haut war weiß geworden. Über Neoras‘ Gesicht rannen Tränen. Innos schenkte ihm keine Beachtung.
    „Wir haben Euch in diese Welt zurück gerufen, weil wir Eure Hilfe brauchen gegen die vielleicht schlimmste Kreatur, die Beliar je auf den Morgrad entsandte!“, fuhr Neoras mit zitternder Stimme fort.
    „Du wirst mir gute Dienste leisten“, entgegnete Innos. „Du wirst den Nucleos für mich aufnehmen und meinem Körper zu alter Stärke verhelfen.“
    Karna landete leichtfüßig direkt hinter Neoras. Mit einem einzigen Schnitt hackte er den Magier entzwei. „Das hättest du wohl gern, Vater!“
    Das Schloss klackte zum dritten Mal. Die goldenen Ketten zogen sich rasselnd ins Innere des Gehäuses zurück und der Stein von Guuv schob sich zur Seite.
    Unter dem Stein kam ein schwarzes Loch zum Vorschein, dessen bloßer Anblick Arn bereits Schauer über den Rücken jagte. Selbst Karna wich nervös an den Rand der Höhle zurück.
    „Der Eingang zu Virnana“, verkündete Innos ehrfurchtgebietend. „Was sich dort hinein verirrt, wird nie wieder herauskommen. In Virnana endet jede Existenz. Und was nicht existiert, kann auch nie wieder existieren.“
    Plötzlich war Karna wieder bei seinem Vater. „Das gilt auch für dich!“ Mit der Scherenklinge verpasste er ihm einen schweren Hieb, Innos parierte ihn mit der anderen Hälfte der Schere, musste dabei aber seinen Stand verlagern, so dass sein Fuß sich dem Rand von Virnana gefährlich näherte. Doch Innos nutzte den Schwung von Karnas Attacke, um seinen Sohn über sich hinweg zu werfen. Karna stieß sich mit seiner Scherenklinge ab und ihm gelang der Sprung über das schwarze Loch.
    Innos wandte sich von Karna ab und kehrte zu Rei zurück, die am ganzen Körper zitterte. „Direkt danach ist es am schwersten zu ertragen, nicht wahr?“, sagte er mitfühlend. „Aber keine Sorge. Mit der Zeit gewöhnt man sich dran.“ Er packte eine der dicken Adern, die sich immer noch zwischen dem Herz und dem geöffneten Maul des Flötzenwurms spannten. „Vorausgesetzt, einem bleibt noch Zeit.“
    Mit einem gewaltigen Sprung war Innos zurück an dem schwarzen Loch, die Ader immer noch fest umklammert. Weit ausholend schleuderte er Rei durch die Luft. Schon im nächsten Moment war sie im Virnana verschwunden. Alles, was noch an sie erinnerte, waren die abgetrennten Adern, die abgetrennt und Blut spritzend durch die Höhle schlackerten, die Enden merkwürdig zerfasert.
    Innos und Karna funkelten sich über das Tor hinweg an.
    „Ich hätte dich damals schon erledigen sollen“, stellte Innos fest.
    „Ich bin froh, dass diese Schwachköpfe dich zurückgeholt haben. Sonst hätte ich ja gar nicht die Gelegenheit bekommen, dich eigenhändig auszulöschen“, erwiderte Karna.
    Im nächsten Moment kreuzten sie wieder die Klingen, direkt am Rand von Virnana, schneller und verbissener als je zuvor. Die Klingen spiegelten den Streif Tageslicht, es blitzte in der ganzen Höhle.
    Arn sah auf das Duell herab und versuchte zu begreifen, wie es dazu hatte kommen können. War er selbst verantwortlich für diesem Ausgang? War es besser für ihn, wenn Karna über seinen Vater triumphierte? In diesem Augenblick wünschte er sich, dass sie beide in das Höllentor fielen und einfach aus dieser Welt verschwanden. Doch er traute sich nicht, sich ihnen auch nur einen Flügelschlag zu nähern. Also wandte er sich ab und sah zu, dass er wegkam.
    Er schlug so schnell mit seinen Flügel wie er konnte. Das Licht blendete ihn, doch er hielt direkt darauf zu. Er wich Felsspitzen genauso beharrlich aus wie seinen Zweifeln. Der Wind blies ihm in den Ohren, obwohl in den Höhlen immer noch nicht der geringste Luftzug herrschte.
    Schließlich brach er aus dem gespaltenen Berg hervor und schoss noch weit über sein Ziel hinaus. Er breitete seine Flügel zu voller Größe aus, um den Steigflug abzubremsen.
    Als er zum Stillstand kam, war alles um ihn herum ruhig. Unter ihm erstreckte sich Argaan und am Horizont konnte er auch die anderen Südlichen Inseln erkennen. Das Licht der Sonne spiegelte sich im Meer und wärmte seine Haut. Er sog die klare, frische Luft ein.

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    Irenicus-Bezwinger  Avatar von MiMo
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    „Von hier oben sieht die Welt wunderschön und friedlich aus, nicht wahr?“
    Arn erschrak fürchterlich. Wie in Trance hatte er die südlichen Inseln und den Wellengang des Meeres betrachtet, in der Erwartung allein zu sein. Doch als er sich etwas ungelenk in der Luft umdrehte, erblickte er einen uralt wirkenden Mann in einer schwarzen Robe mit lilafarbenen Stickereien. Seine Haare waren schlohweiß und seine Augen durchbohrten ihn, obwohl sie keine Pupillen zu beherbergen schienen. Er schwebte einfach so vor ihm, ohne Flügel.
    „Wenn doch nur jedem Menschen diese Aussicht gezeigt werden könnte“, fuhr der Fremde fort und überging Arns Erschrockenheit damit vollkommen. „Einige könnte man damit gewiss von ihrem zerstörerischen Weg abbringen. Einfach, indem man ihnen diese Aussicht zeigt.“
    „Wer… bist du?“, fand Arn endlich seine Stimme wieder. Die Präsenz des Mannes war überwältigend, beinahe wie die eines Gotts. Doch seltsamerweise verspürte er nicht einen Hauch von Angst.
    „Wer ich bin, tut nichts zur Sache“, erwiderte der alte Mann. „Der Punkt ist, dass Götter anders ticken als Menschen. Sie kennen diese Aussicht und werden von ihr nicht berührt. Sie haben durch ihre Gabe der Schöpfung den Wert derselben stets verkannt.“ Der Mann löste seinen Blick endlich von Arns Augen und fixierte einen Punkt auf Argaan.
    Als Arn seinem Blick folgte, entdeckte er seine Heimatstadt Thorniara. Er riss die Augen auf, als er den endlos langen Schnitt entdeckte, der sich quer durch die Stadt zog. Die mächtige Stadtmauer, Häuser, Türme und einer der Anlegekais, alles war einfach gespalten worden. Der Turm brach just in diesem Moment zusammen.
    „Die Götter messen der Schöpfung keinen Wert bei“, fuhr der fremde Magier unerbittlich fort. „Sie achten weder die Errungenschaften der Menschheit noch das Leben selbst. Für sie ist alles nur Material für ihren Baukasten, in dem sie ihre endlosen Streitigkeiten austragen können.“
    „Warum erzählst du mir das?“, wollte Arn wissen.
    „Jahrhunderte konnte die Welt in Frieden leben, frei von Göttern. Nun, relativ frei von Frieden. Doch was wird deiner Meinung nach passieren, wenn Karna oder Innos seine alten Kräfte wiedererlangt?“
    Arns Mund wurde urplötzlich trocken. „Damit habe ich nichts zu tun. Ich konnte sie nicht aufhalten.“
    „Du hast es nicht einmal versucht“, widersprach der Fremde. „Ich kann diesen Kampf nicht beeinflussen. Würde ich mich dort unten zeigen, würden Vater und Sohn in einer Eintracht gegen mich vorgehen, die du dir vermutlich nicht vorstellen kannst. Dann würde es mir nicht besser ergehen als der armen Rei. Du bist der einzige, der die Macht hat, einen von ihnen zur Vernunft zu bringen.“
    „Karna?“, entfuhr es Arn. „Karna ist unkontrollierbar! Ständig rastet er aus und droht, mich zu töten.“
    „Und doch hat er es nie getan. Karna ist von Dünkel und Groll zerfressen, doch selbst er fühlt sich einem Menschen verpflichtet, der ihn aus seiner ewig währenden Gefangenschaft befreit hat.“
    Arn schwieg eine Weile. Sein Blick glitt über das Meer, die Wälder, den gespaltenen Berg. „Du willst also, dass ich wieder da runter gehe?“
    „Die Welt war zu lange vor der Willkür der Götter sicher. Heute ist sie nicht mehr in der Lage, ihr zu trotzen. Wenn du diese Welt nicht verlieren möchtest, dann möchtest du dort wieder runter.“
    „Warum ausgerechnet ich? Womit habe ich das verdient?“
    Du hast uns doch erst in diese Lage gebracht. Du hast Karna den Hammer seines Vaters gereicht. Du hast dazu beigetragen, dass die fünf Artefakte Innos‘ wieder vereint wurden. Ohne dich, wäre die Welt nie an diesen Abgrund gerückt. Zuletzt hast du ihrer Zerstörung mit voller Absicht zugespielt, als du Rei verraten hast, die sich auf dich verlassen hatte. Menschen machen Fehler. Doch wenn sie nicht einmal die Chance ergreifen, ihre Fehler zu korrigieren, sind sie nichts Besseres als Götter. Dann bist du einer von ihnen.“
    Arn erinnerte sich an das Grauen, das er empfunden hatte, als Innos direkt nach seiner Rückkehr nichts anderes im Sinn gehabt hatte, als über seinen Bruder zu triumphieren. Er erinnerte sich an Karna, der für seine eigene Gesundheit sogar bereit war, die Wiedergeburt seiner geliebten Hane zu boykottieren. Und an Rei, die ihre eigenen Prinzipien verriet und mit Innos paktierte, nur um ihre Tochter in vermeintliche Sicherheit zu wiegen. War das der Unterschied zwischen Göttern und Menschen? Dass Götter nie bereuten? Ihr Handeln stets für richtig erachteten?
    Ohne es zu bemerken, hatte Arn seine Hände zu Fäusten geballt. Der Fremde hatte Recht, das musste er zugeben. Wenn Karna oder Innos, wer auch immer, siegreich und wieder im Vollbesitz seiner Kraft an die Oberfläche zurückkehrte, würde die Welt wie er sie kannte, aufhören zu existieren. Dann würde das Grauen der Höhlen ihn überall heimsuchen. Ihn und alle anderen Lebewesen des Morgrads.
    „Eines noch“, ergänzte der Fremde. Er schien bemerkt zu haben, dass Arn einen Entschluss gefasst hatte. „Obwohl du Hanes Nucleos verloren hast, ist die Verankerung in deiner Seele nicht zerstört worden. Vermutlich hat es damit zu tun, dass du deinen Nucleos freiwillig herausgegeben hast. Vielleicht hat noch nie jemand zuvor so etwas getan.“
    Arn nickte. Also konnte er die Jadeflügel erneut an sich nehmen, sie vor Innos und Karna beschützen, und zusehen, wie sie beide dem Nukleozid erlagen.
    Ohne ein weiteres Wort hörte er auf, mit den Flügeln zu schlagen. Er ließ sich einfach kopfüber zurück in den Spalt fallen. Mit seinem rechten Flügel korrigierte er noch einmal leicht seine Flugbahn, dann tauchte er in die kühle Dunkelheit der Höhlen ein. Nie hatte er sich träumen lassen, freiwillig noch einmal in dieses endlose System verwinkelter Gänge einzutauchen. Es war ein merkwürdiges Gefühl, das Schicksal der Welt auf seinen Schultern zu tragen, doch während er immer schneller und schneller fiel, wurde ihm klar, dass er sein ganzes Leben nach einem Sinn gesucht hatte. Wann immer sein Tod kurz bevorgestanden hatte, hatte es nichts gegeben, das ihn ans Leben gebunden hatte. Er hatte an seine Eltern und seine Saufkumpanen aus der Taverne gedacht. Aber er hatte nie sich selbst dafür bedauert, dass er nun nicht mehr schaffen würde, was er sich vorgenommen hatte. Jetzt hatte er ein Ziel und wollte um jeden Preis am Leben bleiben, bis er es erreicht hatte. Nie zuvor hatte er sich so lebendig gefühlt. Er wollte keinesfalls der Mensch sein, der den Untergang der Welt herbeigeführt hatte.
    Als er die Scherenklinge vor sich aufblitzen sah, war es bereits zu spät. Er konnte den Eingang von Virnana noch lange nicht erreicht haben, doch plötzlich waren Karna und Innos direkt vor ihm. „Aus dem Weg!“, brüllte Karna und verpasste ihm mit dem Hammer seines Vaters einen gnadenlosen Aufwärtshaken.
    Arn glaubte zu spüren, wie seine Organe alle gleichzeitig platzten, bevor die Druckwelle des Hiebs ihn zurück nach oben katapultierte. Pfeilschnell schoss er in die Höhe, flog aus dem Spalt hinaus ins grelle Sonnenlicht und weiter bis in die Wolken. Als sein Aufstieg langsam verebbte, hatte er immer noch nicht ganz begriffen, was gerade passiert war. Wegen des Schocks hatte er ganz vergessen zu atmen, doch als er nach Luft schnappen wollte, spuckte er bloß einen Schwall Blut. Er begann zu fallen und nur langsam besann er sich daran, wie er seine Flügel bewegte.
    Er stoppte seinen Sturzflug mehr schlecht als recht, aber noch bevor er auf der Insel aufschlug. Vorsichtig tastete er mit seiner Hand nach seiner Magengegend und fand nur feuchte, schleimige Masse. Ohne den Nucleos würde er nicht mehr lange überleben. Hektisch suchte er den Himmel nach dem alten Magier in der schwarzen Robe ab, doch er schien spurlos verschwunden. Mit einer Bruchlandung krachte er auf einen Ausläufer des Weißaugengebirges.
    Kurz darauf sprangen Karna und Innos aus der Spalte hervor. Ohne Flügel mussten sie im Zickzack den weiten Weg hinaufgesprungen sein. Als das Sonnenlicht ihre Körper traf, strahlten sie auf. Beide Körper schienen sich an ihre alte Verbindung mit der Sonne zu erinnern. Achtlos warf Karna den Hammer von sich, behielt nur die Scherenklinge in seiner Rechten. Beide Götter hoben ihren linken Arm, Karna mit gesunder Hand, Innos mit zerfranstem Stumpf.
    Die Sonnen, die sie aufeinander schleuderten, detonierten mitten in der Luft und tauchten den Ausläufer in ein Meer aus Flammen. Arn rollte sich im letzten Augenblick in eine Felsspalte, das Feuer grollte einfach über ihn hinweg. Als der Angriff vorüber war, zog er sich vor Schmerzen schreiend zurück an die Oberfläche. Er musste Innos den Nucleos entreißen, bevor er starb.
    Als er die beiden Götter wieder sehen konnte, erinnerten sie ihn ein zwei riesige Glühwürmchen, die sich wütend surrend aufeinander stürzten. Zwei Sonnen, die verbissen versuchten einander zu verbrennen. Doch zwischen all den Feuerbällen und Lichtexplosionen, blitzten auch immer wieder die Scherenklingen auf.
    Arn spreizte seine Flügel, entschlossen ihnen irgendwie näher zu kommen.
    Da trafen die ersten Lichtsäulen auf Argaan ein. Sengende, endlos lange Strahlen schossen von der Sonne auf die Insel und brannten sich ungebremst ihren Weg ins Erdinnere. Unergründliche, qualmende Krater blieben überall dort zurück, wo so ein Sonnenstrahl das Weißaugengebirge traf. Die ganze Insel bebte unter diesem Angriff. Karna und Innos waren so in ihren Zweikampf vertieft, dass sie keinerlei Notiz von dieser Attacke zu nehmen schienen. Arn konnte weder erkennen, wer von ihnen den Angriff auf die Insel losgelassen hatte, noch, inwiefern der Verlust von Karnas Nucleos die beiden überhaupt in ihrer Macht einschränkte. Arn kam zu dem Schluss, dass wohl beide diese wahnwitzige Attacke benutzten. Denn unaufhörlich prasselten mehr und mehr Lichtsäulen auf Argaan nieder. Der Ausläufer des Weißaugengebirges war schon beinahe komplett ausradiert.
    Arn stieß sich vom Boden ab, spuckte noch eine Welle Blut zu Boden, und segelte auf die kämpfenden Götter zu. Der Avatar Beliars hatte also eine Khor-Insel versenkt? Nun, Karna und Innos standen ihm in Sachen Zerstörungskraft offenbar in nichts nach.
    „Hört auf!“, schrie er verzweifelt, als er in Hörweite der beiden war, doch keiner von ihnen nahm Notiz von ihm. Arn verharrte über ihnen, während sie unermüdlich weiter auf einander einschlugen. Sie waren so schnell, dass Arn nicht einmal eine Chance sah, einen von ihnen zu berühren.
    Dann kreuzten sie wieder die Scherenklingen. Für einen Moment versuchten sie den anderen mit purer Muskelkraft zu überwältigen. Dieser Moment des Stillstands war Arns einzige Chance. Und obschon sich alles in ihm gegen das sträubte, was getan werden musste, reagierte sein Körper instinktiv: Hinterrücks warf er sich auf Innos, klammerte sich mit beiden Armen um den riesigen Hals des Gottes, obwohl die Berührung ihn einzuäschern drohte.
    Innos fuhr herum und stach noch in der Drehung zu. Arn, der die Drehung nicht hatte kommen sehen, konnte sich nicht halten und wurde von dem Rücken des Gottes geschleudert – und mitten in der Luft von der Scherenklinge durchbohrt.
    Im selben Moment brach die andere Hälfte der Schere aus Innos‘ Brust hervor. Karna lachte triumphierend.
    Arn starrte auf die Scherenklinge in seinem zerquetschten Bauch. Ein seltsam wohliges Gefühl breitete sich in ihm aus. Zunächst glaubte er, dass dies der nahende Tod war, der ihn von allem Leid erlöste. Doch er war dem Tod schon so nah gewesen, dass er wusste, dass der Tod nichts dergleichen tat. Er war ein schlichtes Nichts, in dem alle Gefühle endeten. Doch in seinem Magen wurden die Schmerzen gelindert und eine Wärme breitete sich aus. Und dann fiel ihm auch wieder ein, dass der tote Körper ihres Führers noch weiter gelebt hatte, solange diese Scherenklinge in seiner Brust gesteckt hatte.
    „Eine Hälfte, die alles zerstört“, murmelte er fassungslos. „Und eine, die alle Wunden heilt?“
    „Du bist ja doch gar nicht so nutzlos“, lobte ihn Karna, riss seine Scherenhälfte in die Höhe und spaltete seinem Vater so Brust und Kopf. „Du hast dir wohl nie Gedanken darüber gemacht, wie deine Schere wirklich funktioniert, oder Vater?“ Innos gespaltener Körper erlosch und begann zu fallen. Der nächste Sonnenstrahl, der auf die Erde kam, brannte sich mitten zwischen Karna und Arn hindurch, erfasste Innos‘ ganzen Körper. Arn konnte zusehen, wie der Gott direkt vor seinen Augen pulverisiert wurde. Erst dann wurde ihm klar, dass die unerbittliche Helligkeit seine Augen zerstörte.
    Während ihn sein Augenlicht verließ, verlor er auch sein Bewusstsein. Er merkte noch, wie auch er zu fallen begann. Dann fühlte er nichts mehr.

    Als er seine Augen wieder aufschlug und in einen Streif sanften Lichts blinzelte, kam es ihm zunächst überhaupt nicht merkwürdig vor. Nur langsam kehrten seine Erinnerungen an die jüngsten Ereignisse zurück. Prüfend tastete er über seinen Bauch. Er war trocken und die Haut fühlte sich makellos an. Er versuchte sich aufzusetzen und es gelang ihm sofort.
    Er sah direkt in Karnas breit grinsendes Gesicht. „Endlich bist du wach“, schnurrte der Gott. In seiner Hand pulsierte ein Herz.
    „Wieso bin ich nicht mehr verletzt?“, fragte Arn verwundert, doch schon im nächsten Augenblick hätte Karna sich die Antwort sparen können. Er spürte den zweiten Herzschlag in seiner Brust wie seinen eigenen.
    „Na, weil ich dir den Nucleos wieder eingepflanzt habe“, antwortete Karna trotzdem. Aufgeregt leckte er sich über die Lippen. „Nachdem ich meinen Vater endlich vernichtet habe, bist du einfach zurück in den Spalt gefallen. Ich hab es zwar nicht geschafft, dich einzuholen, aber als ich deinen zertrümmerten Körper hier gefunden habe, war noch genug Leben in dir, dass der Nucleos dich als Wirt akzeptiert hat.“
    Arn sah sich um. Tatsächlich, nicht unweit konnte er Serpentes‘ schneeweißen Leichnam erkennen. Die Aura Innos‘ steckte senkrecht im Boden. Und der tiefschwarze Abgrund Virnanas gähnte dazwischen. Karna streckte die Hand mit dem grünlich schimmernden Herzmuskel aus. An zwei Fingern ließ er es über dem Abgrund Virnanas baumeln. „Das Herz eines Gottes ist mit nichts auf der Welt zu zerstören, weißt du? Es wird immer übrig bleiben. Von dem Herz ausgehend wird die Regeneration den restlichen Körper wieder herstellen. Außer, das Herz hört auf zu existieren.“ Er öffnete seine Finger. Das Herz verschwand in Virnana. Karna feixte noch breiter. „Nun, da ich meinen Vater endlich erledigt habe, steht mir niemand mehr im Weg. Arn, gib mir die Jadeflügel! Mit ihnen werde ich endlich wieder der Alte sein!“
    Arn starrte ihn an. Er hatte sein Gespräch mit dem fremden Magier noch nicht vergessen. Nun, da er den Nucleos wieder in seiner Brust spürte, war er Karna in gewissen Punkten überlegen. Doch wenn er sich ihm direkt verweigerte, würde Karna ihm den Nucleos einfach aus der Brust reißen. Oder ihn in seiner Wut in das finstre Virnana hinabstoßen.
    Karnas Lächeln verschwand, als er Arns Zögern bemerkte. Mit einer geschmeidigen Bewegung hob er die Scherenklinge. Und die Spitze kam direkt auf Arns Brustbein zur Ruhe.
    Arn spürte, dass er dem Tod mal wieder nahe war, doch dieses Mal kümmerte es ihn erstaunlich wenig. Dabei zu sterben, Karnas Wiedererstarken zu verhindern, wäre ein guter Tod. Besser jedenfalls als zu überleben und für Karnas Weltherrschaft verantwortlich zu sein. Dieser letzte Gott auf dem Morgrad war alles, was die Welt noch daran hinderte, in Frieden weiter zu existieren.
    Doch Arn war sich schmerzlich bewusst, dass er absolut ersetzbar war in Karnas Plan zur Heilung seines Nukleozids. Mit seinem Tod konnte er die Heilung hinauszögern, aber nicht verhindern. Wie viel Zeit blieb Karna nach dem heftigen Kampf gegen seinen Vater noch? Wann würde der Nukleozid ihn dahinraffen? In wenigen Minuten? Oder erst nach Monaten? Wie lange würde er brauchen, um einen anderen Menschen zu finden, der sich seinen Drohungen ergeben würde? Arn machte sich nichts vor. Argaan war voll von solchen Menschen.
    „Na gut“, sagte Arn, als er einen Entschluss gefasst hatte. Er breitete seine Hände aus. „Ich gebe dir die Jadeflügel. Dann kannst du selbst entscheiden, was du mit ihnen machst.“
    Karnas Augen blitzten triumphierend. Zwischen Arns Händen erschien wieder das Hologramm der Jadeflügel. Immer noch drehten sie sich langsam um ihre eigene Achse, als wär in der Zwischenzeit nichts Bedeutsames passiert. Vor lauter Gier ließ Karna die Scherenklinge achtlos fallen. Arn übergab die Jadeflügel an Karna. Nun drehten sich die Flügel auf seinen Handflächen. Der Glanz in seinen Augen erstrahlte.
    Arn fragte sich, ob die erwartete Reaktion eintreten würde. Mit klopfenden Herzen wartete er auf ein Zeichen, dass er sich nicht geirrt hatte.
    Plötzlich trat Grauen auf Karnas Gesicht. Schlagartig verzog er den Mund, seine Augen verloren ihre Strahlkraft. Gequält blickte er in die Erinnerungen an die Gefühlswelt einer jugendlichen Göttin. Dieselben Erinnerungen, die auch Arn dazu gebracht hatten, sein Leben aufs Spiel zu setzen, obwohl er Hane nicht einmal gekannt hatte. Wie mussten diese Bilder dann erst für den Gott sein, der sie geliebt hatte?
    Karna sank auf die Knie. Seine Hände zitterten. Es kostete ihn sichtlich Mühe, die Flügel nicht einfach fallen zu lassen, so sehr drängte es ihn, seine Hände zu Fäusten zu ballen und alles zu zerschlagen, was sich in seiner Reichweite befand. In seiner Qual stieß er ein Brüllen aus, so voll von Hanes und seinem Leid, dass es Arn kalt den Rücken herunterlief.
    Etwas hinter ihm krachte ohrenbetäubend. Arn sprang auf und warf sich zur Seite, unwissend, was da zu ihnen gekommen war. Überrascht hielt er inne, als er die riesige Obsidian sah, die offenbar in einer Art Bruchlandung über den Höhlenboden schlitterte und sich dabei tiefer und tiefer in den Fels grub. Schließlich kam sie direkt vor Karna zum Stillstand.
    Arn kamen die Worte von Hanes Mutter in den Sinn: Die Obsidian ist unterwegs hierher. Und wieder lief es Arn kalt den Rücken herunter. Die Telekinese hatte auch nach Reis Auslöschung das riesige Schiff weiter durch die Eingeweide der Insel getragen, bis es nun endlich seinen letzten Hafen erreicht hatte. Die beiden werden sich noch wundern, zu was eine Mutter imstande ist, die ihre Tochter beschützt!
    Karna sprang an Bord des Schiffs. Arn schwang sich in die Luft und folgte ihm. Als er auf dem Deck der Obsidian landete, war Karna schon im Inneren des Schiffs verschwunden. Während er der schmalen Treppe Stufe für Stufe in die Tiefe folgte, wurde ihm voll bewusst, dass er nun nichts mehr tun konnte. Er hatte seine Entscheidung gefällt. Und keine Möglichkeit mehr, sie zu korrigieren. Nun hing alles davon ab, ob er Karna richtig eingeschätzt hatte.
    Als er die letzte Stufe verlassen wollte, zuckte er zurück. Auf dem Boden des Schiffsbauchs erstreckte sich eine Schicht schaurig glimmender Lava. Er hatte ganz vergessen, dass die Obsidian gekentert war. Dabei musste die Lava in das Schiffsinnere eingedrungen sein. Beunruhigt fragte er sich, ob Hanes eingefallener Leichnam das überstanden hatte. Was, wenn es gar nichts gab, worauf man die Flügel verpflanzen könnte?
    Von der letzten Stufe aus wanderte sein Blick durch den unstet beleuchteten Raum. Er fand Karna, knöcheltief in der Lava stehend. Er suchte den Boden ab. Umsichtig schlurfte er durch das erkaltende Magma. Dann hatte er etwas gefunden. Er zog einen verkohlten, bröckelnden Körper aus der Lava. Als er den Kopf mit seiner Hand stützen wollte, zerfiel er zu Staub. Arns Herzen wummerten in seiner Brust.
    „Du denkst jetzt hoffentlich nichts Falsches von mir“, knurrte Karna.
    Arn zuckte unwillkürlich zusammen. Er hatte geglaubt, dass Karna seine Anwesenheit vergessen hatte.
    „Ich hole Hane nicht aus Güte oder so einem Quatsch ins Leben zurück. Sondern allein zu meinem eigenen Vorteil.“ Er erhob sich, Hane im Arm, die Flügel auf einer Fingerspitze balancierend. „Sie ist ein guter Gott. Sie wird mir dankbar sein, dass ich ihr ein neues Leben geschenkt und meinen Vater vernichtet habe. Dann kann sie mir ganz einfach ein weiteres Paar Jadeflügel anfertigen, damit wir zusammen in aller Ewigkeit die Vorzüge dieser Welt genießen können. Ohne Eltern, die uns unser Glück nicht gönnen wollen.“
    Arn biss sich auf die Unterlippe. Diese Möglichkeit hatte er noch gar nicht bedacht. Doch vorerst blieb er ruhig. Noch war nicht alles verloren.
    Er ging Karna voran die Stufen hinauf. Sie sprangen von der Obsidian und Karna bettete die verkohlte Hane auf den nackten Höhlenboden.
    Ohne ein weiteres Wort legte er die Jadeflügel auf Hanes Überreste. Sie wirbelten nun schneller um sich selbst, wuchsen zu einer Größe, die für den Körper angemessen waren und verbanden sich mit dem verkohlten Fleisch. Leise flatternd zogen sie den bröselnden Körper in die Höhe. „Fliegt!“, murmelte Karna ehrfürchtig, und die Jadeflügel folgten seinem Befehl.
    Die Jadeflügel schlugen immer schneller und der Körper drehte sich immer schneller um die eigene Achse. Rasch setzten sich die zerbröselten Körperteile wieder zusammen. Dann verschwand das Kohleschwarz und die leere Hülle nahm seinen Platz ein, die Arn bei seinem ersten Besuch auf der Obsidian mit Karna vorgefunden hatte. Die Flügel trugen den Körper immer weiter durch die Zeit. Es sah aus, als würde die leere Haut mit Fleisch vollgepumpt werden. Schließlich erinnerte der Körper schon fast an die Hane, die er in den Erinnerungen gesehen hatte. Aber erst als die Haut auch ihren ungesunden Farbton verloren hatte, schlug Hane die Augen auf. Die Jadeflügel zerstoben zu kleinen grünen Kristallen und verteilten sich über den Höhlenboden, während Hane mit verblüfftem Gesicht ein paar letzte Runden drehte und sanftfüßig vor ihnen landete.
    Ihre großen Augen starrten in die leuchtenden Karnas. Dann sah sich prüfend um. Mehrere Male blieb ihr Blick in der Leere hängen. Arn fragte sich, wonach sie suchte. Plötzlich holte sie aus und schlug Karna mit der flachen Hand ins Gesicht. Ihre großen Augen schwammen in Tränen und plötzlich glaubte Arn zu wissen, wonach sie suchte: Nach den Auren der anderen Götter.
    „Wie kannst du es wagen, mich in dieses trostlose Leben voller Einsamkeit zurückzuholen, Karna?“, schrie sie voller Zorn. „Es hat eine Ewigkeit gedauert, bis mein verfluchtes Herz endlich aufgehört hat zu schlagen. Und nun soll ich diese Qualen noch einmal durchleiden? Womit hab ich das verdient? Nicht einmal Mutter ist noch hier!“
    „Aber ich bin doch da!“, wandte Karna ein, hilflos die Hände hebend. „Wenn du mir auch solche Jadeflügel herstellst, kannst du mich von meinem Nukleozid heilen. Dann können wir bis in alle Ewigkeit zusammen leben, ohne dass uns jemals wieder jemand gefährlich werden könnte.“
    „Du begreifst es nicht, oder?“, spie Hane ihm ins Gesicht. „Ich habe mein Leben geliebt, aber nicht um jeden Preis. Ein Leben ohne all die anderen Götter, ohne Tohr, Pytt, Smeifel, Patra, Renn, Kleo und all die anderen ist für dich also einfach nur ein Leben ohne Gefahr? Für mich ist es ein Leben ohne Sinn! Ich hatte ein schönes Leben. Aber ich habe kein Interesse daran, die Ewigkeit in einer Einsamkeit zu verleben, die auch du nicht füllen kannst, Karna.“
    Im Zorn wandte sie sich ab und erblickte den Eingang zu Virnana. Einige Momente vergingen, in denen niemand ein Wort sagte. Dann wandte Hane sich noch einmal zu Karna um. Ihr Blick war nun viel milder und warmherziger. „Es tut mir wirklich leid, Karna. Aber ich kann nicht.“
    „Neeeein!“ Karna schnappte nach ihrem Arm, doch er erwischte nur noch Luft. Erhobenen Hauptes war Hane über den Rand hinweggetreten und wie ihre Mutter in Virnana verschwunden.

    Arn wusste nicht, wie lange er und Karna so nebeneinander dastanden. Doch irgendwann fiel Karna einfach in sich zusammen. Sein verbrannter Körper legte sich wie eine leere Hülle über den unebenen Boden.
    Arn wagte es nicht, seinen Überresten einen Blick zuzuwerfen. Ein Kloß steckte in seinem Hals. Er hatte geahnt, worauf es hinauslief, und hatte doch nichts unternommen, um es zu verhindern. Wieder einmal musste er die Konsequenzen seines Handelns tragen.
    Als er nach einer gefühlten Ewigkeit doch noch den Kopf wandte und Karnas leeren Körper betrachtete, hatte er trotz allem Mitleid mit dem Gott, dem vielleicht letzten seiner Art. Er hatte sich immer für stark und unabhängig gehalten. Auch Arn hatte ihn immer für stark gehalten. Er hatte erwartet, dass Karna eines Tages von seinem Nukleozid dahingerafft werden würde. Doch nun war dem Nukleozid der simple Umstand zuvorgekommen, dass Karna es nicht ertragen hatte, Hane ein zweites Mal zu verlieren. Es sind Gefühle, die eine Seele am Leben halten. Positive Gefühle. Bar jeder Gesellschaft und voll Kummer, von der Aussichtslosigkeit ihrer Situation gebrochen, von den Erinnerungen an alles, was sie verloren hat, zermürbt… Hanes Gefangenschaft auf diesem Schiff hat ihre Seele aufgefressen. Es dauert Jahrtausende, bis eine Seele vollständig aufgezehrt ist. Hane hat hier unten eine Ewigkeit gelitten, bis sie endlich nichts mehr fühlen musste und ihr Leben endete.
    Hanes endgültiger Tod hatte Karnas Seele auf einen Schlag verzehrt.
    „Wenn es eines gibt, das die Menschen den Göttern voraus haben, dann dass sie sich der Bedeutung von Gefühlen vollkommen bewusst sind.“ Der alte Mann in der schwarzen Robe trat an seine Seite. „Du hast Karna und Hane richtig eingeschätzt und sie so auch ohne körperliche Gewalt geschlagen. Gut gemacht.“
    Statt sich dem Mann zuzuwenden, stierte Arn in das undurchdringliche Nichts von Virnana. „Ich habe nicht das Gefühl, dass man sich über irgendetwas freuen sollte.“ Er wischte sich mit seinem zerfetzten Ärmel die Tränen aus dem Gesicht, doch sie kamen einfach wieder.
    „Obgleich man das Schicksal des Einzelnen nie gering schätzen darf, sollte man auch nicht vergessen, das der Vielen in die Waagschale zu werfen“, antwortete der Fremde. „Diese Welt gibt uns nur eine Handvoll von Möglichkeiten und uns bleibt nichts anderes übrig als die beste unter ihnen zu wählen.“
    Arn spürte Zorn in sich aufsteigen. Er war selbst etwas verwundert darüber und schluckte dieses ungewohnte Gefühl herunter. „Wer bist du denn, dass du sowas zu wissen glaubst?“, fragte er den Fremden schroff.
    Der Alte schmunzelte. „Nenn mich einfach Xardas.“
    „Bist du auch ein Gott?“, wollte Arn wissen.
    „Wie kommst du darauf?“ Xardas schien ihn genau zu beobachten.
    „Du kannst fliegen. Ohne Flügel.“
    „Nun, das kann ich. Doch das ändert nichts an der Tatsache, dass Beliar der letzte Überlebende seiner Art ist. Gewiss, auf mir lastet das Wissen eines Gottes. Und ich trage den Namen eines Gottes. Doch ich bin keiner, nein.“ Xardas steckte eine Hand in seine weiten Ärmel und zog eine Schraube hervor, die so dick war wie ein Finger. Langsam begann er Virnana zu umrunden.
    Arn überkam ein ungutes Gefühl. „Wenn Beliar nun der letzte Gott ist… Wird dann nicht das Böse die Macht ergreifen?“
    Xardas zog eine der Scherenklingen aus dem Boden, dann setzte er seine Runde fort. „Ich hätte gedacht, dass du die Gesellschaft von Karna, Rei und Innos lange genug genießen durftest, um von solchen Vorstellungen befreit zu werden. Glaubst du immer noch, dass es einen großen Unterschied gemacht hätte, ob nun Beliar oder Innos diese Welt beherrscht?“
    „Nein“, antwortete Arn, ehe er richtig darüber nachgedacht hatte. „Trotzdem kann Beliar nun nicht mehr aufgehalten werden.“
    Xardas warf ihm einen Blick zu und Arn war verwundert, so etwas wie einen schelmischen Ausdruck in dem alten Gesicht zu entdecken. „Hast du nicht mehr als nur einen Gott aufgehalten? Beliar ist außerhalb der Sphäre Adanos keine Bedrohung. Und sollte er es seinem Bruder je gleich tun und auf den Morgrad zurückkehren, so hätte ihn der Nukleozid noch weiter zermürbt als Innos bei seiner Rückkehr. Wenn wir uns Beliar ein letztes Mal in den Weg stellen müssen, werden wir auf diesen Kampf viel besser vorbereitet sein als er.“
    Arn fiel auf, dass Xardas von einem Wir sprach, obwohl er noch weniger zu dem Ausgang beigetragen hatte als er selbst. Genau genommen hatte er nichts weiter getan, als ihn zur Rückkehr in die Höhlen zu bewegen.
    Xardas zog nun auch die andere Scherenhälfte aus dem Boden. Er legte die Hälften übereinander. Und verband sie mit der fingerdicken Schraube aus seiner anderen Hand. Arn stockte der Atem. Xardas hob die Schere mit beiden Armen, öffnete sie weit, bis sie zu beiden Seiten über Virnana hinausragte – und ließ sie zuschnappen.
    Die Scherenklingen schnitten durch die wabernde Finsternis und an ihrer Stelle trat Fels zutage. Als die Schere sich endgültig schloss, verpuffte das Tor in die Nichtexistenz. Ein eiskalter Wind brandete über Arn hinweg. Auf seinen Flügeln fühlte sich der Luftzug besonders unangenehm an. Dann war Virnana verschwunden.
    „Innos wusste diese Schere nie ausreichend zu schätzen“, erzählte Xardas wie nach einer ganz alltäglichen Tat. „Während die eine Scherenklinge alles zerstört, aber auch nichts als Zerstörung zurücklässt“, Xardas nickte zu dem Spalt in der Insel hinauf, „vermag die andere Scherenklinge die Schöpfung zu erneuern, wo auch immer sie sie berührt.“
    Arns Blick wurde von der Leiche des Führers angezogen.
    „Doch muss das Alte dem Neuen erst Platz machen, damit etwas wirklich Neues entstehen kann. Sonst gibt es keine richtige Verbesserung. Nur die Schere als Vereinigung beider Klingen entfaltet eine Kraft, die mit der kaum eines anderen Artefaktes zu vergleichen ist.“
    Arn verstand seine Ausführungen nur zur Hälfte. Ihm brummte der Kopf und er sehnte sich danach, zu schlafen. Sich endlich ausruhen zu können.
    „Hätte ich mit der einen Klinge Virnana zerschnitten, wäre es in zwei Teile zerfallen. Hätte ich es mit der anderen Hälfte geschnitten, wäre in dem Virnana ein neues Virnana entstanden. Zusammen konnten sie Virnana auslöschen und das Loch in der Sphäre mit neue erschaffenem Fels schließen.“ Xardas machte eine kurze Pause, in der er die Schere gedankenverloren betrachtete. „Ich denke, Innos wusste das, hielt es aber nicht für wichtig. Virnana brauchte er noch, um seinen Bruder eines Tages darin zu versenken. Danach hätte er es vielleicht zerstört, um sich selbst zu schützen, aus demselbem Grund versiegelte er es ja auch mit dem Schloss, das nur er selbst zu öffnen vermag. Aber er hat keine Sekunde an den Gedanken verschwendet, was wohl passieren würde, wenn er mit der Schere seine eigene Seele zerschnitten hätte.“ Xardas ließ die Schere in der Luft zuschnappen, nichts passierte.
    „Kann ich mit der Schere auch meine Flügel wieder loswerden?“, fragte Arn plötzlich. Er brauchte sie noch, um an die Oberfläche zurückzukehren. Aber was war danach? Wie sollte sein Leben weitergehen, wenn alle in Thorniara seine Flügel sahen?
    „Die Schere brauchst du nicht“, antwortete Xardas schlicht.
    „Aber…“
    „Hast du noch nie eine Geschichte von einem geflügelten Pferd gehört? Haben Pferde heute immer noch Flügel? Manchen Lebewesen musste Hane um ihrer selbst Willen die Flügel wieder abnehmen. Und ich versichere dir, die Schere hat Hane nie benutzt.“

    Als Arn ohne seine Flügel aus dem Wald trat, war es ein komisches Gefühl, die Stadt so unversehrt vor sich zu sehen. Aus dieser Perspektive konnte er den kilometertiefen Schnitt nicht sehen, der die Stadtmauer einige Meter weiter eingerissen hatte.
    Er trat durch das Stadttor und war überwältigt von dem ganz alltäglichen Trubel in der Stadt. Kinder rannten hintereinander her, Bürger standen aufgeregt gestikulierend zusammen, um den neuesten Klatsch auszutauschen.
    „Mensch Arn, wo hast du denn so lange gesteckt?“ Erst im letzten Moment sah Arn den Hünen kommen. Gerade noch rechtzeitig um dem freundschaftlichen Klaps auszuweichen, der ihn sonst wahrscheinlich unangespitzt durch das Kopfsteinpflaster gerammt hätte.
    „Berric!“ Arn strahlte. Das Gesicht seines Saufkumpels war so vertraut, er konnte nicht anders. „Haben uns schon Sorgen gemacht. Ist eine Menge passiert, seit du mit diesen komischen Magiern abgehauen bist!“ Arns Lächeln gefror. Was sollte er denn nun sagen? Der Moment verflog, als Berric einfach weiter redete: „Kommst genau zum richtigen Moment. Der Boden ist aufgebrochen, quer durch die Stadt geht das! Manche sagen sogar, dass es die ganze Insel gespalten hätte. Auf jeden Fall eine super Zeit für uns Tagelöhner. Die feinen Herren bieten Unsummen, damit ihr Haus als erstes repariert wird! Ich bin gerade auf dem Weg zum Marktplatz, komm doch gleich mit!“
    „Geh schon mal vor, ich muss noch was erledigen“, sagte Arn und verabschiedete sich von seinem Kollegen. Dass er nach den zwei Wochen in den Höhlen als erstes seine Familie wiedersehen wollte, behielt er lieber für sich.
    „Und Innos erwählte den Menschen“, tönte eine Stimme über die Menschenmenge. Sie kam von einem beleibten Priester, der sich auf ein paar Kisten gestellt hatte, um besser gesehen zu werden, und von einer kleinen Schar Passanten umringt war. „Und dort, wo der Mensch auf Beliars Tier traf, entstand ein Ort, an dem Ordnung und Chaos zugleich war.“
    Während Arn sich weiter durch die Menge schob und die Stimme des Priesters langsam verebbte, sinnierte er darüber, ob sich überhaupt etwas verändert hatte. Bald würde der Riss zumindest in der Stadt geschlossen sein, die Häuser repariert. Die Auftragslage für Tagelöhner würde wieder so schlecht werden wie immer. Und alles würde seinen gewohnten Gang nehmen. Wer die Stadt nicht verließ, würde gar keinen Unterschied bemerken.
    Nur er würde jeden Tag den zweiten Herzschlag in seiner Brust spüren. Und was auch immer das bedeutete, für ihn würde nichts mehr so werden wie früher.

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