Maries Aufsatz

Es geschah zu jener Zeit, dass in der bedeutenden Universitätsstadt Geldern ein junger Mann namens Xardas lebte. Er war ein wohlgeratener, lebensfroher Mensch, der nach einigen Jahren verschiedener, aber stets erfolgreicher akademischer Studien vor der gewichtigen Frage stand, welche Laufbahn er einschlagen sollte. Seine Studien qualifizierten ihn für den Beruf des Dämonenbeschwörers, den des Priesters oder den des Lehrers, und der gewissenhafte junge Mann wollte nicht riskieren, auf einem falschen Gleis des Lebens zu landen. Er bewarb sich um eine Vertretungsstelle für das Sommerhalbjahr an einer Höheren Schule in Silden – und bekam sie. Er nahm sich vor, sich am Lehrerseminar einzuschreiben, wenn ihm dieser Beruf zusagen sollte, denn dank seiner hervorragenden akademischen Zeugnisse stand ihm die Tür zu dieser ehrwürdigen Einrichtung sperrangelweit offen.
In Silden fand Xardas ein Zimmer zur Untermiete in der Nähe der Schule, in der er unterrichten sollte, und so verließ er im Frühjahr sein behagliches kleines Heim und seine Verlobte in Geldern, um mit dem Unterrichten zu beginnen.
Silden war eine alte Ordensstadt der Paladine, doch nach dem Ende des Orkkrieges waren sowohl die Paladine als auch die orkischen Besatzer von hier verschwunden. Ihr Auskommen fanden praktische alle arbeitsfähigen Bewohner von Silden in dem einzigen großen Industriebetrieb der Stadt, einer Stahlmühle. Die Höhere Schule wurden von den Kindern jener Eltern besucht, die selbst gerne an der Akademie zu Geldern studiert hätten und sich diesen Traum nun in nächster Generation verwirklichen wollten. Zwei Drittel der Schüler kamen aus Silden selbst, ein weiteres Drittel aus den umliegenden Weilern und Gehöften. Das Kollegium bestand aus etwa vierzig Kollegen verschiedenen Alters und Geschlechts sowie unterschiedlicher Beschaffenheit, das Gebäude war wunderschön an einem See gelegen, dessen Ufer von Trauerweidenwäldchen gesäumt wurden, und Xardas fühlte sich fast augenblicklich wie zu Hause. Auf dem Schulhof befand sich eine Bronzeskulptur des berühmtesten Sohnes der Stadt, der es im fernen Wüstenland zu einigem Ansehen und zweifelhaften Meriten gebracht hatte, aber solange er den Ruhm Sildens mehrte, war das den Bürgern gleichgültig.
Xardas stellte bald fest, dass ihm der Lehrerberuf durchaus gefiel, und das in jeder Hinsicht. Er liebte den Stoff – myrtanischer Idealismus war sein Hauptfach gewesen -, er mochte die Schüler und schätzte die Kollegen, doch nichts ging ihm über das inspirierende Vergnügen, Fähigkeiten zu vermitteln und Wissen zu lehren, zu sehen, wie es in den Köpfen seiner Schützlinge arbeitete und wie manchen von ihnen plötzlich ein Funkeln in die Augen trat, wenn sie die Schönheit eines großen Gedankens erkannten. Xardas spürte, dass ihn auch die Schüler der Abschlussklasse mochten, die er übernommen hatte, was zum einen an seiner fachlichen Begeisterung und seiner menschlichen Zugewandtheit lag, noch mehr aber daran, dass er die Nachfolge einer alten, reizbaren Lehrerin mit chronischem Nierenleiden angetreten hatte und Xardas die Konkurrenz mit einer derart verbrauchten, missmutigen Pädagogin nur gewinnen konnte.
Das Schuljahr ging seinen Lauf, und im Juni wurde es Zeit, die Schüler zu benoten. Doch am Tag vor der Sommersonnenwende kam es zu einer furchtbaren Tragödie. Ein Mädchen aus Xardas‘ Klasse, Marie, die in der abseits gelegenen Mühle von Silden wohnte, geriet am frühen Morgen auf dem Weg zur Schule mit dem Fuß in eine Wildfalle, weil sie nicht auf den Weg geachtet hatte, und starb noch am selben Vormittag an Blutverlust, Schock und Unterkühlung, denn selbst im Juni legte sich auf die nördlichen Wälder Myrtanas nachts noch der Frost.
Maries Tod warf einen dunklen Schleier auf die letzten Wochen des Schuljahres. An ihrer Beerdigung nahe des uralten Felsportals nahmen nahezu alle Schüler der Schule teil, und bei der nach dem Begräbnis eigens einberufenen Konferenz versammelten sich die Schulleitung und sämtliche Lehrer zum feierlichen Gedenken an das Mädchen. Der rührselige Vorschlag einer aufgewühlten Pädagogin verleitete den Rektor der Anstalt zu dem Beschluss, dass auch Marie ihr Abschlusszeugnis erhalten solle, auch wenn sie nicht mehr unter den Lebenden weilte. Die Schulleitung fasste diesen Beschluss in Übereinstimmung mit den Fachlehrern, denn nach offener Kritik war an diesem Tage niemandem zumute; schließlich war das arme Mädchen ja neun lange Jahre zur Schule gegangen, bevor sie so furchtbar aus dem Leben gerissen worden war. Sie hatte sogar alle entscheidenden Prüfungen abgelegt, so dass man sogar eine gewisse Logik in dem Vorgang sah, Marie auch posthum die Hochschulreife zu verleihen. Für die Eltern sollte der Gedanke ein Trost sein, dass Marie es trotz allem geschafft hatte, die Schule zu beenden.
Als Xardas an diesem Nachmittag in sein Zimmer zurückkehrte, fühlte er unsägliche Trauer. Statt wie üblich am Wochenende den Vergnügungen des Stadtlebens zu frönen, beschloss er, die zwei Tage in Klausur zu verbringen, um die Zeugnisnoten seiner Schüler zu bestimmen. Am folgenden Dienstag mussten alle Zensuren in die entsprechenden Papiere eingetragen sein, und da sich Xardas noch nie zuvor in einer ähnlichen Entscheidungssituation befunden hatte, wollte er besonders gründlich und gewissenhaft vorgehen.
Der schreckliche Unfall Maries bedrückte ihn jedoch sehr. Es fiel ihm schwer, während er einsam und allein an seinem Schreibtisch saß und auf die alte, dicht belaubte Trauerweide vor seinem Fenster hinaussah, den Sinn darin zu sehen, warum er Marie eine Note in Myrtanischer Literatur und Philosophie geben sollte. Was sollte ein totes junges Mädchen mit einem Abschlusszeugnis? Wozu sollte das gut sein? Nach welchen Kriterien sollte es abgefasst sein? Der Rektor hatte deutlich gesagt, dass Marie genau die Zensuren bekommen sollte, die sie bekommen hätte, wenn sich der Unfall nicht ereignet hätte. Am Abschlusstag sollte der braune Umschlag mit dem Siegel der Sildener Oberschule – zwei Schwäne, die über den See flogen – den Eltern des Mädchens zugesandt werden. Der Rektor betonte, dass es in diesem Falle umso wichtiger sei, gerecht zu bleiben, weil eine tote Schülerin keine Möglichkeit hatte, für sich zu sprechen und das Zeugnis fürderhin für sich allein stünde, unwidersprochen und für alle Zeit.
Im Laufe des Samstags gelang es Xardas, alle Gefühle von Widerwillen und Verdruss beiseite zu schieben. Er beschloss, zuerst alle Noten der übrigen, noch lebenden Schüler festzulegen, bevor er mit der Beurteilung des toten Mädchens am Samstagabend begann. In Myrtanischer Literatur war die Sache verhältnismäßig einfach. Marie hatte bei allen Arbeiten und auch bei den eingesammelten Hausaufgaben stets zu den zwei, drei Besten der Klasse gehört, ihre mündlichen Beiträge waren geradezu erstklassig gewesen. Im Herbstzeugnis hatte ihr sogar seine nierenkranke Vorgängerin ein Optime gegeben, so dass Xardas ihr guten Gewissens diese Zensur ins Abschusszeugnis eintragen konnte.
In Philosophie war es schwieriger. Am Ende des vergangenen Schuljahres hatte Marie ebenfalls ein Optime in diesem Fach erhalten, doch im Lauf des ersten Halbjahres war sie auf ein Bene abgerutscht. Während des Frühjahres hatte sie darum gekämpft, wieder ihr Optime zu bekommen, und es stand wirklich auf Messers Schneide. Auch ohne tödlichen Unfall wäre es Xardas schwergefallen, eine Entscheidung zu treffen. Bei der letzten schriftlichen Arbeit hatte Marie einundneunzig von hundert möglichen Punkten erhalten – genau einen zu wenig für das Optime. Sie hatte zwei Aufsätze verfasst, die Xardas mit einem Optime und einem Bene beurteilt hatte, und auch der mündliche Vortrag, den Marie über die sittliche Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse der verschiedenen Völker Myrtanas gehalten hatte, war ein starkes Bene oder ein schwaches Optime gewesen, denn obwohl sie hervorragend vorbereitet gewesen war, hatte Marie während des Vortrags müde und fahrig gewirkt und hin und wieder Begrifflichkeiten durcheinandergebracht.
Xardas überprüfte seine Noten noch einmal und erinnerte sich daran, dass ihm die mürrische Lehrerin mit den kaputten Nieren schon zu Beginn seiner Vertretung gesagt hatte, dass Marie eine Schülerin sei, die in Philosophie immer zwischen diesen beiden Noten stünde. Sie selbst hatte sich im Herbstzeugnis dazu entschlossen, Marie die schlechtere Note zu geben, um sie noch einmal ordentlich anzuspornen.
Dann gebe ich ihr das Optime, dachte Xardas und beugte sich über seinen Kalender, um die Note einzutragen. Doch es war, als hielte irgendetwas seinen Arm zurück – vielleicht war es sein Gerechtigkeitsempfinden -, und er ließ den Stift sinken. Es gab einen Schüler, der in der gleichen Situation war wie Marie – nur, dass er lebte und nicht tot war -, und diesem Jungen hatte Xardas gerade ein Bene gegeben. Sollte Marie vorgezogen werden, nur weil sie tot war? Vielleicht sollte er dem Jungen, der Fritz hieß, ebenfalls ein Optime eintragen? Er dachte an den letzten Aufsatz in Philosophie, den die Klasse als Hausaufgabe geschrieben hatte. Fritz‘ Abhandlung über die Bestimmung des Menschen war in Ordnung gewesen; sachrichtig, aber nicht brillant. Maries Hausaufgabe hatte Xardas nicht gelesen. Der Aufsatz musste an jenem Morgen, an dem Marie in die Wildfalle geraten war, in ihrer Tasche gelegen haben, denn es war der letzte Termin für die Abgabe gewesen. Aufgrund der bekannten Umstände war es nie dazu gekommen, dass Xardas die Hausaufgabe hatte einsehen können. Es gab Fragen im Leben, die nicht leicht zu beantworten waren. Die man aber dennoch beantworten konnte, wenn es darauf ankam.
Xardas brühte sich einen frischen Kräutertee auf, füllte ihn in eine verschließbare Kanne und ging hinüber zur Schule. Er fand das Lehrerzier unverschlossen vor, denn eine Kollegin war gerade dabei, ihrerseits Zensuren in die großen Mappen der Schüler einzutragen. Die Kollegin hieß Fatima und stammte aus Varant. Sie war mit ihrem schwarzen Haar und ihren dunklen Augen außerordentlich hübsch und hatte stets etwas Kokettes an sich, was manchen Außenstehenden von ihrem beeindruckenden Fachwissen in Psychologie ablenken mochte. Xardas mochte Fatima und bot ihr einen Tee aus seiner Kanne an, den sie gerne annahm. Fatima war nicht nur schön und klug, sondern auch eine gute Zuhörerin, und so erzählte ihr Xardas von seinem Notenproblem mit der toten Marie. Als er den Bericht beendet und Fatima alle Einzelheiten in dieser Angelegenheit mitgeteilt hatte, sah sie ihn lange nachdenklich an.
„Ich habe das Mädchen nie selbst unterrichtet“, sagte sie nach einer Weile. „Deshalb kann ich nichts zu ihren Fähigkeiten sagen.“
Optime oder Bene?“, fragte Xardas.
Fatima schenkte ihm ein Lächeln. „Das kannst nur du entscheiden. Du bist ein gerechtigkeitsliebender Mann, und ich bin mir sicher, dass du diese Entscheidung auf die beste Art und Weise treffen wirst. Wenn dir das letzte Puzzleteil dazu fehlt, dann solltest du es dir beschaffen.“
Sie trank ihren Tee aus, gab Xardas einen Kuss auf die Wange und verschwand.
Xardas trank zwei weitere Tassen Tee und ging nachhause. Dort legte er sich ins Bett und fasste einen Beschluss. Sein Notenkalender lag immer noch aufgeschlagen auf seinem Schreibtisch unter dem Fenster zum See. Der Duft der Trauerweiden drang zu ihm herein und machte ihn schläfrig. Irgendwo schrie ein nächtlicher Vogel seinen klagenden Schrei. Nach wenigen Augenblicken war Xardas eingeschlafen.
Am folgenden Morgen stand er auf und las die Sonntagszeitung. Anschließend holte er seinen Kalender und suchte darin nach der Anschrift des toten Mädchens. Er kannte die alte Mühle nur von Erzählungen, aber auf der Karte erschien ihm der Weg nicht allzu weit.
Als er mit Hilfe eines herzförmigen Klöppels an die Tür geklopft hatte, musste er einige Zeit warten, bis ihm ein Junge von zehn oder elf Jahren die Tür öffnete. Der Junge hatte nackte, schmutzige Füße und goldblondes Haar, wie es auch Marie gehabt hatte.
„Du musst Maries Bruder sein“, sagte Xardas, und der Junge schluchzte auf.
„Sind deine Eltern zuhause?“, fragte Xardas weiter. Der Junge wies mit der Hand durch die Wohnstube, die sich zu einem Garten hin öffnete. Er schluchzte noch einmal und verschwand in sein Zimmer.
In diesem Moment kam eine Frau aus dem Garten in die Stube hinein. Xardas nahm an, dass es Maries Mutter sein musste, denn sie hatte ebenfalls weizenfarbenes Haar, das von grauen Strähnen durchzogen war. Sie trug einen schäbigen, hellblauen Kittel und hob beim Gehen kaum die Füße. Ihre ganze Haltung erinnerte Xardas an einen verletzten Vogel, um den er sich als kleiner Junge einmal gekümmert hatte.
„Was möchten Sie?“, fragte die Frau.
Xardas nannte seinen Namen und erklärte, dass er Marie im letzten Halbjahr in Myrtanisch und in Philosophie unterrichtet hatte und nun dabei sei, die Zeugnisnoten festzulegen.
„Marie ist doch tot“, sagte die Mutter langsam, als müsse sie über ihre eigenen Worte nachdenken.
„Sie soll trotzdem ihr Abschlusszeugnis bekommen“, erklärte Xardas. „Das hat die Schulleitung so beschlossen.“
„Aber wozu denn?“, fragte die Mutter.
„Weil es als das Beste angesehen wurde“, sagte Xardas umständlich und fragte sich, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, Maries Eltern aufzusuchen. Er hatte seinen Beschluss zwar die ganze Nacht überschlafen, wie er es bei problematischen Fragen immer zu tun pflegte, aber nun fühlte er sich nicht recht wohl in seiner Haut.
„Ach so“, sagte die Mutter. „Nun ja.“
Sie klang traurig, was auch verständlich war, aber Xardas konnte nicht erkennen, dass sie Missbilligung gegenüber der Entscheidung der Schulleitung empfand, Marie ein Abschlusszeugnis auszustellen.
„Ich möchte die Bewertung so gut wie möglich machen“, erklärte Xardas. „Und natürlich gerecht, auch wenn Marie nicht mehr am Leben ist. Ich bin neu an der Schule und habe kaum Erfahrung mit der Notengebung.“
„Was wollen Sie denn?“, fragte die Mutter.
„Nur, wenn es Ihnen keine allzu große Mühe bereitet…“, begann Xardas.
„Was denn?“
„Ich würde gerne die Arbeit lesen, die Marie an dem Tag abgeben sollte, als sie… ja. Es ging um Barthos von Laran und seine Wissenschaftslehre nova methodo, und ich bin mir sicher, dass sich der Aufsatz in Maries Tasche befand, als sie… ja. Ich nehme an, Sie haben die Tasche an sich genommen.“
Die Mutter sah ihn eine Weile lang still an.
„Das muss ich erst mit meinem Mann besprechen“, sagte sie. „Warten Sie bitte.“
Xardas fühlte sich mit einem Mal miserabel. „Verzeihen Sie, dass ich Sie damit belästige, aber ich wusste mir keinen anderen Rat.“
„Aber ich bitte Sie“, sagte die Mutter und schlurfte durch die Wohnstube hinaus in den Garten.
Nach einer Weile trat ein Mann in den Fünfzigern ein, der eine dunkle Hose und einen kurzärmeligen Kittel trug. Sein Haar war farblos und schütter, die Oberlippe von einem spärlichen roten Schnurrbart bedeckt. Xardas sah genauer hin und entdeckte, dass seine Lippe ein wenig deformiert war. Offensichtlich hatte Maries Vater an einer Hasenscharte gelitten, die operiert worden war.
„Wir sitzen draußen“, sagte er Mann und winkte Xardas hinaus in den Garten.
Um einen ovalen Tisch aus Fichtenholz standen vier Stühle. Auf einem davon saß, in sich zusammengesunken, Maries Mutter und sah in die entgegengesetzte Richtung. Auf dem Tisch stand Maries Schultasche, die Xardas sofort erkannte. Marie hatte mit Tusche eine fröhliche Schattenläuferfamilie daraufgemalt. Maries Vater gab Xardas die Hand und sagte: „Meine Frau ist ein wenig aufgewühlt von dem Gespräch, das sie gerade mit Ihnen geführt hat.“
„Das bedaure ich außerordentlich“, erwiderte Xardas. Er wäre gerne auf der Stelle gegangen.
„Es ist ja nicht Ihr Fehler, dass die Schulleitung diese Entscheidung getroffen hat“, fuhr Maries Vater fort.
„Ich möchte gerne, dass Marie eine so gerechte Note wie möglich erhält“, sagte Xardas.
„Natürlich“, stimmte der Vater zu. „In diesem Punkt sind wir der gleichen Meinung. Wir haben die Arbeit über Barthos von Laran gefunden, aber wir geben sie nicht gerne aus der Hand.“
„Das verstehe ich sehr gut“, antwortete Xardas.
„Ich möchte nicht, dass Sie den Aufsatz mitnehmen, aber Sie können ihn gerne hier bei uns lesen und dann Ihr Urteil fällen.“
„Vielen Dank“, sagte Xardas und ging hinüber zum Gartentisch. Auf der Terrasse befand sich ein großer Käfig mit zwei reglosen schwarzen Vögeln darin. Im Garten gab es ein schmales Blumenbeet mit weißen und roten Blumen und einige niedrige Obstbäume, zwischen denen ein Netz gespannt war. Zwei Schläger lehnten an einem kleinen Apfelbaum. Auf dem Tisch standen eine Teekanne und Tassen, außerdem eine Platte mit Kuchen.
Maries Mutter sah verwirrt zu Xardas auf. „Ja bitte?“
„Sie hat seit dem Unfall nicht mehr geschlafen“, raunte der Vater. „Sie steht etwas neben sich.“
Xardas sah die Mutter genauer an. Unter ihren Augen zeichneten sich violette Ringe ab. Mit einer traumwandlerisch langsamen Bewegung schenkte sie Xardas eine Tasse Tee ein.
In diesem Moment kam ein altes, rosa Molerat auf die Terrasse gewatschelt. Feines, silbernes Haar wuchs aus seinen Ohren. Das Molerat sah sich missmutig um und ließ sich unter dem Tisch nieder.
„Willi“, sagte die Mutter. „Marie hat Willi zu ihrem zehnten Geburtstag bekommen. Er versteht nicht, wo Marie bleibt.“
„Es tut mir leid, Sie belästigen zu müssen“, sagte Xardas noch einmal. „Es geht nur um die Zensur.“
„Wir verstehen. Margarete, wärst du so gut…?“
Seine Frau kramte in Maries Tasche und holte eine Mappe hervor. „Bitte, lesen Sie. Wir sind auch still dabei. Nehmen Sie doch ein Stück Kuchen.“
„Ich weiß nicht“, sagte Xardas.
„Der ist noch von der Beerdigung übrig“, fügte der Vater hinzu. Xardas entschied sich für ein Erdbeerstückchen mit einem Kreuz aus dunkler Schokolade darauf und begann zu lesen.
Die Einleitung war hervorragend, das stellte er sofort fest. Die Lebensgeschichte Barthos‘ war in aller Kürze mit klaren, wohlformulierten Worten nachgezeichnet. Marie hatte eine wundervolle Handschrift gehabt, was zwar nicht offiziell in die Bewertung eingehen durfte, aber es schadete natürlich auch nichts.
„Wie sieht es aus?“, fragte die Mutter und versuchte zu lächeln.
„Es sieht ausgezeichnet aus“, erwiderte Xardas, ohne den Blick von den Papieren zu nehmen. „Ganz ausgezeichnet.“
„Marie hat sehr viel Arbeit hineingesteckt“, sagte der Vater. „Sie war ein ehrgeiziges Mädchen, daran gibt’s nichts zu rütteln.“
„Und begabt“, fügte Xardas hinzu. „Sie hätte es weit bringen können.“
Die Mutter ergriff die Hand des Vaters, aber keiner von beiden sagte etwas, so dass Xardas nach etwa zehn Minuten mit der Lektüre fertig war. Normalerweise hätte er sich an dieser Stelle eine Tasse Tee genehmigt und die Arbeit ein zweites Mal gelesen, aber das schien ihm unter diesen speziellen Umständen nicht angezeigt zu sein. Außerdem war der Aufsatz rundum ausgezeichnet, er hatte keine einzige negative Anmerkung mit seinem Korrekturstift machen müssen. Es bestand kein Zweifel: Diese Arbeit war ein sonnenklares Optime, was das Pendel erfreulicherweise in die richtige Richtung ausschlagen ließ, was Maries Abschlussnote in Philosophie betraf. Mit einem zufriedenen Seufzer lehnte sich Xardas zurück und nickte den Eltern wohlmeinend zu.
„Das ist eine ganz ausgezeichnete Abhandlung“, sagte er. „Sie haben allen Grund, stolz auf Ihre Tochter zu sein.“
„Das sind wir auch.“ Der Vater strich sich über die spärlichen Haare seines dünnen Schnurrbartes. „Und wie gesagt, sie hat eine Menge Arbeit hineingesteckt.“
„Das ist klar zu erkennen“, bestätigte Xardas.
„Am Tag vor dem Unfall hat sie noch die halbe Nacht daran gesessen. Ich glaube fast…“
Er machte eine Pause und warf seiner Frau einen Blick zu, den sie erwiderte.
„Viel Arbeit“, sagte die Mutter traurig.
„Sie war ein begabtes Mädchen“, sagte Xardas.
Der Vater setzte sich auf seinem Stuhl zurecht.
„Und ehrgeizig“, sagte Xardas.
Der Vater räusperte sich. „Ja. Ich glaube sogar, es lag daran, dass es so gekommen ist.“ Er betrachtete die beiden stummen, finsteren Vögel in der Voliere. „An dem Morgen war es kaum möglich, sie zu wecken, so müde war sie von der nächtlichen Arbeit. Sie war gar nicht ganz bei sich, als sie das Haus verließ.“
Xardas sagte nichts.
„Sie ging ja seit Jahren immer den gleichen Weg zur Schule“, sagte die Mutter.
Das Molerat schob sich schnaufend unter dem Tisch hervor, betrachtete Xardas mit waidwundem Blick und kehrte in die Wohnstube zurück.
„Es ist nicht einfach für Willi“, sagte der Vater. „Er begreift es nicht.“
„Ich habe die Lampe in Maries Zimmer noch um drei Uhr nachts brennen sehen, als ich zur Toilette gegangen bin“, sagte die Mutter.
Xardas bemerkte, dass er fror. Mitten in der warmen Sommersonne saß er zitternd da und sah, wie sich die Härchen auf seinen Armen aufstellten.
„Sie können die Arbeit gerne bewerten“, sagte der Vater. „Es ist schön zu wissen, dass das Letzte, was sie in ihrem Leben getan hat… nun ja.“
„Ich habe diese Hausaufgabe bei den anderen Schülern nicht bewertet“, sagte Xardas. „Aber für Marie mache ich eine Ausnahme.“
„Dafür sind wir auch dankbar“, sagte die Mutter.
Xardas holte seinen Stift wieder hervor und schrieb ein großes Optime unter Maries Aufsatz.
Eine Stunde später schrieb er die gleiche Note in seinen Lehrerkalender. Danach legte er sich auf sein Bett, wo er Stunde um Stunde liegenblieb und die Decke betrachtete. Draußen wehte seine sanfte, vielversprechende Brise kleine Wölkchen über den Himmel. Der grüne Duft der Trauerweide drang durch das offene Fenster und hüllte Xardas in einen tröstlichen Schleier ein.
Im Herbst des gleichen Jahres erhielt er eine Zusage vom Lehrerseminar in Geldern, doch er lehnte den Platz ab. Eine Karriere als Dämonenbeschwörer erschien ihm gar nicht mehr allzu abwegig.