„El Toro!“ Keine Antwort. „Kannst du bitte die Tür öffnen, es hat geklopft!“ Noch immer keine Reaktion. „Wo steckt diese kleine Biest schon wieder?“ Missmutig trat Alwin aus seinem Küchenkabuff heraus und eilte zur Tür.
„Hast du gerufen, Papa?“, ertönte ganz nebenbei die heitere Stimme seiner Tochter. Natürlich war er zu diesem Zeitpunkt schon längst an der Tür gewesen.
„Hallo...“ Alwins Begrüßung geriet schlagartig ins Stocken. Er hatte schlicht und ergreifend nicht mit diesem Besucher gerechnet. Zumindest noch nicht.
„Hallo Alwin.“, antwortete der Besucher betont höflich. „Darf ich eintreten?“
Alwin trat geistesabwesend zur Seite und ließ seinen Besucher hinein. Instinktiv schaute er zu El Toro hinüber, die den Besucher neugierig beäugte.
„El Toro!“, ermahnte er sie. „Hör auf zu starren und geh auf dein Zimmer.“
„Na gut.“, maulte sie enttäuscht und trottete davon. Alwin konnte sich mit seinem Besuch noch immer nicht anfreunden und war sichtlich genervt. Obgleich er wusste, dass er nun keine Gelegenheit mehr dazu bekommen würde, hätte er seinen Gast am Liebsten wieder fortgejagt.
„Ich bin dabei, das Abendessen zu bereiten. Möchtest du... auch?“, fragte er seinen Gast, der sich erst einmal in aller Ruhe die geräumige Wohnküche ansah.
„Sehr gerne.“

Unter dem aufmerksamen Blick seines Gastes, deckte Alwin den Tisch für drei Personen ein. Neben Graubrot, etwas ranziger Butter und Schafskäse, stellte er zudem noch eine Karaffe mit frischen Wasser auf den Tisch.
„Nimm doch schon einmal Platz.“, sagte Alwin schließlich und rückte seinem Gast einen Stuhl zurecht. „Ich hole eben meine Tochter.“ Alwin verschwand im Nebenzimmer und kam wenige Minuten später mit El Toro zurück. Mit gespielt ernster Miene setzte sie sich an den Tisch. Ein leichtes Grinsen konnte sie sich dabei jedoch nicht verkneifen.
„Spricht der Mann mit uns ein Tischgebet, Papa?“, fragte die Kleine und streckte bereits voreilig beide Hände aus. Alwin missfiel der Vorschlag jedoch sichtlich, weswegen er zögerte.
„Nun, dann musst mir aber helfen.“, antwortete der Fremde plötzlich und griff nach der Hand von El Toro.
„Los Papa!“, rief sie begeistert. Seiner Tochter zuliebe folgte Alwin der Aufforderung widerwillig.
„Piep piep Mäusschen, bleib in deinen Häusschen. Schmierst du dir ein Butterbrot, kommt die Katz und jagt dich fort. Piep piep piep, guten Appetit.“ Nach dem gemeinsamen Tischgebet gab Alwin seiner Tochter etwas Wasser und machte erst ihr und dann sich selbst jeweils eine Scheibe Brot. Alwins Gast verfolgte erst aufmerksam das Geschehen und machte sich dann anschließend auch ans Werk.
„Woher kennst du denn Mann, Papa?“, fragte die kleine El Toro mit vollem Mund.“
„Er ist ein...“, Alwin hielt inne und suchte nach der passenden Formulierung. „...er arbeitet für unseren Vermieter.“
„Ich mag den nicht“, antworte El Toro launisch und verzog ihr Gesicht. „Man darf da nie etwas anfassen und Süßigkeiten hat der auch nicht.“
„Ich kann ihn auch nicht gerade leiden“, antwortete Alwins Gast schmunzelnd. „Und geizig ist er in der Tat.“
„Genug der Fragen, El Toro!“, ermahnte Alwin schließlich seine Tochter. „Iss auf und dann geht es ab ins Bett.“

Später am Abend

„Ein aufgewecktes Mädchen.“, eröffnete sein Gast das Gespräch, während Alwin sich setzte.
„In der Tat.“, antwortete er. „Den Verlust ihrer Mutter... meiner Frau.... sie hat es von uns beiden besser überwunden. Gleichwohl sich unsere Situation seither tagtäglich verschlechtert hat.“ Sein Gast schwieg und verfolgte aufmerksam jedes Wort des Schafhirten.
„Ich musste die Hälfte aller Schafe abgeben, weil die Arbeit mit der Herde, der Haushalt und die Versorgung von El Toro einfach zu viel wurde.“, fuhr Alwin schließlich mit zitternder Stimme fort.
„Das führte unweigerlich zu weniger Einnahmen...“, mutmaßte sein Gast, worauf Alwin nickte.
„Irgendwann musste ich abwägen...“, antwortete er. „Die Miete entrichten und hungern oder bei Lehmar Geldleihen aufnehmen. Nach alledem was El Toro durchmachen musste, fiel mir die Entscheidung nicht schwer. Sie hat in ihren kurzen Leben schon genug leiden müssen.“
„Ich kann deine Situation durchaus verstehen.“, antwortete Alwins Gast schließlich nach einer ganzen Weile und lehnte sich zurück. „Das Tragische am Schicksal ist, dass es meistens jene erwischt, die es am wenigsten verdient haben.“
„Ich kann auf dein Mitleid verzichten!“, erwiderte Alwin verärgert. „Wir wissen beide, warum du heute Abend hier aufgetaucht bist. Ich habe meine Schulden bei Lehmar trotz mehrfacher Mahnungen und Drohungen bis zum heutigen Tage nicht aus den eben genannten Gründen getilgt. So schickt er nun einen Auftragskiller, um die Sache zu erledigen... ist es nicht so, Attila?“
„Ich kann deine Beweggründe wirklich nachvollziehen...“, wiederholte Attila noch einmal mit vollkommen ruhiger Stimme. „...doch das bedeutet nicht, dass ich etwas an der Situation ändern könnte.“
„Dann hatte ich also Recht...“, schlussfolgerte Alwin. Seine Miene verfinsterte sich schlagartig. Dutzende Gedanken schossen ihm in diesem Moment durch den Kopf. Er hatte in der Rolle des Vaters auf ganzer Linie versagt. Nach dem tragischen Tod der Mutter, musste die arme El Toro nun auch noch den des Vaters überwinden. Als Waise würde sie schließlich in der Gosse landen. Der Schafhirte konnte seinen Tränen nicht länger zurückhalten.
„Ich will das El Toro versorgt ist.“, fuhr Alwin schließlich mit zitternder Stimme fort. „Sie soll nicht so enden, wie die jungen Dinger in der roten Laterne!“ Verzweiflung lag in seiner Stimme. Immer wieder pochte er seine Faust auf den Tisch, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Beinahe schien es, als würde der Schafhirte der Hysterie verfallen. „Schwöre es bei deinem Leben!“ Attila blickte vollkommen gefasst in die erwartungsvollen Augen seines Gegenübers. Gleichwohl er die letzten Wünsche seiner Opfer immer gewährte, war es ihm in diesem Fall unmöglich.
„Das kann ich nicht...“, antwortete er schließlich nach einer gefühlten Ewigkeit mit ruhiger Stimme.
„Was...?“ Alwins wurde kreidebleich.
„Ich bin deiner Tochter wegen gekommen.“