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    Deus Avatar von John Irenicus
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    Marc blickte jetzt bestimmt schon zum dritten Mal zurück, und mittlerweile fragte er sich, ob er sich nicht irrte, aber es sah so aus, als stünden die Orks noch immer an der Küste und würden ihnen nachblicken, als wollten sie darüber wachen, dass sie mit ihrem Boot nicht doch noch heimlich zurückkehrten. Unbeweglich wie Statuen standen sie dort – zumindest sah es aus der Ferne so aus.
    Marc richtete seinen Blick wieder nach vorne. Der Wind stand zu ihren Gunsten, Henry hatte angedeutet, dass sie Kap Morgentau binnen einiger weniger Stunden schon erreichen würden. Marc hatte sich mit derartigem Optimismus zurückgehalten, denn Ähnliches hatten sie auf der Hinreise auch schon gedacht. Allerdings waren diesmal keine dunklen Wolken am Himmel zu sehen, und überhaupt hoffte Marc, dass man doch nicht zweimal in so kurzer Zeit ein so großes Unglück erleben konnte. Marc musste sich allerdings auch gestehen, dass sein persönlicher Kompass darüber, was er noch als Glück und was als Unglück empfand und überhaupt empfinden durfte, innerhalb der letzten Tage gehörig durcheinandergeraten war, und damit schwankte auch seine Meinung darüber, ob er sich wirklich wünschte, bald wieder in Kap Morgentau zu sein.
    Ein Teil des Glücks, den Marc für so schrecklich unverdient hielt, waren die Geschenke der Orks. Auf die Versprechungen hin, sie würden in den Päckchen Essen und Trinken finden, hatten Marc und Henry direkt einige von ihnen geöffnet, und selbst der sonst so reservierte Kapitän hatte gestaunt: In einigen der rot verbundenen Schachteln kamen in Sternenform gebackene Kräuterkekse zum Vorschein, in anderen wiederum ein dunkles Beerenmus, wieder andere enthielten kleine Töpfchen mit süßer Grütze und in wieder anderen der Päckchen befanden sich fremdartige Nüsse, deren Schalen nicht aufzukriegen waren. Einige der Päckchen enthielten auch marinierte Kräuter, von denen Marc allenfalls die Hälfte identifizieren konnte, die in dünnem Fladenbrot eingerollt waren. Eines der größeren Päckchen enthielt zusätzlich eine Vielzahl von Pilzen, die auch rund um ihr Heimatdorf wuchsen und die mit ihren violetten Schimmer und dem eigenartigen Geruch eigentlich nie wirklich den Eindruck erweckt hatten, genießbar zu sein. Sie waren es aber, und von ihnen aßen Henry und Marc am meisten. Daneben besonders erstaunlich und wohl auch das fremdartigste der Geschenke – wenn man von einem Päckchen gefüllt mit exotischem Holzschmuck mal absah – war ein Set an Fläschchen, bei dem sich Marc lange nicht über die Verwendung des Inhalts sicher gewesen war, bis Henry mutig davon probiert und festgestellt hatte, dass es sich um einen süßen Saft aus Eisenhalmen handeln musste, der so dickflüssig war, dass er in der Kälte nicht gefror. Alles in allem war es ein unglaublicher Geschenkereigen. Unglaublich deshalb, weil diese Päckchen nachgerade Kostbarkeiten waren, die Marc allenfalls engsten Freunden und Familienmitgliedern geschenkt hätte, niemals aber seinen Feinden. Aber die Orks unter der Führung des so eigen gekleideten Schamanen hatten es getan, und natürlich weckte dies in Marc Zweifel, was die Kategorien Freund und Feind eigentlich noch bedeuteten, wenn ihnen der Feind bereitwillig und ohne ersichtliche Notwendigkeit ein solche Vielzahl an Geschenken überließ. Und dabei hatten sie noch längst nicht alle der Päckchen geöffnet, sondern nur so viel, wie sie glaubten es für die Überfahrt zu benötigen. Hunger und Durst mussten Marc und Henry auf der Rückfahrt jedenfalls nicht leiden, zumal der Kapitän noch herausgeschlagen hatte, die alte Zeltplane mitnehmen zu dürfen, um auf ihr unterwegs den mitgebrachten Nordmarer Schnee langsam abschmelzen zu lassen, damit sie genug Süßwasser hatten. Kurzum: Ihrer Not war abgeholfen.
    Marc jedoch konnte sich nicht darüber freuen, er wollte sich nicht darüber freuen und er durfte sich nicht darüber freuen. All die an sich berechtigte Erleichterung wurde überschwemmt von einem Gefühl, dass ihm sehr deutlich sagte, dass sie das nicht verdient hatten. Dass sie genau die Falschen waren, die gerettet worden waren. Dass es besser gewesen wäre, sie wären in Nordmar verendet, von den Orks hingerichtet oder besser noch direkt allesamt beim Sturm über Bord gegangen. Stattdessen aber saßen sie nun hier inmitten einem Haufen Geschenke, er und Henry, aber es kam zu spät. Viel zu spät. Für Rick, für sie alle. Es war für Marc eine Unerträglichkeit, dass sie sich vor zwei Tagen noch gegenseitig hatten auffressen müssen und jetzt, zumindest für eine Seereise, geradezu Komplettverpflegung genossen. Aber für Marc war es kein Genuss, es konnte kein Genuss sein, und so aß und trank er nur das Nötigste. Das war besonders bitter: Hatten Hunger und Durst ihn vorher noch zu einem Wolf gemacht, so waren sie jetzt mit einem Mal verflogen, denn die Dringlichkeit war fort, wenn man jederzeit zugreifen konnte. Marcs Leben war verlängert worden, aber mit ihm verlängerte sich auch die Last, die er auf seine Schultern geladen hatte, mit dieser schrecklichen Tat, als er und Henry ihren Gefährten geschlachtet, sein Fleisch gespeist und sein Blut getrunken hatten. Marc spürte, wie sich das Grauen in seine Eingeweide hineinfraß, und es wurde nur noch schlimmer, wenn er daran dachte, dass sie irgendwann in Kap Morgentau ankommen würden, einige Tage zu spät, ohne Baum – und mit Ricks Leiche.
    Sein Blick streifte den Leinensack rechts hinter ihm. Marc erschauderte. Sie, oder besser gesagt Henry hatte den Sack, den die Orks mit den Geschenken gefüllt hatten, kurz nachdem sie mit ihrem Boot abgelegt hatten komplett ausgeleert und ihn anderweitig benutzt. Nachdem sie das Segel wieder gehisst hatten, waren die Überreste Ricks, die unter seiner eigenen Kleidung geradezu bizarr zusammengeschrumpft wirkten, wieder freigelegt, und weder Marc noch Henry ertrugen den Anblick. Der Leinensack war zwar nicht groß genug gewesen, um die Überreste darin aufzubewahren, aber immerhin hatten sie – Henry – die Überreste von Rick ein wenig darin einwickeln können. Marc hatte zwar zunächst nicht ganz verstanden, warum das Einwickeln die ganze Sache nun so viel erträglicher machen sollte, aber er hatte sich Henrys Plan gefügt, zumal der Kapitän nun ohnehin wieder die vollkommene Befehlsgewalt über ihr Boot und ihre Reise beanspruchte.
    Nachdem sie nun schon einige Zeit gefahren waren, kam der Moment, in dem Henry unmissverständlich klarmachte, was er vorhatte.
    „Wir sollten ihn jetzt entsorgen“, sagte er plötzlich, nicht besonders laut, ohne seinen Begleiter anzuschauen, aber doch deutlich genug, dass Marc sofort verstand.
    „Das ist nicht dein Ernst!“, rief er aus. Er starrte in Henrys Nacken. Der Kapitän drehte sich noch immer nicht um, sah stur nach vorne aufs Meer.
    „Glaubst du, ich fange jetzt an, Scherze zu machen?“, knurrte er. „Es ist jetzt an der Zeit. Es gibt keinen Grund mehr, ihn noch an Bord zu behalten. Wir haben jetzt alles, was wir brauchen. Ihn hingegen … brauchen wir nicht mehr. Es klingt für dich vielleicht hart. Aber es ist Fakt.“
    Marc spürte seine Stirn heiß werden, Zorn stieg in ihm auf.
    „Wir können ihn doch nicht einfach über Bord werfen wie ein … ein Ding! Ist er für dich denn gar kein Mensch? Ist er für dich nur Mittel zum Zweck? Bei Innos, wir müssen ihn bestatten!“
    Endlich drehte Henry sich zu ihm um. In sein Gesicht war ein Grinsen geschlichen, er zeigte seine Zähne. Marc hätte sie ihm am liebsten alle ausgeschlagen.
    Bei Innos“, wiederholte Henry Marcs Worte. „Das alte Sprichwort stimmt wohl. Die Leute können gläubig sein, die Leute können ungläubig sein, ganz egal – wenn es ans Sterben geht, dann schreien sie alle nach Gott.“ Er schnaubte. „Ganz abgesehen davon, dass wir ihn sehr wohl bestatten, wenn wir ihn dem Meer übergeben. Das ist Gebrauch der See. Ich als Kapitän habe die Pflicht dazu, es zu tun.“
    „Hör mir bloß auf mit deinen Gebräuchen der See“, hielt Marc ihm entgegen. „Ein Haufen Selbstgerechtigkeit ist das! Was soll ich denn Joshua sagen, wenn wir ohne ihn ankommen? Dass wir ihn erst gegessen und dann über Bord geworfen haben, nachdem wir satt waren?“
    Henry machte jetzt einige Schritte auf Marc zu, bis er ihm ganz nah war. Seine grauen Augen waren wie mattes, aber scharfes Silber. Marc konnte seinen Atem spüren.
    „Ihnen etwas sagen?“, zischte er. „Gar nichts wirst du ihnen sagen, und wenn ich es mit Gewalt verhindern muss, du Dummkopf! Bist du denn des Wahnsinns fette Beute, dass du überhaupt nur daran denkst, etwas zu erzählen? Was glaubst du denn, was sie mit uns machen, wenn sie erfahren, was wir getan haben, hä? Meinst du, sie überreichen uns einen Orden? Oder stellen uns einen Pfaffen ab, der sich persönlich um unser Seelenheil sorgt, weil wir so gelitten haben? Was glaubst du, hm? Verdammt, du hast doch gar keine Ahnung! Ich bin einmal in einem Gefängnis gelandet, mein Freund, das schlimmste Gefängnis, das Myrtana je kannte. Das wird nie wieder passieren, nie wieder wird mich jemand einsperren und zum Arbeiten zwingen, koste es, was es wolle. Wag es ja nicht, auch nur irgendetwas zu erzählen. Wag es ja nicht, auch nur irgendwem gegenüber die Klappe aufzureißen. Was auf hoher See passiert, bleibt auf hoher See, hast du verstanden?“
    Marc überlegte einen Augenblick, ob er Henry beim Wort nehmen und ihn schlicht mit Gewalt daran hindern sollte, dass er Rick über Bord warf. Immerhin war er dem Kapitän höchstwahrscheinlich körperlich überlegen. Es bestand zwar ein gewisses Restrisiko, zumal der Alte sich während der Reise als äußerst zäh erwiesen hatte, aber wenn Marc es drauf anlegte, dann würde er sich gegen ihn durchsetzen können, dann wäre es Henry, der diesmal den Kürzeren ziehen würde.
    Je länger Marc darüber nachdachte, desto mehr ging ihm jedoch auf, dass er genau das nicht wollte. Er wollte keinen Kampf an Deck, er wollte keinen weiteren Toten auf offener See. Sie hatten schon genug angerichtet. Was würde es helfen, Henry abzuservieren? Vordergründig würde Marc sich und seine Ideale damit selbst retten können, aber würde es wirklich eine Rettung sein, noch einen Menschen auf dem Gewissen zu haben? War die Last auf seinen Schultern nicht schon schwer genug? Und außerdem: War er nicht sogar auf Henry angewiesen, wenn er wieder an Land kommen wollte, sei es in Kap Morgentau oder anderswo?
    Marc atmete ein paarmal tief durch. Er spürte, wie die Anspannung in seinen Fäusten sich löste. Es hatte ja doch alles keinen Zweck. Etwas ruhiger, wenn auch nicht beruhigt, sprach er weiter.
    „Aber was sollen wir sagen, wenn wir gefragt werden, was passiert ist? Ricks Cousin wird irgendeine Erklärung erwarten!“
    „Normalerweise würde ich sagen, das soll mal ganz deine Sorge sein, denn es war schließlich deine Reise, und du warst es, der Rick mit an Bord geholt hat“, entgegnete Henry. Marc spürte, wie sich seine Fäuste wieder ballten, sich die Fingernägel in Fleisch gruben. „Denk dir etwas aus. Du kannst sagen, dass er direkt beim Sturm über Bord gegangen ist. Oder du machst aus ihm einen Helden, der im Kampf gegen die Orks gefallen ist, die uns in Nordmar überrascht haben. Was weiß ich. Wichtig ist nur, dass du nichts von dem erzählst, was wirklich zwischen uns Dreien auf See vorgefallen ist. Wenn ich herausfinde, dass du geplaudert hast, dann mach’ ich dich fertig. Vertrau mir. Noch bevor sie mir oder dir Ketten anlegen können, mach’ ich dich fertig.“
    „Spar dir deine verdammten Drohungen“, sagte Marc zähneknirschend.
    „Gerne“, knurrte der Kapitän zurück. „Dann ist ja alles gesagt.“ Er blickte auf die im Sack eingewickelten Überreste Ricks. „Ich nehme mal an, auf deine Mithilfe brauche ich nicht zu zählen?“
    Marc öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber er entschied sich, einfach zu schweigen. Es war in der Tat alles gesagt. Er wandte sich von Henry ab.
    Der Kapitän lachte heiser. „Hab ich mir schon gedacht.“
    Was dann geschah, war so banal und äußerlich unbedeutend, wie es fast alles rund ums Sterben war, wenn man es mal herunterbrach. Marc kam nicht umhin, Henry doch noch dabei zuzuschauen, wie er die Enden des Leinensacks packte und mit ihrer Hilfe das, was von Rick übrig geblieben war, bis an dem Rand ihres Bootes schleifte. Er ächzte und keuchte, während er das Bündel dann die paar Handbreit hochhievte, bis es direkt auf der Kante lag. Ein letzter Stoß, ein lautes Platschen – dann war es vorbei. Rick war nun endgültig nicht mehr bei ihnen, von Bord geworfen wie unnützer Ballast, wie ein Anker ohne Kette. Keine Zeremonie, kein weiteres Aufheben. Es wirkte ganz alltäglich, ganz normal, als hätte niemand Außenstehendes, der diese Szene zufällig betrachten würde, auch nur eine Augenbraue gehoben, mit nur einer Wimper gezuckt. Niemand kam und schritt ein, kein Gott fuhr herab und verdammte sie für ihre Taten. Es geschah einfach, und dann war es auch schon vorbei, und Marc stand die ganze Zeit regungslos daneben. Und fragte sich, wie viel ein Menschenleben eigentlich wirklich zählte, wenn man es einfach so auslöschen konnte.

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    Deus Avatar von John Irenicus
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    John Irenicus ist offline
    Die Geschichte von Rick endet mit der unrühmlichen Versenkung seiner Überreste im myrtanischen Meer. Aber auch die restliche Erzählung um Marc und Henry findet bald ihren Schluss, wenn auch mit besserem Ausgang für die beiden. Ihre Rückreise währte nicht mehr lange und verlief reibungslos, wenn man einmal von den Reibungen zwischen den Personen Marc und Henry absah, die sich aber vor allem deshalb noch in Grenzen hielten, weil die beiden nur noch das Nötigste miteinander sprachen, wenn sie das nicht vorher ohnehin schon so gehalten hatten. Wenn es auf ihrer Reise einmal Momente keimender Kameradschaft, die über ein bloßes Zweckbündnis hinausgingen, gegeben hatte, so waren diese nun endgültig beseitigt worden. Schon bald nach ihrer Ankunft in Kap Morgentau hatten sich ihre Wege endgültig getrennt und sie hatten nie mehr ein Wort miteinander gesprochen. Nur ein einziges Mal hatte sich Henry danach noch an Marc gewandt, um seine Dienste als Steinmetz in Anspruch zu nehmen, aber das war bloße Episode geblieben, und ein außenstehender Beobachter dieses Kontakts hätte nicht eine Sekunde daran gezweifelt, dass sich diese beiden Männer zum ersten Mal sahen und sie nichts weiter miteinander verband als das Geschäft.
    Ricks verbliebene Familie hatte seinen Tod bestürzt aufgenommen. Es war die traurige Pflicht Marcs gewesen, ihnen die Nachricht zu überbringen, und der Umstand, dass er ihnen nicht einmal die Wahrheit sagen konnte, belastete ihn umso mehr. Er hatte einige Male, auch noch lange danach, mit dem Gedanken gespielt, doch noch mit der wahren Geschichte herauszurücken, aber mit den Jahren war dieser Drang immer mehr in den Hintergrund geraten, und zuweilen erlebte Marc Momente, in denen er die alternative Erzählung über Ricks Tod sogar selbst glaubte: Rick, ihr treuer Begleiter auf der Suche nach einer passenden Nordmanntanne, war just nachdem er ein perfektes Exemplar gefunden hatte von einer Rotte Orks überrascht worden und hatte nichts mehr anderes tun können als seine Begleiter im letzten Moment noch zu warnen, bevor er den orkischen Streitäxten zum Opfer gefallen war. Das hatte, so die Geschichte, Marc und Henry letztlich das Leben gerettet. Marc hatte Rick posthum zum Helden gemacht. Für die Bewohner von Kap Morgentau war es eine anrührende und tröstliche Geschichte. Die Trauer von Joshua und Rosie indes hatte diese Geschichte nur wenig mindern können. Während Rosie sich selbst und Joshua Vorwürfe machte, nicht besser auf Rick aufgepasst zu haben, machte sich Joshua zusätzlich Vorwürfe, dass er erstens krank geworden war und zweitens zugelassen hatte, dass Rick statt seiner auf die Reise gegangen war. Letzteren Vorwurf machte er sich allerdings im Stillen, denn er hatte diese Sache seiner Schwester Rosie nie gestanden, sondern ihr gegenüber stattdessen behauptet, dass Rick ebenfalls ohne sein Wissen auf die Reise gegangen war. Die Behauptung war angesichts des kleinen Spektakels, das sich am Tag der Abreise der drei Männer geboten hatte, nur schwer zu glauben, und die Mischung aus Selbstvorwürfen und Misstrauen zog seitdem einen kaum sichtbaren, aber umso tiefer gehenden Riss in das Verhältnis zwischen Joshua und seiner Schwester.
    Was das Winterfest betraf, so ging die Enttäuschung über das Ausbleiben einer schönen Nordmanntanne in der allgemeinen Anteilnahme an Ricks Tod ziemlich unter. Tatsächlich erwog man sogar, die Tradition des Nordmanntannenpflanzens auszutauschen oder wenigstens abzuändern und lieber das Gedenken an die Verstorbenen zum Aufhänger des Winterfests zu machen. Es folgte eine kurze Zeit der Diskussion, die teils emotional geführt wurde und dabei drohte, die zum Winterfest eigentlich angedachte Harmonie empfindlich zu stören. Nachdem Marc fürchtete, dass seine Reise und ihre Folgen nun noch weiteres Verderben über Kap Morgentau bringen sollten, erinnerte er sich an die Worte des Orkschamanen und sammelte all jene mit rotem Seidenpapier verzierten Päckchen zusammen, die ihm noch übrig geblieben waren. Es waren fast alle, denn Henry hatte nach Beendigung ihrer Rückreise keinerlei Anspruch auf sie erhoben. Diejenigen Päckchen, in denen noch der ursprüngliche Inhalt lagerte – das waren der exotische Holzschmuck, kleine Glaskugeln, die Nüsse, der Eisenhalmsaft und vor allem und in großer Zahl die violetten Pilze –, beließ er so, die leeren füllte er mit neuem Inhalt, den er entweder bei den Händlern in und außerhalb des Dorfes kaufte oder in Form kleiner Steinfigürchen mit allen Mitteln seiner Handwerkskunst dafür eigens erstellte. Am Ende hatte er genügend Päckchen zusammengestellt, um wenigstens jede Familie und jeden Haushalt mit einem von ihnen zu beschenken. Man fragte Marc, wo er denn das rote Seidenpapier herhatte, woher der Inhalt kam und woher er überhaupt diese Idee hatte. Marc erzählte darauf eine ausgeschmückte Geschichte von einer Gestalt, der er begegnet war, ganz in rot gekleidet und mit weißen Haaren und buschigem Bart, die einen Sack voller Geschenke mit sich trug, die sie im Winter an all jene zu verteilen gedachte, die das Jahr als gute Menschen verlebt hatten. Die Geschichte wurde von niemandem der Erwachsenen in Kap Morgentau als nur ansatzweise glaubwürdig empfunden, aber sie ließ die Kinderherzen höher schlagen, und so akzeptierte man sie allgemein als Erzählung zum Winterfest. Die Idee trug jedenfalls maßgeblich dazu bei, den Streit um das Fortleben des Winterfests aufzulösen, das nun mit den Geschenken sogar eine neue Tradition dazugewonnen hatte, die Jahr um Jahr immer größere Ausmaße annehmen sollte. Im ersten Jahr machte Marc noch selbst den Geschenkeverteiler, gekleidet in ein extra geschneidertes Gewand im schönsten Rot und mit weißen Fellbesätzen, verhüllt von einem langen falschen Bart, mit einem großen Leinensack auf dem Rücken. Dass die Sagengestalt, die er verkörperte, nicht zwingend menschlich war, sondern möglicherweise auch orkisch sein konnte, das erwähnte Marc freilich nie.
    Überhaupt sprach Marc in der Folgezeit nicht mehr viel mit den Leuten, wenn es nicht ums Geschäft ging. Er zog sich immer mehr zurück und gab sich vor allem gegenüber Joshua und Rosie reserviert, die bald auch davon absahen, ihn noch zu Festen und Feiern einzuladen, da Marc jedes Mal eine neue Ausrede fand, um ihnen nicht unter die Augen treten zu müssen. Für Marc war das bitter. So sehr er Joshua und auch Rosie mochte, so sehr er ihnen dankbar war, dass sie ihn, der ja selber völlig ohne Familie war, immer wieder bei sich hatten aufnehmen wollen: Er konnte es nicht ertragen, ihnen seine Tat verheimlichen zu müssen, die wahre Geschichte hinter Ricks Tod und dem, was er und Henry mit Rick gemacht hatten, und er empfand es über die Zeit als immer anstrengender, bei jeder Begegnung mit ihnen an den schlimmen Vorfall erinnert zu werden. Da es für Marc aus verschiedensten Gründen aber keine Alternative war, ihnen die wahre Geschichte zu erzählen, lief es darauf hinaus, den Kontakt auf ein Minimum herunterzufahren, bis Marc schweren Herzens beschloss, dass es besser wäre, Kap Morgentau den Rücken zu kehren.
    Und so kam es, dass Marc kurz vor dem nächsten Winterfest das Nötigste zusammenpackte, was er als Mensch und als Steinmetz brauchte, und in einer sternenklaren, kalten Winternacht zum dritten Mal in seinem Leben seine Heimat hinter sich ließ. Er sagte niemandem etwas davon, niemandem hatte er auch nur einen kleinen Hinweis gegeben, wohin er ging, denn Marc hatte es selbst nicht gewusst. Lediglich auf seinem Küchentisch hatte er eine kleine, krakelige Notiz hinterlassen, in der er sich mit kurzen und knappen Worten von den Bewohnern von Kap Morgentau verabschiedete und ihnen alles Gute wünschte. Als die Notiz am Folgetag gefunden wurde, waren Erstaunen und Bedauern gleichermaßen groß, und auf Betreiben Joshuas schickte man sogar ein paar Männer aus, um im Umland nach Marc zu suchen. Die Suche blieb jedoch vergebens. Marc kehrte nie wieder nach Kap Morgentau zurück.

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