Onkel Horatio

Weihnachtswichtel 2018
für MiMo

Ein kalter Schauer lief Horatio über den Rücken, als der frische Bergwind ihm die krausen Nackenhaare streichelte. Der alte Mann hielt inne und legte seine Hacke für den Moment beiseite. Sein Atem ging rasch, das Herz klopfte ihm in der breiten Brust. Von der beständigen Arbeit auf den Feldern hatte sich ein hauchdünner Schweißfilm über seine Haut gelegt. Als ihn nun die Kälte berührte, schien sein gesamter Körper einzufrieren. Er fühlte sich wie eine Echse, die langsam in Winterstarre verfiel. So ganz abwegig war das nicht, immerhin war bereits Dezember. Doch hier auf Khorinis waren die Jahreszeiten nur schwach ausgeprägt. Im Neuen Lager herrschten fast ganzjährig milde bis heiße Temperaturen und eine beständig hohe Schwüle. Sonst könnten sie ja auch keinen Reis anbauen. Und in all den Jahren, die er bereits in der Strafkolonie gefangen saß, hatte Horatio nie gefroren, war nie krank gewesen. Doch diese Gänsehaut auf seinem Nacken machte ihm Angst. Er war zweiundfünfzig Jahre alt und fühlte, dass sein Körper abbaute.
Zum Glück dauerte es nicht lange, bis ihn die Realität ringsum aus seinem aufkeimenden Tief befreite, denn am großen Lagerhaus vom Reislord schien es mal wieder Ärger mit einem Neuankömmling zu geben. Ein Kerl namens Lefty fühlte sich dazu berufen, alle Neuen persönlich willkommen zu heißen und ihnen einen Leitfaden zur sozialen Hackordnung innerhalb des Lagers mitzugeben. Das bedeutete im Klartext, er und seine Schläger verpassten dem Neuen eine Abreibung und zwangen ihn anschließend, sich dem Dienst auf den Feldern zu verschreiben. Und das für den Rest ihres jämmerlichen Daseins innerhalb der Kolonie. Diese Taufe hatte so ziemlich jeder Bauer durchmachen müssen, der hier auf den Reisfeldern arbeitete.
Nur bei Horatio war das damals etwas anders abgelaufen. Er hatte vor seiner Zeit in der Barriere als Schmied in Khorinis gearbeitet und war verdammt gut gewesen in dem, was er tat. Das lag vor allem daran, dass er selbst bereits auf dem Schlachtfeld gegen Orks gekämpft hatte und wusste, wie stark eine Waffe sein musste, um die ledrige Haut der Bestien zu durchdringen. Die Qualität seiner Waffen war so gut, dass sich selbst die Generäle des Königs höchstpersönlich ihre maßgeschneiderten Schwerter und Kriegsäxte für den Kampf bei ihm bestellten.
Und weil das Schicksal immer eine Überraschung parat hielt, war einer dieser Generäle heute der Anführer der Söldner im Neuen Lager und ein guter Freund von Horatio. Kein Schläger dieser Welt wäre so dumm, sich mit einem Freund vom Boss anzulegen. Es wäre für den ehemaligen Schmied daher ein Leichtes gewesen, ein kämpferisches Leben als Söldner zu führen anstatt sich auf den Feldern den Rücken krumm zu schuften. Doch Horatio hatte an dem Tag, an dem er in die Barriere geworfen wurde, einen Schwur geleistet. Er würde nie wieder kämpfen, denn das hatte einst dazu geführt, dass er sein restliches Leben in der verfluchten Minenkolonie verbringen musste - weg von Freunden, weg von seiner Familie. Inzwischen hatte er sich damit abgefunden und wollte seinen Lebensabend in Ruhe und Frieden ausklingen lassen. Er hatte sich daher, im Gegensatz zu den meisten anderen Bauern, freiwillig für die Feldarbeit entschieden und diese Wahl bis heute nicht bereut.
Einzig Lefty und dessen Schlägerbande standen zwischen ihm und einem angenehmen Leben, denn die Mistkerle nutzten jede Gelegenheit, die sich ihnen bot, um sich auf Kosten der Schwächeren zu bereichern. Sie legten sich zwar nicht direkt mit ihm an, aber es schmerzte ihn jedes Mal, wenn er sah, wie eine neue, hoffnungsvolle Seele ins Lager kam und von den Stiefeln der Realität begrüßt wurde. Es war für Horatio unbegreiflich, wie sich dieses pubertäre Verhalten bei den Schlägern bis ins Erwachsenenalter hatte halten können. Meistens hielt er es wie die anderen Bauern, schluckte seinen Zorn herunter und ging den Mistkerlen einfach aus dem Weg, aber heute stellte sich das als unmöglich heraus. Denn der Kerl, den Lefty gerade in die Mangel nahm, schrie am laufenden Band seinen Namen.
„HORATIO! HILFE! Bitte nicht… HORATIO!“
‚Adanos steh mir bei…‘, dachte der ehemalige Schmied, denn er wusste sehr wohl, um welchen Schreihals es sich hier handelte. Er hatte gehofft, den Kerl nie wieder zu sehen. Aber Unkraut vergeht nicht, so viel steht fest. Horatio seufzte schwer und ging auf die Schläger zu.
„Meine Fresse, heulst du etwa?“
Lefty hatte sein Opfer auf den Boden geworfen und drückte ihm den Kopf in den Schlamm. Der junge Mann machte gar keine Anstalten, sich zu wehren, aber er schrie noch immer wie am Spieß und seine Stimme war so quiekend wie der Schrei eines Molerat-Frischlings.
„Lass ihn gehen, Lefty“, forderte Horatio ruhig, aber entschlossen.
Der Schläger Lefty erinnerte den Alten an einen Wolf, der sich den Rang im Rudel noch verdienen musste. Er war wild und ungestüm gegenüber jenen, die unter ihm standen, konnte aber auch ganz schnell den Schwanz einziehen, wenn man ihm gegenüber selbstbewusst auftrat und auch ein bisschen was unterm Ärmel hatte.
Als Horatio ihn konfrontierte, war direkt zu sehen, dass Lefty ihn von oben bis unten musterte und in Gedanken abwog, wie er auf eine so dreiste Forderung des Bauern reagieren sollte. Statt einer direkten Antwort, genehmigte er sich erst einmal einen Stängel Sumpfkraut, während sein Opfer immer noch unter seinem Stiefel den Schlamm küsste.
„Du bist Horatio?“, fragte Lefty schließlich, fuhr jedoch fort, ohne eine Antwort abzuwarten.
„Der Wurm hier behauptet, du wärst sein Onkel. Ich hätte es wissen müssen. Seine hässliche Visage kam mir bekannt vor.“
Das musste er Horatio vermutlich noch mitgeben, ehe er sein Opfer endlich freigab. Sein Neffe krallte sich sogleich an das Hosenbein des Alten und blickte mit verheultem Gesicht zu ihm auf.
„Onkel, du bist es wirklich… ich bin so froh dich gefunden zu haben.“
„Hallo Mud“, erwiderte Horatio trocken, „Los, wisch dir den Schlamm aus dem Gesicht nimm Haltung an.“
„Denk bloß nicht, er könnte sich hier umsonst durchfuttern!“, gab Lefty ihnen noch mit und schnipste dabei seinen Krautstängel in ihre Richtung.
„Wird er nicht“, gab der Alte bissig zurück und zog seinen Neffen weg von den Schlägern.

***

Am Abend wurde die Familienzusammenkunft mit einem Besuch in der Kneipe auf dem See gefeiert. Horatio wollte dabei gute Miene zu bösem Spiel machen, denn er war keinesfalls begeistert von einem Wiedersehen mit seinem Neffen Mud. Er war schon als kleiner Junge irgendwie… seltsam gewesen - höflich ausgedrückt. Seine Eltern hatten ihn im Alter von vielleicht zehn Jahren bei Horatio abgegeben, er solle ihn bei sich als Lehrling in der Schmiede aufnehmen. Zu diesem Zeitpunkt ahnte der Alte noch nicht, dass die Eltern des kleinen Mud ein Ticket ohne Rückfahrschein zum Festland gebucht hatten. Diese Intrige hatte Horatio seinem Bruder bis zum heutigen Tag nicht verziehen.
Mud war kein guter Lehrling gewesen. Er gab sich tollpatschig, altklug und lechzte stets nach Aufmerksamkeit, kurzum: er war eine kleine Nervensäge. Dieses Verhalten führte des Öfteren dazu, dass ihnen wertvolle Aufträge durch die Lappen gingen, weil die Kunden mit der Arbeit des Jungen nicht zufrieden waren oder er sie darüber belehren wollte, dass man es sich mit dem Neffen des besten Schmieds der Stadt besser nicht verscherzen sollte. All das hätte Horatio dem Jungen noch mit dem ein oder anderen Satz saftiger Prügel austreiben können. Sein Geduldsfaden mit Mud riss, als dieser in die Pubertät kam und sich an der Lucy vergangen hatte - einem wehrlosen Schaf von Horatios Freund Alwin. Die letzte Begegnung mit seinem Neffen endete daher mit einem Arschtritt, der Mud auf die Straße vor der Schmiede beförderte. Doch jetzt, fünf Jahre später, war er zurückgekehrt und Horatio an einen Ort gefolgt, an dem er ihm nicht einmal wirklich aus dem Weg gehen konnte. Eine ernüchternde Vorstellung.

„Habt ihr auch was Anderes, außer Reis und Wasser? Das schmeckt ganz schön fad.“
Lustlos stocherte Mud in der Ration herum, die auf Horatios Kosten ging. Der Alte hatte großzügig darauf verzichtet, würde selbst den ganzen Abend hungern und wie dankte der Junge ihm das?
„Mehr gibt es heute nicht. Wenn du es nicht isst, nehme ich es.“
„Nee, ist schon gut.“
Mud grabschte mit der Hand mitten in die Schüssel und stopfte sich den Reis in die Hosentasche.
„Damit kann ich Vögel füttern.“
Horatio begann unruhig mit den Fingern auf dem Tisch zu trommeln. Er war ja generell ein ruhiger und besonnener Mensch, aber wenn er mit seinem Neffen zu tun hatte, musste er mächtig aufpassen, sich nicht im Ton zu vergreifen. Das Beste war, die Angelegenheit schnell über die Bühne zu bringen, jeden Annäherungsversuch abzublocken und ihn morgen wieder wegzuschicken.

„Was willst du hier? Wieso bist du überhaupt eingebuchtet worden?“
„Was denkst du wohl? Der miese Alwin hat mich verpfiffen. Aber das ist ja jetzt auch egal. Ich freu mich, endlich wieder bei dir zu sein. Bald ist Wintersommerwende, das ist die Zeit der Familie, des Friedens und der Vergebung.“
Mud lächelte debil.
„Und darum vergebe ich dir, Onkelchen!“
Horatios Augenbraue schnellte empor, die Stirn legte sich in Falten.
„Wie bitte? Du vergibst mir?“
„Ja“, Mud nickte eifrig den Kopf, „Du weißt schon… Dafür, dass du mich damals auf die Straße gesetzt hast. Das war nicht nett und ich hatte es echt nicht leicht, wieder auf die Beine zu kommen. Aber keine Angst, ich vergebe dir.“
Dann stand er auf, lief um den Tisch herum und klopfte seinem Onkel mit der Hand voller klebrigem Reis auf die Schulter. Horatio wischte sich reflexartig die Reste vom Hemd und antwortete irritiert.
„Danke… schätze ich mal.“
Mud setzte sich wieder und breitete gönnerhaft die Hände aus.
„Und weil es der festliche Brauch zur Wintersonnenwende ist, bin ich auch noch gekommen, um Gutes zu tun.“
„Was denn, noch mehr?“, seufzte Horatio.
„Und ob! Ich bin hier, um die Menschen glücklich zu machen. Ganz im Sinne der Herzlichkeit und Brüderlichkeit. Und bei dir fange ich an.“

Horatio blickte kurz in seinen Erzbeutel. Zehn Brocken. Er deutete dem Schankmann Silas mit zwei Fingern, dass er einen Doppelten wollte. Leider wurde er missverstanden und Silas brachte stattdessen zwei Gläser. Nicht so schlimm, der Alte trank trotzdem beide selbst.
„Aber du hast mir doch schon vergeben“, brummte Horatio schließlich zu Mud gewandt, der noch seinem Beinahgetränk hinterherblickte.
„Was willst du mir denn noch antun?“
„Hmm“, sein Neffe rieb sich das nur von einem dünnen Flaumbart gerahmte Kinn, „So wie du den Schnaps runterkippst, hast du ganz sicher ein Alkoholproblem. Daran könnten wir arbeiten.“
„Bei Adanos, bloß nicht! Wenn du mich glücklich machen willst, bestellst du mir besser noch einen!“
Mud winkte dem Wirt Silas, er solle noch zwei Schnäpschen bringen. Diesmal war er schnell genug und trank selbst einen davon. Horatio kippte seinen ebenfalls herunter. Eine angenehme Wärme breitete sich langsam in seinem Körper aus. Auf leeren Magen zeigte der Schnaps schnell Wirkung.
„Pfui, brr…“, beschwerte sich Mud. Er war kein großer Trinker, war er noch nie gewesen.
„Das musst du übrigens bezahlen, ich bin leider blank“, fuhr er fort und deutete auf seine Hosentaschen, in denen nur Reis klebte, aber kein Fünkchen Erz.
„Willst du mich verarschen?!“, grunzte Horatio sauer, „Ich hab doch auch nix mehr! Wie sollen wir denn jetzt bezahlen?“

Noch bevor Silas etwas spitzkriegte, näherte sich ein weiterer Gast ihrem Tisch. Er kündigte sich bereits durch seinen säuerlichen Geruch an, da hatte er die Kneipe kaum betreten. Seine fein polierte Glatze, tiefrot umrandete Augen, sowie der Teppich, den er sich zur Bekleidung übergestreift hatte, zeichneten ihn zweifellos als Mitglied der Sekte vom Sumpflager aus. Zielstrebig steuerte er auf die beiden Kneipengäste zu, die am harmlosesten wirkten, nahm sich einen Hocker und setzte sich neben Mud.
„Hallo Jungs, ich bin Baal Isidro. Ich habe ein kleines Problem und bräuchte eure Hilfe…“
Isidro hielt ihnen die Hand zum Gruße hin.
„Ich glaub nicht, dass…“, wollte Horatio den Kerl abwimmeln, doch Mud war schneller und nahm den Gruß gleich mit beiden Händen entgegen.
„Hi, ich bin Mud und das ist mein Onkel Horatio. Wir helfen immer gern, also wo drückt denn der Schuh?“
Isidro musste sein Staunen über die positive Reaktion verbergen und stammelte sich zur Antwort. Sein Text klang wie aus dem Lehrbuch.
„Durch einen Lieferfehler habe ich einen Überschuss an Sumpfkraut bei mir, den ich jetzt zu Spottpreisen loswerden muss und ihr könnt davon profitieren!“
Er zückte einen Stängel aus seiner großen Tasche.
„Der beste Mix für die kalte Jahreszeit. Das ist der Weiße Weise mit Apfel und Weihrauch. Von zufriedenen Schläfern empfohlen!“
Horatio winkte ab.
„Lass gut sein Kumpel, wir rauchen nicht…“
Von einem Augenblick zum nächsten fiel die benebelte Visage des Sektenspinners in sich zusammen.
„A-aber… oh Mann… verstehe schon. Tut mir leid, wenn ich euch belästigt habe... Ich hasse diesen Job.“
Mud blickte auf: „Aber warum denn? Du machst das doch gut.“
„Na, ich werde nix von dem Zeug los und mein Partner Baal Parvez hängt mir schon im Nacken. Ich muss noch hundert Stängel verticken…“
„Würde es dir helfen, wenn ich einen Weißen Weisen nehme? Würde es dir… Freude bereiten?“
Isidro nickte eifrig: „Ja, na und wie! Also einen oder vielleicht gleich äh… zehn?“
„Mud…“, wollte sich Horatio einmischen.
„Gibt es da Mengenrabatt?“, fragte Mud.
„Nein, aber ich wäre dir wirklich überaus dankbar!“, gluckste der Sektenspinner.
„Dann nehmen wir zehn!“

„Halt Stopp!“, Horatios Hand donnerte auf den Tisch, „Wir werden kein Sumpfkraut kaufen, wir haben überhaupt kein Erz mehr!“
Plötzlich verstummte jegliches Gemurmel und Geflüster, das bis eben noch wie ein rhythmischer Herzschlag die Geschäfte der Kneipe am Leben hielt. Horatio zuckte selbst am meisten zusammen, geschockt über den kurzen Verlust seiner Fassung, aber auch über den plötzlichen, stechenden Schmerz in seiner Brust. Er hatte den Schnaps wohl wirklich zu schnell heruntergekippt.

„Stimmt, wir sind etwas knapp bei Kasse“, sagte Mud, „Aber wir beschaffen das Erz schon irgendwie und dann können wir dir helfen, Freund.“
Mud legte sanft eine Hand auf Baal Isidros Schenkel, der wie eine Katze aufsprang, die von einer Gurke überrascht wurde. Anscheinend dämmerte dem Sektenspinner langsam, dass er es hier nicht mit einem normalen Kunden zu tun hatte. Horatio vergrub derweil beschämt sein Gesicht in den großen Händen.
„Äh, nun… das bringt mich jetzt nicht wirklich weiter. Aber hey, wenn ihr mir wirklich helfen wollt, dann nehmt ein paar Stängel und verkauft sie für mich im Lager. Der Normalpreis ist zehn Erz pro Stängel, aber wenn ihr sie den Jungs teurer verkauft, könnt ihr den Rest behalten.“
Mud rieb sich die Nase, während Horatio einfach nur noch hoffte, dass dieses Gespräch bald ein Ende fand.
„Hmm… das müssen wir erst einmal testen.“
Der ambitionierte Mud winkte den Wirt noch einmal heran, der mit der Schnapsflasche schon bereitstand.
„Können wir unsere Getränke auch mit Krautstängeln bezahlen?“
„Zwei Schnäpse kosten zehn Erz“, erwiderte Silas trocken, „Wenn ihr nicht bezahlen könnt, gibt es eine Tracht Prügel.“
„Aber wir haben Sumpfkraut. Viel Sumpfkraut!“, Mud deutete auf Isidros Tasche. Silas musterte den Inhalt abschätzig.
„Na schön. Gebt mir die Tasche und ich überlass euch eure Schulden.“
„Okay“, Mud wollte einschlagen, aber Isidro ging dazwischen und drückte dem Wirt statt seiner Tasche einen kleinen Beutel mit Erz in die Hand.
„Ich bezahle für die beiden.“
„Von mir aus“, Silas grinste dreckig, „Aber wenn ihr blank seid, solltet ihr euch besser verpissen. Ist nur ein gut gemeinter Rat.“
Das war das Zeichen für Horatio. Er erhob sich eilig, dankte Isidro für die Einladung und stapfte schnellen Schrittes nach draußen. Sollte sein Neffe sich doch noch weiter sein eigenes Grab schaufeln, er wollte mit damit nichts mehr zu tun haben. Er fühlte sich erschöpft und brauchte dringend Schlaf. Er durfte nicht krank werden, das wäre sein Untergang in einer rauen Welt wie der Strafkolonie.

***

Als Horatio am nächsten Morgen seiner Arbeit auf dem Reisfeld nachging, machten ihm dreierlei Folgen des gestrigen Tages zu schaffen. Da war zunächst der unstillbare Hunger. Seine karge Frühstücksration hatte die Lücke des ausgelassenen Abendessens nicht stillen können. Stattdessen hatten sich vermutlich irgendwelche Tauben, Spatzen oder Scavenger nun über seine Ration hergemacht. Neben dem Hunger quälte den alten Bauern aber auch eine aufkeimende Erkältung, wie er sie seit Kindertagen nicht erlebt hatte. Sein Hals war kratzig, die Kehle trocken und tief in seiner Lunge breitete sich ein Schmerz aus, der mit jedem Husten schlimmer wurde. Das nach wie vor ungemütliche Wetter schaffte diesbezüglich auch keine Abhilfe. Aber das Schlimmste, was der heutige Tag brachte, war noch hartnäckiger als Hunger oder Krankheit – sein Neffe Mud. Der Traumtänzer mit dem straßenköterblonden Haar war trotz mehrfachem Abraten seines Onkels doch wieder auf dem Reisfeld aufgetaucht und hatte sich von Lefty zu einer neuen Aufgabe überreden lassen. Er sollte den Bauern Wasser bringen.

„Ist das wirklich das, was du willst?“, fragte Horatio hustend, als sein unliebsamer Verwandter mit blauem Auge und einer Feldflasche bei ihm aufkreuzte und sich zu einem Lächeln zwang.
„Ich habe doch gesagt, ich möchte die Menschen glücklich machen. Dazu gehören auch so zweifelhafte Gestalten wie Lefty.“
„Aber was versprichst du dir denn davon, Junge? Wenn du glaubst, es hier mit Nettigkeiten zu etwas zu bringen, dann wirst du früher oder später leider die Faust der Realität kennenlernen.“
„Das ist schon in Ordnung“, erwiderte Mud mit einem leichten Seufzer, „Adanos wird mir ein Zeichen schicken, wenn ich gut war in diesem Jahr. Und er wird dafür sorgen, dass es mir und meinen Freunden gut geht.“
‚Freunde?‘, dachte Horatio, behielt den Gedanken aber für sich. So seltsam er seinen Neffen die meiste Zeit über auch fand, tief im Inneren schien er doch ein guter Kerl zu sein oder zumindest sein zu wollen. Also wollte der Alte ihm eine Chance geben.
„Na schön. Du sagtest, du hast Wasser für mich?“
„Au ja, hier!“

Horatio entging nicht, dass sein Neffe ihn besonders schief angrinste, als er die Feldflasche zum Trinken ansetzte. Dummerweise dachte er sich nichts dabei, denn er konnte immer noch nicht erkennen, ob Mud etwas ausheckte oder einfach immer so dumm aus der Wäsche schaute. In diesem Fall bereute er es zu spät, nachdem er die halbe Flasche bereits geleert hatte. Sogleich breitete sich ein säuerlich-bitterer Geschmack im Mund des Bauern aus und ihm erwachte der Drang, sich zu übergeben.
„Mit freundlichen Grüßen von Baal Isidro“, frotzelte Mud, ehe er der ihm entgegenfliegenden Feldflasche seines Onkels ausweichen musste.
„Bei den Dreien! Was schleppst du denn hier an? Das ist doch kein Wasser!“
„Starkes Zeug oder? Du erinnerst dich doch noch daran, dass Isidro Hilfe beim Vertreiben seiner glücklich machenden Krautstängel braucht, nicht wahr? Er hat mir gesagt, wenn ich eine bestimmte Essenz davon in Wasser mische, hat das eine noch viel stärkere Wirkung. Dass ich damit auf schnellem Wege Neukunden generieren würde. Wer nämlich einmal davon schluckt, braucht schnell Nachschub.“
„Wowowowo! Langsam Kleiner“, Horatio musste seine benebelten Gedanken sortieren, „Heißt das, du versuchst die Bauern auf den Feldern abhängig zu machen? Bist du noch zu retten? Hast du überhaupt eine Ahnung, was das Zeug auslöst?“
„Glücksgefühle und eine spirituelle Erfahrung, um den Göttern näher zu kommen“, erwiderte Mud ganz selbstverständlich, „Warte nur ab, du wirst mir dankbar sein!“

Die verheerende Wirkung der Droge ließ nicht lang auf sich warten. Zuerst war Horatio so, als würde seine Zunge anschwellen. Der Mund wurde ihm ganz trocken und instinktiv griff er nach einem weiteren Schluck der gefährlichen Mischung. Das stillte seinen Durst zwar für einen kurzen Augenblick, sein Verstand vernebelte es allerdings nur noch schneller.
„Scheiffe Mudd, hol Hiffe!“
„Äh, ja… würde ich ja gerne, aber…“
Horatios rot angelaufene Augen blickten über das Reisfeld. Sämtliche Bauern, die er erblicken konnte, hatten ihre Arbeit niedergelegt, stützten sich schwer atmend auf ihre Hacken, krümmten sich vor Magenschmerzen auf dem schlammigen Boden oder übergaben sich bereits. Mud hatte ihnen allen schon seinen Teufelstrunk einverleibt!
Horatio musste sich hinknien, er konnte seinen Kopf nicht mehr gerade halten, geschweige denn weiterarbeiten. Er fühlte sich, als habe man ihm Blei in die Ohren gegossen. Wenn er das überlebte, würde er mit seinen Schwur brechen und seinen nichtsnutzigen Neffen eine Tracht Prügel verabreichen, die all den heruntergeschluckten Frust von fünf Jahren Knechtschaft auf der Reisplantage angesammelt hatte.

„Hey Morra! Zurück an die Arbeit mit dir, oder soll ich dir Beine machen?!“
Horatio blinzelte. Auch das noch, Orks! Irgendwie mussten die graugrünen Ungeheuer das Neue Lager gestürmt haben und jetzt stampfte eine der Bestien auf ihn zu, um ihn zu versklaven. Es handelte sich um ein ausgesprochen hässliches Exemplar, einen vergleichsweise kleinen, untersetzten Grünling mit abgestumpften Hauern und einer riesigen, rotztriefenden Nase.
„Verpiss dich, du Monster! Niemals werde ich mich euch unterwerfen. Eher sterbe ich!“
Die Erinnerungen an den Krieg schwirrten Horatio durch das vernebelte Gedächtnis. Bilder der Schlacht um Montera, die brennenden Höfe, im Blutrausch geschlachtetes Vieh, die Hilfeschreie derer, die alles verloren hatten und das gehässige Grunzen der Todbringer. Horatio begann, vor Wut und Atemnot schwer zu schnaufen.
„Du willst wohl auch Prügel kassieren?“, fragte der Grüne und wandte sich dabei an seine beiden grauhäutigen, muskelbepackten Kameraden, „Scheiße, haben hier etwa alle den Verstand verloren?“
Horatio nutzte den Moment, in dem der Ork seinen Blick von ihm abwandte und sprang mit einem schnellen Satz auf ihn. Er konnte das überraschte Ungetüm zu Boden werfen, wo es seine Waffe verlor. Doch sein Widersacher wehrte sich. Es entbrannte eine Prügelei im Matsch, im Laufe derer die Kontrahenten verbissen versuchten, den anderen zu Boden zu ringen. Es dauerte nicht lange, bis der Veteran seine alte Form wiedergefunden und den Ork in den Dreck gedrückt hatte.
„Hey schon gut! Du hast gewonnen, ich ergebe mich…“
Doch Horatio sah rot. Niemals würde er auf so einen billigen Trick des Ungetüms hereinfallen. Und überhaupt war es schon viel zu lange her, seit er seine Fäuste zuletzt hatte sprechen lassen. Seine Angriffe schlugen wie Kometen im Gesicht seines Opfers ein, die Augen wurden rot und blau geschlagen, die Nase mehrfach gebrochen und zum Schluss spuckte der Ork Blut und Zähne. Wahrscheinlich hätte Horatio das Mistvieh umgebracht, hätten nicht die anderen Monster ihn zurückgehalten und mit vereinter Kraft zu Boden geworfen.
Mud beobachtete das gesamte Geschehen mit Panik in den Augen.
„Verschwinde, Kleiner! Bring dich in Sicherheit…“
Horatio hustete schwer und schließlich musste er sich übergeben.

***

Als der alte Bauer wieder zu sich kam, lag ein angenehmer Hauch von Zimt in der Luft und ein kleines Feuerchen knisterte zu seinen Füßen und strahlte wohlige Wärme aus. Es war friedlich, besinnlich und wenn es ein Traum war, wollte er lieber noch ein bisschen weiterschlafen.
„Du kannst die Augen ruhig aufmachen mein Freund. Du hast wahrlich lang genug geschlafen.“
Horatio blinzelte. Diese Stimme… sie war ihm fremd. So ruhig. Angenehm. Ganz bestimmt kein Ork und erst recht nicht sein Neffe. Bevor er groß spekulieren konnte, beugte sich der Fremde bereits über das Bett, in dem Horatio lag. Es war ein Mann mittleren Alters mit kurz geschorenem Haar, aber einem buschigen Schnauzbart und warmen Gesichtszügen.
„Wer…?“, Horatio wollte sprechen, bekam aber nur ein kratziges Husten heraus.
„Mein Name ist Riordian. Ich bin dein behandelnder Arzt. Der beste, den du hättest kriegen können, o ja! Meine Brüder haben dich schon abgeschrieben, aber ich sagte ihnen: Nein, ich schaff das. Ich peppel ihn wieder auf und wenn nicht, dann hätte ich die Bibliothek entstaubt. Ha! Aber das überlasse ich dann doch lieber Myxir.“
Riordian plusterte sich ein wenig auf. Horatios fragender Blick hatte sich nicht verändert.
„Du bist noch immer recht verwirrt? Das kann passieren. Wo fange ich denn an? Ach ja. Du hast dich fast sieben Tage im Fieberdelirium befunden. Du standst wirklich schon mit einem Bein am Abgrund.“
Der Alte schluckte. Er fühlte sich unglaublich erschöpft. Durstig.
„Hier“, Riordian hielt ihm eine Feldflasche hin. Horatios Augen weiteten sich, das entging auch dem Arzt nicht.
Er schmunzelte: „Keine Angst. Das ist sauberes Wasser. Darauf gebe ich dir mein Wort als Wassermagier.“
Um das Gesagte zu unterstreichen, wischte er sich etwas imaginären Staub von der blauen Robe.
Horatio konnte seine Gedanken noch gar nicht sortieren. Zum Glück übernahm der gesprächige Arzt das gerne, während sein Patient in kleinen Schlucken trank. Seine Hände zitterten dabei so sehr, dass er dabei glatt die Hälfte verkleckerte.

„Dein Neffe hat dich zu mir gebracht. Dich und ein Dutzend magenverstimmter Bauern. Meine Güte, war das ein Geraffel… ich hatte gar nicht so viele Kohletabletten, geschweige denn Betten. Aber das war nichts im Vergleich zu dem Kerl, den du zugerichtet hast.“
„Der Ork?“, brummte Horatio, „Alles, woran ich mich erinnern kann, ist, dass ich mich mit einem Ork geprügelt habe.“
Der Magier musste ein Lachen unterdrücken.
„Nun, nein. Das hast du dir eingebildet. Das lag vermutlich an dieser schrecklichen Drogentinktur, die ihr zu euch genommen habt.“
Riordian schüttelte sich.
„Nein nein, das war kein Ork. Aber so wie du ihn entstellt hast, kann man ihn auch nicht mehr wirklich als Menschen bezeichnen. Es war einer der Aufseher, Lefty.“
„Oh…“
Horatios Mitleid hielt sich in Grenzen. Trotzdem konnte er nicht glauben, dass er seinen Schwur tatsächlich gebrochen und doch wieder die Fäuste zum Kampf erhoben hatte.
„Für dich war es eine glückliche Fügung des Schicksals, denn bei dir waren es nicht nur die Drogen, die deinem Körper zugesetzt haben. Ich habe bei der Behandlung ein krankhaftes Geschwür in deiner Brust entdeckt. Hattest du in letzter Zeit keine Beschwerden?“
„Naja…“
„Also jeden normalen Häftling hätte so ein Geschwür in kürzester Zeit umgebracht. Du kannst froh sein, dass ich so ein ehrgeiziger Doktor bin. Ja, das bin ich.“
Horatio atmete tief durch. Er hatte gewusst, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Aber dass es so schlimm war, hätte er sich nie träumen lassen. Und unter normalen Umständen wäre er auch nie zum Arzt gegangen. Er wäre vermutlich einfach an irgendeinem Morgen nicht mehr aufgestanden. Hatte er es womöglich seinem trotteligen Neffen zu verdanken, dass er durch diese außergewöhnliche Fügung des Schicksals heute noch lebte?
„Wo ist Mud? Ich muss ihn sehen!“
Riordian runzelte die Stirn.
„Du meinst diesen Verrückten, der dich und die anderen Bauern hier abgeliefert hat? Tut mir leid, der darf hier nicht mehr her. Ich glaube, er hat das Lager in weiser Voraussicht sogar freiwillig verlassen. Du kannst dir sicherlich vorstellen, dass sich die Nahrungsversorgung im Lager ein wenig schwieriger gestaltete, als die Bauern krank waren und es zu schneien begonnen hat.“
„Wirklich?“, Horatio konnte es kaum glauben, „Es schneit?“
„Ja, Adanos schickt uns manchmal eigenartige Zeichen, findest du nicht auch?“