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    Post [Story]Marc, Rick und Henry

    Marc, Rick und Henry



    Für Ronsen


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    Die Geschichte von Marc, Rick und Henry beginnt in Kap Morgentau, einem kleinen Dorf an der Ostküste des myrtanischen Festlandes. In etwa auf dem Breitengrad Farings gelegen, befindet es sich nur unweit nördlich von Vengard entfernt.
    Diese Lage war kein Zufall, ebenso wenig wie der Name des Dorfes ein Zufall war, kein Produkt irgendwelcher Sprachverwirrungen und Lautverschiebungen der letzten Jahrhunderte, sondern eine ganz bewusste Entscheidung. Kap Morgentau war das Dorf, das Aufbruch verhieß. Es war nicht als Fischer- oder Seedorf geplant, sondern von Siedlern errichtet worden, die in ihrer Heimat, ganz gleich ob nah oder fern, keine Zukunft mehr gesehen hatten.
    Die Pioniere kamen mehrheitlich aus der vom Krieg zerfressenen Hauptstadt des myrtanischen Reiches. Sie wollten raus aus der verbrannten Asche, die Orks und Menschen hinterlassen hatten, raus aus ihrer einstigen Heimat, deren Wiederaufbau ins Ungewisse aufgeschoben war, denn der Krieg war noch lange nicht vorbei. Sie zogen einen Neuaufbau vor, außerhalb der einstmals schützenden Stadtmauern, aber dafür eingehegt zwischen Gebirgsketten und Küstenstreifen.
    Danach kamen Auswanderer und Flüchtlinge aus dem gesamten restlichen myrtanischen Reich des Festlands, lange nicht genug, um eine neue Stadt entstehen zu lassen, aber doch eine beachtliche Zahl, und sie kamen teils aus verblüffender Ferne: Montera, Reddock und Ardea waren noch unter den nächstgelegenden Herkunftsorten, aber es kamen auch Menschen aus Geldern und Nemora, und sogar einen Händler aus Braga hatte es nach Kap Morgentau verschlagen.
    Als letztes kamen die Kolonisten und Verbrecher, oder jedenfalls die, die im Reich als solche galten. Sie genossen zunächst keinen guten Ruf und waren großen Teilen der beiden anderen Einwohnergruppen unerwünscht, doch der Bedarf an neuen Siedlern, die allgemeine Not sowie ein Schuss Glaube an die Idee Kap Morgentaus, jedermann die Chance zu einem Neuanfang zu bieten, halfen dabei, irgendwann auch diese Schwierigkeiten zu überwinden.
    Allen drei dieser Gruppen – Pioniere, Flüchtlinge, Kolonisten – war gemein, dass sie ihr altes Leben zurückgelassen hatten. Ihr Hab und Gut, ihren Beruf, einige auch ihre Familie. So Manches aber gewannen sie in Kap Morgentau zurück: Sie bauten sich Häuser, nahmen ihre alten Berufe wieder auf oder ergriffen neue, und auch neue Familien wurden gegründet. Und eines, das hatten die meisten der Siedler ohnehin aus ihrer alten Heimat mitgenommen: Glaube, Kultur, Traditionen und Gebräuche. Teils überschnitten sich diese verschiedenen Lebensweisen, und manchmal erwuchsen aus diesem Gemisch auch ganz neue Traditionen. So kam es auch, dass aus den verschiedenen Ideen von Festen, Götterverehrung, Pilgerfahrten und Naturverbundenheit der erste ureigene Brauch von Kap Morgentau entstand: Zum Winterfest am Ende des Jahres sollte eine große Nordmanntanne auf dem Dorfplatz aufgestellt werden, ein immergrüner Schutzpatron, der über die Siedlung und seine Bewohner wachen sollte. Die Nordmanntanne wiederum sollte von jungen, alleinstehenden Männern ausgesucht und geschlagen werden, indem diese ins nicht allzu weit entfernte Nordmar reisten. Denn es sollte eine echte Nordmanntanne sein, eine echte, stattliche Nordmanntanne, und diese gab es bekanntlich nur in Nordmar. Zwei Jahre war man schon so verfahren, im letzten Jahr und im vorvorletzten Jahr, und nachdem es im ersten Jahr vor allem die Pioniere gewesen waren, die sich daran erfreut hatten, hatte schon im zweiten Jahr die Mehrheit der Kap Morgentauer Gefallen an diesem neuen Brauch gefunden.
    In diesem Jahr war Marc ausgesucht worden, nach Nordmar zu ziehen und von dort eine Nordmanntanne mitzubringen. Marc war kein Holzfäller, aber ein junger, engagierter Steinmetz, galt gemeinhin als zuverlässig, brachte das nötige handwerkliche Geschick mit und war alleinstehend, ganz wie es der Brauch verlangte. Marc, ein gebürtiger Sildener, hatte bereits in früher Jugend seine Eltern verloren und war in der Folge bei seinen Großeltern in Geldern aufgewachsen, und als diese dann vor einem Jahr verstorben waren – erst seine Großmutter, kurz darauf auch sein Großvater – hatte ihn nichts mehr in seinem Heimatort festgehalten, sodass er die lange Reise durch halb Myrtana angetreten hatte, gelockt von der Kunde über das noch junge Dorf an der Ostküste, in dem jeder etwas werden konnte, wenn er nur wollte. Tatsächlich hatte er dann sehr schnell Anschluss unter den Bewohnern in Kap Morgentau gefunden, was nicht zuletzt Grund dafür war, dass er dieses Jahr nun die Nordmanntanne für das Winterfest schlagen sollte.
    Selbstverständlich musste Marc diese Aufgabe nicht alleine bewältigen: Zur Unterstützung durfte und sollte er sich andere alleinstehende Männer als Gefährten aussuchen, einen oder zwei, damit sie sich gemeinsam auf die Reise machten. Und genau an dieser Stelle kommt, an einem ungewöhnlich milden Wintermorgen, ein junger Mann namens Rick ins Spiel.

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    Der tauende Schnee knirschte angenehm unter Marcs Schuhen, als er den Kiesweg entlang schritt, der ihn zum Haus von Joshua und dessen Familie brachte. Es war ein schmuckes Haus, etwas klein vielleicht für drei Personen, aber es sah gemütlich aus, wie die Eiszapfen um die Dachkanten herum langsam abschmolzen und wie beständig Rauch aus dem Schornstein empor stieg.
    An der mit einem grünen Mistelkranz geschmückten Haustür angekommen, wollte Marc dreimal klopfen, wie es so seine Art war, aber schon nach dem zweiten Mal wurde die Tür nach innen hin aufgemacht. Kaminwärme strömte heraus.
    „Ich habe dich schon von Weitem gesehen“, sagte der junge Mann im Türrahmen.
    „Hallo, Rick“, begrüßte Marc sein Gegenüber etwas überrascht. Rick war Joshuas jüngerer Cousin. Er war aus dem zerstörten Vengard hier hin gezogen, weil der Krieg dort seine familiären Bindungen fast vollständig zerrissen hatte. Joshua und dessen Schwester Rosie hatten ihn netterweise in ihrem Haus aufgenommen. Rick war jung, fast noch ein Halbstarker, eine große, schlaksige Person, mit feuerroten Haaren wie sein Cousin. Er war manchmal ein bisschen schüchtern und war noch unentschlossen, bei wem in der Stadt er seine Ausbildung machen wollte. Er hatte deswegen auch mal bei Marc angefragt, daher kannten sie sich flüchtig, aber daraus war letzten Endes aus mehreren Gründen nichts geworden.
    „Kann ich reinkommen?“, fragte Marc nach einer Weile, weil Rick nichts sagte.
    „Na klar“, sagte der Jüngere und bat ihn mit einer kurzen Geste ins Haus.
    Als sie beide in der Stube standen und die Tür wieder geschlossen war, war es für Marc nicht mehr zu übersehen, dass Rick nervös war. Er rieb sich die Hände, eher nicht wegen der Kälte, und zusätzlich trippelte er auf dem dunkelroten Teppich im Eingangsbereich hin und her, offenbar unschlüssig, was er nun sagen oder tun sollte.
    „Ist Joshua da?“, fragte Marc, die Hände in seinen Manteltaschen vergraben.
    „Du bist wegen der Sache morgen mit der Überfahrt hier, oder?“
    Marc nickte. Er hatte sich Joshua als seinen Begleiter ausgesucht, und ganz abgesehen davon, dass er ihn ganz allgemein für zuverlässig hielt – er war stellvertretender Kämmerer von Kap Morgentau und im Nebenberuf Fischer – hatte seine Wahl auch noch einen besonderen Grund: Joshua war ehemaliger Matrose. Er hatte auf Handelsschiffen gedient. Zwar nur wenige Jahre lang, aber nichtsdestotrotz glaubte Marc, dass diese Erfahrung bei der Reise nach Nordmar helfen würde. In diesem Jahr nämlich sollte die noch junge Tradition des Nordmanntannenschlagens bereits ihre erste Änderung erleben: In den Vorjahren waren die Männer noch mit Schlitten zu Fuß oder mit Karrenwagen nach Nordmar aufgebrochen, in diesem Jahr aber wurde der Pass hinter Faring nach längerer Zeit des freien Geleits wieder von den Orks belagert, und bisher war es trotz guter Hoffnung nicht gelungen, die Belagerung zu durchbrechen. Der Pass war seit Monaten dicht, und damit blieb der einzig gangbare Landweg von Myrtana nach Nordmar versperrt. Nachdem das Winterfest immer näher gerückt und keine Entspannung bei der Lage am Pass in Sicht gewesen war, hatte man schon mit dem Gedanken gespielt, den Brauch des Nordmanntannenschlagens für dieses Jahr auszusetzen, aber nach einigen Gesprächen mit Freunden und Bekannten hatte Marc beschlossen, es über den Seeweg zu versuchen. Ihr Dorf lag direkt an der Küste und noch dazu weit im Norden Myrtanas, sodass eine Landung an der Ostküste Nordmars keine besondere Schwierigkeit darstellen sollte – wenn man jemanden mit Erfahrung mit auf die Reise nahm. Und da war Marcs Wahl auf Joshua gefallen, den einzigen ehemaligen Matrosen, den er kannte, und vermutlich auch den einzigen, den es überhaupt in Kap Morgentau gab.
    „Joshua ist leider krank geworden, wir glauben, es ist eine Lungenentzündung“, sagte Rick mit einigem Bedauern. „Er liegt gerade oben im Dachzimmer, weil es ihm hier unten zu warm wurde. Das ging gestern schon ein bisschen los bei ihm, mit dem Husten und den Gliederschmerzen, aber da war er noch guter Dinge. Aber schon heute früh hatte er dann heftiges Fieber, und er hat den gesamten Tag lang eigentlich nur geschlafen. Er meinte zwar, dass er morgen vielleicht schon wieder fit sein würde für die Überfahrt, aber … Rosie hat ihn dazu überredet, die ganze Sache abzublasen. Ich wollte heute noch zu dir gehen, um es dir zu sagen.“
    Marc sagte erst einmal nichts, es hatte ihm die Sprache verschlagen. Mit Joshua zusammen wäre die Überfahrt nach Nordmar ein Klacks gewesen, aber ohne ihn traute sich Marc das nicht zu, auf keinen Fall. Das war ein herber Rückschlag, und in Gedanken sortierte Marc nun schon die Worte, mit denen er nachher den Organisatoren des Winterfestes mitteilen würde, dass sich das mit der Nordmanntanne nun leider doch erledigt hatte.
    „Vielleicht … willst du auch noch mit ihm sprechen?“, fragte Rick nun, dem die Stille sichtlich unangenehm war. „Er schläft zwar gerade, aber ich kann ihn wach machen, wenn du willst.“
    Marc überlegte kurz, schüttelte dann aber den Kopf. „Nein, nein, das wird nicht nötig sein. Er soll schlafen. Er ist krank und muss wieder gesund werden, das ist jetzt erst einmal die Hauptsache.“
    Rick nickte. „Tut mir wirklich leid“, sagte er dann.
    „Das muss dir nicht leid tun“, sagte Marc so aufmunternd, wie er es gerade hinbekam. „Dir nicht und Joshua auch nicht. Wer krank ist, ist krank, das ist eben so.“ Er hatte alle Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen. „Sag ihm Gute Besserung von mir, wenn er wach ist. Und wenn es irgendetwas gibt, was ich für ihn tun kann …“
    Marc machte bereits Anstalten, sich zu verabschieden, aber in Ricks Körpersprache lag nun eine neuerliche Anspannung.
    „Da ist noch etwas“, begann der junge Mann zögerlich, wurde dann aber immer zügiger im Reden, als ob er Angst hatte, dass Marc sich gar nicht mehr zu Ende anhören wollte, was er zu sagen hatte.
    „Ich habe heute Morgen noch ein wenig länger mit Joshua gesprochen. Als Rosie im Keller war, um unsere Vorräte zu überprüfen. Sie durfte das natürlich nicht mitbekommen. Joshua wollte es erst auch nicht, aber dann hat er doch noch klein beigegeben …“
    „Was denn?“, fragte Marc nun neugierig.
    „Ich würde an Joshuas Stelle mitkommen. Ich würde dich auf deiner Reise begleiten. Wenn du willst, natürlich.“
    Zum zweiten Mal an diesem Tag verschlug Marc es die Sprache. Das kam in der Tat überraschend, denn er hätte Rick nicht zugetraut, sich freiwillig für so eine Überfahrt zu melden – und dann auch noch, wie es schien, gegen den Widerstand seines Cousins.
    „Bist du dir da sicher?“
    Rick nickte. „So sicher, wie man sich bei sowas eben sein kann. Du kennst das Sprichwort ja bestimmt auch: Vor Gericht und auf hoher See …“
    „ … sind wir alle in Gottes Hand“, vollendete Marc. Er musterte Ricks Gesichtsausdruck. Der junge Kerl mochte unscheinbar, nervös und auch noch ein bisschen kindlich wirken. Aber aus ihm sprach der volle Ernst, und sein fester Blick ließ keinen Zweifel daran, dass er seine Entscheidung ganz bewusst gefällt hatte.
    „Entscheide dich bitte schnell“, sagte Rick unruhig, „Rosie müsste bald vom Markt wiederkommen, und wenn sie das mitbekommt, dann ist es wahrscheinlich eher sie, die entscheidet.“
    Marc musste schmunzeln. „Ich nehme dich gerne mit“, sagte er, auch wenn ihm das etwas leichtfertig vorkam. „Aber kannst du denn ein Boot oder Schiff führen? Das wäre ja Joshuas Aufgabe gewesen …“
    „Er hat mir früher mal ein paar Sachen gezeigt“, antwortete Rick. „Das war damals, als ich überlegt hatte, Fischer zu werden und eventuell sein Boot zu übernehmen. Daraus ist aber nichts geworden, wie du ja weißt. Aber darum geht es auch gar nicht, ich würde unser Boot eh nicht führen.“
    Marc kratzte sich am Kopf, wie es so seine Art war, wenn er selber ein bisschen nervös wurde. „Ich bin jetzt aber selber auch nicht der beste Seefahrer, wie du dir denken kannst“, sagte er. „Ich würde es dann zwar versuchen, aber …“
    „Das meinte ich nicht“, unterbrach Rick. „Es käme noch jemand Drittes mit. Joshua hat mir da jemanden genannt, der uns aushelfen könnte. Es ist Henry, du weißt schon, der ehemalige Kapitän.“
    „Ehemaliger Strafgefangener, vor allem“, platze es aus Marc hervor, und das tat ihm direkt ein bisschen leid. Er mochte es nicht, die Leute in Kap Morgentau anhand ihrer Vergangenheit zu beurteilen, und er hielt es auch jedem anderen vor, der das tat. Bei Henry allerdings, so fand Marc, lagen die Dinge etwas anders. Jeder kannte seine Geschichten über die Zeit in der Strafkolonie von Khorinis, denn er erzählte sie oft und gern in der Taverne unten am Wasser, Abend für Abend, was so manchen vermuten ließ, dass der Kerl noch immer an den Resten eines Lagerkollers von damals litt. Trotz oder gerade wegen dieser ganzen Geschichten lag seine restliche Vergangenheit im Dunkeln: Ab und zu ließ Henry mal gewisse Versatzstücke aufblitzen, aber im Großen und Ganzen blieb er undurchschaubar. Er hatte zwar das Gebaren und das Aussehen eines Seemanns, aber es war kaum abzuschätzen, ob er sich wirklich, wie er behauptete, vor seiner Zeit in der Minenkolonie als Kapitän zur See verdingt hatte. Alles in allem hielt Marc den alten Henry, wenn er denn überhaupt wirklich so hieß, nicht für sonderlich vertrauenswürdig, auch wenn er selbst nie wirklich etwas mit ihm zu tun gehabt hatte – die Dorftaverne mied Marc normalerweise.
    „Joshua hat mich schon vorgewarnt, dass dir das eventuell nicht so gefallen könnte“, argumentierte Rick. „Ich weiß ja auch nicht, was ich davon halten soll. Wahrscheinlich eher weniger. Aber es geht ja nur um eine kleine Seereise, und danach müssen wir nichts mehr mit ihm zu tun haben. Jemand anderen dafür wusste Joshua auch nicht. Und, was außerdem gut passt: Er ist alleinstehend. Wegen der Tradition, du weißt schon.“
    Marc ließ ein gedämpftes Lachen ertönen. Darum hatte er sich nun am allerwenigsten Gedanken gemacht. Was den Rest anging, musste er Rick aber zustimmen. Es war ja nicht so, als würden sie mit Henry einen Bund fürs Leben schließen. Und letzten Endes ging es ja nicht um ihn, Marc, oder um Rick, auch nicht um Henry, sondern um ihr Dorf. Marc hatte sich bereit erklärt, ihnen eine schöne Nordmanntanne zu bringen, und dieses Versprechen wollte er auch einlösen.
    „Also gut, ich frage Henry. Aber du kommst mit.“

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    Das Wasser an der Küste von Kap Morgentau war unruhig, milde Winde schoben kleinere Wellen auf, die aber alle harmlos am sandigen Ufer zwischen vereinzelten Steinen verebbten. Nur ein paar Ausreißer unter ihnen schafften es, den Holzsteg zur Taverne mit Salzwasser zu benetzen. Die Dielen knarzten unter Marc und Rick, als sie den Steg entlang gingen, der einmal um das teils auf Stelzen gebaute Gebäude herumführte, das kurz nach der Gründung ihres Dorfes aus den Überresten eines alten Schiffsrumpfs gebaut worden war. Im Innern schien – wie üblich – eine Menge los zu sein: Stimmen, Gläser und Gepolter waren immer deutlicher zu hören, je näher Marc und Rick der Schwingtür am Eingang kamen. Einen Türsteher gab es nicht; in Jonathans Kneipe kam jeder rein, der wollte. Wenn er wollte. Marc musste vor allem, und mit Rick dicht hinter sich betrat er schließlich das Etablissement.
    Drinnen war es warm, zu warm nach Marcs Geschmack. Die Jahreszeit brachte es offenbar mit sich, dass die Leute es für jedes Grad, das es draußen kälter wurde, drinnen ein Grad wärmer haben wollten, und so überraschte es Marc nicht, dass im Schankraum nicht nur einer, sondern zwei Öfen heizten, einer vom ganz linken Ende, der andere vom ganz rechten Ende. In der Mitte war die Theke platziert, hinter der Jonathan die Bestellungen entgegennahm und die Getränke ausschenkte, und wenn er das gerade nicht tat, dann wischte er die Biertropfen und Schaumflocken von den Tresen oder ließ sich von einem der Gäste vollquatschen. Sonderlich gesprächig war der Hüne in der fleckigen Schürze zwar nie gewesen, aber das machte ihn wohl zu einem guten Zuhörer – oder jedenfalls zu einem Menschen, der gut den Eindruck vermitteln konnte, geduldig zuzuhören. Der Barbereich ging einmal ganz um Jonathan in der Mitte herum, und weil das Holz über die Jahre einiges an Feuchtigkeit aufgesammelt hatte, hatte es sich so verzogen, dass die Theke ihre rechten Winkel aufgegeben hatte und, mit etwas Fantasie, die Form eines flach gekrümmten und unregelmäßigen Soldatenbogens nachbildete.
    Die Sitzplätze wie die Stehtische waren auch diesen Abend wieder gut besetzt, und so brauchte Marc eine Weile, bis er sich im Zwielicht orientiert hatte. Ein paar der Leute erkannten und grüßten ihn, die meisten von ihnen Kunden, und Marc grüßte pflichtschuldig zurück. Nach einer Weile tippte ihm Rick auf die Schulter und wies in ein kleines Eckchen direkt rechts neben der Theke an der Wand, wo ein kleiner, dunkler Tisch platziert war. Einige Männer drängten sich um ihn herum. Marc kannte keinen von ihnen so wirklich, aber dann hörte er etwas aus dem Stimmengewirr heraus, das wohl auch schon Rick gehört haben musste.
    „Das sagst du jetzt! Ich muss dir doch wohl nicht nochmal die Geschichte erzählen, wie ich damals Kapitän Keltström beim Würfeln sein Schiff abgeluchst habe, oder?“
    Die heisere Männerstimme mischte sich mit dem Klackern von Würfeln. Kurz darauf ertönte Gegröle, ein paar der Männer rund um den Tisch rissen die Arme hoch.
    „Na, wer sagt’s denn? Hinten kackt das Molerat, ich hab’s euch von Anfang an gesagt!“, stach die derbe Stimme wieder hervor, und kurz darauf wurden geräuschvoll Goldmünzen auf der Tischplatte umher geschoben.
    Marc und Rick nickten sich zu: Das konnte nur er sein. Sie näherten sich dem Tisch, der dunkle Fußboden klebte ein wenig unter Marcs Schuhen. Sie mussten etwas drängeln, dann aber hatten sie einen Platz am Tisch gefunden.
    „Wenn man kann, dann soll man, sag ich immer. Hineingewichst und nicht gezittert, da bekommt kein anderer mehr ein Bein auf die Erde!“
    Henry blickte auf, er hatte Marc und Rick offenbar bemerkt. Der Lampenschein ließ seine rot, weiß und grau gepunktete Haut wie Pergament aussehen, die Furchen in seinem Gesicht waren mit tiefen Schatten gefüllt. An seiner Nasenspitze fehlte ein Stück, wie von einem Säbelstreich abgeschlagen. An den Seiten seines Kopfes standen schmutzige, graue Haarsträhnen ab. Er trug wie immer seinen alten und an unzähligen Stellen geflickten Admiralsmantel in dunkelgrau, die meisten Knöpfe des Zweireihers abgerissen. Kurzum: Fast alles an ihm wirkte heruntergekommen. Nur seine Augen, wenn auch ein klein wenig angetrübt, wirkten wach.
    „Was ist los, wollt ihr auch noch ’ne Runde? Kommt ran, ein gutes Pferd zieht zweimal, sag ich immer!“
    „Nein danke, ich würfle nicht“, sagte Marc bloß.
    „Ach, komm“, versuchte Henry es noch einmal und und haute mit der Faust so fest auf den Tisch, dass sein Bierkrug kurz abhob. „Wer Glück hat, furzt im Traum und wer Pech hat, scheißt in die Hose! Ich würd’s probieren! Die anderen hier können eh nicht mehr, die habe ich doch schon längst blankgezogen.“
    Marc schüttelte energisch den Kopf. „Ich bin wegen etwas anderem hier“, erklärte er. „Ich brauche einen Seemann.“
    Henry machte große Augen. „Einen Seemann?“
    Marc nickte.
    „Einen Seemann brauchst du … na, das ist ja interessant …“, raunte Henry und senkte daraufhin erst einmal den Blick, als würde er etwas in seinem Schoß suchen. Marc hätte dabei nicht helfen können, die Tischplatte versperrte ihm die Sicht. Henry musste auf einem ziemlich niedrigen Hocker sitzen. Es sah aus, als hockte er direkt auf dem Boden.
    „Da hat mich ja schon lange keiner mehr nach gefragt“, murmelte Henry in seine Bartstoppeln hinein. Marc hatte Mühe, ihn zu verstehen.
    „Also gut!“, rief Henry dann auf einmal laut aus. „Freunde, die Spielrunde ist für heute beendet! Aber macht euch keine Sorgen: Alles wird gut, in der Asche ist noch Glut! Kommt wieder, wenn ihr wieder Gold habt. Ich muss mich jetzt um die beiden hier kümmern.“
    Mit einigem Gemurre und Gemurmel löste sich die Spielrunde auf, und kurze Zeit später standen Marc und Rick mit Henry alleine am Tisch. Marc spürte einen diskreten Seitenblick von Jonathan, dem Wirt. Mit einem Mal lag eine ganz andere Anspannung in der von Rauch und Bierdunst geschwängerten Luft. Und auch Henry war jetzt sichtlich ernst geworden. Er musterte die beiden Neuankömmlinge noch eine ganze Zeit lang, bis er wieder sprach, und diesmal wirkte er irgendwie härter, undurchdringlicher, nicht mehr von der Euphorie des Würfelspiels getragen. Das beim Spiel gesammelte Gold hatte er achtlos und unberührt vor sich liegen gelassen, aber Marc konnte sich vorstellen, dass derjenige, der auch nur zögerliche Anstalten machen sollte, nach seinem Gewinn zu greifen, alsbald um ein paar Finger oder gleich eine ganze Hand kürzer sein würde.
    „Ihr braucht also einen Seemann“, knurrte Henry „Und wieso fragt ihr da mich?“
    „Du warst doch Kapitän zur See, dachte ich.“
    „Falsch!“, polterte Henry. „Ich war nicht Kapitän zur See, ich bin Kapitän zur See! So etwas wird man einmal und bleibt es dann sein ganzes Leben.“
    „Umso besser“, bemerkte Marc lakonisch.
    „Ich weiß doch, was los ist“, fuhr Henry fort. „Ihr braucht einen Seemann, und weil ihr keinen anderen gefunden habt, seid ihr jetzt bei mir gelandet. Oder?“
    „Naja“, mischte Rick sich ein, zwei einsame kleine Schweißperlen auf der Stirn. „Eigentlich hätte ja Joshua, mein Cousin, die Überfahrt mit uns gemacht, aber jetzt ist er krank geworden und -“
    „Ha! Hab’ ich’s doch gewusst!“, stieß Henry aus. „Natürlich kommen sie erst zu mir, wenn sie gar keine andere Chance mehr haben. Sonst gibt man sich ja nicht mit irgendwelchen Kolonisten, mit irgendwelchen Verbrechern ab, was? Und schon gar nicht mit diesem Henry, diesem alten Lumpenhund. Euch sind schlicht und ergreifend die Alternativen ausgegangen, und deshalb könnt ihr mich jetzt nicht mehr meiden wie Beliar das Weihwasser, was?“
    „Und wenn schon“, sagte Marc unumwunden. „Das kann dir doch egal sein. Ich glaube jedenfalls nicht, dass es dich interessiert, was wir oder andere so von dir denken, oder?“
    „Natürlich interessiert es mich nicht, was die anderen von mir denken!“, rief Henry, und Speichel flog durch den Raum. Er entblößte seine Zähne. Sie waren gelb, an manchen Stellen schwarz und ein bisschen dünn, aber immerhin hatte er sie noch alle, was man von so manchen anderen Sachen an und in ihm sicherlich nicht behaupten konnte.
    „Dann sollte die ganze Sache doch eigentlich kein Problem sein“, überlegte Marc laut.
    Henry nahm erst einmal einen Schluck aus seinem Bierkrug, leckte sich danach den Schaum von den dünnen Lippen und grinste. „Kommt drauf an“, sagte er. „Um was für eine Sache geht es denn?“
    „Wir wollen nach Nordmar übersetzen“, begann Marc zu erklären und fügte auf den überraschten Blick Henrys hin rasch hinzu: „Nicht besonders weit nach Nordmar, natürlich! Nur so weit, dass wir im Gebiet landen, wo die großen Nordmanntannen wachsen. Da wollen wir dann eine von schlagen und über den Seeweg wieder zurückbringen.“
    Henrys Kopf schnellte hervor und seine Augen schienen fast aus den Höhlen zu ploppen, bis er sich wieder gerade auf seinen Hocker setzte und sich die Hände lachend vors Gesicht schlug, wobei das Lachen immer mehr in ein Husten überging.
    „Jetzt sagt mir nicht, ihr seid auch welche von diesen Tannenjüngern“, sagte er, während er sich mit den Fingern abwechselnd die Augenlider um die Schläfen massierte. „Ach was soll’s, ihr habt es ja quasi schon gesagt.“
    „Es ist für das Dorf“, sagte Rick etwas trotzig. „Wir wären ja über den Pass gegangen, aber der ist ja von den Orks besetzt.“
    „Ich weiß, ich weiß, ich weiß“, dröhnte Henry und nahm sich die Hände wieder aus dem Gesicht. Seine Augen wirkten nun ein wenig feucht. „Ich hatte ja erwartet, dass das Bäumchen-wechsel-dich-Spiel dieses Jahr abgesagt wird. Und jetzt fangen sie an, die Dinger auch noch zu verschiffen, ich fass’ es ja nicht. Sagt mal, habt ihr denn wirklich nichts Besseres zu tun?“
    „Zurzeit nicht“, konterte Marc.
    Henry ließ sich davon nicht beeindrucken. „Du machst doch irgendwas mit Steinen, oder wie war das?“, fragte er.
    „Ich bin Steinmetz, ja.“
    „Steinmetz also! Und da kommst du jetzt auf die Idee, Bäumchen zu pflücken? Ihr verdammten Gutmenschen geht mir so langsam auf den Sack … aber gut, wenn die See ruft, dann werde ich ihr folgen! Wie habt ihr euch das Ganze denn vorgestellt? Ein Schiff habe ich nicht zu bieten. Ich glaube jedenfalls nicht, dass Jonathan hier seine Taverne auseinanderbauen und das alte Wrack wieder seetauglich machen will, wenn ihr versteht, was ich meine!“
    Marc wagte einen Seitenblick zum Wirt, aber der tat so, als hätte er nichts gehört.
    „Mein Cousin ist Fischer, wir können sein Boot nehmen“, erklärte Rick. „Es hat sogar ein Segel.“
    „Es hat sogar ein Segel, eijeijei“, äffte Henry ihn nach. „Na das ist ja mal ein Ding, du! Du kannst froh sein, ansonsten hätten wir dich Bübchen nämlich zum Rudern verdonnert. Nichts für ungut, aber da nimmt man immer den Jüngsten, so sind die Gebräuche der See. Wie alt bist du eigentlich? Du bist doch vielleicht gerade einmal siebzehn, so wie ich mir dich angucke.“
    Rick sagte darauf nichts, sein Gesichtsausdruck mischte sich zwischen Verärgerung und einer gewissen Eingeschüchtertheit. Marc gefiel dieser ganze Umgang des Kapitäns überhaupt nicht, aber ganz ohne Seeerfahrung wollte er eben auch nicht nach Nordmar segeln.
    „Also“, fasste Marc nochmal zusammen, „wir haben ein Segelboot, wir haben zwei Äxte, ein bisschen Proviant können wir auch noch mitnehmen, wir fahren die Küste entlang nach Nordmar, schlagen dort einen Baum und transportieren ihn und uns mit dem Boot wieder zurück. Du sollst uns beim Steuern des Bootes und beim Navigieren helfen. Das ist die ganze Sache. Bist du jetzt dabei oder nicht?“
    „Jaja, das hab’ ich jetzt schon alles verstanden“, raunte Henry und rieb sich das stoppelige Kinn. „Ich hab’ da schon Interesse dran. Die Sache ist nur die: Was springt denn für mich dabei raus, wenn ich euren dusseligen Tannenbaum durch die Gegend schippere?“
    Marc seufzte. Das war jetzt die letzte Hürde, und er hoffte, dass er sie nehmen konnte. Auf Ricks Mithilfe brauchte er in finanziellen Dingen ja nicht zählen.
    „Wie viel willst du?“
    Henry kratzt sich am Kopf und begutachtete die Goldmünzen, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Mit stummen Lippenbewegungen fing er an zu zählen.
    „Dreißig“, sagte er dann.
    „Dreißig?“, fragte Marc etwas überrascht zurück. Er hätte eher mit dreihundert gerechnet, aber das wollte er dem Kapitän natürlich nicht sagen.
    „Naja“, meinte Henry, „ich habe jetzt mal gerechnet, wie viel mir wegen der Reise an Gewinn an einem Spielabend durch die Lappen gehen würde. Und ich habe ein bisschen aufgerundet.“
    Marc zuckte mit den Schultern und griff sich an den Gürtel, um von dort einen Lederbeutel zu lösen. Er dachte kurz daran, ihm den Beutel einfach ganz zu geben, aber dann überlegte er es sich noch einmal anders und zählte die Münzen ganz genau ab. Dann schob er sie in sechs sauber aufgereihten Stapeln zu Henry herüber.
    „Da“, sagte er. „Zähl auch nochmal selber nach, wenn du willst.“
    „Hab mitgezählt“, raunte Henry und ließ das Gold unangetastet.
    „Dann sind wir im Geschäft?“, fragte Marc noch einmal nach.
    „Prinzipiell ja. Unter einer Bedingung“, sagte er dann kühl.
    „Was denn noch?“
    Henry schwieg, schaute erst Marc, dann Rick und dann wieder Marc tief in die Augen. Erst nach einer ganzen Weile sprach er wieder, ernst und ruhig, mit dunkler Stimme.
    „Wenn wir auf hoher See sind, sobald wir unseren Küstenstreifen verlassen haben und nur noch Wasser unter uns ist, bestimme ich alleine, was gemacht wird. Als Kapitän benötige ich die alleinige und vollkommene, die unangefochtene und ungeteilte Befehlsgewalt. So sind die Gebräuche der See. Nur unter dieser Bedingung kann ich eine sichere Überfahrt garantieren. Habt ihr das verstanden?“
    „Verstanden“, sagte Marc, und auch Rick nickte zustimmend.
    „Gut“, sagte Henry. Seine Miene entspannte sich wieder. „Dann ist ja alles klar. Wann soll es losgehen?“
    „Am besten morgen früh“, antwortete Marc.
    „Morgen früh?“, fragte Henry, zog die Augenbrauen hoch und lachte. „Na dann habe ich ja noch genügend Zeit um auszunüchtern, was?“

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    Am nächsten Morgen standen Marc, Rick und Henry sowie ein paar Schaulustige unten an der Anlegestelle im Nebel.
    Rick war mitten in der Nacht aufgestanden, um mit Einverständnis des immer noch kranken Joshuas, aber geheimgehalten vor Rosie ein paar Vorräte aus dem Keller zu stibitzen. Das hatte sich aber als unnötig herausgestellt, denn Henry, der seine alleinige und ungeteilte Befehlsgewalt offenbar auch auf Kap Morgentaus Küste erstreckt sah, hatte entschieden, dass auf diesem Segelboot wohl kaum Platz für mehr als ein paar Schläuche Wasser und ein paar Schachteln Zwieback war, wenn sie auf dem Kahn noch einen Baum transportieren wollten.
    Marc war ebenfalls mitten in der Nacht aufgestanden, das aber vor allem, weil er nicht hatte schlafen können. Entsprechend müde stakste er am Ufer umher und ließ sich von den umstehenden Dorfbewohnern das ein oder andere aufmunternde Wort mit auf den Weg geben. Das hatte Marc auch bitter nötig, denn der Nebel gab nach und nach die Sicht auf den Himmel frei, der in der Ferne dunkle Wolken zeigte. Die entmutigten Marc ein klein bisschen. Auch die aufkommenden Winde waren ihm gar nicht genehm.
    „Das sieht da hinten aber nicht so gut aus“, rief Marc zu Henry herüber, der noch immer die optimale Stellung des Segels und des Segelmasten sowie die Lagerung der Notfallpaddel, der beiden Holzfälleräxte und des großen Netzes, mit dem sie später den geschlagenen Baum festzurren wollten, überprüfte. Eines musste man dem Kapitän lassen: Er wirkte dabei äußerst gewissenhaft. Vermutlich ließ sich das aber vor allem auf eine gehörige Portion Eigeninteresse an einer sicheren Überfahrt zurückführen.
    „Was meinst du?“, krähte Henry zurück. „Gerade in den Spiegel geschaut, oder was?“
    „Ich meine die Wolken“, wies Marc unbeirrt auf die sich auftürmenden Formen am Horizont hin. „Das könnte einen Sturm geben!“
    „Papperlappapp“, antwortete Henry, der nun den kleinen Anker vom Grund hervorzog und an Bord verstaute. „Ein bisschen Wind hat noch niemandem geschadet, ganz im Gegenteil! Wir wollen doch segeln, oder nicht? Von daher sei froh. Die paar Wolken machen mir keine Angst, es wird schon keine Harpyien regnen.“
    Marc fing den Blick von Rick auf. Sein Begleiter schien ähnliche Sorgen zu haben. Rick sagte jedoch nichts, und auch Marc schwieg darauf. Es war keine lange Strecke, und es würde schon alles gut gehen. Und vor allem: Wozu nahmen sie ausgerechnet Henry als erfahrenen Seemann mit, wenn sie seiner Einschätzung dann doch nicht trauen wollten?
    „Also dann, alle an Bord!“, rief Henry, als hätte das Gespräch vorher gar nicht stattgefunden. „Wir stechen in See!“

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    Tatsächlich vergingen die ersten Stunden auf See eher geruhsam. Nachdem alle ihre Plätze auf dem Boot gefunden hatten – angewiesen durch das Gekeife Henrys – und Marc und Rick nur ein wenig gepaddelt hatten, hatte Henry das Segel gehisst und entsprechend ausgerichtet, und die strammen Böen hatten sie rasch aufs offene Meer befördert. Der Wind stand, wie Henry befunden hatte, günstig, und den Kurs musste er nur einige wenige Male korrigieren. Rick hatte zunächst dabei helfen wollen, aber der Kapitän hatte ihm mit seiner raubeinigen Art attestiert, dass er dazu nicht wirklich in der Lage sei, und hatte das Ruder alleine an sich gerissen. Marc hielt es für einen fairen Deal. Sollte Henry an Bord ruhig das alleinige Sagen haben: Wenn er an Bord auch die alleinige Arbeit hatte, dann ging die Rechnung auf. Überhaupt war Henry, nachdem sie einige Zeit auf offener See verbracht hatten, immer entspannter und umgänglicher geworden, und jetzt, wo der Kapitän sich in aller Seelenruhe die mitgebrachte Pfeife stopfte, war seine Anwesenheit fast angenehm.
    Das einzige, was Marc an der Fahrt störte, waren die sich immer weiter auftürmenden, dunklen Wolkenberge, die mittlerweile nicht mehr bloß in der Ferne am Horizont zu sehen waren, sondern direkt über ihnen und ihrem Boot dräuten, das im Größenvergleich nur hilf- und wehrlos aussehen konnte. Der langsam, aber stetig schärfer werdende Wind tat sein Übriges. Marc hatte nun schon lange damit gezögert, das aufziehende Wetter erneut zu kommentieren, wollte er Henry doch nicht aus seiner geradezu kontemplativen Stimmung reißen und offen seine Kompetenz anzweifeln, doch als ihr Boot das erste Mal von links nach rechts und wieder zurück geschoben wurde und ein Schwall kaltes, klares Wasser von außen ins Innere drang, wurden seine Sorgen zu groß.
    „Wir erreichen doch hoffentlich bald Land, oder?“, fragte Marc möglichst beiläufig, nachdem er an Henry herangetreten war, der den Himmel konsequent ignorierte und sich allein an seinem mitgebrachten Kompass zu orientieren schien. „Wenn das da oben alles losbricht, dann sollten wir wohl besser nicht mehr auf dem Wasser sein.“
    Henry nahm einen tiefen Zug aus der Pfeife. Süßlicher Tabakgeruch erfüllte die Luft.
    „Scheiß dir nicht in die Hose“, knurrte er. „Es läuft doch alles genau nach Plan. Und selbst wenn: Lass den Sturm doch kommen! Noch ein bisschen mehr Wind, und wir sind umso schneller da. Ein Segelboot kämpft nicht gegen den Wind an, es lässt sich von ihm tragen. Und je schneller es getragen wird, desto schneller ist man da. Ist doch ganz simpel. Selber beeinflussen können wir das jetzt eh nicht mehr.“
    „Na gut, aber ich meine ja nur …“, sagte Marc, brach dann aber ab. Er tauschte mit Rick auf der anderen Seite des Bootes einen kurzen Blick aus und zuckte die Schultern. Es hatte ja doch keinen Zweck. Er sah noch einmal hinauf in den Himmel und glaubte, ein paar kleine Regentropfen zu spüren, die wie Nadelstiche in sein Gesicht fielen.

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    Innerhalb der nächsten Stunde sollte sich das Wetter endgültig drehen. Wind und Wolken bauten sich immer mehr auf, der Regen hatte deutlich zugenommen. Das vormals noch klare Wasser war nun aufgewühlt, dunkel und undurchschaubar, die Wellen schwappten immer höher und schienen geradezu begierig am Boot zu fressen, das zudem immer gefährlicher schwankte. Es bestand kein Zweifel mehr: Ein Sturm zog auf. Marc war kein sonderlich religiöser Mensch, aber in etwa so ähnlich stellte er sich die Fahrt auf dem großen See im Reich der Toten vor. Diesen Eindruck behielt Marc freilich für sich, denn er wusste, was Henry wohl darauf gesagt hätte. Stattdessen war es nun Rick, der sich an Henry wandte.
    „Mittlerweile wird mir aber auch ein bisschen bange“, gestand er. „Sollten wir nicht irgendetwas unternehmen?“
    „Dir ist die ganze Zeit bange“, murrte Henry, die längst erloschene Pfeife noch immer im Mund. „Du bist eine Bangebuchse. Das war mir schon von Anfang an klar.“
    Rick sagte darauf nichts, aber an seiner Körperhaltung konnte Marc erkennen, wie sehr gescholten er sich durch Henrys schroffe Worte fühlte. Marc ärgerte sich für ihn mit.
    „Außerdem, was sollen wir schon unternehmen? Die Wolken kann ich nicht für euch wegpusten. Die pusten sich höchstens von alleine weg. Haltet euch einfach fest, wir kommen durch den Sturm schon durch.“
    Nur ein Sekunde später erfasste eine besonders hohe Welle ihr Boot in voller Breitseite. Henry sicherte sich mit einem schnellen Ausfallschritt einen festen Stand, Marc und Rick gerieten jedoch ins Taumeln, letzterer so sehr, dass er sich gerade noch so davor bewahren konnte, aus dem Boot zu fallen.
    „FESTHALTEN habe ich gesagt!“, blaffte Henry über den pfeifenden Wind und das klatschende Wasser hinweg. „Verdammt noch eins! Wenn hier einer von euch über Bord geht, dann war es das! Da kommt ihr nie im Leben wieder rein! Haltet euch jetzt fest!“
    Marc und Rick waren wie vom Donner gerührt, und selbiger Donner bahnte sich jetzt nun leise grollend seinen Weg durch den Himmel. Über die Sorge, was jetzt nun noch alles noch passieren könnte, hatte Marc nicht einmal Zeit, seine leichtfertige Entscheidung, diese Reise zu unternehmen, zu bereuen – das behielt er sich für einen ruhigeren Moment vor, wenn sie alles überstanden hatten. Er hatte auch längst den Überblick verloren, wie lange sie schon unterwegs waren und wie lange sie nach Henrys Rechnung noch brauchen würden, bis sie in Nordmar landeten. Er glaubte aber nicht, dass sie noch rechtzeitig vor dem Sturm ans Festland fliehen konnten. Der nun prasselnde Regen machte die Sicht ganz diesig, sodass die Küste, die sich im Westen befinden musste, nicht mehr zu sehen war, und noch dazu trieb sie der Wind immer weiter aufs offene Meer hinaus. Henry hatte vermutlich recht, viel mehr als ausharren konnten sie nicht tun. Marc zog seinen Mantel enger um sich, schloss instinktiv die Augen, öffnete sie aber wieder, als er bemerkte, dass ihm das beim Geschaukel auf dem Boot in kürzester Zeit auf den Magen schlug. Rick hockte direkt neben ihm, war um die Nase noch blasser als sonst und sagte nichts.
    Zwischen den aufbrandenden Wellen und den sich gefühlt minütlich drehenden Windböen von allen Seiten hatte ihr Boot kaum eine Chance, was nun auch Henry dazu veranlasste, aktiv zu werden.
    „Wir müssen das Segel einholen“, rief er, klopfte vorher aber noch den Tabak aus dem Pfeifenkopf und verstaute das Rauchwerkzeug in einer der Innentaschen seines zerfledderten Admiralsmantels. Rick wollte schon aufspringen um zu helfen, wurde aber direkt von Henry zurück auf seinen Platz gebrüllt.
    „Festhalten, habe ich gesagt! Du bist doch sonst der erste, der im Wasser landet! Du kannst mir dabei nicht helfen! Du bist doch dazu gar nicht in der Lage!“
    Henry stakste zum Segelmasten und nestelte dort an den Leinen herum, mit schneller Beinarbeit wie die eines Tänzers stetig darum bemüht, sein Gleichgewicht zu halten. „Ich mache das schon“, rief er ihnen nun etwas ruhiger zu. „Haltet euch nur gut fest! Wenn wir Glück haben, dann zieht der Sturm gleich schon über uns hinweg!“
    Kurze Zeit später fiel das Segel vom Mast herab. Rasch rollte Henry es zusammen und verstaute es am hinteren Ende des Boots – an der Bugseite, wie er sagte – und legte es, wie auch schon das mitgebrachte Netz, unter die zwei Äxte, damit es nicht wegflog. Spätestens jetzt wurde Marc klar, dass das Fischerboot, Segel hin oder her, für diese Reise unterdimensioniert war. Sie hätten mindestens einen mittelgroßen Kutter gebraucht, um der Lage Herr zu werden – und so, wie die Windböen jetzt nochmal anzogen und der Donner drohend grollte, hätte selbst das keine allzu große Sicherheit versprochen.
    „Das ist die See!“, brüllte Henry, während ihm der Regen nur so ins Gesicht peitschte. Die Haare klebten klitschnass an den Seiten seines Kopfes. „Da fühlt man sich mal wieder richtig am Leben!“
    Der Kapitän freute sich, fast wie ein kleines Kind, und Marc konnte es nicht fassen. Für einen Moment fragte er sich, ob Henry überhaupt noch wahrnahm, dass er sich auf hoher See befand und nicht bloß in einem sehnsuchtsvollen Traum seinerseits, und dass er die Verantwortung nicht nur für ein Boot, sondern auch für zwei weitere Menschen an Bord innehatte. Als dann aber plötzlich, nach nun schon mehreren Ankündigungen, ein verästelter Blitz geräuschlos über den Himmel zuckte, bewies der Kapitän seine Geistesgegenwart.
    „Hört mir jetzt gut zu“, rief er ihnen über das Rauschen der Winde und das Peitschen des Meeres hinweg zu, denn obwohl sie doch alle so nah beieinander hockten hier im kleinen Boot, konnte man sich längst nur noch durch Schreien, Rufen und Brüllen verständigen. „Ich klappe den Mast jetzt runter. Wir wollen die Blitze ja nicht auf Beliar komm raus anlocken. Und ihr, ihr legt euch flach auf das Boot, nebeneinander, sodass ihr beide genug Platz habt. Und egal, was passiert, hört ihr, EGAL, was passiert: Haltet euch fest!“
    Wie, um die Dringlichkeit von Henrys Worten zu unterstreichen, hob eine Welle das Boot empor und ließ es wieder herunterfallen. Marc hatte das Gefühl, mit dem Boot gemeinsam zu kentern, aber dann packte ihn ein Arm von hinten und zog ihn aufs nasse Holz. Rick, sein Retter, lag nun neben ihm, klitschnass, krallte sich am Boot fest und schien sich geradezu darin verbeißen zu wollen. Aus dem Augenwinkel – der eiskalte Regen und das aufspritzende Meerwasser beeinträchtigten die Sicht zusehends – konnte Marc erkennen, wie es auch Henry von den Füßen gehoben hatte, aber er rappelte sich bereits wieder auf, huschte anscheinend noch einmal zum Segel, aber was er dort tat, konnte Marc nicht mehr sehen, denn ein Schwall Wasser begrub ihn selbst unter sich. Seine Hände aber klammerten noch immer am Bootsrand, wie kleine Schraubzwingen, und das sagte ihm, dass nicht er ins Wasser gefallen, sondern umgekehrt das Wasser erneut ins Boot gekommen war. Rick rechts neben ihm hatte auch ordentlich etwas abbekommen, aber Marc war sich nicht einmal sicher, ob er das überhaupt bemerkt hatte. Mittlerweile war die ganze Sturmkulisse so laut, dass Marc nicht einmal mehr hören konnte, was Henry rief, und ab und zu glaubte er, Rick neben sich aufschreien zu hören, aber auch das konnte bloße Einbildung sein. Irgendwann musste Marc dann doch noch seine Augen zumachen, denn sie hielten Wind und Salzwasser nicht mehr aus, und da sie nun mittlerweile wie ein Blatt im Wind umher gewirbelt wurden, war ihm ohnehin schon schlecht, aber auch das spielte kaum noch eine Rolle, denn wenn er sich erbrach, dann wurde es doch ohnehin direkt mit dem Wasser wieder ins Meer gespült, und sein Hals war ohnehin rau von Salz, Wind und Gerufe, und überhaupt gab es für ihn jetzt nur noch eins, bis zum bitteren Ende, festhalten, festhalten, festhalten, festhalten …

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    Marc hatte noch lange Zeit nach diesem Ereignis immer mal wieder darüber nachgedacht, wie lange der Sturm eigentlich über ihnen gewütet hatte, und vermutlich war es wirklich gar nicht so lang gewesen, eine Stunde im Höchstmaß, wahrscheinlich auch nur eine halbe. Aber in der Situation selbst war es ihm natürlich viel länger vorgekommen, eine Stunde, zwei Stunden, drei Stunden, die Zeit hatte kaum noch eine Rolle gespielt, wie er bäuchlings neben Rick auf dem Boden gelegen war und sich festgekrallt hatte, unter Wellen, Wind und Wolkenbruch ausharrend, dem Schleudergang trotzend, den ihnen die See verpasst hatte. Und ja, Marc hatte sich erbrochen, mehrmals, aber momentan fühlte er sich vor allem nass und durchgefroren. Ihm war zwar elend, aber Übelkeit verspürte er nicht mehr viel, jetzt, wo alles wieder zur Ruhe gekommen war. Schnell war es gegangen, zwar nicht plötzlich, aber doch sehr zügig, und trotzdem hielt Marc die Augen noch immer geschlossen, als könnte der Sturm jeden Moment wieder losgehen, wenn er sie nur öffnete, dem gemächlichen Wellenrauschen um ihn herum zum Trotz. Marc traute sich erst, seine Augen zu öffnen, als er Henry hinter sich fluchen hörte.
    „So eine Scheiße … so eine verdammte Scheiße!“
    Im Liegen konnte Marc sehen, wie Henry aufgeregt das Boot absuchte, das Netz und das Segel nachlässig über einen Arm geworfen.
    „Dabei hat es doch erst so gut gehalten …“, murmelte der Kapitän zu sich selbst. „Das war bestimmt die vorletzte oder letzte richtig große Welle, die es vermasselt hat … verdammt … auf dem Klo in die Hose geschissen, wirklich.“
    Langsam setzte Marc sich auf. Seine Beine waren wackelig, er blieb lieber erst einmal auf den Knien. Rick neben ihm sah aus wie in eine endgültige Schockstarre verfallen, aber als Marc ihn kurz an der Schulter rüttelte, regte auch er sich. Es war in etwa so, als hätte Marc einen Schlafenden geweckt, und irgendwie war die vergangene Stunde, oder wie lange der Sturm auch immer gedauert hatte, tatsächlich in einer Art Dämmerzustand an ihm vorübergegangen.
    „Wir … wir haben es alle überstanden, oder?“, hauchte Rick. Er musste sich zwischendrin zweimal räuspern, da seine Stimme versagte. Er war leichenblass.
    „Wir schon, aber die Paddel nicht!“, keifte Henry auf die offene See hinaus. Das Meer schien immer noch etwas aufgewühlt, aber die Wellen waren nun nicht mehr viel mehr als ein Schwappen im Wasserglas. Die Wolken waren aufgerissen und die Wintersonne stach hervor, und statt eines Sturms wehte nun kaum noch ein Lüftchen.
    „Naja, was soll’s“, grummelte Henry. „So weit, wie wir rausgetrieben wurden, ist das eh egal. Da hätten zehn Mann nicht genug Kraft, um uns zurück an die Küste zu paddeln. Wir müssen auf neuen Wind warten.“
    „Das heißt, wir können jetzt nichts machen?“, fragte Marc, bereute es aber gleich schon wieder.
    „Was willst du denn jetzt machen?“, blaffte Henry. „Sollen wir dich an ein Seil binden und du kraulst uns gen Westen?“
    Marc sagte darauf nichts, auch wenn er am liebsten einfach Ja gesagt hätte, nur um den Kapitän zu ärgern.
    „Spar dir deine Kräfte lieber, mit unserem Proviant sieht’s nämlich auch nicht allzu pralle aus. Von den Wasserschläuchen sind alle außer einer über Bord gegangen, und der Zwieback ist mindestens zur Hälfte mit Wasser durchtränkt. Salzwasser. Also bloß Pfoten weg davon, wenn ihr nicht die Seewasserkrankheit bekommen wollt. Und glaubt mir, das wollt ihr nicht.“
    Für Marc war das wie ein Schlag in die Grube seines – während des Sturms mehrfach zwangsentleerten – Magens. In seinem Kopf drehte es sich kurz. Henry wirkte noch relativ gefasst, aber für ihn selbst wirkte das alles schon wie eine mindestens mittelschwere Katastrophe. Und er gab sich selbst die Schuld daran. Sie waren bei drohendem Sturm losgefahren – hatte er nicht schon an der Küste von Kap Morgentau ein Unwetter befürchtet? Und sie waren mit zu wenig Proviant losgefahren, weil sie das alles auf die leichte Schulter genommen hatten. Und das Boot war auch viel zu klein für ihr Unterfangen. Sicher, Henry als Kapitän hatte alles abgenickt. Aber es war nicht Henrys Reise, es war seine Reise. Und deshalb würde sich am Ende Marc dafür verantworten müssen und niemand anderes. Wenn sie überhaupt wieder nach Hause oder irgendwo hin kamen, natürlich.
    „Es hilft alles nichts“, fasste Henry zusammen. „Wir stellen jetzt erstmal wieder den Masten auf und hissen das Segel. Der nasse Lappen muss sowieso trocknen, das tut er am besten in der Luft. Und sobald der erste Wind kommt, geht es voran.“
    Henry ließ das nasse Segel, das er die ganze Zeit über seine Schulter geschlungen getragen hatte, in den Innenraum des Bootes ab und bückte sich dann zur Klappmechanik des Masten herunter. Rick kam mit tapsigen Schritten herbei, und diesmal ließ Henry es zu, dass er ihm half.
    „Seht es positiv“, lachte Henry grimmig, während er den Masten aufstellte „Wir sind alle drei alleinstehend. Auf uns wartet immerhin niemand zuhause.“

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    Die Windstille dauerte auch mehrere Stunden später immer noch an. Die Sonne war bereits am Untergehen, und das Meer war immer noch ruhig, viel zu ruhig, und ihr Boot trieb einsam vor sich hin – einsam, und vor allem langsam.
    Trotz all der Sorgen hatte sich bei Marc eine große Müdigkeit breitgemacht, die Erschöpfung nach dem Sturm. Rick schien es ähnlich, wenn nicht noch schlimmer zu gehen. Sie sprachen nicht viel. Es gab ja auch nichts zu bereden.
    Einzig Henry wirkte entspannt, zumal er es irgendwie geschafft hatte, seine Pfeife und etwas Tabak trocken aus dem Sturm zu retten. Ab und zu bedachte er die anderen mit beruhigenden Sprüchen oder grantigen Zurechtweisungen, aber die meiste Zeit schwieg auch er, rauchte und starrte in die Ferne. Der Wind würde kommen, hatte er mehrmals gesagt. Aber er kam nicht.
    Jetzt, wo es langsam auf den Abend und die Nacht zuging, wandte er sich mit ein paar mehr Sätzen an die beiden anderen.
    „Hättet ihr auch nicht geglaubt, dass ihr direkt bei eurer ersten Seereise eine Nacht auf dem Meer verbringt, was?“
    Marc sagte dazu nichts und blickte zu Rick, aber der schwieg auch. Henry wartete aber auch gar nicht auf eine Antwort.
    „Wir müssen da realistisch bleiben, ob das vor Morgen noch etwas wird mit dem Wind … die See ist zwar voller Überraschungen, aber wir sollten uns darauf einstellen, dass das heute nichts mehr gibt und es erst weitergeht, wenn die Sonne wieder aufgeht. Ich hoffe, ihr könnt es euch in euren Klamotten einigermaßen gemütlich machen.“ Er lachte. „Wir lassen das Segel oben, sobald sich etwas tut, werden wir es schon merken. Ihr beiden könnt dann pennen, ihr seid mir sowieso keine große Hilfe, wenn ich ehrlich bin. Aber das habe ich ja auch nicht erwartet.“
    Er machte ein paar ziellose Schritte auf dem Boot hin und her, zumindest, so viel es ihm dafür Platz bot. Dann ergriff er den noch vollen Wasserschlauch.
    „Den nehme ich jetzt erst einmal an mich“, kommentierte er, während er den Schlauch in die anscheinend nimmervolle Innentasche seines Mantels steckte, sodass dieser deutlich sichtbar ausbeulte. „Reine Vorsichtsmaßnahme zur Rationierung. Wer Durst hat, meldet sich, dann entscheide ich, ob und wie viel wir entbehren können. Und sobald es wieder anfängt zu regnen, müssen wir das Wasser irgendwie sammeln. Und natürlich Kopp in’ Nacken, Mund auf und Zunge raus!“ Er lachte erneut, diesmal sehr bärbeißig. Für Marc war es offensichtlich, dass Henry seine Befehlsgewalt an Bord genoss. Aus gutem Grund schlug er gar nicht erst vor, dass man zusammen entscheiden müsste, wie mit den Wasservorräten umgegangen würde. Er behielt sich aber vor, zu gegebener Zeit noch darauf zu sprechen zu kommen.
    „Ich habe jetzt schon Durst“, sagte Rick.
    „Dann trink“, antwortete Henry, fischte den Wasserschlauch direkt wieder aus seiner Tasche und reichte ihn dem jungen Mann an.
    „Danke“, meinte Rick nur und nahm einen kleinen Schluck.
    „Ich würde dann auch direkt“, klinkte sich Marc schnell ein, bevor der Schlauch wieder zurückwanderte.
    „Dann trink“, wiederholte Henry, mit dem Tonfall eines verbalen Schulterzuckens. Und auch Marc trank.
    „Na seht ihr, klappt doch prima“, meinte Henry grinsend, als er den Wasserschlauch wieder entgegennahm. „Ich schau gleich nochmal, ob nicht doch ein bisschen vom Zwieback trocken geblieben ist. Aber wie gesagt, alles, was salzwasserdurchtränkt ist, rühren wir lieber nicht an. Und dass ihr ja nicht auf die Idee kommt, Salzwasser zu trinken! Ich muss euch ja hoffentlich nicht erklären, dass ihr euch sonst bald die Radieschen von unten angucken könnt, wenn ihr davon sauft. Mit Salzwasser ist es wie mit Leuten, die Reichtümer um sich herum anhäufen. Erst hat man ein bisschen Durst und man trinkt, aber je mehr man trinkt, desto mehr Durst bekommt man. Weisheit des Tages, schreibt’s euch hinter die Ohren!“
    Henry stemmte die Arme in die Hüften und musterte erst Marc und dann Rick und dann wieder Marc in seiner altbekannten Art. Er grinste nun umso breiter.
    „Ihr schaut mich jetzt an wie ein kackendes Molerat, wisst ihr das? Kopf hoch, morgen um diese Zeit sind wir schon wieder auf dem Rückweg – mit Baum!“
    Marc ging in sich. Er konnte natürlich auch nicht sagen, wie es weiterging, aber er glaubte nicht wirklich daran. Wie er aus Ricks Blick schließen konnte, war er mit seinen Zweifeln nicht alleine. Und vermutlich, so dachte er, waren sie damit in Wahrheit sogar zu dritt.

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    Zwieback hatte sich kein trockener mehr gefunden, aber immerhin hatte Henry sich wider Erwarten breitschlagen lassen, ihn noch als Notration an Bord zu behalten, Salzwasser hin oder her. Gegessen hatten aber alle drei nichts mehr, und irgendwann, als der Mond hoch am Himmel stand, hatte zumindest Marc sich auf dem Boot lang gemacht, um wenigstens ein bisschen zu dösen. Rick hatte es ihm einige Zeit später gleichgetan, und Marc fiel ein, dass sein Begleiter die Nacht davor ja auch nur wenig geschlafen hatte. Wegen der Vorräte, von denen sie mehr als die Hälfte erst gar nicht mitgenommen und in Kap Morgentau gelassen hatten und von denen dann noch ein guter Teil beim Sturm über Bord gegangen war. Marc hatte von Berufs wegen ein paar kaufmännische Prinzipien gelernt, und er konnte sagen, dass das Kosten-Nutzen-Verhältnis an dieser Stelle alles andere als ausgeglichen war.
    Die Nacht auf See jedenfalls war für Marc eine sehr unruhige, er fand nicht richtig in den Schlaf oder dachte es zumindest, und immer dann, wenn er doch mal einnickte, erschrak er darüber so sehr, dass er sofort wieder aufwachte. Oder aber Rick weckte ihn mit einem Husten oder einem hastigen Zucken, das Marc jedes Mal schlimm aufscheuchte, weil er halb träumte und halb glaubte, der nächste Sturm stünde bevor. Auf diese Weise verbrachte Marc Stunden, in denen er, wenn er denn mal schlief, sehr anstrengend träumte, wobei nicht alle dieser Träume Albträume waren: Mehrmals hatte Marc im Halbschlaf die Vorstellung, dass Wind aufkam und sie zurück an die Küste trieb. Umso bitterer war jedes Mal die Enttäuschung bei Marc, als diese Vorstellung als bloße Illusion seiner Traumwelt entlarvt wurde – und doch fiel er immer wieder aufs Neue auf herein. Für Marc geriet das ständige Pendeln zwischen Wachzustand und Schlafzustand zu einem kräftezehrenden Spuk, der erst dann ein Ende hatte, als die ersten schwachen Sonnenstrahlen durch den wolkenbedeckten Himmel schimmerten.
    Als Marc die Augen aufmachte, dieses Mal mit dem Willen, sie auch offen zu halten, sah er Henry in der Dämmerung sitzen, die Pfeife im Mund, aber offensichtlich nicht rauchend. Für Marc bestand kaum Zweifel daran, dass der Kapitän die ganze Nacht nicht geschlafen hatte. Als Marc sich aufsetzte und Rick neben sich sah, erkannte Marc in etwa das gleiche – die roten Augen des jungen Mannes und sein aschfahles Gesicht ließen auf sehr wenig Schlaf schließen. Wahrscheinlich hatte nur Henry es richtig gemacht – manchmal war gar kein Schlaf besser als zu wenig Schlaf. Zumal, wenn man sich auf den nassen Planken eines Fischerboots befand, verloren in der Windstille auf hoher See. Denn, auch das bemerkte Marc rasch, Wind war keiner aufgekommen. Das Segel hing schlaff vom Mast herab. Regen gab es auch keinen.
    Kalt war es trotzdem mehr als genug, und nicht nur setzte bei Marc schnell wieder ein leichtes Frieren ein, auch seine steifen Gliedmaßen machten ihm das Aufstehen schwer. Als er aus der Hocke nach oben ging, hatte er das Gefühl, dass seine Beine genau so gut durchbrechen könnten, aber sie trugen ihn, und nach ein paar Bewegungen fühlten sie sich auch schon wieder recht lebendig an.
    Rick neben ihm war nun auch drauf und dran, aufzustehen, aber er tat sich deutlich schwerer. Seine Beine zitterten sichtlich, ein paarmal musste er husten, wie er es auch schon in der Nacht getan hatte. Mehrere Gedanken schossen durch Marcs Kopf, von denen der beunruhigendste war, dass Rick die Krankheit seines Cousins mit an Bord getragen haben könnte. Er wischte den Gedanken schnell wieder beiseite.
    „Alles gut bei dir?“, fragte er an Rick gewandt, als dieser einen halbwegs festen Stand erreicht hatte.
    „Was für eine Frage“, raunte Rick zurück, und wäre er nicht so offensichtlich geschwächt gewesen, das Raunen wäre eher ein Fauchen gewesen, da war Marc sich sicher. Er schalt sich selbst für seine blöde Nachfrage, aber er fühlte sich nun einmal ein bisschen für Rick verantwortlich. Sicher, er hatte selbst entschieden, mitzureisen. Und dennoch …
    „Was machen wir jetzt, Henry?“, fragte Rick an den Kapitän gewandt, der bis zu diesem Moment so getan hatte, als sei er an diesem Morgen alleine auf dem Boot. „Es hat sich doch noch immer nichts getan, oder? Kein Wind, nicht einmal ein laues Lüftchen!“
    Marc hörte den Ärger in Ricks Stimme, aber Henry beeindruckte das erwartungsgemäß nicht.
    „’Guten Morgen’ heißt das eigentlich“, belehrte der Kapitän ihn knapp. „Und um auf deine Frage zu antworten: Warten, das machen wir. Oder was schlägst du vor? Zwei Holzlatten aus dem Boot brechen und dann das Paddeln anfangen? Da brechen dir die Arme durch, bevor wir auch nur eine Meile gemacht haben.“
    „Er hat aber doch recht“, mischte sich Marc nun ein. Er musste viel blinzeln, die Kälte hatte seine Augen trocken und damit lichtempfindlich gemacht. „Bis jetzt sieht es ja wirklich nicht danach aus, dass die Windstille ein Ende nehmen wird.“
    „Sie wird ein Ende nehmen, das ist so sicher wie sonst nichts. Kein Meer ist ewig windstill. Irgendwann kommen die Winde auch wieder zu uns. Und bis dahin: Warten, Kräfte sparen, Klappe halten.“
    Rick schnaubte und schien noch etwas sagen zu wollen, überlegte es sich dann aber ganz offensichtlich anders. Er setzte sich wieder hin und verfiel in ein hartnäckiges Schweigen.

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    Es war bereits später Nachmittag, als sie erstmals wieder mehr miteinander sprachen als nur ein paar einzelne Worte und abgehackte Sätze.
    „Wo bleibt dein Wind?“, fragte Rick herausfordernd, nachdem er eine ganze Weile lang im Schneidersitz herumgehockt hatte. Er blickte auf, zog eine säuerliche Miene. Marc konnte es ihm nicht verdenken.
    „Du tust erstens so, als hätte ich fest versprochen, dass der Wind heute auf jeden Fall wieder einsetzt, und zweitens tust du so, als sei ich daran schuld“, konterte Henry. „Ich wäre jetzt auch gerne schon wieder bei Jonathan und würde meine Gewinnserie ausbauen, glaub mal, Junge. Aber is’ halt nich’. Übrigens: Ich hatte wochenlang vorher eine Pechsträhne, aber genau so wie diese Flaute irgendwann aufgehört hat, wird auch diese Flaute irgendwann ein Ende haben.“
    „Wenn das auch wochenlang dauert, sind wir bis dahin längst tot“, erwiderte Rick wie aus dem Kanonenrohr geschossen. Seine Stimme war rau, so kratzig, wie sich auch Marcs Kehle anfühlte. Immer noch kein Regen, immer noch kein Wasser. Außer dem Salzwasser natürlich. Das Knabbern am mittlerweile wieder getrockneten Zwieback hatte sein Übrigens getan.
    „Das stimmt“, antwortete Henry ungerührt. „Aber das wird nicht passieren. Der Wind ist doch schon da, er muss nur noch zu uns kommen. Irgendwo auf See ist immer Wind, und irgendwann sind wir wieder dran, wenn nicht gerade Beliar seine Finger im Spiel hat. Und selbst ein Beliar hat keine unbegrenzte Macht über die See.“
    Marc war nicht sehr gläubig und hatte den Wanderpredigern in seiner Heimat nie besonders aufmerksam zugehört, aber soweit er sich erinnerte, hatte Beliar nicht nur keine unbegrenzte Macht über die See, sondern überhaupt keine Macht über die See. Aber das interessierte Henry natürlich nicht, und überhaupt war das ja gar nicht wichtig. Für Marc war etwas anderes viel interessanter, und diesmal wollte er sich nicht mehr zurückhalten. Seine Nerven waren schließlich auch bereits aufgezehrt.
    „Dir gehen so langsam die Argumente aus, oder?“, raunte er zu Henry herüber, und seine Stimme klang knurrender, als es beabsichtigt war. Der Kapitän schaute zunächst nur zurück, zog die Augenbrauen hoch. Es war eine stumme Aufforderung, nun ganz mit der Sprache herauszurücken und sich zu erklären.
    „Seit die Windstille angefangen hat, bist du uns nur am Vertrösten. Und es tut sich gar nichts. Wir sind müde, uns ist kalt, wir haben Hunger und wir haben Durst. Und ich persönlich bin so langsam ein bisschen hoffnungslos. Wäre ich nicht so müde und wie in Trance, ich wäre wahrscheinlich schon ausgerastet. Stattdessen starre ich hier nur mit euch stundenlang in die See und warte darauf, dass was passiert. Und wir treiben so vor uns hin, ohne wirklich Meter gut zu machen. Und die Küste sehe ich immer noch nicht. Wir könnten sonstwo sein, wenn ich nicht genau wüsste, dass wir auf dem Meer sind.“
    Henry, der am anderen Ende des Boots gestanden hatte, kam nun langsam ein paar Schritte auf Marc zu.
    „Vielen Dank für die Zusammenfassung“, knurrte er zurück. Seine Augen wirkten in diesem Licht mausgrau, ebenso wie seine Haut. Eigentlich wirkte im abnehmenden Sonnenlicht alles ein bisschen grau, durch die Wolken drang kein Abendrot durch.
    „Du klingst wie ein Meuterer“, fügte Henry hinzu, schnaubend. „Dabei könnte ich aus den gleichen Gründen gegen mich selbst meutern. Meinst du denn, ich habe keinen Durst, habe keinen Hunger, bin nicht müde? Bei allem, was mir heilig ist, ich bin hier der Kapitän, ich trage auch noch die Verantwortung! Aber was ich nicht ändern kann, kann ich eben nicht ändern. Wie gesagt, ich wäre jetzt auch gerne wieder in meiner Kneipe und würde eine Runde würfeln. Is’ aber nich’. Wie oft muss ich’s noch erklären?“
    Er machte eine kurze Pause, in der Rick wieder etwas sagen wollte, aber der Kapitän fuhr ihm schon beim ersten Wort dazwischen.
    „Und wenn es nur daran liegt“, raunte er laut und griff sich in die Innentasche seines Mantels, um den Wasserschlauch hervorzuziehen. „Dann hier, bitte!“ Er warf den Schlauch etwas zu fest auf Rick, der ihn an seiner Brust gerade noch so auffangen konnte. „Trinkt! Und wenn es nur dafür ist, dass ihr die Finger vom Meerwasser lasst! Je mehr ihr euch in diese ganze Sache hineinsteigert, desto größer sehe ich diese Gefahr nämlich. Verdammt noch eins, schon morgen um diese Zeit sind wir wahrscheinlich wieder auf voller Fahrt, und dann ist ganz schnell alles wieder vergessen. Also macht mal nicht so ein Theater jetzt, es lohnt sich nicht, wirklich nicht.“
    Rick sah Marc an, den Wasserschlauch in der Hand, und Marc schaute zurück. Er nickte ihm zu. Mit zitterigen Fingern öffnete Rick den Verschluss und trank. Ein oder zwei Augenblicke später reichte er den Schlauch weiter. Marc erschrak, als er ihn in die Hand nahm und beiläufig wog. Er war leicht, viel leichter als er erwartet hatte. Rick hatte jetzt nicht viel getrunken, aber irgendwann musste jemand viel zu große Schlücke genommen haben. Marc nippte deshalb nur die Menge eines kleinen Schnapspinnchens. Seine Kehle war trocken und der Durst begann ihn auch zu quälen, aber er hielt es noch aus. Glaubte er zumindest. Als er den Schlauch an Henry weitergab, trank dieser wieder nichts. Er verschloss den Schlauch wieder und steckte ihn zurück in seinen Mantel. Marc schaute ihm dabei aufmerksam in die Augen, aber die Miene des Kapitäns war unergründlich.

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    Am späten Abend, als es kalt und dunkel wurde und sie sich auf eine weitere Nacht auf hoher See einstellten, war Ricks Husten nicht mehr zu überhören. Und diesmal ließ es Marc nicht auf sich beruhen. Dafür war sein Verdacht zu ernst.
    „Du wirst doch wohl nicht krank werden?“, tastete er sich langsam heran. Rick, der in ungelenker Pose auf den Planken hockte, blickte zu Marc herauf. Er versuchte offensichtlich zu lächeln, aber es gelang ihm nicht wirklich.
    „Du hast wohl Angst, dass ich Joshuas Lungenentzündung jetzt auch kriege und euch auch noch damit anstecke, was?“ Er machte eine Pause, aber Marc kam nicht zum Antworten. „Keine Sorge, vorher werden wir wahrscheinlich eh verdursten.“
    Marc blickte ihn ernst an. Rick wirkte nicht ganz bei sich, Marc war sich sogar sicher, dass er nicht ganz bei sich war: Wer tagelang wenig bis gar nichts aß und trank, der wurde so. Das wusste Marc spätestens seit dieser Reise aus eigener Erfahrung. Ihm ging es ja nicht anders. Mittlerweile wechselten sich bei ihm Übelkeit und Hunger, Durst und Erschöpfung in wilder Folge ab. Und wie er Rick so ansah, vermutete er, dass sein junger Begleiter schon einen Schritt weiter war, sich noch ein gutes Stück miserabler fühlte. Ein schlechtes Stück miserabler.
    „Nicht so negativ denken“, meinte Marc in Ermangelung besserer Erwiderungen, und er wollte das Gespräch schon beenden, als Henry sich einmischte, der bis gerade gewohnheitsmäßig am Segel ihres Boots herumgenestelt hatte.
    „Hunger und Durst werden nicht ständig besser, wenn man über sie spricht“, raunte der Alte. „Und das ist jetzt kein Lebenstipp von mir, sondern eine Anordnung als euer Kapitän. Wer was essen oder was trinken will, der soll danach fragen, aber allgemeines Gejammer hilft niemandem weiter. Oder hört ihr mich rumjammern?“
    „Willst du uns jetzt das Wort verbieten?“, entgegnete Rick, wobei sein Satz in einem kleinen Hustenfall verebbte.
    „Hör doch zu, was ich sage!“, schnarrte Henry. „Kein Rumgejammer! Wir haben alle Durst und wir wollen alle nach Hause! Ansonsten könnt ihr reden, was ihr wollt. Und nochmal: Bevor einer von euch nur auf die Idee kommt, Seewasser zu saufen … fragt nach dem Wasserschlauch.“
    „Ist da überhaupt noch was drin?“, meldete sich Marc nun wieder zu Wort.
    „Das werden wir dann ja sehen“, wiegelte Henry die Nachfrage ab. „Macht euch nicht ständig Gedanken über ungelegte Eier. Das Beste ist, wir denken von Tag zu Tag. Wenn mir irgendetwas einfällt, wie ich unsere Lage verbessern kann, dann werde ich euch das schon sagen, glaubt mir. Ich würde es dann auch einfach machen. Alles andere ist nur Gerede von irgendwelchen Luftsäcken. Wenn ihr also konstruktive Vorschläge habt …“
    Die Anspannung war greifbar. Drei schattenhafte Gestalten auf einem Fischerboot, ihre Gesichter in der Dunkelheit kaum noch erkennbar, ihre Posen von den Entbehrungen der See gezeichnet. Marc befürchtete, dass Rick ihren Kapitän nun erneut anfeinden würde, aber er sagte lange nichts, bis:
    „Ich lege mich jetzt schlafen.“
    „Ich auch“, stimmte Marc rasch zu, und damit war die Nachtruhe eingeläutet.

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    „Frische Fische! Gerade gefangen! Frische Fische!“
    Zusammen mit Alissa stand er vor der Fischerhütte und beobachtete, wie Jonah an diesem Vormittag wieder seinen Fang präsentierte. Es war immer das selbe Spielchen, und sonst war auch nicht viel los in Silden. Es war kalt und ein wenig regnerisch, aber Jonah focht das nicht an, unermüdlich pries er seine Fische und hoffte auf Abnehmer.
    Er schaute neben sich auf Alissa, sie wirkte gelangweilt, und deshalb dachte er angestrengt nach, bis er etwas fand, womit er sie ein wenig unterhalten konnte.
    „Hey“, flüsterte er ihr zu, während er sie ein bisschen vom Geschehen wegzog, über das feuchte Gras, hinter die Fischerhütte. „Wenn du willst, dann klaue ich uns einen Fisch, der blöde Jonah merkt das doch nicht.“
    „Nein danke.“
    „Wieso nicht? Er hat doch genug! Und gekauft wird bei ihm sowieso nicht so viel, das ist doch alles viel zu teuer. Da kann ich lieber einen klauen, solange er noch frisch ist, sonst ist es irgendwann zu spät und sie sind ganz vertrocknet.“
    „Es geht mir nicht ums Klauen“, antwortete Alissa. „Ich will keinen Fisch essen.“
    „Wieso willst du keinen Fisch essen?“
    „Wenn ich sie da liegen sehe, in Jonahs Stand … die armen Geschöpfe …“
    „Irgendetwas muss man essen, oder man verhungert.“
    „Tu dir keinen Zwang an, deinen Fisch zu essen, ich werde es jedenfalls nicht tun!“
    „Und was, wenn es in ganz Silden kein Brot mehr gäbe? Wenn es von deinem Leben abhinge, den Fisch zu essen?“
    Alissa schaute zu Boden, sagte nichts. Jonahs Rufe schallten immer noch zu ihnen um die Ecke. Niemand beachtete die beiden Kinder hinter der Fischerhütte.
    Sie schwiegen eine ganze Weile, aber dann sprach er Alissa noch einmal an.
    „Hör mal, ich weiß nicht, was du hast. Silden ist ein Fischerdorf. Fast alle hier haben jemanden in der Familie, der Fischer ist oder war. Und unten im Süden Myrtanas gibt es noch weitere Fischerdörfer, das weiß ich. Und auf den Weltmeeren kreuzen ganz viele Fischkutter und Handelsschiffe, vollbeladen mit Fisch. Mein Cousin Joshua hat auch schonmal auf so einem Schiff gearbeitet.“
    Alissa runzelte die Stirn, blickte ihn irritiert an. „Du hast doch gar keinen Cousin.“
    „Natürlich habe ich einen Cousin“, behauptete er etwas verärgert, aber dann wurde er auf einmal doch unsicher. Alissas Miene wurde immer besorgter.
    „Was redest du denn da?“, fragte sie ihn.
    „Ich … ich muss doch schonmal von ihm erzählt haben, mein Cousin Joshua. Er ist im Nebenberuf …“
    „Keiner deiner Eltern hatte Geschwister. Keiner deiner Großeltern hatte Geschwister. Wie willst du da einen Cousin haben?“
    „Aber Joshua ist doch mein Cousin!“
    „Du kennst doch gar keinen Joshua. Du kannst ihn noch gar nicht kennen.“
    „Was meinst du denn damit?“
    „Ich glaube, du verwechselst da was. Denk noch einmal scharf nach.“
    „Joshua …“, begann er, und dann dämmerte es ihm so langsam.
    „Joshua ist Ricks Cousin. Aber ich bin doch … “
    „Du bist nicht Rick. Wer bist du?“
    Er blickte an sich herunter, aber er konnte keinen Körper sehen.

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    Marc wurde aus dem Schlaf gerissen, vollkommen unvermittelt. Es dämmerte noch nicht, aber der Mondschein spendete Licht. Noch bevor sich Marcs Augen darauf eingestellt hatten, nahmen seine Ohren schon wahr, warum er wachgeworden war. Rick neben ihm zuckte in Krampfanfällen hin und her, schien sich übergeben zu müssen. Seine Hände waren nass, sein Mantel an Kragen und Brust feucht. Über ihm beugte sich eine Gestalt zu ihm herunter, es war Henry.
    „Verdammt, hör auf damit!“, bellte der Kapitän. „Du verlierst dadurch nur noch mehr Flüssigkeit! Du darfst nicht noch mehr Flüssigkeit verlieren, hörst du!“
    Marc schüttelte den letzten Rest Schlaf – es war eher eine Ohnmacht aus Erschöpfung gewesen – von sich ab und setzte sich auf. Er wollte helfen, aber er wusste nicht wie. Glücklicherweise beruhigte sich Rick wieder, nachdem er ein paar mal ins Meer gespuckt hatte. Es war kein richtiges Erbrechen, denn außer Speichel gab es nichts mehr, was sie hätten erbrechen können.
    „Ich … ich kann nicht mehr“, hauchte Rick. Die Krämpfe ließen langsam nach, aber Rick klang schlimm, er klang verbraucht. Er klang so, wie Marc sich selbst fühlte. Marcs eigene Hände und Finger waren irgendwie taub, und er konnte nur lose davon hochrechnen, wie Rick sich fühlen musste. Henry hingegen zeigte äußerlich nur wenig sichtbare Einbußen aufgrund von Hunger und Durst, aber es war klar, dass auch sie ihn peinigten.
    „Trink noch etwas“, sagte Henry, und Marc konnte sehen, wie er den Wasserschlauch aus der Manteltasche zückte. Rick schnappte danach, führte sich die Öffnung an den Mund, und nahm zwei, drei kräftige Schlücke. Henry ließ ihn gewähren, dann aber nahm er ihm den Schlauch ab.
    „Das reicht“, sagte er. „Zu viel, und du kotzt es nur wieder aus. Versuch jetzt zu schlafen. Wenn die Sonne wieder aufgeht, kommt der Wind. Ich spüre das.“
    Rick murmelte noch ein wenig vor sich hin, aber dann sagte er nichts mehr, legte sich wieder auf den Rücken. Er atmete noch hastig, aber langsam wurde er ruhiger.
    „Ist er …“
    „Er schläft jetzt nur wieder“, wehrte Henry ab. „Lass ihn. Ich glaube, ich muss dir nicht sagen, dass es ernst um ihn steht, aber wenn er erst einmal schläft, ist es nicht das Schlechteste.“
    „Henry, ich … ich kann auch nicht mehr“, gestand Marc. „Ich fühle mich … schon gar nicht mehr richtig da. Ich glaube, mir geht es bald so wie ihm.“
    „Angst ist ein schlechter Ratgeber“, befand Henry. „Wenn wir die Hoffnung verlieren, sind wir auch selbst verloren.“
    „Diese Sprüche stillen meinen Durst auch nicht.“
    „Dann trink!“, sagte Henry und reichte ihm den Schlauch. Sie hatten dieses Ritual schon so oft vollzogen, dass Marc kaum glauben konnte, dass der Schlauch noch Wasser enthielt. Aber es war mehr als genug für einen großen Zug. Erst, als Marc heruntergeschluckt hatte, fiel ihm etwas auf.
    „Wo hast du das Wasser her?“, fragte er.
    Henry wandte sich ab, das Mondlicht machte aus ihm einen gesichtslosen Schatten. „Wir können es uns nicht mehr leisten, einfach ins Meer zu pissen“, sagte er nur. Das Wasser um sie herum plätscherte, als wollte es sich an der Unterhaltung beteiligen.
    Marc wurde etwas flau im Magen, aber er wusste, dass Henry recht hatte.
    „Halte dich also bitte daran. Wir werden es morgen auch Rick sagen, wenn er wach ist.“
    Marc überlegte kurz, hielt es dann aber für besser, es direkt zu sagen. „Bei mir … kommt jetzt schon länger nichts mehr.“
    Henry blieb regungslos, starrte in die offene See.
    „Ich habe es mir schon gedacht.“
    Sie schwiegen eine Weile. Das Wasser plätscherte weiter. Leider kein richtiger Wellengang. Es war, als trieben sie durch einen luftleeren Raum.
    „Als du noch zur See gefahren bist … also, so richtig … musstest du das da auch machen? Deinen eigenen Urin trinken?“
    Henry lachte schnaubend auf. „Nicht nur meinen eigenen, so wie du jetzt auch. So etwas kann auf See passieren. Selten, aber es passiert. Und wenn man überleben will, dann fallen irgendwann alle Hemmungen. Ich kenne Hunger und ich kenne Durst. Als sie mir später in der Strafkolonie von Hunger und Durst erzählen wollten, konnte ich darüber nur lachen.“
    Marc dachte ein wenig über die Worte nach, aber seine Gedanken kreisten nur orientierungslos, verhedderten sich, schlugen Irrwege ein. Niemand konnte sich konzentrieren, wenn er auf hoher See im Elend feststeckte.
    „Wie lange kann ein Mensch ohne etwas zu trinken überleben?“, fragte er dann mit einem Mal.
    Henry drehte sich zu ihm um, wirkte überrascht über die Frage. Er nahm sich Zeit, bis er antwortete.
    „Wir werden es hoffentlich nicht herausfinden.“

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    John Irenicus ist offline
    Nicht ganz zwei Tage später sah es so aus, als seien sie ganz nah dran, es herauszufinden, denn dann der Punkt war gekommen, an dem sie Rick morgens nicht mehr richtig wach bekamen. Für Marc, der tatsächlich für einen Moment an bloße Verschlafenheit Ricks oder die mittlerweile bei allen nicht mehr wegzudenkende Erschöpfung geglaubt hatte, kam es tatsächlich überraschend. Denn innerhalb der zwei Tage vorher hatten Rick und er, obwohl oder vielleicht gerade weil es mit ihren Kräften immer mehr bergab und mit ihrer Verzweiflung über die andauernde Windstille immer mehr bergauf gegangen war, angefangen miteinander zu sprechen. Richtig zu sprechen, mehr als nur kurze Worte und Kommandos, die alsbald wieder in Schweigen ertränkt wurden. Sie hatten über Alltägliches gesprochen, über Marcs Arbeit, die nicht immer nur mit Steinen zu tun hatte, wie Rick erst geglaubt hatte, über passende und unpassende Lehrberufe für Rick, über Kap Morgentau und seine Bewohner. Marc hatte zwar gemerkt, dass Rick von Stunde zu Stunde schwächer und auf eine seltsame Art immer kindlicher wurde in seinen Auskünften, aber Marc hatte tatsächlich an der Hoffnung festgehalten, dass sich Ricks Zustand wieder etwas stabilisiert hatte. Es waren die Gespräche Leidender gewesen, aber immerhin waren es Gespräche gewesen und nicht mehr das andauernde Schweigen, dessen eiserner Hüter ihr Kapitän war.
    An diesem Morgen aber war alle Hoffnung Marcs mit einem Mal zunichte gemacht. Es war Henry, der Marc diese Hoffnung mit eindeutigen Blicken nahm, aber Marc konnte sich schnell selbst davon überzeugen, dass es um Rick nun mehr als kritisch stand. Seine Haut war blass wie die Wolkendecke über ihnen, hatte aber gleichzeitig einen Grünstich angenommen, den Henry auf heimlichen Seewasserkonsum Ricks zurückführte. Der junge, kranke Mann konnte nun nicht mehr aufstehen, sich nicht einmal mehr aufsetzen, sondern nur noch liegen, atmete unstet und blinzelte hilflos mit den Augen, er murmelte unverständliche Satz- und Wortfetzen vor sich hin und war nicht mehr ansprechbar. Um Rick stand es schlimm, und Marc hatte nach kurzer, fast wortloser Diskussion mit Henry einsehen müssen, dass dieser Vorgang im Prinzip nun unumkehrbar war, wenn sie nicht endlich trinkbares Wasser und feste Nahrung auftreiben konnten. Und da ihre letzten Versuche, aus dem mitgebrachten Netz Angelschnüre zu bauen, um mit den letzten paar Bröckchen Zwieback ein paar Fische anzulocken, kläglich gescheitert waren, war ihnen klar, dass dies der Morgen des entscheidenden Tags war. Für Rick, vermutlich aber für sie alle.
    Es war derselbe Morgen, an dem Henry vorschlug, Späne zu ziehen. Auf Marcs Nachfrage, was er damit meinte und was er vorhatte, hatte Henry zunächst geschwiegen, und seine ohnehin durchgehend ernste Miene war wie versteinert geworden.
    „Wenn wir beide Rick ansehen, dann sehen wir in die Zukunft, wenn du so willst“, erklärte der Kapitän. „Ich kann dir in etwa ansehen, wie es um dich steht, und glaube mir: Mir geht es nicht viel anders. Wir sind nicht so weit entfernt von ihm, wie wir es uns wünschen würden.“
    Marc wagte einen kurzen Seitenblick auf Rick, der unverändert im Delirium vor sich hin murmelte.
    „Wir haben kein Wasser mehr. Wir haben keine feste Nahrung mehr. Fische konnten wir nicht fangen. Regen gibt es nicht, ebenso wenig wie den rettenden Wind. Diese Wetterphänomene sind selten, aber ausgerechnet wir sind in so eines hineingeraten. Es kann zwar nur noch Stunden dauern, bis wir endlich wieder Wind bekommen, wahrscheinlicher ist aber, dass es noch Tage dauert.“
    Marc nickte. Das hatte er schon nach nur einer Nacht auf dem Boot befürchtet.
    „Die Chancen für Rick stehen schlecht. Nicht vollkommen aussichtslos, aber sehr schlecht. Und wenn wir weiter abwarten, dann stehen sie für uns beide genauso schlecht. Ich gebe uns noch eine Nacht und einen halben Tag, dann sind wir so weit, dass uns selbst alles Süßwasser dieser Welt nicht mehr retten könnte. Irgendwann ist der Punkt überschritten, an dem es kein Zurück mehr gibt.“
    „Komm zur Sache“, bat Marc, der einen Kloß im Hals fühlte, welcher ausnahmsweise nicht nur daher rührte, dass er gefühlte Ewigkeiten keinen Tropfen Wasser mehr zu sich genommen hatte.
    „Hier auf hoher See gilt nicht das Recht des Königs, sondern die Gebräuche der See“, fuhr Henry fort, in unangemessen feierlich anmutender Art und Weise. „Und wenn wir unser Überleben sichern wollen, dann müssen wir jetzt entscheiden.“
    „Was entscheiden?“, kam es zitterig über Marcs Lippen. Er spürte, wie ihm auf einmal heiß wurde, inmitten der winterlichen See. Er bildete es sich vermutlich nur ein.
    „Das Blut eines Menschen ist umso genießbarer, je eher man es zu sich nimmt“, referierte Henry mit unfassbar kaltem Ton. Seine Augen waren auf Marc gerichtet, schienen aber ins Leere zu starren. „Je länger man wartet, desto entkräfteter der Mensch ist, desto weniger wird man von ihm … haben können. Desto weniger kann er die anderen nähren.“
    Die schockierende Gewissheit über das, was Henry ihm vorschlug, ließ Übelkeit in Marc aufsteigen.
    „Schau mich nicht so an“, fuhr Henry fort. „Ich habe bitterlich gehofft, ja fast schon das Beten angefangen, dass es nicht dazu kommt. Ich bin der Letzte, der so etwas tun will, und wenn du mir auch sonst nichts glaubst, dann glaube mir wenigstens das. Aber es sind die Gebräuche der See. Schiffbruch, Unglücke, und auch Flaute: Wenn Seemänner auf einer Seereise in die Not kommen, zu verhungern oder zu verdursten, dann müssen sie regeln, wer von ihnen geopfert wird, damit die anderen überleben können.“
    „Du willst Rick opfern?“, platzte es aus Marc heraus. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt, obwohl seine Hände, seine Finger, seine ganzen Gelenke so sehr schmerzten, und er rief laut, obwohl seine Kehle rau war, als sei sie mit einem Messer bearbeitet worden.
    „Davon habe ich nicht gesprochen!“, knurrte Henry zurück. „Es sagt wohl mehr über dich aus, dass du sofort daran denkst.“
    Eine kurze Pause entstand. Marc hatte den Vorwurf verstanden, aber er hatte Mühe, ihn richtig einzuordnen. Die Fähigkeit zum klaren Denken war bei ihm in den letzten Tagen immer mehr verödet. Was wusste er schon, was er sagte und wollte, was er wünschte und fürchtete?
    „Auf hoher See sind alle Menschen gleich. Egal wie alt, egal wie jung, wie krank oder gesund, ob Familie oder keine, ob ehrbarer Beruf oder keiner: Auf hoher See sind alle gleich. Noch ist Rick nicht tot, auch wenn es wohl nicht mehr lange dauern wird. Für dich und viele andere Leute wäre es wohl das naheliegendste, ihn, den Schwächsten, den Todgeweihten zu opfern. Aber die Gebräuche der See sehen etwas anderes vor. Es werden Lose gezogen. Derjenige, der den Kürzesten zieht, ist derjenige, der von den anderen geopfert werden darf.“
    „Du … du würdest einen Menschen essen? Das ist … das ist Kannibalismus!“
    Henrys Augen waren unbewegt, als er weitersprach. „Es ist furchtbar, ja. Aber willst du tun, wenn dein eigenes Leben davon abhängt? Ist es nicht auch furchtbar, eine ganze Mannschaft an Hunger und Durst verrecken zu lassen? Die Rechnung ist eine einfache: Wenn wir nichts tun, werden wir alle drei sehr sicher sterben, wenn nicht noch ein Wunder geschieht. Wie gesagt, ich weiß nicht, wie es dir geht, aber mir selbst gebe ich nicht mehr so viele Tage. Wahrscheinlich nicht mehr viele Stunden. Nur ein wenig mehr als Rick. In ein paar Stunden vielleicht schon sind wir ebenfalls besinnungslos wie er, und in dem Zustand könnte es uns nicht mal mehr helfen, wenn uns die gebratenen Tauben in den Mund flögen und der Himmel all seine Schleusen für uns öffnen würde.“
    Marc starrte Henry an und fühlte sich tatsächlich bereits jetzt wie besinnungslos, angesichts der Worte, die sein Kapitän zwar mit fühlbarer Bitterkeit, aber eben doch großer Selbstverständlichkeit an ihn richtete. Das, was Henry dort erzählte, war so vollkommen außerhalb von Marcs Erleben, dass er die schiere Panik in sich hochkriechen spürte.
    „Und um vielleicht ein bisschen technischer zu werden, auch wenn es dir nicht gefällt, und mir übrigens auch nicht“, fuhr Henry fort. „Es geht nicht nur ums Essen. Es geht auch um das Blut. Wir brauchen Flüssigkeit. Mehr als die kümmerlichen Reste unserer eigenen Pisse. Sonst war es das.“
    „Aber können wir nicht einfach warten, bis Rick -“
    „Bis was?“, bellte Henry nun. „Was hast du immer mit Rick? Hast du seinen Tod etwa längst beschlossen?“
    Der Ruf hallte wie eine Anklage über das Wasser. Marc wurde von der wilden Fantasie gepackt, dass sie gerade irgendjemand hörte, dass dieser Jemand nur noch ihre Moral prüfen wollte, bevor er endlich rettend eingriff. Ein anderes Schiff, eine bewohnte Insel … es musste doch einen anderen Ausweg aus diesem Wahnsinn geben.
    „Wir sind keine Tiere. Wir werden in einem fairen Verfahren bestimmen, wer gehen muss. Und Rick wird Teil dieses fairen Verfahrens sein. Und du solltest mir zuhören: Wir können nicht mehr länger warten. Wir sind, und ich weiß nicht, wie oft ich dir das noch erklären muss, wir sind am Ende unserer Kräfte. Entweder wir handeln jetzt bald, oder wir handeln gar nicht mehr.“
    „Das ist barbarisch“, sagte Marc. Er wollte die Worte seines Kapitäns nicht an sich heranlassen. Er wusste, dass nicht richtig sein konnte, was Henry plante. Marc schaute unwillkürlich auf Rick neben sich. Er hatte das Murmeln und Stottern aufgehört, aber das gelegentliche, unruhige Atmen verriet, dass er nicht etwa schon tot war, sondern in einen Schlaf oder eine Ohnmacht gefallen war. Marc wusste nicht, wie er das unter den gegebenen Umständen fand, und er wollte es auch lieber gar nicht wissen.
    „Wenn dir das alles nicht passt“, raunte Henry, „dann kannst du dich natürlich auch direkt selbst opfern. Niemand verbietet dir das.“
    Marc dachte kurz darüber nach. Da gab es diesen Impuls. Wenn er sich selber opferte, würden die anderen beiden vielleicht leben können. Und vor allem: Er würde der Not entgehen, selber einen von ihnen verzehren zu müssen. Der Angst entgehen, selbst zum Untier zu werden.
    Aber dann war der Impuls auch schon wieder erloschen. Es ging um sein eigenes Überleben. Er wollte nicht sterben, er würde sich nicht töten lassen. Er konnte sich nicht selbst opfern. Niemand konnte das. So etwas taten nur Heldengestalten aus irgendwelchen Mythen und Sagen. Hier auf hoher See aber, das hatte Marc gemerkt, war für heroische Entschlüsse kein Platz. Nein, man konnte nicht von ihm verlangen, freiwillig zu gehen.
    „Gut“, sagte Henry dann nach einer Weile. „Oder nicht gut, wie auch immer. Wir, und damit meine ich uns alle drei, sind ohnehin längst jenseits von Gut und Böse.“ Er lachte kurz auf, aber es klang verzweifelt. „Ich werde jetzt mit einer der Äxte versuchen, drei Späne aus dem Boot herauszuhacken. Ich werde zwei von ihnen gleich lang machen und einen von ihnen kürzer als die beiden anderen. Weil Rick nicht mehr selber wird ziehen können und derjenige, die die Lose macht, nicht selber zieht, wirst du das übernehmen. Du wirst zwei Lose ziehen, das erste für dich, das zweite für mich. Das dritte, das übrig bleiben wird, ist dasjenige für Rick.“ Henry blickte Marc scharf an, sein Blick war auf einmal fokussiert, klar und schien Marc förmlich zu durchleuchten. So intensiv hatte er Henry die ganze Zeit vorher nicht erlebt. „Hast du das verstanden?“, fragte der Kapitän dann laut und deutlich und hielt dabei den Blick weiter auf Marcs Augen gerichtet, als würde er etwas in ihnen suchen.
    Marc überlegte, wälzte die Worte des Kapitäns noch einmal hin und her, so gut es in seinem eigenen wirren, entkräfteten Kopf noch ging. Er verstand. Er atmete ein paarmal tief durch, und sagte dann, ebenso laut und deutlich wie Henry: „Ja, ich habe verstanden.“
    Ihre Blicke blieben noch eine ganze Weile verbunden, bis Marc es nicht mehr aushielt und zu Boden sah.
    „Gut“, sagte Henry daraufhin. „Dann habe ich dir noch einen Vorschlag machen.“
    Marc war gespannt, auf die unangenehmste Art und Weise, die er sich nur vorstellen konnte.
    „Sollte der Fall eintreten, dass Rick das kürzeste Los bekommt … was im Übrigen nicht gesagt ist, dass es so kommt! Aber sollte es so kommen, dann biete ich dir an, noch eine Stunde zu warten, bevor wir die durch das Los gefällte Entscheidung vollstrecken. Eine Stunde, in der Rick noch eines natürlichen Todes sterben kann, damit wir uns nicht die Hände schmutzig machen müssen. Aber nur diese eine Stunde, denn mehr bin ich nicht gewillt, zu riskieren. Unser beider, nein unser aller Zustand kann sich allein binnen dieser Stunde dramatisch verschlechtern, und es ist das Äußerste, was ich zu riskieren bereit bin. Bist du damit einverstanden?“
    „Ich bin damit einverstanden“, sagte Marc nun ohne zu zögern, denn er hatte schlicht nicht mehr die Kraft, sich noch weitere Gedanken darüber zu machen, was sie planten. Henry hatte ohnehin bereits entschieden, was zählte seine eigene Meinung da noch? Er selber hatte das Geschehen doch gar nicht mehr in der Hand.
    „Dann lege ich jetzt los. Ich werde hier an der Seite ein paar Späne herausschlagen. Ich muss dich bitten, dir die Späne vor der Auslosung nicht anzuschauen, weil du das Holz sonst anhand der Farbe wiedererkennen könntest und dann weißt, welcher der Kürzere sein wird. Ich versuche, mich zu beeilen. Ich habe auch keine Lust, dich, mich und Rick warten zu lassen, glaub mir.“
    Und dann legty Henry los. Marc, der sich am liebsten an einen ganz anderen Ort, notfalls unter den Meeresboden gewünscht hätte, blickte einfach auf die See und wünschte sich, alle seine Gedanken im Salzwasser zu ertränken. Er hörte, wie Henry sich hinter ihm mit der Axt abmühte, einige Male fluchte, aber er ignorierte es. Rick, der direkt neben ihm lag und unruhig ruhte, ignorierte er auch.
    Henry war schneller fertig als erwartet. „So“, sagte er und hielt Marc mit grimmigem Gesichtsausdruck seine Hände hin, in denen er drei dünne Holzsplinte verbarg, sodass nur ihre Spitzen oben herausschauten. Zu den Füßen des Kapitäns lag ein kleines Messer, das er offenbar die ganze Zeit bei sich geführt hatte. Die Axt, mit der er das Holz aus dem Boot geschlagen hatte, hatte er bereits wieder weggelegt. „Wähle weise“, fügte er hinzu, weil Marc nichts sagte. „Denk dran: Der erste ist für dich, der zweite ist für mich, der dritte bleibt für Rick.
    Marc wurde flau im Magen.
    „Ich soll direkt jetzt … ?“
    „Wann sonst?“, fragte Henry ungerührt. „Glaub mir, es wird nicht angenehmer dadurch, dass wir es aufschieben. Für uns alle drei nicht.“
    Aber Marc wollte es aufschieben, am liebsten für immer. Er starrte auf die drei Lose, geschickt in Henrys Händen platziert, alle scheinbar gleich lang. Er, Marc, würde zwei ziehen, und damit würde er das Schicksal eines Mannes an Bord besiegeln. Seine Gedanken rasten, im Gegensatz zu Henrys ruhenden Augen: Sie strahlten eine Art Gewissheit aus, eine Gewissheit, die Marc fremd war, die er von sich abweisen wollte. Er holte ein paar Male tief Luft, hoffte, dadurch Kräfte sammeln zu können, er zählt auch innerlich runter, erst von drei, dann von fünf und schließlich von zehn auf null, aber nichts davon brachte die ersehnte Überwindung.
    „Nun mach jetzt!“, blaffte Henry. „Oder willst du uns beide auch noch in den Wahnsinn treiben?“
    Marc zitterte, seine eigene Hand verschwamm ihm vor Augen, aber er griff zu. Henry hielt die Splinte fest in seinen Händen, aber Marc gelang es, den ersten von ganz links herauszuziehen.
    „Gut“, kommentierte Henry. „Das ist deiner.“
    „Ist es … ?“, fragte Marc, wurde aber direkt von Henry unterbrochen. „Frag nicht, quatsch nicht, zieh weiter! Mittendrin aufhören is’ nich’!“
    Marcs Hand bebte nun förmlich, als er erneut zugriff. Er zog den Splint ganz links, der vormals die Mitte der drei Lose dargestellt hatte. Marc hatte nun zwei Splinte in den Händen, aber er zitterte, und vor seinen Augen verschwamm das Bild erneut, wie, als wäre er ins Wasser getaucht, in die Tiefen des Meeres, als hätte das Seewasser seine Augenhöhlen ausgewaschen. Erst nach einer Weile erkannte er, was er getan hatte.
    „Die beiden Lose sind gleich lang“, stellte Henry ohne Regung in der Stimme fest. „Für Rick bleibt nur noch das kürzeste übrig.“
    Henry deutete auf den verbliebenen Splint in seiner Faust. Er hielt sie noch immer geschlossen. Seine Augen waren kalt und grau wie altes Eis. Dann warf er das letzte Los über seine Schulter hinweg ins Meer. Das Meer war still. Totenstill.
    „Die Gebräuche der See“, sagte Henry dann. „Sie haben entschieden, fair und gerecht. In spätestens einer Stunde wird Rick sein Leben gelassen haben.“
    Marc starrte auf die beiden Holzsplitter in seinen Händen. Er hatte sich noch nie zuvor in seinem Leben so schlecht gefühlt.

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    Die folgende Stunde wurde quälend lang. Die Zeit, die ohnehin seit Tagen nur noch verlangsamt ablief, schien nun zum Stillstand gekommen zu sein, fast so wie der Wind. Marc und Henry sprachen nicht. Sie sahen sich nicht einmal an. Während der Kapitän in die graue, diesige See hinausschaute, als könnte er so den Wind finden, saß Marc auf dem Boden und starrte sich in den Schoß. Er traute sich nicht einmal mehr, sein Haupt zu heben, weil die Gefahr bestand, dass sein Blick dann Rick streifte, den Körper des jungen Mannes, der fast reglos, aber nicht lautlos neben ihm lag, ab und zu schnaufend, ab und zu leise gurgelnd. Sie hatten nicht noch einmal versucht, ihn wach zu bekommen. Sie ließen ihn nun einfach liegen. Und Marc wusste nun wirklich gar nicht mehr, was er sich eigentlich für Rick, aber auch für sich selbst wünschte. Gedanke um Gedanke kreiste, und für jeden einzelnen von ihnen schämte er sich.
    Aber auch aus anderen Gründen wurde die Stunde unerträglich lang. Die beiden hießen Hunger und Durst. Sie waren nicht neu, nun aber umso intensiver. Marc verstand erst jetzt wirklich, was Henry gemeint hatte: Sie beide standen selbst kurz vorm Kollaps. Der Hunger war aggressiv, sein Magen war kurz davor, sich selbst zu verzehren, doch noch schlimmer war der Durst, der lange kein bloßes Durstgefühl mehr war, sondern die Austrocknung des Körpers, das Schmerzen der Glieder, das Krampfen der Muskeln, das Brennen der Kehle, kleine Blutgerinnsel auf der Haut, die allgegenwärtige Benommenheit … all das und noch viel mehr fuhr jetzt mit besonderer Schärfe auf Marc hernieder, und Henry konnte es nicht anders gehen. Marc war schon vorher der Meinung gewesen, unter Hunger und Durst zu leiden, doch jetzt erst verstand er, was diese beiden Sachen wirklich bedeuten konnten. Und mehr als nur einmal stand er kurz davor, Henry vorzuschlagen, nicht mehr länger zu warten. Die Vollstreckung des Loses nicht mehr länger aufzuschieben. Aber dann wurde die Furcht vor dem, was bevorstand, zu groß. Denn so sehr er unter dem Hunger litt, die Aussicht darauf, was sie mit Rick machen würden, was er, Marc, letztlich mit Rick machen würde, war das blanke Grauen. Und doch war es unausweichlich, wenn Marc nicht den Ausweg über das Meer wählte, den Sprung ins kühle, kalte Nass, den eigenen Tod durch Ersaufen. Aber das, das konnte er auch nicht. So ging es in seinen Gedanken hin und her, bis Marc fast zerrissen wurde von Hunger und Durst auf der einen und der Angst vor dem, was kommen sollte, auf der anderen Seite.
    Und dann war die Stunde um. Marc vertraute auf Henrys Zeitgefühl, das sich während der Reise, falls man diese Katastrophe noch so nennen konnte, im Großen und Ganzen bewährt hatte. Überprüfen konnte Marc freilich längst nicht mehr, ob wirklich eine Stunde oder zwei, oder doch nur zehn Minuten vergangen waren, aber letzten Endes war es auch vollkommen ohne Bedeutung.
    Der Kapitän kam zu ihm, mit ernstem Blick, und nickte ihm zu. „Es ist soweit. Bist du bereit?“, fragte er.
    „Nein“, raunte Marc heiser. „Aber es muss wohl sein. Wie werden wir es denn … ?“
    „Du machst gar nichts“, schnitt Henry ihm das Wort ab, und er klang fast sanft dabei. „Du hast entschieden. Aber derjenige, der entscheidet, darf nicht gleichzeitig vollstrecken. Auch das gehört zu den Gebräuchen der See.“
    Marc erlaubte sich einen Hauch Erleichterung. Er währte nicht lange. Denn wer es tat, das war komplett austauschbar. Vielleicht würde es für Marc ein wenig erträglicher werden. Aber gab es überhaupt noch Abstufungen von Erträglichkeit, wenn die vollkommene Unerträglichkeit bereits erreicht war?
    Henrys Schritte waren fest und laut. Er ging langsam, aber stetig. Er nestelte in der Innentasche seines Mantels herum, sehr lange, und hielt die Hand noch immer im Innern des Kleidungsstücks verborgen, als er bei Rick angekommen war. Marc wollte nicht hinsehen, aber irgendetwas zwang ihn dazu. Der junge Mann, der dort auf dem knarrenden Holz lag, befand sich unverändert im Delirium. Ab und zu zuckte er, er atmete unregelmäßig, aber das war auch schon alles, was er noch an Bewegungen absondern konnte. Seine Augen waren halb geöffnet und halb geschlossen, und auch wenn er noch lebte, so war das Leben in ihnen doch längst nicht mehr erkennbar. In seiner ohnehin schon hellen Haut wirkte er so blass wie sonst nie, und nicht einmal seine Adern hatten noch genug Lebenskraft, um durch diese dünne Schicht hindurch zu leuchten. Selbst in seinen vormals so roten Haaren schien jegliches Feuer erloschen zu sein, sie wirkten grau, strohig wie die eines Toten. Seine Lippen waren hervorgeschoben und blau, und zwar nicht blau wie man kleinen Kindern vorgaukelte, ihre Lippen seien blau, um die unvernünftige Jugend aus der Kälte endlich wieder hinein in die warmen Stuben zu locken. Nein, sie waren wirklich blau, und hätten sie nicht im Gesicht dieses jungen Mannes geklebt, man hätte sie wohl schon nicht mehr als Lippen erkannt. Vom jungen Rick war nichts mehr übrig geblieben. Es schien, als hätte sein Körper im Angesicht des Todes sein Äußerstes versucht, um in der ihm verbleibenden Zeit noch so schnell und so viel wie möglich zu altern.
    Marc dachte über all das nach, was Rick ihm erzählt hatte, während ihrer eigentlich doch so kurzen Bekanntschaft. Er dachte darüber nach, dass Rick gar nicht hier gewesen wäre, wenn Joshua wie geplant mit auf die Reise gekommen wäre. Und ja, Marc dachte erneut darüber nach, dass er mitverantwortlich dafür war, dass Rick mitgekommen war, dachte darüber nach, dass er Ricks Angebot hätte ablehnen können, dass er die ganze Reise hätte absagen können.
    Alle diese Gedanken waren in dem Moment Vergangenheit, in dem Henry das Messer zückte. Marc schrie, machte einen Satz auf Henry zu, aber der hatte offenbar schon damit gerechnet, dass so etwas passieren würde. Ein Fußtritt beförderte Marc an den Rand des Bootes. Verdutzt versuchte Marc, sich wieder aufzurappeln, aber Henrys Messer lag bereits auf Ricks blanker Kehle. Der Kapitän sagte noch etwas, sehr leise, sodass es allerhöchstens Rick hören konnte – und denn schlitzte das Messer einmal quer über seinen Hals. Ein Schrei, ein Gurgeln. Marc, der noch einmal hatte aufspringen wollen, war nun wie erstarrt. Binnen Sekunden war es auch schon vorbei. Henry hatte Rick getötet. Sie hatten einen Menschen geschlachtet.

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    Was sich unmittelbar danach ereignete, was wirklich geschehen war, das konnte Marc nicht mehr verlässlich rekonstruieren. Seine Erinnerung war verschwommen, getrübt von einen furchtbaren Rausch, in den er gefallen war, nachdem Rick tot danieder gelegen hatte. Er wusste nicht, ob er sich wirklich so verhalten hatte, wie es sich in seiner Erinnerung anfühlte, und neben seinem bangen Herzen diktierte ihm auch sein Verstand, dass es in Wahrheit nicht so abgelaufen war, dass es vielmehr das schlechte Gewissen war, das ihm diese Bilder in den Kopf projizierte. Seiner – zweifellos verfälschten – Erinnerung nach aber hatten sie sich über ihrem grauenvollen Mahl wie Wölfe verhalten, die sich um das Meiste stritten, aufgerieben zwischen Hungerdrang und Übelkeit. Selbst wenn er diese Erinnerung relativierte, so blieb für Marc dennoch das blanke Grauen übrig, wenn er daran dachte, dass er Teile seines Mitreisenden aufgezehrt und sein Blut getrunken hatte. Marc hatte zwar gerade nur so viel zu sich genommen, wie es für sein eigenes Überleben nötig war, aber für ihn war das keine Entlastung, denn es konnte keine Rechtfertigung geben, solch eine Tat zu begehen. Es machte es umso schlimmer, dass sich die Tat im Moment des Verzehrens viel weniger furchtbar, widerwärtig und schrecklich angefühlt hatte als von Marc zuvor erwartet. Es war geradezu banal gewesen, fast alltäglich, wie das Verzehren eines Fisches auf hoher See. Für Marc war es eine einzige, schlimme Perversität, die er gar nicht aushalten wollte, aber dennoch aushielt.
    Wie es Henry dabei gegangen war, das konnte Marc nur erahnen, denn sie hatten kaum gesprochen, und wenn der Kapitän etwas gesagt hatte, dann hatte er sich in unerträglich technischer Weise zum Geschehen geäußert, hatte Anweisungen zum Schneiden gegeben, hatte geraten, das Blut jetzt schnell zu trinken, denn das in ihrem alten Wasserschlauch aufgefangene Blut würde wohl schnell eindicken und untrinkbar werden, wobei gleichzeitig aber nicht zu viel Blut getrunken werden sollte, denn das würde ein menschlicher Magen nicht vertragen. Marc hatte sich erst noch gefragt, woher Henry das alles so genau wusste, aber eigentlich wusste Marc seinerseits genug über den ehemaligen Kapitän zur See, um sich diese Frage auch selbst beantworten zu können. Marc hätte auf all dieses Wissen jedenfalls gut verzichten können.
    Mit den nicht verzehrten Überresten war Henry pragmatisch verfahren: Sie hatten den Leichnam, der einstmals Rick gewesen war, unter seinem eigenen Mantel und seiner Hose verborgen, an derjenigen Stelle des Bootes, wo auch ihre Äxte und das Netz lagen, sowie die letzte leere Zwiebackschachtel. Es war Marc ein Graus gewesen, aber Henry hatte recht: Die Reste von Rick nicht parat zu haben, wo ihr Überleben längst noch nicht gesichert war, wäre gleich die zweite Sünde in kurzer Folge gewesen. Und dennoch: Dass Henry, und schlimmer noch, auch Marc selbst, dass sie beide ihren Reisebegleiter nun wie eine Sache nach Verwertbarkeit beurteilten, wie einen Rohstoff, den es zu verarbeiten galt, das ließ in Marc mehr denn je den Wunsch aufkeimen, sich selbst über Bord zu stürzen. Aber er tat es nicht. Er blieb, aber er wusste nicht, ob das Beleg seiner Stärke oder seiner Schwäche war.
    Für Marc war klar, dass ihn das selbe Schicksal wie Rick ereilen würde, wenn es Henry nur für nötig halten sollte. Noch mehr Angst machte ihm aber, dass er umgekehrt genauso in Bezug auf Henry dachte. Marc war sich mittlerweile ziemlich sicher, dass er zwar zögern, aber nicht davon abkehren würde, mit Henry so zu verfahren wie mit Rick, sollten es die Umstände erfordern. So glaubte Marc es zumindest. Gewissheit darüber sollte er niemals bekommen. Denn am nächsten Tag hatte die Windstille ein Ende.

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    Marc hatte nicht wirklich geschlafen, er hatte inmitten schlimmster Albträume fantasiert, war grauenvollen Gestalten davongelaufen und dabei selbst zum Schlächter geworden, und erst, als das Plätschern und das Rauschen nicht mehr zu überhören war, erwachte er aus der Starre seines Halbschlafs. Die vertrockneten Augen langsam geöffnet, sah er Henry am Segel stehen, es emsig justieren, mit blutunterlaufenen Augen und aschfahler Haut, mit erschöpfter Pose, aber doch unnachgiebig und irgendwie kraftvoll. Erst dann verstand Marc, was dieser Anblick bedeutete.
    Wind!, wollte er rufen, aber seine Stimme gab nach. Er räusperte sich, versuchte es noch einmal. „Wind!“, kam es dann aus ihm heraus, gerade laut genug, dass Henry es hörte, und der Wind selbst pfiff, wie in freudiger Bestätigung.
    „Der Wind ist wieder mit uns, ganz recht“, krächzte Henry, richtete das Segel noch ein letztes Mal aus und ließ den Masten dann erst einmal wieder alleine. Er kam auf Marc zu, sah ihm nur kurz in die Augen. Offenbar reichte das, um Marcs Gedanken zu lesen.
    „Wir hätten nicht länger warten können“, raunte er ihm zu. „Und für ihn gab es ohnehin kein Zurück mehr.“
    Marc schluckte, versuchte, die Worte zu verdauen. Es gelang ihm nicht, aber es blieb ihm auch nichts anderes übrig, als die Lage so hinzunehmen. Unter diesen Umständen hatte der Wind einiges an seiner befreienden Wirkung eingebüßt, und auch der langsam aufreißende Himmel und der sich lichtende Nebel waren viel weniger hell und freundlich als sie hätten sein können. In seiner Wahrnehmung lag über ihnen, wie über allen anderen Dingen, noch immer ein grauer Schleier, und in etwa zu dieser Zeit entwickelte Marc die reale Angst, dass sich dieser Schleier nie wieder lüften würde, dass er für immer bleiben könnte. Es gab keinen Grund zum Feiern, keinen Grund sich zu freuen, und in Marcs Erleben mischten sich Zweifel, ob es überhaupt noch einen Grund gab, weiterzumachen. Gleichzeitig wusste er: Henrys Pragmatismus würde ihnen vielleicht doch noch das Leben retten, ob es Marc nun gefiel oder nicht.
    Von diesem Mittag an jedenfalls segelten sie wieder, mit guter Geschwindigkeit, frischer Wind umspielte ihr Boot und ihre Gesichter, biss zuweilen auch, wich ihnen dafür aber nicht keinen Moment mehr von der Seite – oder besser gesagt aus dem Rücken. Henry musste seine letzten Kraftreserven freigesetzt haben, er machte kaum eine Pause, war beständig mit der Kursbestimmung und dem sogenannten Kreuzen beschäftigt, um den Wind bestmöglich auszunutzen. Er tat dies den ganzen Tag und auch die ganze Nacht lang, er schlief nicht, im Gegensatz zu Marc, der zwar weiterhin und umso mehr unter den schlimmsten Albträumen litt und regelmäßig von aufblitzender Panik aus dem Schlaf gerissen wurde, zwischen diesen Momenten aber immerhin echte Ruhe fand.
    Der nächste Morgen war noch gar nicht richtig angebrochen, da wurde Marc von Henry geweckt, und es war das erste Mal, dass er den Kapitän ein bisschen aufgeregt erlebte. Die Augen des alten waren rot wie zwei grelle Lampions, die Lippen nicht mehr nur rau, sondern geradezu bröselig. Die durchwachte Nacht hatte sich förmlich in sein Gesicht gegraben, und offenbar hatte ihm der Seewind die Kehle nun endgültig aufgeraut, denn als Marc die Augen öffnete und sich aufsetzte, sagte Henry nichts, sondern wies nur mit einem krummen Finger in die Ferne. Marc musste ein paarmal blinzeln und seine Augen erst an das schwache Licht gewöhnen, aber dann sah er es auch: Land in Sicht.
    Die schneebedeckte Küste Nordmars tauchte aus dem Morgennebel in der Ferne auf. Marc wusste nicht viel über die Seefahrt, aber genug, um zu verstehen, dass Sichtweite nicht zwingend Nähe bedeutete. Gleichzeitig aber war klar, dass die Rettung, zumindest die Möglichkeit ihrer Rettung, greifbar nahe war. Nun breitete sich auch in Marc die Aufregung aus, und sie wischte die Enttäuschung darüber beiseite, dass Henry, ganz selbstverständlich und in dieser Situation auch vernünftig, nicht etwa den Wind zur Rückkehr nach Kap Morgentau genutzt hatte, sondern die offenbar viel nähere Küste Nordmars angesteuert hatte. Welches Land auch immer, Hauptsache Land. Land mit Wasser, Land mit Schnee. Doch er musste nicht einmal warten, bis er sich im verlockenden Schneeweiß der Ferne wälzen durfte, denn just in diesem Moment spürte er, wie etwas Feuchtes auf seiner Nasenspitze auftraf. Marc sah nach oben: Aus den wenigen Wolken hatte es begonnen zu schneien, einzelne Flocken segelten auf ihr Boot herab. Marc schloss die Augen und öffnete den Mund, und tatsächlich: nach einiger Zeit senkte sich eine der Flocken genau auf seine Zunge nieder. Marc fühlte die kühle Nässe, schlürfte begierig, was doch gar nicht zu schlürfen ging. Kurze Zeit später kam eine zweite Schneeflocke, eine dritte, und irgendwann landeten sie in sekundenhafter Regelmäßigkeit im Ziel. Marc dachte an ein Sprichwort aus Geldern und musste ein Grinsen unterdrücken: Als ob dir ein Engel auf die Zunge pinkelt, sagte man in seiner Heimat, wenn es um einen guten Wein oder einen Schnaps ging, aber hier traf es auch auf eine simple Schneeflocke zu. Und spätestens an diesem Morgen wusste Marc nun, warum der Winter ein Fest brauchte.

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    Der Mittag war gerade vorüber, als sie tatsächlich an der Küste Nordmars landeten. Marc war aufgeregt, begierig, aber er hielt sich pflichtbewusst zurück, bis Henry immerhin den Anker von Bord gelassen hatte. Dann aber beeilte sich auch der Kapitän, an Land zu kommen, und die ersten paar Minuten verbrachten sie damit, Schnee zu fressen, bis Henry Einhalt gebot und davor warnte, nach so einer langen Durstphase zu viel Flüssigkeit auf einmal zu sich zu nehmen, zumal, wenn es sich dabei um halb gefrorenen Schnee handelte. In der Tat bekam Marc kurz darauf Kopfschmerzen, aber das nahm er gerne in Kauf, er genoss sie sogar, denn sie ließen das Gefühl in seinen ausgezehrten Körper zurückkehren. Sein Körper musste eingeschlafen gewesen sein wie ein Arm oder ein Bein, wenn man in der Nacht ungünstig gelegen hatte, und jetzt erwachte er zum Leben, kribbelnd und piksend. Es war ein weiterer Rausch, den er durchmachte, aber diesmal ging vom Rausch nichts Übles aus.
    Marc hatte gar nicht bemerkt, wie Henry schon wieder an Bord ihres Bootes gegangen war. Er hatte das Segel herabgelassen und suchte offenbar nun nach etwas. Marc erschauderte, wie er fast im Sekundentakt erschauderte, wenn er an Rick dachte. Seine Überreste waren noch immer an Bord, Henry deckte sie gerade mit dem heruntergelassenen Segel ab. Marc schaute nicht hin. Er schaute auf die See, auf den Horizont, auf die Wolken, die gerade die Sonne verdeckten. Wind strich ihm um die Nase, Kälte kroch in seine Glieder. Er nahm die Eindrücke begierig auf. Alles, was seine Gedanken an Rick irgendwie vertreiben konnte, nahm er entgegen. Und dennoch: Sie kreisten beständig um das, was Henry und er mit Rick getan hatten.
    Marc senkte seinen Kopf, schaute in den Schnee und fühlte sich geblendet. Er glaubte, dort überall kleine schwarze Punkte zu sehen, aber das waren seine Augen, die ihm einen Streich spielten. Nordmar war eine recht einfarbige Gegend, sehr viel Weiß und ein wenig Grau, ab und zu ein bisschen Grün. Von hier konnte er nicht weit ins Landesinnere schauen, vom Ufer aus ging es relativ steil bergauf, Schneewehen türmten sich und schneebedeckte Nadelbäume versperrten die Sicht, während in der Ferne die Berge und Gletscher thronten. Hier an der Küste, an der das Wasser offenbar nie gefror, wähnte er sich am Rande einer anderen Welt.
    Es stapfte im Schnee. Henry war vom Boot zurückgekehrt und blieb neben Marc stehen. Als dieser aufschaute, sah er, wie ihm der Kapitän eine Axt hinhielt. Die andere Axt hatte er an seinem Gürtel befestigt. Marc blinzelte ein paarmal heftig, aber das Bild blieb das gleiche.
    „Nimm.“
    Marc schüttelte ungläubig den Kopf. „Du willst doch nicht ernsthaft noch einen Baum …“
    „Nun nimm schon!“
    Marc streckte seine Hand aus, sein Arm kam ihm mit einem Mal sehr schwer vor.
    „Steh erst auf. Du solltest nicht im Schnee herumsitzen. Bevor du es merkst, bist du schon ausgekühlt. Wir müssen uns jetzt umso mehr warm halten.“
    Marc tat wie ihm geheißen, unfähig, sich gegen Henrys Anweisungen zur Wehr zu setzen.
    „Und jetzt nimm.“
    Marc nahm die Holzfälleraxt entgegen und schaute noch einmal zu den hochgewachsenen Bäumen hinter sich auf. Es mussten Nordmanntannen sein. Die Bäume, wegen denen sie hier waren, wegen denen sie diese verfluchte Reise überhaupt erst unternommen hatten.
    „Wir werden jetzt erst einmal versuchen, etwas zu essen aufzutreiben. Vielleicht treffen wir auch auf Menschen, hoffentlich nicht auf Orks. Ich werde auch unseren Wasserschlauch mit Schnee füllen und nach anderen Gefäßen suchen. Wenn unser Überleben gesichert ist, dann fällen wir einen Baum und kehren so schnell es geht zurück. Der Wind scheint sich zu drehen, wir wollen ihn als Rückenwind nutzen.“
    Marc kam es unangebracht, ja vollkommen sinnlos vor, jetzt noch an die Nordmanntanne zu denken, aber vielleicht, vielleicht hatte Henry ja recht, vielleicht ging es jetzt gerade darum, der Reise noch einen Sinn zu geben, sie zu einem Ende zu bringen. Marc ging nicht so weit, zu denken, sie seien es Rick schuldig, denn sie wären ihm etwas ganz anderes schuldig gewesen. Aber wenn sie doch noch mit einem Baum zurückkamen, dann war vielleicht nicht alles umsonst gewesen.
    Ohne weitere Worte stiefelte Henry los, die schneebedeckte Anhöhe hinauf. Er hatte dabei ein paar Schwierigkeiten, verlor einmal kurz das Gleichgewicht, aber er ließ sich davon nicht beeindrucken. Marc folgte ihm bald und arbeitete sich mit ihm zusammen den Hügel hinauf, bis sie auch schon zwischen den ersten Bäumen standen. Nordmanntannen. Aber Henry blieb nicht stehen, er lotste Marc weiter ins Innere, weg von der Küste. Marc hatte kurz Angst davor, ihr Boot alleine zu lassen, aber Henry schien darauf zu vertrauen, dass es noch da sein würde, wenn sie zurückkehrten.
    Der Wind pfiff ihnen um die Ohren und trug Pulverschnee mit sich. Erneut bereuten sie das Versäumnis, keine anständigen Kopfbedeckungen auf ihre Reise mitgenommen zu haben, weil es doch so mildes Wetter gewesen war. Die unzähligen Nadelbäume boten jedenfalls kaum Schutz vor der Witterung. Immerhin trugen sie beide halbwegs gute Stiefel – auf dem teils vereisten, teils durch Baumstümpfe, Wurzeln und allerlei Erderhebungen zerklüfteten Boden war das auch bitter nötig. Es war ein anstrengender Weg, aber glücklicherweise flachte die Steigung rasch wieder ab, bis sie auf einer Ebene durch den Wald wandelten. Fast alles war weiß und grau. Der Himmel ließ nur wenig seines winterlichen Blaus durch die Wolken hindurch, und auch die Tannen versteckten ihr Grün wo es nur ging unter dem Schnee. Die Berge und Felswände konnten sie von hier nicht mehr sehen. Marc fühlte sich verloren. Gerade, als er sich fragte, woher Henry denn eigentlich wissen wollte, in welche Richtung sie gehen mussten, gab der Wald eine kleine Lichtung frei. Henry blieb abrupt stehen und bedeutete Marc mit seinem Arm, dass sie erst einmal stehen bleiben sollten. Marc hörte das Rasseln im Atem des Kapitäns. Auch er selbst war angestrengt, sein Kopfschmerz war intensiver geworden, aber das war ihm nur recht. Sein Atem gefror fast in der Luft. Erst jetzt, als sie stehengeblieben waren, bemerkte er, wie kalt Nordmar wirklich war.
    „Siehst du, da vorne, eine Lagerstelle“, raunte Henry ihm zu und wies mit einem krummen Finger auf die Lichtung. Marc hatte es natürlich auch schon gesehen. Die Überreste zweier Zelte waren deutlich zu erkennen, übrig gebliebenes Gestänge und eine Plane, die offenbar für nicht mehr verwendbar befunden und deshalb zurückgelassen worden war. Sie war ein großer, brauner Fleck inmitten der fast gänzlich weißen Umgebung.
    Sie setzten sich langsam in Bewegung, wurden aber schneller, als klar wurde, dass das Lager tatsächlich verlassen war. In der Mitte befand sich eine Feuerstelle mit halb und ganz verkohlten Holzscheiten, aber von ihnen ging keine Wärme mehr aus. Der Schnee um sie herum war platt getreten, das aber derart gründlich, dass Marc seine begrenzten Kenntnisse in der Fährtenleserei gar nicht erst zu bemühen brauchte. Allerlei Tierspuren schienen sich im Schnee zu mischen, aber für Marc war vor allem eine Frage entscheidend.
    „Orks oder Menschen?“, wandte er sich an Henry, während sie den Lagerplatz betraten.
    „Spielt keine Rolle, solange niemand da ist.“
    Sie standen nun in der Mitte der Lichtung. Es hatte wieder ein wenig zu schneien begonnen. Henry wurde aktiv.
    „Ausgerechnet jetzt“, fluchte er und zog zwei kleine Steine und eine Zunderbox aus der Innentasche seines Mantels. „Das wird es für uns nicht einfacher machen. Pass auf, ich werde versuchen, das Lagerfeuer neu zu entzünden, bevor der Schneefall die Reste endgültig durchnässt. Du siehst dich derweil im Wald um und sammelst ein wenig Holz. Für den Anfang möglichst dünnes, damit es schnell brennt. Und es sollte keines sein, was im Schnee gelegen hat, am besten brichst du ein paar Zweige von den Bäumen ab. Wenn du etwas zu essen findest, bring es auch mit. Irgendwelche Beeren, Pilze, zur Not auch irgendwelches Aas.“
    Marc nickte und blickte sich zunächst geschäftig um. Von hier aus sahen alle Wege gleich aus, weshalb er einfach irgendeine Richtung zurück in den Wald nahm. Die Axt hielt er noch immer fest umklammert, seine Fingerknöchel waren ganz weiß. Er hatte keine Handschuhe dabei, obwohl er vor der Reise an sie gedacht hatte, aber der Sturm hatte sie aus seinem Mantel geschüttelt und in die See geworfen. Zumindest glaubte Marc, dass es so gewesen war. Je mehr er darüber nachdachte, wie schrecklich unvorbereitet er auf diese Reise gegangen war, desto wahrscheinlicher schien ihm, dass er auch an die einfachsten Sachen schlicht nicht gedacht hatte.
    Der Wald hatte ihn bald verschluckt. Das leichte Fluchen Henrys – ständiger und unvermeidlicher Begleiter, wenn der Kapitän arbeitete – war bald nicht mehr zu hören. Marc versuchte, in möglichst gerader Linie in den Wald hineinzugehen, damit er später wieder zur Lichtung zurück fand.
    Nachdem er eine Weile gegangen war, fing er eher wahllos an, wie geheißen kleinere Äste von den Bäumen abzureißen, und lernte schnell, dabei dem herunterrieselnden Schnee auszuweichen. Bei all dem Knacken und Rascheln, das er dabei verursachte, zusätzlich zu seinen knirschenden Schritten im Schnee, fühlte er sich unwohl. Überhaupt fühlte er sich die ganze Zeit beobachtet, obwohl er vollkommen alleine im Wald war. Zumindest war er, soweit er das sehen konnte, das einzige Lebewesen weit und breit.
    Zur Not auch irgendwelches Aas. Die Worte Henrys hallten in seinem Kopf wieder. Marc hatte schon befürchtet, dass seine Gedanken sich, jetzt, wo er alleine war, wieder um dieses Thema drehen würden. Gerade das war es, was ihm Angst machte. Es war schlimm genug, dass sie diese Tat begangen hatten, aber noch schlimmer war es, dass er es nie wieder ungeschehen machen konnte. Es würde für ihn keine Entlastung geben. Ab jetzt würden seine Gedanken, ja würde vielleicht auch sein Leben immer um diesen einen Moment kreisen. Pausenlos, keine Minute, keine Sekunde mehr Ruhe. So musste sich auch die Hölle anfühlen, wie -
    Eine Hand auf seiner Schulter, dann in seinem Nacken. Heißer Atem, der Geruch nach Fell. Und ein wütendes Schnauben.

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    In seiner Panik hatte Marc den Weg zurück zur Lichtung nur unvollständig nachvollziehen können, aber was er sicher feststellen konnte, war, dass sie nicht in gerader Linie gegangen waren. Für Marc hieß das, dass er sich vorher bereits verlaufen haben musste, sodass er ironischerweise wahrscheinlich sogar dankbar dafür sein konnte, dass der Ork ihn zurückgeführt hatte – wenn auch gewaltsam. Die orkischen Pranken ließ seinen Nacken und seinen Unterarm schmerzen. Insgesamt aber wirkte der Ork nicht sonderlich aggressiv. Marc hatte im Moment, als er erkannt hatte, welche Gestalt ihn da ergriffen hatte, eigentlich damit gerechnet, Sekunden später eine Orkaxt im Rücken zu spüren oder eben nicht mehr zu spüren, oder in den Schnee getreten zu werden oder direkt die Kehle aufgebissen zu bekommen, aber nichts von alledem war geschehen. Stattdessen bugsierte ihn der Ork nun auf den Lagerplatz, wo bereits andere Orks versammelt waren, drei Stück, einer von ihnen in ein auffälliges rotes Gewand gekleidet. Henry stand in ihrer Mitte und wurde von ihnen in Schach gehalten. Seine Holzfälleraxt lag vor ihm auf dem Boden. Das Lagerfeuer brannte nicht, offenbar hatten sie ihn bei seinen Versuchen, es zu entzünden, überrascht.
    „Haben dich die verfluchten Hunde doch noch gefunden, was?“, krächzte Henry, als er Marc sah. Dessen Bewacher brachte ihn zu den anderen Orks, ließ ihn aber nicht zu Henry in die Mitte. Vermutlich wollten sie die beiden zur Sicherheit ein wenig getrennt voneinander halten, auch wenn Marc sich nicht vorstellen konnte, wie er und Henry mit bloßen Händen – Marcs Holzfälleraxt war im Wald liegengeblieben – gegen vier Orks ankommen sollten, von denen auch noch drei mit Äxten bewaffnet waren, so groß, dass Marc sie nicht einmal mit zwei Händen zu führen in der Lage gewesen wäre. Überhaupt traten die Orks martialisch auf: Sie trugen exotisch geschnittene Plattenrüstungen, verziert mit kriegerischen Emblemen auf den Schulterplatten, hatten ihre wuchtigen Beine und Füße in große Stiefel gesteckt und waren in den Gesichtern wild bemalt. Lediglich der Ork im roten Gewand mit den weißen Fellbesätzen kam eher gelehrt denn kriegerisch daher, und Marc schloss daraus, dass er ein Schamane sein musste. Er war sichtlich älter als seine Stammesgenossen und trug im Gesicht eine viel feinere, kunstvollere Bemalung. Eine Waffe trug er nicht. Dennoch war seine Erscheinung imposant: Gefühlt überragten alle vier der Orks Marc und Henry glatt um das Doppelte, und mit ihren Pranken hätten sie die Köpfe ihrer beiden Gefangenen wahrscheinlich auspressen können wie Weintrauben. Aber so sehr die Orks Kraft und Brutalität ausstrahlten, so sehr Marc fürchtete, nun bald von ihnen niedergestreckt zu werden, ja so fest er damit rechnete, dass er und Henry nun doch noch ihre gerechte Strafe bekommen würden – es geschah nicht. Die Einsicht kam langsam, aber sie kam: Womöglich hatten die Orks gar nicht vor, ihnen das Leben zu nehmen. Aber was dann? Sie versklaven?
    Die Orks berieten sich kurz auf ihrer rauen, grobschlächtigen Sprache. Es sprach vor allem der Schamane, und er war es dann auch, der sich in überraschend fließenden Myrtanisch an Marc und Henry wandte.
    „Ich habe ihm schon erklärt, aber ich will dir auch noch erklären“, sagte er an Marc gerichtet. Seine Stimme klang voluminös, sie passte zur Statur. Sie war naturgemäß tief und klang nach der Stimme eines alten Wesens, aber brüchig war sie nicht. Er sprach langsam, mit Bedacht, legte sich die Worte vor jedem Satz zurecht.
    „Ihr habt Glück, weil es die heilige Woche ist. So würde man in eurer Sprache sagen. Wäre das nicht so, wir töteten euch. Wir haben gesehen, wie ihr gekommen seid, mit eurem Boot. Wir haben gesehen, wie ihr unser Land betreten habt. Ihr seid mutig, mutig und dumm.“
    „Wehe, ihr habt unser Boot angerührt!“, knurrte Henry, der sich trotz seiner offenkundigen Machtlosigkeit anscheinend nicht eingeschüchtert zeigen wollte.
    Fast schon mitleidig schüttelte der Schamane den Kopf. Die dunklen Augen lugten unter seinen buschigen und schneeweißen Brauen hervor. Auch sie schienen Bedauern in sich zu tragen.
    „Wir haben nicht Hand an euer Boot gelegt, niemals, genauso wie ihr niemals Fuß auf unser Land setzten durftet“, erklärte der Ork ruhig. Die anderen Orks um sie herum schwiegen, hielten die baumstammgroßen Arme vor sich verschränkt und verstanden vermutlich nichts von dem, was gesagt wurde.
    „Wir wären dumm, wenn wir euer Boot wegnahmen. Wir wollen, dass ihr wieder verschwindet mit eurem Boot.“
    „Warum lasst ihr uns dann nicht einfach gehen?“, platzte es aus Henry heraus. Er spuckte dabei, wohl versehentlich, und traf den Schamanen. Marc spannte unwillkürlich alle Muskeln an, die ihm noch gehorchten, aber entweder, der Ork hatte es gar nicht bemerkt, oder es war ihm egal.
    „Wir werden euch gehen lassen“, sagte der Schamane unmissverständlich. „Aber ihr sollt wissen: Es ist heilige Woche, wie gesagt. Unser … wie sagt man, unser … Glaube befiehlt es. In dieser heiligen Woche, wenn der Wintermond voll steht, dürfen wir kein Blut vergießen, wenn es nicht muss, nicht unbedingt muss sein. Das heißt, ihr greift uns nicht an, wir greifen euch nicht an. Aber es heißt noch etwas anderes: Es heißt, dass wir euch nicht in den sicheren Tod schicken. Wir dürfen nicht.“
    Der Schamane wandte sich von ihnen ab und den anderen Orks zu. Er nickte und gab ein Zeichen, woraufhin die Krieger allesamt an ihre Gürtel fassten. Marc blickte Henry an, aber in dessen Augen spiegelte sich auch bloß Ratlosigkeit wider. Sie beobachteten, wie die Orks, auch der Schamane, aus großen Beuteln kleine Päckchen hervorholten, die in einem roten Stoff verschnürt waren, der vom Sehen her nur Seide sein konnte. Es war ein verblüffendes Bild, und für einen Moment kehrte in Marc die Angst zurück, dass dies alles bloß ein Schauspiel, ein schlimmer orkischer Scherz auf ihre Kosten war, den sie am Ende doch noch mit ihrem Leben bezahlen müssten.
    „Da drin, ihr findet Geschenke. Wenn ihr erstaunt seid, dann habe ich mir das schon gedacht. In der heiligen Woche ist es bei uns Glaube, dass man seinen Kameraden etwas schenken muss, aber man muss auch seinen Kameraden-nicht etwas schenken, wenn man ihnen begegnet. Es nährt die Hoffnung auf Frieden.“
    „Frieden, pah“, raunte Henry, und diesmal spuckte er ganz bewusst auf den Boden aus. „So einen Scheiß höre ich mir von euch Invasoren nicht an.“
    Wieder das mitleidige Kopfschütteln des Schamanen. „Wer Invasoren ist und wer nicht, das kannst du nicht entscheiden“, brummte er. „Jede Seite sieht es anders. Aber hier in diesem Gebiet ihr seid die Invasoren.“
    „Wir sind hier mehr oder weniger gestrandet“, erklärte Marc rasch, denn er befürchtete, dass die Stimmung nun wieder komplett kippen konnte. „Wir sind erst in einen Sturm geraten, dann in eine Windstille, und letztlich konnten wir nur hier vor Anker gehen. Wenn das alles nicht gewesen wäre …“
    Der Schamane bedeutete ihm mit erhobener Hand, still zu sein. „Du versuchst mich zu täuschen, aber du schaffst es nicht“, sagte er. „Dein Kamerad hat etwas geredet, aber auch wenn er geschwiegen hätte, wäre verräterisch gewesen, warum ihr hier seid. Du erzählst die Wahrheit halb. Die andere Halbe ist, dass ihr einen Baum fällen wollt, einen der Ur-Tschoks, wie wir sagen. Ihr habt eure Äxte dafür mitgebracht. Wir werden es euch aber nicht erlauben. Hiermit kommt ein Verbot: Ihr sollt nicht einen Baum fällen. Sie schützen uns und wir schützen gleichzeitig sie. Man fällt sie nur, wenn man muss. Wenn man ein Feuer machen muss oder ein Haus bauen will. Aber ihr fahrt nicht bis nach Nordmar um von hier Feuerholz zu holen. Ihr wollt einen Baum töten, ohne Sinn. Ihr könnt andere Bäume nehmen. Diese hier bekommt ihr nicht. Heilige Woche verbietet nicht die Verteidigung. Ich hoffe, es ist euch klar geworden, was ich sagen will.“
    Marc blickte erneut zu Henry, aber der beachtete ihn gar nicht, sondern starrte den Schamanen an, eine ganze Weile lang. Marc fürchtete schon, dass der Kapitän den offenen Konflikt suchen wollte, aber zu seiner Überraschung gab er klein bei.
    „Na gut“, knurrte er. „Ich fand das von Anfang an eine dusselige Idee, einen Baum zu holen. Mein Leben ist mir jedenfalls wichtiger als irgendeine Tanne.“
    Marc musste nicht lange überlegen, ob er überhaupt noch eine Nordmanntanne zurück nach Kap Morgentau bringen wollte oder nicht. Er wusste nicht, was er wollte, aber es war auch egal: Die Orks würden es nicht zulassen. Entweder, sie kamen ohne Tanne zurück, oder sie kamen gar nicht zurück. Da fiel die Entscheidung nicht schwer. Es versetzte Marc zwar einen Stich, dass ihre Reise damit endgültig gescheitert war, aber das war sie durch Ricks Tod ehrlicherweise ohnehin schon.
    „Wir rühren keinen Baum an“, bestätigte Marc deshalb knapp.
    Der Schamane nickte zufrieden. „Dann können wir ohne Gewalt auseinandergehen. Aber, wie gesagt, wir geben euch noch etwas mit auf eure Reise. Der Hunger ist euch ins Gesicht geschrieben und der Durst hat eure Haut blass gemacht. Wo immer euer Heim auch ist, erreichen könnt ihr es nicht, wenn ihr nicht gegen Hunger und gegen Durst mitnehmt. Es sind unsere Geschenke an euch. Bitte nehmt sie an, sie werden euch auf der Reise am Leben erhalten, ich hoffe. Und was übrig bleibt, das gebt an eure Kameraden weiter. Oder auch an Kameraden-nicht, wie wir es tun.“
    Der Schamane zog etwas aus der weiten Tasche seines Gewands hervor, das sich wenig später als großer, bräunlicher Sack aus Leinen oder einem vergleichbaren Material entpuppte. Die anderen Orks traten daraufhin vor und versenkten die in ihren Pranken zierlich aussehenden roten Päckchen in den Sack hinein. Nachdem alle Päckchen im Sack gelandet waren, schnürte der Schamane ihn behände zu und überreichte ihn an Marc und Henry. Da war er wieder, der orkische Scherz. Aber offenbar meinten sie es ernst.
    „Möget ihr gut durch den Winter kommen“, sagte der Schamane dann noch. Und lächelte.

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