Talos - Endgame
[Video]
Van Oostveen traf die Entscheidung, den Zeugen Al Sharidi vorzeitig gehen zu lassen, nicht halbherzig. Er hatte eine ungefähre Ahnung davon, wie viel nützlicher die Aussage der direkt betroffenen Luceija Ascaiath im Vergleich zu der eines zu Leif loyalen Freundes wie dem Psychologen war. Nicht, weil er die Personen unterschiedlich bewertete, sondern einzig, weil es Luceija war, die diesen Sex auf dem Video mit dem Angeklagten gehabt hatte. Die diese Beziehung geführt hatte, die, laut Al Sharidi, nicht länger existierte. Und das musste, so war auch dem Richter klar, mehr bedeuten. Ohnehin waren die Aussagen der Neununzwanzigjährigen Italienerin bislang sehr flach ausgefallen. Da war der kurze Ausbruch bei Daigles Aussage. Aber damit hatte es sich. Und nun saß sie dort, auf einem Stuhl, ganz am Gang, im Wissen, dass sie nun gleich wieder nach vorne würde kommen müssen, aber in keiner Weise eingeschüchtert oder anders als arrogant und monoton, wie sie vorab schon wirkte. Der Richter beobachtete die junge Frau einen Moment lang. Sah zu, wie ihre restliche Familie einige Stühle weiter in der Mitte saßen, zu ihr sahen, und insbesondere ihr Bruder immer wieder versuchte, Kontakt zu ihr aufzunehmen.
Vigilio verstand nicht, was sie hier tat. Er hatte schon nicht verstanden, weshalb sie es zugelassen hatte, der Bitte des Anwalts nach draußen zu folgen. Denn es waren gängige Praktiken, die Vigilio auch bei mangelnder Karriere als Jurist verstehen konnte. Aber gleichzeitig sah er auch, wie tief diese Verhandlung gesunken war. Wie wenig Auswege es für Leif noch gab, der im wahrsten Sinne mit dem Rücken zur Wand stand und den Kreis um sich mit jeder Aussage willentlich noch enger zog. Mit gewissem Wohlwollen betrachtete er, dass der Schwede seine Schwester zu schützen versuchte – aber, wie auch schon so viele Male zuvor, war kaum einer in der Lage, sie wirklich vor sich selbst zu schützen. Vor der vermeintlichen Dummheit nochmals auszusagen.
„Wieso tut Sie das…?!“, flüsterte er seiner Frau Zora zu. Wieso. Er wünschte, er könne ihr sagen, dass Leif einen Plan gefasst hatte um sie lebenslänglich zu schützen. Er wünschte er hätte die Option ihr ein paar bessere Neuigkeiten auf den Weg zu geben. Wobei es unersichtlich war, ob es irgendetwas zu ihrem Wohlbefinden beigetragen hätte.
„Damit entlasse ich Sie aus dem Zeugenstand, Doktor Al Sharidi. Auch Sie bleiben unvereidigt. Vielen Dank, Sie dürfen Sich zurück nach hinten setzen.“, hallte Van Oostveens Stimme durch den Saal.
„Miss Ascaiath – dann kommen Sie bitte nochmal zu uns nach vorne.“
Sie, Luceija, nahm das Kommando stumm hin. Was zuvor nicht viel mehr war als ein vergleichbar kleiner Funke wuchs nun, als sie langsam und erneut von ihrem kalten Stuhl aufstand, zu einer riesigen, unerstickbar großen Flamme heran. Und ja, ihr Innerstes brannte tatsächlich regelrecht. Sie blinzelte langsam und das Brennen lag bereits in ihren Augen. Sie war müde. So müde von allem. Aber es war nicht die Zeit, nicht der Raum, um diesem Wissen in ihr, dieser Schwäche, auch nur irgendwie nachzugeben. In ihrem Inneren hatte sich so vieles aufgewirbelt und so viel war in diesen Zwei Tagen und zwischen ihrer letzten und der kommenden Aussage durcheinander geraten…aber nach außen hin war sie, ihr Gang, ihre Haltung, das leicht erhobene Kinn und der kühle, distanzierte Blick, thronend auf einem emotionslosen Gesicht, genau dasselbe. Sie schritt einmal mehr den Gang entlang nach vorne, auf viel zu unbequemen, hohen Schuhen, die Hall durch den Raum schickten. Drückte einhändig das Türchen auf, dass sie vom vorderen Bereich des Gerichtes trennte. Und passierte sofort ihn. Leif. Dessen Nähe eine wärmende, eine heilende, eine verzweifelte Aura ausstrahlte und sie längst in einen Bann zurück zog, die lediglich sein Geruch perfektionierte. Ihr Herz, oder die Stelle wo es sein musste, begann so sehr zu schmerzen, dass sie glaubte, sie werde vor allen Leuten erstochen. Zum Glück schaffte sie es selbst, diesen Weg weiter zu gehen. Weiter nach vorne, diese wenigen, kleinen Stufen hinauf auf diese Kanzel, wo sie sich setzte, ohne auf eine weitere Aufforderung des Richters zu warten. Und ohne, kaum, dass sie sich niedergelassen hatte, den Kopf nochmals anzuheben. Wenn sie ihn nun ansah, war es vorbei.
„Wenn Sie nochmals aussagen, Miss Ascaiath, muss ich Sie erneut belehren, dass Sie hier die Wahrheit und ausschließlich die Wahrheit sagen müssen, weil Sie sich ansonsten strafbar machen.“ Sie nickte.
„Ich weiß.“, bestätigte sie.
„Sie müssen zudem nichts sagen, wenn Sie sich selbst einer Straftat belasten würden.“ Wieder nickte sie.
Verzögert sah der Richter zu der Seite der Verteidigung.
„Werte Verteidigung, Sie haben damit das Wort um die Zeugin erneut zu befragen.“, sagte er, mit diesem Blick, der sie anmahnte, es bessert Wert sein zu lassen. Während Luceija wartete. Auf ihren Tisch sah, auf die Maserung des Holzes die sie gestern schon angestarrt hatte. Und doch nicht vermeiden konnte, dass die Person, wegen der sie wieder hier saß, permanent passiv in ihrem Blick hatte. Sie wollte hier weg. Aber sie konnte nicht. Es gab keinen Weg mehr zurück.