"Reiter? Zu dieser Stunde? Das ist mehr als ungewöhnlich.", erklärte die Priesterin beunruhigt wodurch auch die Unruhe der Chinesin anstieg. "Und ihr seid sicher das sie sich wirklich auf uns zu reiten?"
Die Asiatin nickte mehrmals vehement und sah die Priesterin ernst an. Diese schien zu überlegen, offensichtlich von der Situation überfordert.
"Vielleicht sollte man die Bewohner vorsichtshalber alarmieren. Hat euer Glocken oder ähnliches?", erkundigte sich Yu, an die Tempel ihrer Heimat und die verschiedenen höfischen Ritualglocken denkend. Nakia schüttelte den Kopf, "Nein, keine welche besonders laut sind.", erklärte sie nachdenklich.
"Kann ich irgendwie auf das Dach, oder in das obere Stockwerk gelangen?", fragte Yu Jiao energisch, worauf die Priesterin auf einen Gang weiter hinten zeigte.
Die Chinesin wollte gerade schon losspurten, als sich plötzlich Sigurd, immer noch etwas ungelenk auf sie zu bewegte und begann Fragen zu stellen. Yu verstand aufgrund ihrer Anspannung nur die Hälfte, jedoch zumindestens seine letzte Frage. Fieberhaft suchte sie nach den richtigen Worten und plapperte das erstbeste was ihr einfiel.
"Incertus,forsitan? Eques venibunt! Mea frater ante porta templi. Tu auxilias?", erklärte sie unsicher und sah den Hünen mit großen Augen an.
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Incertus, forsitan? Eques venibunt! Mea frater ante porta templi. Tu auxilias? (lat.) Unsicher, vielleicht? Reiter kommen! Mein Bruder ist vor dem Tempeltor. Hilfst du?
Das unruhige Getrappel im Tempel riss sie aus dem Schlaf. Völlig verschlafen kämpfte sie sich auf die Beine, streckte sich erstmal ausgiebig und rieb sich die Augen.
Dann versuchte sie sich einen Überblick zu verschaffen, doch anhand des Gewusels konnte sie nicht wirklich abschätzen, was los war.
Irgendwann entdeckte sie auch Yu und Sigurd, wo die Chinesin ihm irgendwas auf diese fremde und für unverständliche Sprache sagte. Sie wirkte unsicher, schien nur irgendwas zu plappern und sah den Hünen mit großen Augen an.
"Was ist denn los?" fragte die junge Ägypterin verschlafen und sah die beiden nachdenklich an.
12.01.2019
21:33
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Sigurd – Dorf Sais, am See Mareotis – Ende März 167 n.Chr. - Nacht
Sigurd konnte die Anspannung der jungen Frau vor sich auf der Stelle sehen. Irgendetwas passiert mit ziemlicher Sicherheit…dachte sich der Jüte, während Yu Jiao offenkundig nach den richtigen Worten suchte. Reiter!, verstand Sigurd auf der Stelle und dachte an die Leute des Babylas, Haben sie uns etwa entdeckt?, sie redete weiter, wobei sie ihn für einen kurzen Moment verwirrte, Bruder? Wer ist ihr Bruder? Das meiste war aber – trotz der Nervosität der jungen Frau – halbwegs verständlich. „Intellego.“, sagte er nur, nickte ihr noch zustimmend zu, wobei er versuchte zu lächeln, um sie ein bisschen zu beruhigen, „Auxiliabo.“ Wenn sie wirklich wegen mir und Chloe hier sind, dann will ich lieber kämpfend untergehen, als wieder ein Sklave zu werden…dachte sich der Jüte und wandte sich bereits ab, selbst als die junge Ägypterin – noch völlig verschlafen – zu ihnen trat und etwas auf Griechisch fragte. Das kann Yu beantworten, dachte sich Sigurd und lies die beiden Frauen einfach stehen, zum Ausgang vor dem Tempel gehend.
Dies war das erste Mal, dass er den Ort sah, indem er Obdach gefunden hatte. Es war zwar spät, aber dank sporadischen Fackelschein und dem Mond, konnte er die eine oder andere Einzelheit erkennen: der Tempel war eindeutig auf der Spitze eines Hügels errichtet, denn die Häuser vor sich wuchsen nach oben je näher sie ihm kamen, obwohl die höchsten von ihnen bestenfalls drei Stockwerke hoch waren; sie waren an der aus Sand bestehenden Hauptstraße errichtet worden, die direkt zum Tempel hochführte und zwischen Tempel und den Häusern verlief eine Straße senkrecht zur Hauptstraße; nur ein Weg aus flachen Treppen verband diese senkrechte Straße und den Tempel, denn ansonsten wuchsen überall um den Weg herum Büsche und Bäume, ebenfalls nach oben wachsend um die Spitze des Hügels zu erreichen; die senkrechte Straße führte links in eine weitere Ansammlung an Häusern, die wie das Handwerksviertel des Ortes aussahen und in dessen Mitte ein gigantischer, alter Baum stand, während sie rechts steil nach unten führte, direkt zum See, vorbei an weiteren Häusern und eine Art Marktplatz zur seiner linken. Die Straßen waren leer, als er hinaustrat, und selbst das sporadische Fackelfeuer fand man vor allem neben den Eingängen zu den Häusern. Am Fuß der Treppe stand der kleine Mann, der mit Yu Jiao gekommen war, auf die Hauptstraße nach unten blickend. Shen…Chen…oder so, versuchte sich der Jüte zu erinnernd, während er nach unten trat, sie sagte ihr Bruder wäre hier…heißt das er ist ihr Bruder?, ohne es zu wollen richtete sich für einen kurzen Moment ein Grinsen auf seinem Gesicht ein, bevor er den Kopf schüttelte, Konzentrier dich!
Je näher er Chen kam, desto mehr konnte er wahrnehmen, worauf sein Blick lag: eine Menge an Fackeln näherte sich gerade dem Fuß des Hügels. Er konnte die Fackelträger als Reiter erkennen, selbst wenn auch nicht viel mehr als das. Als er zum kleinen Mann trat, bemerkte er zwei gespannte Dinge: auf der einen Seite etwas was so ziemlich wie eine Balliste in Handgröße aussah, auch wenn kein Modell, dass er je zu Gesicht bekommen hatte, und andererseits der Mann selbst, der nur für einen Moment den Blick von der Gruppe an Reitern abwendete, die das Dorf noch nicht erreicht hatten, um Sigurd einen Blick zuzuwerfen – man konnte nicht sagen, dass er sich darüber freute. „Chen?“, fragte der Jüte erstmal geduldig, nach seinem Namen und wartete ab, bis er ihm eine Antwort gegeben hatte. Erst hinterher verwies er auf das Schwert, dass immer noch an seinem Gürtel hing. „Plus eius habesne?“, fragte er, darauf hoffend, dass der kleine Mann den Kontext richtig deutete und die Frage bejahen würde – obwohl er im Handwerksviertel zu seiner Linken etwas ausmachen konnte, dass aussah wie der geschlossene Laden eines Schmiedes.
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Intellego. Auxiliabo. = lat. für „Ich verstehe. Ich werde helfen.“ Plus eius habesne? = lat. für „Hast du mehr davon?“
Sie kamen immer näher und je näher sie kamen, desto sicherer wurde Chen das sie nicht in friedlicher Absicht kamen. Immerhin war seine Schwester im Tempel und wenn sie sich im oberen Stockwerk verschanzte wäre sie erstmal aus der direkten Gefahr. Wenn es wirklich Räuber waren würden sie vermutlich bei Widerstand schnell die Flucht ergreifen, die Garnison des nahen Alexandria war schließlich auf der anderen Seite des Sees. Auf jedenfall wäre dies in seiner Heimat so, doch bezweifelte er das dieses Reich einfach zu schauen würde wenn jemand seine Dörfer überfiel. Ansonsten wäre es schwächer als er angenommen hatte. Plötzlich kamen Schritte aus dem Tempel näher, er schaute kurz zum Eingang. Es war nicht wie er angenommen, aber auch befürchtet hatte seine Schwester. Sondern dieser große Barbar aus dem Tempel, wie hieß er noch gleich? Sigurd, das war sein Name. Was machte er hier draußen? Chen schaute wieder in den Horizont, erneut waren die Fackeln näher gekommen. Tatsächlich erinnerte sich der Barbar auch an seine Namen und Chen bejahte diese Nachfrage. Hatte ihn seine Schwester vielleicht um Hilfe gebeten?
Die nächste Frage bestätigte seine Vermutung, denn auch wenn er nicht alles verstand so war die Geste des Mannes unmissverständlich. Er fragte nach einer Waffe, denn auch wenn er riesenhaft und muskulös war, er war dennoch unbewaffnet. Chen überlegte, sein Schwert würde er diesem Kerl natürlich nicht anvertrauen und das nicht nur weil es das Schwert der Familie war. Sein Blick fiel auf das restliche Gepäck das er neben sich abgelegt hatte und vergessen hatte Yu Jiao mitzugeben. Er griff nach unten, es war nicht mehr viel aber genau das was er suchte. Aus einer Tasche schnallte er einen Gegenstand los und nahm sie in seine rechte Hand. Es war eine Axt, der Kopf war von Schmieden aus Luoyang gefertigt worden. Eine einfache Axt, eigentlich nur dafür gedacht um Holz auf der Reise zu hacken. Aber wenn sie kräftig geschwungen wurde, würde sie auch mühelos Fleisch und Knochen durchdringen. Er musterte kurz den Hünen, er sah mehr als kräftig genug aus, also eine ideale Waffe für ihn.
"Cape!", rief er ihm zu und hielt ihm den Axtstiel entgegen. Sein Blick war immer noch ernst, aber ein schmales Lächeln umspielte seinen Mund. Viel Zeit für Freundlichkeiten würde ihnen eh nicht bleiben.
Amany war aufgewacht und erkundigte sich nach dem Geschehen, während Sigurd zum Tempeleingang lief. Yu Jiao war froh darüber und hoffte das ihr Bruder nicht so dumm war die Hilfe abzulehnen. Dann wandte sie sich der Ägypterin zu, welche immer noch einen verschlafenen Eindruck machte.
"Reiter nähern sich dem Dorf. Wir fürchten das sie böse Absichten haben. Mein Bruder ist vor dem Tempeltor und Sigurd ist los um ihn zu unterstützen. Ich will hoch zum oberen Stockwerk und ihnen von dort helfen.", erklärte Yu Jiao hektisch und schlug zur Bestätigung mit der flachen Hand auf ihren Bogen.
"Vielleicht werden wir mehr Hilfe brauchen, falls du dich dazu in der Lage fühlst. Kannst du kämpfen, Amany? Falls nicht kannst du auch mich begleiten, dann bist du aus dem direkten Kampf heraus und kannst von oben Gegenstände werfen, falls diese Reiter uns angreifen.", sagte die Chinesin und sah die Ägypterin leicht fragend an. Gleichzeitig machte sie sich aber auch bereit nach oben zu laufen, denn dort musste sie schnell hin, mit oder ohne die Ägypterin.
Der kleine Mann blickte ihn erst misstrauisch an, aber am Ende hockte er sich doch hin. Eine Tasche lag gleich neben ihn, mit allerlei Zeug, wie Sigurd feststellen konnte. Am Ende förderte Chen aber etwas zu Tage, was die Augen des Jüten strahlen ließen: eine Axt. "Cape!", erklärte der kleine Mann Sigurd und reichte sie ihm. Sigurd liebte es mit der Axt zu kämpfen, weswegen er nicht lange damit zögerte sie entgegenzunehmen. Er trat bisschen zur Seite und fing an die Axt herumzuschwingen, um ein Gefühl für sie zu bekommen. Schwerer als ich es gewohnt bin, dachte er, sich daran erinnernd, dass ein Leben in einer Zelle sicherlich nicht gut für den Muskelaufbau war, Aber an sich sehr gut ausgeglichen, er hob den Stiel so hoch, dass er sich die Klinge anschauen konnte. Ganz vorsichtig, ohne sich zu schneiden, überprüfte er die Schärfe der Waffe. Scharf genug um ein paar Köpfe abzuschlagen, dachte sich der Jüte zufrieden, wobei sein Blick kurz auf dem Metall der Waffe verblieb, das sieht nicht wie normales Eisen aus…, er beschloss den kleinen Mann ein anderes Mal darüber auszufragen.
Er warf wieder einen Blick auf den Fuß des Hügels. Die Fackeln waren nähergekommen und schienen sich gerade so, inmitten ein paar Bäume, zu sammeln. Entweder sie wollen das Dorf friedlich betreten oder sie bereiten sich gerade auf den Angriff vor, wurde Sigurd klar, bevor er einen Blick auf die Häuser warf, Die Dörfler haben verschissen…
Sigurd ließ die beiden Frauen einfach stehen und ging nach draußen. Yu erklärte ihr ziemlich hektisch die Situation. Reiter, die hierher unterwegs sind, böse Absichten. Weiter sagte sie, dass ihr Bruder draußen die Angreifer bekämpfen würde und Sigurd ihn unterstützte. Desweiteren bat die Chinesin um ihre Unterstützung.
Amany brauchte einen Moment, bis sie die ganzen Informationen verarbeitet hatte und überhaupt so richtig realisierte, was gleich geschehen würde. Unruhig blickte sie erst zu Yu und schließlich zur Heilerin.
"Nakia, bleibst du bei den Verletzten und Kranken?" fragte sie. "Ich kümmere mich um sie." antwortete sie gleich und begann damit die Verletzten und Kranken in den Tempel zu bringen.
Amany spürte die kalten Klingen an ihren Handgelenken, die sie von dem alten Mann aus dem Gefängnis erhalten hatte. Sie wusste zwar nicht, wie ihr diese Waffen im direkten Kampf helfen könnten, dennoch wollte sie die Leute hier nicht im Stich lassen. Irgendwas würde ihr schon einfallen.
Sie ging zu Yu.
"Gut, gehen wir aufs Dach." antwortete sie schließlich und folgte der Chinesin.
Chen sah zu wie der Barbar die Axt in seiner Hand wiegte und sie fachmännisch begutachtete. Offensichtlich hatte er die richtige Wahl getroffen, zumindestens wusste dieser Sigurd wie man das Ding richtig hielt. Er blickte nach unten, die Reiter schienen sich am Fuße des Hügels zu sammeln. Er sah sich um, der Fuß der Treppe war ein denkbar schlechter Ort zur Verteidigung. Er drehte sich zu Sigurd um und zeigte dann auf den Eingang zum Tempel, durch das Tor kamen höchstens zwei Männer nebeneinander hindurch. Vielleicht konnten sie es sogar schließen, jedoch würde man damit Flüchtenden jede Möglichkeit nehmen. Sofern diese es überhaupt rechtzeitig aus ihren Betten schafften. "Loci satius", sprach er und zeigte direkt auf die Schwelle des Tores. Zur Bestärkung ging er noch die Treppe hinauf und positionierte sich mit der Armbrust im Torrahmen. Von hier hatte er ein gutes Schussfeld und konnte eventuelle Angreifer leichter abwehren.
Yu Jiao nickte zustimmend und lief voraus, direkt zu einer schmalen Treppe am hinteren Ende des Tempels. Diese führte in das obere Stockwerk, aber auch auf das flache Dach des Tempels. Die beiden Frauen sahen sich um, von hier oben hatte man einen sehr guten Überblick. Man konnte direkt in den kleinen Tempelgarten sehen, aber auch über das Dorf welches momentan noch friedlich unter ihnen lag. Etwas was sich vermutlich bald ändern würde. Yu Jiao trat an den Dachrand und sah nach unten. Am Fuße des Hügels konnte man sehen wie sich die Fackeln zusammenrotteten, bald würden sie wohl die Anhöhe hochkommen. Die Chinesin sah gerade noch wie ihr Bruder und Sigurd die Treppen hinaufstiegen, vermutlich wollten sie sich in das Tor stellen. Das alle noch schliefen gefiel der jungen Frau nicht, wenn die Reiter böses im Sinne hatten, es würde kein schönes Erwachen geben. Aber Alarm schreien würde sie wohl auch einfach in ihre Arme treiben.
Sie biss sich leicht wütend in die Lippe, das war nicht Recht. Nachdenklich holte sie einen Pfeil aus ihrem Köcher. An seinem Ende war keine Spitze wie bei normalen Pfeilen, sondern eine kleine Pfeife aus Ton. Konzentriert spannte sie den Bogen und schoß den Pfeil in den Nachthimmel. Ein lautes und schrilles Pfeifen durchbrach die Stille der Nacht. Yu Jiao bezweifelte das es jemanden weckte der tief schlief, aber die Reiter würden es sicherlich hören. Vielleicht hielten sie es ja für ein Armeesignal und vermuteten eine Falle. Oder sie lenkten ihre Aufmerksamkeit auf den Tempel und nicht auf die Häuser der Bewohner von Sais. Auf jedenfall würde das Pfeifen eine Sache anzeigen.
"Yu Jiao.", erklärte Chen als das Pfeifen ertönte in Richtung von Sigurd und zeigte nach oben zum Dach des Tempels. Offensichtlich war seine Schwester in Stellung gegangen, auch wenn er vermutete das sie sich mehr dadurch erhoffte als nur ihn zu informieren. Er blickte nach unten zu den Fackeln, scheinbar hatte man es dort auch gehört. Leichte Hektik kam unten auf und plötzlich erhob sich ein Gebrüll vom Fuße des Hügels. Nach und nach setzten sich die Fackeln in Bewegung, energisch den Hügel herauf, in das Dorf Sais.
Der Tag war wieder lang geworden. Sie saß in einem Holzstuhl ohne Rückenlehne schon den ganzen Nachmittag und bislang schien diese kissenlose Folter kein Ende zu nehmen.
Als sie in Hippo Regius angekommen waren, hatten sie einen Mann namens Paulus Cornelius Articanus getroffen – ein Mitglied des Ordens wie sich herausstellte. Er war im selben Rang wie sie, ein Sectator, und gehörte zur Oberschicht von Hippo Regius. Ihm gehörte quasi die halbe Stadt, aber nicht aufgrund eigenem Verschulden: sein Vater, ebenfalls Mitglied des Ordens, hatte diese Tat vollbracht und auf diese Weise seinem Sohn den Posten im Orden zugesichert. Für Selene traf sich das gut, denn Articanus war so einfach zu lesen wie ein Buch – es dauerte nicht lange, da hatte sie alles von ihm bekommen was sie brauchte: er lieh ihr eine eigene Residenz in der Stadt für die Zeit in der sie hier war, gab ihr eine Liste von Kontakten und vor allem auch Informationen über den Ort. Wenn einer die Hälfte beherrscht, wie verzweifelt ist dann die andere Hälfte?, schlussfolgerte die junge Herrn richtig und hatte verbreiten lassen, dass sie Kapital besaß, dass sie bereit war in lohnenswerte Geschäfte zu investieren – wobei sie sich als ausländische Händlerin ausgab, die Articanus schlussendlich Konkurrenz machen wollte. Ein Umstand, der der Wahrheit entsprach, selbst wenn nicht in dem Maße wie es verbreiten ließ.
Diese Strategie hatte ihr zwei Einbruchsversuche eingehandelt – mit ihnen wurde kurzer Prozess gemacht – aber auch die aktuelle Arbeitsbelastung: seit Tagen hatte sie kaum einen Fuß vor die Tür setzen können, weil sie all die Leute empfangen musste, die sie um das notwendige Kapital baten, um ihr Geschäft zu beleben.
Sie war eher verhalten, wenn sie den Erfolg dieser Tage bedachte. Ein Teil der Bittsteller war zurecht ohne Kapital: Zu dumm, zu jung, zu alt, zu besitzlos – nichts womit sie etwas anfangen konnte, weswegen sie postwendend wieder auf der Straße gelandet waren. Ein weiterer Teil war einfach nur gierig und/oder lüstern – eine hübsche, junge und obendrein exotische Frau war mit Geld in ihre Stadt gekommen, da musste doch der feine Herr seine Rute ins Rennen werfen. Es sollte nicht verwundern, dass auch sie postwendet auf der Straße landeten, auch wenn deutlich sanfter, als sie es ihrer Meinung nach verdienten.
Diejenigen für die sich Selene interessierte, waren diejenigen die eine profitable Geschäftsidee hatten oder Rohstoffe oder Produkte besaßen, die sie nicht an den Mann bringen konnten und obendrein klug oder talentiert genug, um mit ihrem Kapital etwas anzufangen, aber zur selben Zeit nicht so ehrgeizig, dass sie eine Bedrohung für ihre oder die Geschäfte von Articanus werden konnten – da zumindest letzere Eigenschaften nicht ohne eine Unterredung in Erfahrung zu bringen waren, musste Selene also durch diese Gespräche durch. Immerhin erwartet mich ein warmes Bett am Abend, dachte sich die Römerin einen koketten Blick auf die rothaarige Dienerin werfend, die neben Gaelus mit Selene in dem Raum war, und ihr kalte Luft mit einem großen Fächer zuwedelte.
„Ich danke euch, Herrin.“, bedankte sich gerade ein Alter, der gerne Getreide an die großen Städte verkaufen wollte, aber nicht das nötige Kapital besaß, sich ein Schiff zu kaufen oder zu leihen, „Mit eurer Hilfe wird bald das Getreide des Valerius Sixtus sogar in Rom wegen seiner Qualität bekannt werden.“ Aufgrund dieser Lage war er bislang gezwungen gewesen, seinen Überschuss an die lokalen Märkte zu verscherbeln, immer unterboten durch Articanus‘ Bauern, oder er war gezwungen gewesen es direkt an Articanus‘ Bauern zu verkaufen – natürlich weit unter dem eigentlichen Wert.
Selene nickte seicht, während sie mit ihrer linken Hand der Rothaarigen zuwinkte, damit sie schneller zu wedeln anfing. „Solange am Ende dabei Profit bei rauskommt, wird mein Gatte zufrieden sein.“, erklärte sie mit der zuckersüßesten Stimme, die sie nur mit knappe Not unter den aktuellen Bedingungen zur Stande bekam, denn sie wollte als naiver Mittelsmann wirken, „Ihr werdet aber sicherlich auch jemanden brauchen, der euch zur Seite wird stehen können.“, sie schnippte mit einem Finger und ein Diener, ausgesucht und ausgebildet von Gaelus selbst, betrat den Raum, „Lasst mir euch als Zeichen der zukünftigen Zusammenarbeit einen Sekretär zur Seite stellen.“, wobei sie so naiv klang wie möglich.
Der Alte blickte den Sklaven untersuchend an. „Ich danke euch dafür, Herrin.“, lächelte er mit einem Gesicht, dass sie bereits zuvor als falsches Lächeln durchschaut hatte, „Er wird mir sicherlich gute Dienste leisten.“
„Das wird er sicherlich, ihr hab das Wort meines Gatten darauf.“, erwiderte Selene. Diesen Aspekt mochte sie an Valerius: er war schlau genug zu erahnen, warum der Sklave wirklich da war, aber ebenso klug um zu versuchen es zu verbergen – hätte er es hier nicht mit ihr zu tun gehabt, wäre er wohl damit durchgekommen. Erst diese Fähigkeiten haben ihn für sie interessant gemacht.
Er nickte ihr zu und erhob sich. „Folge mir, Diener.“, erklärte er zum Sklaven und verließ den erhitzten Raum unverzüglich, während der Sklave ihm folgte.
Selene schwang sich näher an die kühlende Luft des Fächers, kaum das er aus der Tür raus war. Ihre Atmung war lauter, als sie es gewohnt war und sie spürte den Schweiß an ihrem ganzen Körper. Sie legte ihre Stirn auf ihre freie Handfläche, weil ihr der Kopf angefangen hatte, wehzutun. „Geht es euch gut, Herrin?“, fragte Gaelus besorgt.
„Mir wird es gut gehen, wenn ich aus dieser Hitze raus bin.“, erklärte sie, ihren Kopf wieder hebend, „Und das wird erst passieren, wenn wir Afrika verlassen….also in einem Jahr? Oh verdammt, dass erste Mal, dass ich den britannischen Schnee vermisse…“
Gaelus erkannte, dass sie nur bisschen Luft rauslassen wollte. „Natürlich, Herrin.“, antwortete er pflichtschuldig, bevor er nachhakte, „Wollt ihr heute noch jemanden empfangen?“, wobei er dabei eine Papyrusrolle aufschlug, auf der alle Namen notiert waren, mitsamt Notizen zu den Ergebnissen der Unterredungen.
„Wie lang ist die Liste noch?“, fragte sie, hoffend.
„Gut zwei dutzend Namen noch.“, erklärte der kleine Mann, leicht mitleidig klingend.
Selene ächzte hörbar. „Nein, für heute ist Schluss.“, erklärte sie kurzerhand und erhob sich, „Buch mir einen Platz in den Thermen – ich brauche heute unbedingt noch eine Abkühlung.“
„Gewiss, Herrin.“, erklärte Gaelus nickend und die Papyrusrolle einwickelnd, „Wird auf der Stelle erledigt.“
Sie wies Sedia an mit ihr zu kommen und gemeinsam verließen sie den Raum. Sie gingen die Treppen des Hauses hoch, bis sie zu einer geöffneten Tür kamen, die direkt auf einen überdachten Balkon führte. Dieser war rechteckig geplant, ähnlich wie ein Raum und entsprechend groß genug um Platz für eine kleine Gesellschaft zu bieten – der Vater von Articanus hatte diesen Balkon anstatt eines Atriums verwendet. Gespannte Tücher sorgten als weitere Schutz vor der Sonne, während überall auf den Balkon Kissen ausgelegt waren, die als Sitzgelegenheit funktionierten.
Lucia saß mal wieder bei Lin Jia, mit ihr dieses fernöstliche Brettspiel spielend. Die Chinesin nannte es Yiqi und bezeichnete es als ein Spiel des Geistes: es war ein kariertes Brett, mit 19x19-Kästchen, wobei auch ein Spiel mit 13x13 oder 9x9-Kästchen als Option zur Verfügung stand; beide Spieler erhielten flache Steine, die einen schwarz, die anderen weiß und man musste sie auf den Schnittpunkten der einzelnen Kästchen des Brettes legen; Ziel war es am Ende mehr Territorium zu besitzen, als der Gegenspieler, wobei die Steine als Grenzsteine besagten Territoriums fungierten.
Es gab noch mehr Regeln, aber im Grunde war es das: sie waren so simpel und doch weitreichend, dass sie jede Partie Spiel äußerst komplex gestalteten. Es erinnerte Selene ein bisschen an Latrunculi, aber es war deutlich schwerer zu meistern, als dieses, wie sie während ihrer Partien mit der exotischen Schönheit feststellen durfte.
Selene warf ein Blick auf die beiden Spieler. Lucia trug eine gelbe Tunica für Kinder, während die Gesandte aus Seres bisschen gewagter aussah: Lin Jia trug erneut ihre Seidenkleidung, erneut in den vielen Blautönen, die sie so favorisierte, aber deutlich luftiger, als ihre bisherige Tracht. Ebenso konnte sie deutlich mehr nackte Haut erkennen, die sie bewusst versuchte mit ihrem Blick zu meiden. Aus diesem Grund warf die jungen Herrin ihren Blick schnell auf das Spielbrett, dass wegen Lucia auf 9x9 reduziert worden war – sie spielte schwarz und hatte eine gar nicht mal so schlechte Aufstellung, wie ihre Mutter feststellen musste. Vier und bereits in der Lage mir Konkurrenz zu machen, dachte sich Selene mit einem gewissen Stolz in ihren Gedanken, wobei sie aber schnell erkannte, wo die Schwächen in der Aufstellung ihrer Tochter waren. Sie lächelte und wandte sich ab, wissend wie das Spiel zu Ende gehen würde.
Ihr Blick fiel nun auf die Siedlung vor sich: Hippo Regius lag direkt an der Küste, an einer Bucht, wodurch das Meer im Osten lag, selbst wenn es nördlich der nördlichen Hügel ebenfalls zu entdecken war. Die Siedlung wurde von Ost nach West, nach oben gebaut: je weiter man sich von der Bucht entfernte, desto höher standen die Häuser. Die Residenz von Articanus, die sie persönlich ausgesucht hatte, hatte zwei Vorteile: sie lag soweit oben, dass es hier kühler war als im Tal unten; und sie lag direkt am Rand der Stadt, wodurch sie gewisse Vorteile hatte, wie beispielsweise, dass sie nur nach Osten blicken musste und die ganze Stadt sehen konnte. Hippo Regius war größer als Iol Caesarea gewesen ist, vermutlich sogar als Narbo, aber sicherlich nicht als Londinium, aber das war auch nicht weiter verwunderlich: Die Stadt war eine der drei wichtigsten Hafenstädte der Provinz Afrika und war, soviel hatte sie gehört, in den letzten Jahren stetig gewachsen – was vermutlich auch die Pest in die Siedlung gebracht hatte. Laut ihrer Informationen war die Seuche bereits abgebbt, genau diese Information hatte sie ursprünglich dazu gebracht eine Residenz am Rand der Stadt anzustreben.
Selene blickte aufs Meer hinaus. Der Himmel war ungewöhnlicherweise leicht bewölkt und am fernen Horizont konnte sie etwas ausmachen, was wie eine dunkle Wand aussah. Ein Sturm…wurde ihr bewusst, denn sie hatte von diesen Stürmen hier im Süden gehört: deutlich heftiger als zuhause, aber dafür auch seltener. Es würde ihr erster Sturm dieser Art werden, seit sie zu ihrer Handelsreise aufgebrochen war.
Sie verblieb für eine Weile an dem Geländer des Balkons und sog die Luft des Ostwindes ein. Dann nahm sie einen tiefen Atemzug und drehte sich wieder um, sich an Sedia wendend. „Sag Gaelus, dass er die Sache mit den Thermen streichen soll und hol stattdessen verdünnten Wein.“, erklärte sie, befehlend und sich deutlich besser fühlend, als noch vor kurzem, „Den kühlsten, den du finden kannst.“, sie blickte in die kleine Runde an Frauen und einem Mädchen, „Für uns alle.“, sie blickte Sedia an, „Auch dich und Gaelus.“
„Danke, Herrin.“, erklärte die Rothaarige, verneigte sich schnell und drehte sich bereits um, den Balkon verlassend.
„Der Sturm wird euch mehr abkühlen, als der Wein.“, erklärte Lin Jia und legte einen Stein, woraufhin das Mädchen frustriert aufstöhnte, „Die letzten Tage war es nur deswegen so heiß, weil eure Götter den Sturm ankündigen wollten.“
„Bis er hier ist, kann es noch eine Weile dauern.“, schätzte die junge Römerin und setzte sich auf die Kissen in die Nähe der beiden, während ihre Tochter sich zu ihr gesellte, offenkundig traurig über die Niederlage, „Ich brauche jetzt bereits eine Abkühlung.“
Die Chinesin lächelte sie nur wohlwollend an. „Ihr kommt von einem Land, dass kälter ist, als dieses hier.“, erklärte sie, in dem belehrenden Ton, den sie gerne einschlug, „Ihr werdet euch daran gewöhnen, genauso wie ich mich an eure Kälte gewöhnt habe.“
Selene erhob sich leicht, nachdem ihre Tochter sich in eine andere Gruppe von Kissen schmiss und anfing herumzutollen, die Niederlage bereits vergessend. „In eurer Heimat ist es also auch so warm?“, fragte die Römerin, interessiert klingend.
„Xu, wo ich herkomme…“, erklärte sie die Steine in ihren Körben sammelnd, „Ist es den größten Teil des Jahres so warm wie hier. Aber feuchter – deutlich feuchter. Statt Wüstenstaub und Sand, gibt es dort Wälder und Flüsse.“
Selene blickte auf die nackten Stellen des Körpers der jungen Frau: sie sah aus, als hätte sie kaum ein Moment geschwitzt. „Selbst das trockene Klima scheint euch keineswegs etwas anzuhaben.“, sprach sie ihren Gedanken laut aus, „Ich kann es kaum erwarten, dass ich mich daran gewöhnt habe.“, wobei sie bezweifelte, dass dies so schnell passieren würde.
Lin Jia kicherte, wie ein kleines Mädchen. Dies war die erste Sache gewesen, die Selene als Lüge bei der fremden Frau aus dem Osten erkannt hatte, die Worte nicht mitzählend. Seitdem hatte sie andere Hinweise in der Gestik und Mimik von Lin Jia gefunden, die ihr die Wahrheit über sie erzählten. Sie war sich aber auch ziemlich sicher, dass die Chinesin dasselbe bei ihr getan hatte: beide Frauen analysierten einander und die dazugehörige Herausforderung an einen ebenbürtigen Spieler gestoßen zu sein, war ein gewisser Spaß geworden und so etwas wie ein Insider-Witz zwischen ihnen. „Wollt ihr wieder eine Partie spielen?“, fragte Lin Jia schlussendlich die Frage, auf die Selene gewartet hatte.
Sedia kam gerade mit dem Wein wieder, mit Gaelus im Schlepptau, der die jungen Frauen interessiert anblickte. Selene erhob sich, die drückende Hitze ignorierend, und setzte sich an das andere Ende des Brettes. Bislang hatte sie stets verloren, war aber immer besser geworden – was nur zum Schluss führte, dass ihre Niederlagen eher an ihrer mangelnden Erfahrung mit dem Spiel lagen, weniger an ihrem Können. Oder auch, dass die Chinesin noch nicht ernst genug spielte – das war eines der Dinge, die Selene in Erfahrung bringen wollte. „Sicher doch.“, entgegnete sie und die beiden Frauen begannen zu spielen, während der Sturm sich ihnen näherte.
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Hippo Regius = südlich der algerischen Stadt Annaba
Yiqi = antiker Name für Gō
Latrunculi = https://de.wikipedia.org/wiki/Latrunculi
Iol Caesarea = algerisches Cherchell
Narbo = französisches Narbonne
Provinz Afrika = Africa Proconsulare
Xu = Provinz an der Ostküste Han-Chinas, siehe Karte
"Loci satius", versuchte Chen dem Jüten zu erklären, aber dieser hatte auch schon begriffen, worum es ihm gegangen war: der Eingang zum Tempel war als strategische Position besser geeignet, wenn sie es mit mehreren Zielen zu tun bekämen. Aber dafür müssen wir sie erst dazu bringen, dass sie zu uns zu kommen, überlegte Sigurd, während sie sich zum Tempeleingang bewegten, Das würde auch die Zahl derer erhöhen, die es aus diesem Angriff halbwegs unbeschadet rauskämen. Plötzlich hört er einen lauten Pfeifton. Er blickte nach oben, konnte aber nichts sehen, während sich der Klang entfernte. "Yu Jiao.", erklärte Chen das Pfeifen und verwies auf das Dach des Tempels. Sigurd riskierte einen Blick nach hinten: die kleine Frau war zwar schwer auszumachen, aber er konnte sie erkennen; sogar die Ägypterin Amany war dort. „Auxilium?“, fragte er grinsend, die beiden Frauen meinend, bevor er seinen Blick wieder den Hügel nach unten warf. Die Angreifer hatten den Pfeifton ebenfalls gehört und wurden deswegen ungewöhnlich laut, selbst für diese Distanz. Hoffentlich gibt es unter den Dörflern genügend Leute, die aus diesen Lärm rechtzeitig die richtigen Schlüsse ziehen, dachte sich Sigurd, leicht hoffend, Denn mehr als sie auf uns aufmerksam zu machen, können wir auch nicht tun, um ihnen zu helfen…
Die Meute setzte sich in Bewegung. Sie wirkten wie eine Welle aus schwarzer Dunkelheit und Feuerschein, die sich über das Dorf ergoss. Der Pfeil hatte seine Wirkung erzielt: die meisten Reiter zog es nach oben, auf den Hügel – es könnte aber auch daran liegen, dass dieses Gebäude das prominenteste des ganzen Ortes war. Wer weiß ob diese Kerle sich das Dorf nicht vorab angeschaut und überprüft haben, vermutete der Jüte, während er bemerkte, dass einige der Reiter trotzdem ausschwärmten, zum nächstbesten Haus stürmend. Dort sprangen sie aus ihren Sätteln und traten die Türen ein – lautes Geschrei war die Folge. Einige der anderen Dörfler waren ebenfalls nach draußen getreten und hatten auf der Stelle erkannt was das war – sie flohen unverzüglich zurück nach drinnen. Leider hatten sie mit ihrem Erscheinen die Aufmerksamkeit von einigen der Reiter an sich gezogen, die ansonsten zum Tempel hochgeritten wären. Die ersten Reiter hatten die senkrechte Straße vor dem Tempel fast erreicht, weswegen Sigurd einen erwartungsvollen Blick auf den Chinesen warf – er hatte keine Ahnung wie groß die Reichweite dieser Handballiste war und war neugierig genau das herauszufinden.
Ob durch das Signal oder die Gier nach Schätzen, der Großteil der Reiter kam auf den Tempel zugeritten. Ihr Verhalten gegenüber den Dorfbewohnern ließ dabei keinen Zweifel in welcher Absicht sie gekommen waren. Chen wusste das man den Bewohnern nicht helfen konnte, außer wenn sie am Tempel Widerstand leisteten. Wenn sie nicht hineinkamen würden sie vielleicht alle Kräfte benötigen. Das wäre zwar nicht gut für sie, aber zumindestens für die Dörfler. Der Chinese besah sich die näherkommenden Reiter und legte seine Armbrust an die Schulter. Konzentriert zielte er auf den vordersten Reiter, dieser war noch etwas über 100 Meter entfernt.
Chens Finger betätigte den Abzug und der Bolzen surrte hinaus in die Dunkelheit. Das Projektil schlug dumpf in den Torso des Räubers ein, durchdrang den Lederpanzer und schleuderte den Mann aus einem Sattel. Unbemannt trabte das Pferd weiter, während sein Reiter auf den sandigen Boden aufschlug. Sofort begann der Chinese seine Armbrust erneut zu spannen. Lautes Geschrei kam von den Reitern herüber, doch sie ritten unbeirrt weiter, einer der Räuber zog nun selbst seinen Bogen und zielte mit diesem in Richtung Tor. Bevor er die Sehne loslassen konnte, zischte ein Pfeil von oben herab. Dieser drang von oben zwischen Hals und Schulter ein. Langsam ließ der Reiter seinen Boden sinken, sackte zusammen und rutschte seitwärts vom Sattel. Erneut erschallte Geschrei von den Reitern und einige zeigten hinauf, zum Dach des Tempels.
"Getroffen.", murmelte Yu Jiao zufrieden als der Reiter vom Pferd glitt. Selbstverständlich wussten die Räuber jetzt das jemand auf dem Dach war. Die Chinesin hatte sich deswegen abgehockt um ein kleineres Ziel zu bieten. Konzentriert beobachtete sie die Straße und suchte nach einem neuen Ziel. Routiniert legte ihre Hand einen neuen Pfeil auf die Sehne. Yu zog die Sehne dicht an ihre Wange und ließ sie dann wieder los. Der Pfeil schoß in die Dunkelheit los und traf erneut sein Ziel, dieses Mal jedoch nur ein Pferd. Strauchelnd brach dieses zusammen, während sein Reiter durch den Staub purzelte. Plötzlich surrte ein Pfeil neben ihr vorbei, erschrocken wich sie ein wenig vom Dach zurück und sah nach hinten zu Amany. Diese hatte sich nachdem sie die Dachklappe geschlossen hatte, dicht hinter ihr positioniert.
"Das war knapp.", meinte Yu Jiao angespannt und atmete kurz stosshaft aus. "Haben wir etwas hier oben, was wir als Barrikade nutzen könnten?", fragte sie die Ägypterin und kroch dann wieder näher an den Dachrand.
Auf dem Dach angekommen, verschaffte sich Amany erstmal einen kurzen Überblick. Unten herrschte bereits ein ziemliches durcheinander, denn abgesehen von den Reitern, die wild herum ritten, wurden nun auch die Bewohner vom Geschreie und dem Lärm wach, die nun zusätzlich wie aufgescheuchte Hühner dort unten rum rannten. Panik lag in der Luft, die auch ein wenig auf Amany überging.
Sie positionierte sich hinter der Chinesin, die das erste Ziel schon vom Pferd geschossen hatte und visierte ihr nächstes an, welches sie ebenfalls mit einem Pfeil vom Pferd holte. Als plötzlich ein Pfeil an ihnen vorbei surrte und Yu zurück weichen ließ.
"Das war knapp.", gab die angespannte Chinesin von sich und atmete kurz stosshaft aus. "Haben wir etwas hier oben, was wir als Barrikade nutzen könnten?", fragte sie die Ägypterin und kroch dann wieder näher an den Dachrand.
"Nicht viel." antwortete Amany über die Schulter blickend. Entdeckte dabei nur ein paar Strohballen, ein paar Krüge und einen Tisch. In gehockter Haltung versuchte sie aus dem wenigen eine Barrikade zu bauen, aber lange aufhalten würde das niemanden.
Als sie fertig war, schlich sie zu Yu zurück und entdeckte einen Reiter, der sein Pferd vor der Treppe abbremste. Schnell griff die Ägypterin zu einem der Krüge und warf diesen dem Pferd vor die Vorderläufe. Erschrocken bäumte sich das Pferd wiehernd auf und der Reiter verlor die Kontrolle, wobei er aus dem Sattel rutschte und Sigurd und Chen vor die Füße fiel. Zufrieden grinste sie vom Dach aus runter und wollte sich gerade mit dem nächsten Krug bewaffnen, als sie im Augenwinkel beobachtete, wie sich einer der Banditen an Yu heran schlich.
"Yu." rief sie, sprang auf und rannte los. Ihre kalte Klingen an den Handgelenken spürend, ließ sie beide im Lauf hervor schnellen und sprang dem Angreifer entgegen. Die Wucht riss diesen von den Beinen und ohne weiter darüber nach zu denken, rammte Amany ihm die Klinge in den Hals. Ihre Hände zitterten, während der Mann unter ihr zu röcheln begann, bis er starb.
Amany wich zurück. Doch es war keine Zeit, weitere Reiter kletterten den Tempel hoch.
"Da kommen noch mehr..." sagte sie zu Yu und zeigte auf die Stelle, wo sie hoch kletterten.
Es war für den Ägypter ein wenig irritierend gleich 2 Leute so dicht hinter seinen eigenen Schritten zu haben. Diener zu haben - das war eine Sache die er sich für sich selbst nicht mal im Geringsten ausmalen konnte. Er wüsste nicht einmal ob er welche haben wollen würde, wenn er könnte. Vielleicht war diese Irritation auch einfach nur der Grund für sein vorheriges mulmiges Gefühl gewesen.....
"Nun, Baranis ist beileibe kein Dorf. Aber es ist wahr, mit dieser Masse an Menschen kann es sich nicht messen." entgegnete er zunächst ihren leicht amüsierten Bemerkungen. Als sie dann auf die Schattenseiten zu sprechen kam nickte er verstehend. "Ich werde versuchen euren Rat zu beherzigen." Seine Betonung lag hierbei auf versuchen. Immerhin war die Suche nach einem Mörder von grund auf gefährlich. Früher oder später würde er an jemanden geraten der zu Gewalt bereit war. Wenn er es nicht bereits war...
Er griff einmal kurz an seine Seite, sein Geldbeutel jedoch war noch da. Er war wahrscheinlich nicht voll genug um in den Augen eines versierten Diebes aufzufallen.
"Ich muss zugeben Herrin, ich bin beeindruckt." bemerkte er als sie durch die Abkürzung spazierten. Sie hatte offenbar genau die richtigen Plätze ausgesucht um den größtmöglichen Nutzen daraus zu ziehen. So wie sie sein Talent erkannt hatte und nun Nutzen aus ihm zog.
"Wenn er das hat, dann hat er mir nichts davon erzählt." wisperte Lati auf ihre nächste Frage hin und sah sich nahezu paranoid ein paar Male über die Schultern. "Ich meine er war Übersetzer....ebenso wie ich. Wer könnte ihm schon Böses wollen? Außer vielleicht er hat einen Text übersetzt der in irgendeiner Weise wichtig oder gefährlich war....und man hat ihn beseitigt damit es geheim bleibt?" rätselte er laut. "Wie auch immer......ich glaube kaum dass es ein Zufall ist. Dieser hiesige Händler......hat er mit irgendetwas besonderem gehandelt? Mit irgendwelchen exotischen Dingen? Vielleicht sogar....verbotenen?"
Wie erwartet fielen Lateef keine Auffälligkeiten an seinem Mentor ein, etwas womit Neferu schon gerechnet hatte. Seine Überlegungen glichen jedoch denen die auch Neferu durch den Kopf gingen. Was konnte jemanden an einem Übersetzer lästig fallen? Die Texte welche er übersetzte. Stellte sich nur die Frage was für Texte so wichtig sein sollten, dass jemand dafür einen Mord in Auftrag geben würde. Alte Grabinschriften? Das Geheimnis der Seidenherstellung? Es war müßig sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Der Übersetzter hatte letztendlich wohl Recht, der Mord klang überhaupt nicht nach einem Zufall.
Lateef sprach den Mord an Georgios an und brachte damit Neferu zum Nachdenken. An sich hatte der Händler mit nichts besonderem gehandelt, dass besondere war nur gewesen das er häufig an Informationen kam bevor es jeder andere Händler in Alexandria tat. Und kurz vor seinem Tod hatte er sich angeblich zurückgezogen und in seinem Haus verschanzt. So als hätte er etwas geahnt. "Hmm.", murmelte Neferu leise und machte einen nachdenklichen Gesichtsausdruck. Grübelnd legte sich ihr hübsches Gesicht in Falten, den Blick leicht in den Himmel gerichtet. Nach einem kurzen Moment der Stille wandte sie sich wieder dem Übersetzer zu.
"Mir fällt jetzt nichts besonderes ein, aber er war auch nicht unbedingt ein Geschäftspartner von mir. Erlaubt mir noch ein wenig darüber nachzudenken und eure Frage später zu beantworten. Vielleicht finde ich etwas in den Berichten des Handelskonsortium was euch hilft.", erklärte sie entschuldigend und strich sich kurz mit den Fingern durch die Locken.
"Aber jetzt während der Mittagshitze ist so eine Gasse auch eh der falsche Ort für solche Gespräche, gehen wir lieber weiter, so dass wir wieder ins Kühle kommen.", beschloss sie und setzte ihren Gang wieder fort. Lateef und Hent folgten ihr, während die Ägypterin gemächlich voranging. Ab und zu warf sie einen Blick nach oben und versuchte abzuschätzen welche Stunde es war, jedoch war dies durch die Dächer kaum möglich. Das Einzige was man sehen konnte waren Schatten von Dingen die sich auf dem Dach befanden.
So beschloss sich die Ägypterin nach drei weiteren Abzweigungen ihre Route ein wenig zu ändern. Gemütlich schlenderten die drei durch die Gassen, bis Neferus Blick auf eine Haustür fiel. Sofort machte sie einen großen Bogen um die Tür und ging auf der anderen Seite der Gasse entlang. Mit ihrer linken Hand legte sie sich ihr Tuch als einen Schleier vor den Mund, während ihre rechte Hand stumm auf die Tür deutete. Mit roter Farbe hatte jemand ein breites X auf die Tür gepinselt.
"Pest.", sagte sie mit leicht gedämpfter Stimme und beschleunigte ein wenig den Gang. Nachdem sie das Haus hinter sich gelassen hatten, nahm sie den Schleier wieder herunter.
"In letzter Zeit gab es wieder vermehrt Krankheitsfälle in der Stadt. Im Norden und Osten des Reiches soll es bedeutend schlimmer sein. Achtet also am besten auf das Aussehen der Passanten.", erklärte sie ihrem Besucher und machte dabei einen besorgten Gesichtsausdruck. Schließlich kamen sie auf einen Torbogen zwischen zwei Häusern vorbei. Neferu schob den Vorhang beiseite der die Tür verdeckte und öffnete dann diese. Hinter der geöffneten Tür lag wieder eine dicht bevölkerte Hauptstraße, voller schnatternder und geschäftig wirkender Menschen. Viel mehr interessierte die Ägypterin jedoch ein großer Obelisk welcher zentral vor ihnen stand und in verschiedene Abschnitte unterteilt war. Neferu betrachtete den Obelisk und achtete dabei auf die Position des Schatten. Dann drehte sie sich von der Sanduhr wieder zu Lateef um, welcher mit Hent ein Stück vor der Tür zur Gasse stand.
"Es ist leider schon so spät wie ich befürchtet habe. Ich müsste kurz zu einer Verabredung, jedoch denke ich das es nicht lange dauern wird. Anschließend stoße ich wieder zu euch. Hent wird euch derweil führen.", erklärte sie freundlich und schaute dann die Nubierin an. "Hent, führe den Herren Lateef zu meinem Haus und sorge dafür das ihm Erfrischungen gereicht werden.", wies sie die Sklavin an und lächelte dann höflich den Übersetzer an.
"Verzeiht erneut die abrupte Verabschiedung, bis später mein Herr.", sprach sie entschuldigend, deutete einen leichten Knicks an und verschwand dann kurz darauf in der Menschenmenge.
"Dann folgt mir bitte, dominus.", sprach Hent den Ägypter an der noch kurz der Händlerin hintergeschaut hatte. Langsam ging sie voran, der Hauptstraße folgend ebenfalls behände den Menschen ausweichend. Eine Weile blieb sie stumm, dann brach sich ihre Neugier Bahn. "Wenn ihr eine Frage erlaubt, wie lange dauert es all diese Sprachen zu erlernen? Wisst ihr, die Herrin hat Silos erlaubt mir Lesen beizubringen und ich lerne recht gut meint er. Aber ich kann mir nicht vorstellen wie man sich so viele verschiedene Sprachen merken kann.", fragte Hent und sah Lateef interessiert an.
Selene schrak auf.
Sie wusste nicht was sie geweckt hatte, aber im selben Moment hörte sie das laute Gebrüll des Donners. Sie warf einen Blick hinter sich, wo Fensterländen das Haus von der stürmischen Nacht trennten. In den Ritzen konnte sie das weiße Leuchten eines einschlagenden Blitzes sehen, bevor es wieder laut zu grollen begann. Regen trommelte gegen die Läden und der Wind blies so stark, dass es einen Heidenlärm machte. Was für ein Krach, dachte sich Selene und drehte sich wieder um, es sich bequem auf ihrem Kissen machend und sich enger an ihre Bettgefährtin schmiegend, Ich hoffe ich krieg es hin wieder einzuschlafen.
Die Antwort gab ihr der Sturm nur einen Herzschlag später: ein Blitz schlug ein, unweit ihres Zimmers und der Krach zwang ihre Augen sperrangelweit auf. Das wird nichts…dachte sich Selene und fing an sich langsam und vorsichtig aus dem Bett und der Löffelchenstellung zu schälen ohne die Rothaarige dabei zu wecken. Als sie aufgestanden war, ging sie zu einem kleinen Tisch, wo die Kerze noch stand. Sie zündete die fast vollständig weggeschmolzene Kerze an und sammelte erst hinterher ihre Kleidung vom Boden auf, um sich anzuziehen. Kaum war das geschafft, schlüpfte sie vorsichtig durch die Tür und schloss sie behutsam hinter sich. Wenn ich schon nicht schlafen kann, so kann ich mich zumindest mit etwas beschäftigen, dachte sich die junge Herrin, die in den Korridor der oberen Etage getreten war, Vielleicht werde ich ein paar der Briefe abarbeiten, die noch zu erledigen sind.
Die Kerze in der Hand ging sie vorwärts, vorbei an der Tür, wo ihre Kinder mit Gaelus schliefen, und vorbei an der Tür wo ein paar ihrer Diener schliefen. Sie bewegte sich auf die Treppen zu, bereits das Licht der Kerzen sehend, die die Wachen im Erdgeschoss benutzten. Dabei bemerkte sie, dass die Tür zum Balkon offen war und übel knarzte. Was zum…?, dachte sie sich und trat näher heran, die Tür vorsichtig wieder schließend.
Sie blieb wie angewurzelt stehen. Sie konnte den Atem der Person hinter sich spüren. Sie wagte es nicht sich umzudrehen, geschweige denn sich zu bewegen, sondern warf nur einen Blick die Treppe zur ihrer Linken runter: der Körper einer ihrer Wachen lag auf diesen, wobei sie nicht sagen konnte, ob er lebte oder tot war – er rührte sich zumindest nicht von der Stelle. Sie fing an lauter zu atmen, was ihre steigende Anspannung offenbarte.
Bevor sie auch nur darüber nachdenken konnte, was für Optionen sie hatte, wurde sie bereits herumgewirbelt und mit Gewalt gegen die Tür geworfen. Die Luft verließ für einen Moment ihre Lungen und sie hatte die Augen vor Entsetzen zusammengepresst, öffnete sie aber vorsichtig, als nichts weiteres passierte. Die Gestalt vor ihr war kaum größer als ein üblicher Mann, mit gebräunten Oberkörper und diversen Stoffen, die er als Kleidung trug. Eine tiefe Kapuze versteckte die Hälfte seines Gesichts im Schatten des Kerzenlichts, während ein dichter, schwarzer Bart den Rest verbarg.
Ein Obscurius…, wurde der Römerin auf der Stelle klar, Ein Obscurius ist hier um mich zu töten, ihre Augen weideten sich in Entsetzen, während der Mann ein bisschen nähertrat – nur um blitzschnell den Arm hochzuheben und ihn gegen Selenes Kehle drückend, sie gegen die Tür pressend. Eine Klinge fuhr aus einem Mechanismus an der unteren Seite des Armes heraus und wackelte direkt unter ihrem Kinn, nah genug um sie auf der Stelle zu töten, wenn sie die falsche Entscheidung traf. „Wo…“, fing der Mann mit stark punischen Akzent an zu sprechen, „Wo. Ist. Articanus?“
Ihre Überraschung wäre wohl auf ihrem Gesicht zu sehen gewesen, wenn die Mimik nicht so ähnlich zu dem Schrecken wäre, der sich dort immer noch abzeichnete. Er ist nicht wegen mir hier!, schoss es ihr durch den Kopf, ein Hoffnungsschimmer. Blitzschnell, mehr instinktiv als bewusst, dank jahrelangem Training, fing sie an eine Rolle zu spielen, die ihrer aktuellen wahren Gemütslage nicht unähnlich war. „Ich…ich weiß…es nicht.“, antwortete sie zu schluchzen beginnend, „Ich weiß es wirklich nicht.“, sie warf einen Blick auf eines der Zimmer im Hintergrund, offensichtlich genug, dass der Obscurius es sehen musste, „Bitte…bitte…tötet mich nicht…bitte.“
„Dies ist das Anwesen des Articanus.“, erklärte der Verborgene, offensichtlich unzufrieden mit der ersten Antwort, „Er müsste hier sein! Ist er in einem der Räume?“
Selene schüttelte so schwach wie die Klinge es zuließ ihren Kopf. „Nein, nein…“, erklärte sie mit einem Kloß im Hals, „Der Dominus ist nicht hier. Nur ich…und meine Kinder.“, sie schaffte es sogar eine Träne herauszupressen, „Bitte…bitte…lasst meine Kinder nicht ohne ihre Mutter…sie wären dann allein. Bit-“
„Wo ist Articanus?!“, fragte der Obscurius, wütend die Zähne zusammenpressend, „Seine Wachen waren hier, also warum ist er es nicht? Wer bist du? Seine Geliebte?“, und zischend fügte er hinzu, „Schützt du ihn?“
„Nur, nur…“, fing Selene an die nächste Lüge zu spinnen, „Ich bin nur…die Haushälterin. Ich soll das Haus pflegen, während der Dominus auf Reisen ist. Die Wachen…die Wachen sollen vor Dieben schützen…“
„Wo ist Aritcanus hin?“, fragte der Obscurius schnaubend, „Er sollte nicht verreist sein – die Nachricht lautete, dass er die nächsten Monate in Hippo Regius verbringen würde. Wo ist er hingefahren?“
„Ich weiß es nicht, der Herr hat mir das nicht gesagt.“, erklärte Selene schluchzend und warf wieder einen offensichtlichen Blick zu den hinteren Räumen, „Bitte tötet mich nicht. Bitte habt Erbarmen…Hab Erbarmen mit meinen Kindern…“
Der Verborgene beugte sich vor, so dass sie seine braunen Augen nun sehen konnte. Die Wut war deutlich zu sehen, aber auch, dass er gerade dabei war eine Entscheidung zu treffen. Bitte, Minerva, Herrin der Weisheit, lass ihn die Lüge nicht durchschauen, flehte Selene zur Schutzgottheit ihres Hauses, Bitte strafe ihn mit Blindheit, naiven Leichtsinn und Unvernunft, bitte…
Der Obscurius hatte eine Entscheidung getroffen, dass konnte sie seinen Augen entnehmen. Wütend drückte er sie noch einmal fest gegen die Tür und trat dann zurück, wieder in den Schatten hinein. Anfänglich konnte sie noch seine Umrisse erkennen, aber je länger Selene nach vorne starrte, desto weniger von ihm war zu erkennen. Sie wusste, dass er sie am Leben gelassen hatte, war aber trotzdem nicht in der Lage ihre Position zu verlassen – wie lange sie da so stand, starr nach vorne blickend, immer noch mit dem Schrecken im Gesicht, konnte sie hinterher nicht mehr sagen. Den Sturm jedenfalls kümmerte das nicht: ein Blitz schlug irgendwo hinter ihr ein und erleuchtete den Korridor für einen kurzen Moment durch die Ritzen der Balkontür.
Sie nahm einen tiefen Atemzug. Langsam, aber sicher, entspannte sich die Frau und versuchte ihren Körper mit regelmäßiger, normalschneller Atmung wieder zu beruhigen. Es dauerte, aber am Ende war sie in der Lage wieder Schritte nach vorne zu wagen und die Kerze so zu halten, dass sie möglichst viel vom Korridor erleuchtete. Er ist fort, war die einzige, sinnige Erkenntnis, sie blieb aber noch eine kurze Weile dort stehen, in den leeren Korridor blickend und sich über die Stelle reibend, wo die Klinge gehangen hatte.
Erst daraufhin drehte sie sich um und ging die Treppen runter. Wie sie befürchtet hatte, war die Wache auf der Treppe tot. Das Blut unter seinem Kopf war bereits getrocknet und als sie diesen untersuchte, entdeckte sie eine Einstichwunde am Hals. Diese Klinge ist wahrlich effizient, dachte sie sich und erhob sich wieder, nur um vorsichtig um die Leiche herumzugehen, das Erdgeschoss erreichend.
Der Weg führte sie in den Raum, in dem sie den gestrigen Tag verbracht hatte – drei weitere Leichen fand sie dort. Keiner schien aufgrund eines Kampfes gestorben zu sein, jeder mit einer eigenen Einstichwunde an einer kritischen Stelle des Körpers versehen. So wie es in den Schriftrollen stand: die Obscurii sind wahrlich Meister des verborgenen Tötens, erinnerte sie sich daran, was sie über diese Gemeinschaft gelesen hatte. Die Leiche der letzten Wache, die in diesem Haus war, entdeckte sie in der Küche – sein Kopf lag im Backofen.
Selene nahm einen tiefen Atemzug, während der Ärger sich in ihr ausbreitete. Sie warf einen Blick durch eines der geschlossenen Fenster der Küche, wo draußen erneut der Donner grollte. Er hatte sich die Dunkelheit und den Krach zu Nutze gemacht, um durch meine Verteidigung zu schlüpfen, fing sie an die Puzzlestücke zusammenzusetzen, Die Wachen draußen haben sich sicherlich in ihrem Häuschen versteckt, um nicht vom Sturm erwischt zu werden – vermutlich leben sie also noch, sie knurrte leise, Ein Fehler. Mein Fehler. Ich habe nicht damit gerechnet, bereits hier auf diese Leute zu treffen…ich dachte, ich würde erst in Alexandria mit ihnen zu tun haben. Ich hätte den Fehler um ein Haar mit dem Leben bezahlt, wenn der Obscurius besser informiert gewesen wäre, sie nahm einen Atemzug, Solch einen Fehler darf sich nicht wiederholen, ansonsten endet das nächste Mal doch mit meinem Tod, sie schloss die Augen für einen Moment, nur um sie entschlossen wieder zu öffnen, Beim nächsten Mal werde ich vorbereitetet sein, Obscurii…
Spoiler:(zum lesen bitte Text markieren)
Obscurius = lat. für „Verborgener“
Obscurii = Plural von Obscurius
Wow, dachte sich Sigurd, als er sah, wie der Bolzen den Reiter vom Pferd holte und ihn zu Boden brachte. Der Chinese an seiner Seite, ließ sich aber von dem Erfolg nicht beirren, sondern lud auf der Stelle nach, wie einem eintrainierten Rhythmus.
Eine Gruppe von Reitern war nun vollends auf sie aufmerksam geworden und zwang ihre Pferde in ihre Richtung. Einer versuchte seinen Bogen zu spannen, wurde aber von einem Pfeil getroffen, der vom Tempeldach geflogen kam. Ein weiterer Pfeil traf ein Pferd, wodurch dessen Reiter vom Sattel geworfen wurde. Die Kleine ist wirklich gut, dachte sich der Jüte, während Chen einen weiteren Bolzen abfeuerte und den Hals eines nahen Pferdes erwischte. Ein Reiter bremste vor der Treppe ab, woraufhin ein Krug vor dessen Pferd aufprallte – das Tier geriet in Panik und warf den Reiter ab, direkt vor Sigurd’s Nase. Er schaffte es gerade noch seinen Kopf zu heben, als Sigurd ihm die Axt ohne Zögern in den Schädel rammte – die neue Leiche sackte zusammen, während Sigurd seine Waffe herausholte. Da kommen sie, dachte sich der Jüte, denn viele der Reiter waren inzwischen abgestiegen und hatten ihre Waffen – Schwerter, Keulen, Äxte, Speere, Bögen oder was auch immer – gezogen und preschten nun die Treppe rauf, während andere sich durch die Büsche schlugen. Sigurd erlaubte dem Chinesen noch einen weiteren Schuss mit seiner Armbrust, bevor er, die Axt fester greifend, nach vorne stürmte, laut schreiend: „RAAAAAAAAAAAARRRHHHH!!!“
Die Räuber blieben für einen schreckhaften Moment stehen, als der schreiende Riese auf sie zukam und dem Ersten die Axt in die Brust bohrte. Einen Zweiten zwang er mit dem Zurückschwingen der Axt zum Wegspringen, bevor er den dritten mit seiner schieren Größe rammte und ihn von den Füßen holte. Ein weiterer Pfeil traf einen Mann, der den Jüten mit einem Speer stechen wollte, als Sigurd seine Axt kräftig schwang und einem Fünften die Waffe aus den Händen fegte – nur um ihn hinterher die Waffe in den Hals zu rammen.
Sigurd sprang zur Seite, um nicht umzingelt zu werden, als ein Krug direkt auf dem Schädel eines weiteren Räubers zerbrach. Mit einem Aufwärtsschwung traf er ein Kinn, während ein horizontaler Schwung die Gegner zwang nach hinten zu springen – einem gelang das nicht rechtzeitig und eine tiefe Wunde tauchte auf seiner Brust auf. „RARHH!!“, schrie Sigurd erneut, trat einem weiteren Gegner brutal ins Knie, bevor er mit seiner Axt dessen Wange so hart traf, dass sein Körper gegen seinen Nachbarn flog.
Schmerz durchzog den Körper des Riesen, als eine Klinge ihn am unteren Bauch streifte. Fluchend sprang er wieder weg, näher an den Tempeleingang, wo der Chinese gerade einen weiteren Gegner entsorgte. Sigurd hatte keine Zeit sich dessen Schwertkampfkunst anzuschauen, sondern behielt ihn im Rücken – nun deckte einer den anderen. Die Räuber völlig verunsichert von dem Geschehen, fingen an die Zahl der Leichen und Verletzten um sich zu bemerken – selbst am Fuß des Gebäudes lagen einige von ihnen, manche stöhnend, manche schweigend.
Sigurd fing an sich richtig gut zu fühlen, denn der Schmerz, der in letzter Zeit sein ständiger Begleiter gewesen war, war völlig verschwunden – er wusste zwar, dass er zurückkehren würde, aber das würde später ein Problem werden. Obendrein war er genau da wo er sein wollte: frei und im Kampf, für sich selbst und nicht irgendeinen verfluchten Meister. „Na, wer will noch?!“, schrie er die Räuber auf Latein laut an, wodurch sie zusammenzuckten, „Wer hat noch nicht, wer will noch mehr?! Kooooommmmmtttt!!!“, schrie er mit voller Kraft und mit einem teuflischen Grinsen auf seinem von trockenen Blut übersäten Gesicht.
"Sieh!", rief Raneb und zeigte auf das Dorf Sais vor ihnen. Aus ihm erschallte Geschrei und der Schein von Fackeln der sich durch die Straßen zog.
"Es hat schon begonnen.", bemerkte Titos nüchtern und trieb sein Pferd weiter an. Beide Pferde waren von dem schnellen Ritt erschöpft, dennoch waren sie zu spät. Die beiden Männer näherten sich eilig, aber vorsichtig den Dorf. In angemessener Entfernung stiegen sie ab und schlichen im Schatten der Nacht an das Dorf heran. Schließlich erreichten sie den Dorfrand, die Fackeln der Räuber erleuchteten die Häuser. Beide konnten mehrere Räuber erkennen, ein paar standen dort und leuchteten ihren Kameraden. Diese waren gerade damit beschäftig ein paar Dörfler zu fesseln, ein Mann lag schon bewusstlos auf dem Boden, während seine Familie, eine Frau und zwei Kinder schluchzend und weinend aus dem Haus gezerrt wurden. Einer der Räuber zog an dem Arm der Frau und drückte sie gegen die Häuserwand. Zusammen mit einem der Fackelträger, begann er an ihrem Kleid zu zerren. Sein Kamerad hielt die sich windende Frau fest und lächelte über deren Widerstand. Dann ging ein anderer Räuber dazwischen und legte ihm die Hand auf die Schulter. "Nicht jetzt.", bemerkte er trocken und zeigte auf ihre Pferde. "Später.", fügte er grinsend an und zeigte dabei die wenigen Zähne in seinem Mund.
Titos warf Raneb einen kurzen Blick zu, dieser nickte kurz. Stumm spannte er seinen Bogen, während sich Titos mit Schild und Schwert bewaffnet im Schutz der Dunkelheit an die Gruppe der vier Räuber schlich. In der Hocke wartete er ab, dann surrte ein Pfeil aus der Dunkelheit und traf einen der beiden Fackelträger. Röchelnd sank dieser zu Boden, die Fackel in den Dreck fallend lassen wo sie schwach weiterbrannte. Titos schnellte nach vorne, sich vom Boden abstoßend und rammte in der Bewegung sein Schwert dem anderen Fackelträger in den Rücken. Die zweite Fackel sank zu Boden, der Assassine drückte den leblosen Körper mit seinem Schild von sich weg. Verwirrt schrien die beiden Räuber, in die plötzliche Dunkelheit starrend, bis sie die Schemen von Titos erblickten. Dieser wich ein paar Schritte zurück, in die Dunkelheit, an welche sich die Augen der Banditen erst wieder gewöhnen mussten. Beide stolperten laut fluchend dem Ägypter hinterher, als ein zweiter Pfeil heransegelte und einen der Marodeure ebenfalls über den Styx schickte. Der andere hatte jetzt Titos ausgemacht und schwang sein Kurzschwert nach diesem. Behände wich Titos aus, ließ ihn ins Leere laufen und gab ihm dabei einen Stoß mit dem Schild mit. Strauchelnd versuchte sich der Bandit zu fangen, Titos setzte jedoch sofort nach. Ein schneller Streich mit dem Schwert durchdrang den Brustpanzer, verstärkt mit einem Fußtritt der den Räuber zu Boden schickte.
Immer noch paralysiert schaute die Frau kurz auf die beiden Männer, dann verstand sie die Situation und stürzte zu ihrem bewusstlosen Mann, die Kinder mit sich ziehend.
"Geht ins Haus.", riet ihnen Raneb, der jetzt aus dem Schatten dazutrat. Beide Männer schauten hoch zum Dorf wo scheinbar Kampflärm ertönte. "Scheint vom Tempel zu kommen.", bemerkte Raneb überrascht. Sais hatte seines Wissens keine Garnison oder anderweitig Bewaffnete. Titos blickte jetzt auch hoch zum Tempel.
"Schauen wir nach."
Chen feuerte noch einen weiteren Bolzen ab, dann stürzte sich der Hüne auf einmal wie ein wildes Tier auf die Banditen, die Axt mit Furor schwingend. Aber auch wenn es zunächst wild und ungestüm wirkte, so konnte Chen ihm eine gewisse Fertigkeit mit der Axt nicht absprechen. Kein filigraner Kampfstil, aber effektiv und mehr als bloßes Hacken. Aufgrund des herumwütenden Sigurd und der Tatsache das die Banditen schon recht nah waren, legte der Chinese jetzt seine Armbrust beiseite. Mit einer schnellen Bewegung flog die schmale Klinge aus der Scheide und zog unter der geübten Hand ein paar filigrane Kreise. Leichtfüßig schritt er über die steinernen Platten des Tempelvorhofes, das Kampfgeschehen vor sich beobachtend.
Der Riese band mit seiner Axt mehrere Gegner, auch wenn er natürlich nicht alle ausschalten konnte. Einer der Banditen, wich dessen Schlägen aus, feststellend das er es hinter dessen Verteidigung gekommen war. Sofort drehte er sich zum Tempeleingang um, jedoch hatte er anstatt des Tores plötzlich Chen vor sich. Leicht überrascht führte dieser mit seiner Keule einen ungestümen Angriff aus. Schlechte Balance, falsche Aufteilung der Kraft, Chen machte einfach einen kleinen Seitenschritt und ließ den Angriff ins Leere laufen. Während der Räuber an ihm vorbeistolperte, fuhr das Schwert durch seinen Brustpanzer hindurch, schlitzte dessen Torso vom Sternum bis zur Hüfte auf. Blut lief in dichten Strömen herunter und in der Bewegung sackte der Körper schon zusammen und rutschte noch ein Stück über die Platte.
Chen ignorierte das Fallen, sondern stürmte auf den nächsten Gegner zu. Dieser führte ein bronzenes Kopis, welches er sofort hochriss als sich die stählerne Klinge des Chinesen näherte. Dieser schlug eine schnelle Mühle, geführt von einem schnellen Streich. Hektisch wich sein Gegner nach hinten, beständig bedrängt von dem Chinesen. "Sha! Sha! Sha!", rief er mit kalter Stimme. Irgendwann endete jedoch der Rückwärtsgang seines Gegners, als dieser mit seinem Rücken an eine Säule stieß. Während dieser noch perplex war, bohrte sich schon der chinesische Stahl in seinen Bauch. Mit einer schnellen Drehung zog Chen das Schwert wieder heraus, einen dünnen Blutfilm mit sich ziehend.
Inzwischen hatte sich auch der Germane wieder zurückgezogen und stand jetzt mit dem Rücken zu Chen. Die Räuber schienen durch den Blutzoll zu zögern. Während Sigurd sie in dieser fremden Sprache beschimpfte, schaute sie Chen nur finster an und ließ herausfordernd seine Klinge kreisen. Die Räuber schauten sich fragend gegenseitig an, als hinter ihnen weitere auftauchten. Bestärkt durch die Rückendeckung sahen sie sich kurz entschlossen an und griffen dann mit Gebrüll wieder an. Chen fing einen Beilhieb mit dem Schwert ab. Mit der freien Hand schlug er dem Angreifer gegen den Hals. Keuchend taumelte dieser, worauf ihm Chen noch einen schnellen Tritt gegen die Wade verpasste. Der Bandit sackte leicht zusammen, der Chinese führte einen Streich von unten nach schräg oben. Blut spritzte ihm entgegen und ein Leichnam sackte nach hinten. Sofort folgte jemand der seinen Platz einnahm. Chen wich langsam zurück in Richtung Tor, den Germanen mit seiner Schulter in diese Richtung schiebend.
Erschrocken blickte Yu Jiao auf den Mann welcher irgendwie nach oben geklettert war und auf die Ägypterin die mit zwei Klingen voran auf ihn zusprang. Blitzschnell bohrten sich die Klingen in dessen Hals, gefolgt von einem wilden Spritzen der Schlagader. Leblos glitt der Angreifer herab von den Klingen, dumpf auf das Dach fallend. Die Chinesin betrachtete verwundert die beiden Klingen, vorhin hatte sie keine Waffen an Amany bemerkt. Doch jetzt war keine Zeit für Fragen, weitere Angreifer schienen hochzuklettern.
"Danke.", hauchte Yu kurz und spannte dann einen neuen Pfeil auf. Über den Rand stehend ließ sie den Pfeil los, wo er einen Kletterer traf. Dieser löste seinen Griff und fiel mit einem gellenden Schrei in die Tiefe. Ein weiterer Gipfelstürmer wurde von Amany mit einem Krug wieder auf den Boden geschickt.
Die Chinesin stellte sich mit beiden Beinen fest auf den Rand, legte den Pfeil ein und zog die Sehne routiniert zu ihrer Wange. Erneut sang er Bogen und als Echo ertönte erneut ein Schrei, gefolgt von einem Aufprall.
Plötzlich umklammerte jedoch eine Hand ihren rechten Fuß und versuchte sie vom Rand zu zerren. Mit dem linken Fuß trat sie vom Rand herunter, versuchte sich loszureißen. Doch die Hand umklammerte sie weiterhin wie ein Schraubstock. Während sie sich mit dem freien Fuß am Rand abstützte und zog, kam eine zweite Hand den Rand hoch, gefolgt von einem bärtigen Gesicht. Yu Jiao schnellte jetzt nach vorne und schlug ihren Bogen mit voller Kraft in das Gesicht des Räubers. Dieser schnellte zurück und sein Griff lockerte sich.
"Shaaaa!", brüllte die Asiatin entschlossen mit ihrer hellen Stimme. Sie vollführte eine Drehung auf dem freigewordenen rechten Fuß um Schwung aufzunehmen und donnerte ihr Schienenbein erneut gegen den Kopf des Angreifers. Stöhnend rutschte jetzt der Kopf wieder herab und die Finger lockerten ihren Griff und rutschten vom Rand. Ein schwacher Schrei durchbrach die Nacht, gefolgt von einem Aufschlag. Keuchend ging Yu Jiao einen Schritt vom Dachrand weg.
Offenbar dachte auch sie über die Möglichkeit nach dass diese beiden Morde in Verbindung zueinander stehen könnten. Lati ging im Kopf einige Möglichkeiten durch, in welcher Hinsicht ein Händler wie dieser Georgios und sein Meister vielleicht verbunden sein könnten. Er hatte Shahin zumindest nie jemanden mit diesem Namen erwähnen hören. Aber vielleicht bestand auch keine Verbindung und er dachte zu kompliziert.....Mord war leider eine Sache die, so hässlich sie auch war, wahrscheinlich schon seit Anbeginn der Menschheit bestand.
"Ich habe davon gehört." sagte er als Neferu ihm über den Pestbefall der Stadt erzählte. "Furchtbar. Hoffentlich finden die Heiler bald ein wirksames Mittel dagegen...."
Offenbar waren sie nun an dem Punkt angelangt, an welchem sich die Gruppe vorerst aufteilen musste. "Sehr wohl Herrin. Gehabt euch wohl und bis dann."
Er tat wie ihm von der Dienerin der Händlerin geheißen wurde und folgte dieser. Zunächst wusste offenbar keiner der beiden worüber man reden sollte. Dann jedoch fragte Hent ihn nach seinem Handwerk. "Nun, ich denke ich kann euch darüber keine allumfassende Antwort geben....jeder lernt so schnell oder langsam wie es der jeweilige Geisteszustand zulässt." Erst nachdem diese Worte seine Lippen verlassen hatte bemerkte er, dass diese sehr leicht auch herablassend wirken konnten. "Verzeiht, ich wollte nicht arrogant klingen. Ich jedenfalls habe schon sehr früh mit dem Lernen angefangen. Ich war damals erst 10 Jahre alt.....ich nehme an, ich hatte auch einen guten Lehrer. Der Beginn meiner Lehren ist jetzt 17 Jahre her und ich beherrsche neben meinen beiden Muttersprachen Latein, Arabisch und auch ein wenig Sanskrit. Und ich sehe meinen Erfahrungshorizont noch lange nicht als beendet an." Vielleicht gab ihm das eine ungefähre Idee wie viel Arbeit er bislang in sein Handwerk hatte stecken müssen. Hinzu kam noch dass er sehr früh angefangen hatte - er konnte sich vorstellen dass ein so intensives Lernen im fortgeschrittenen Alter noch schwerer sein musste.
Last edited by Forenperser; 15.01.2019 at 22:40.
16.01.2019
18:07
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Lucia Audacia Selene (Lunae Convisae Feles) – Hippo Regius – Ende März 167 n.Chr., zwei Tage später
Der Priester führte die Opferung des Stieres durch. Der Tempel der Minerva war nicht groß, aber Selene und ihre Eskorte fanden trotzdem Platz da drin.
Die junge Römerin hatte ihren Kopf im Gebet gesenkt und ihre Augen geschlossen. Geehrt seist du Minerva, Göttin der Weisheit und der Vernunft. Geehrt sollen sein dein Wissen, deine Führung und deine Erfolge. Geehrt soll sein deine Stärke, selbst in Angesicht jeglicher Gefahr, ihre Brust hob und senkte sich langsam, Hab dank für deinen schützende Hand, Herrin der weisen Entscheidungen. Habt dank für all deinen Segen, für mich und alle, die mir am Herzen liegen. Habt dank, dass ihr diese jene Nacht an meiner Seite wart und die Gefahr gebannt habt, sie legte ihre Handflächen über ihr Gesicht, Führt mich, oh Göttin des Verstehens, selbst wenn ich strauchle. Führt mich, ehrenwerte Minerva, dass sich mein Verstand öffne, sich mir neue Dinge verständlich zeigen und ich meine Fehler korrigieren kann. Führt mich, gegen jedwede Gefahr, damit ich sie mit euch an meiner Seite überwinden kann, komme was auch wolle…
Sie öffnete die Augen ganz vorsichtig, während ihre Hände sich senkten. Ihre Atmung war ruhig, entspannt, während sie auf den Opferalter schaute, wo das Blut zu erkennen war. Hinter dem Alter war eine Nische, in der die Göttin saß und auf ihre Bettenden herunterblickte. Selene blickte sie kurz an, dann senkte sie ihr Haupt in Demut. Bitte führt mich auch weiterhin, Göttin des Verstehens, so dass ich mich eurer schützenden Hand als würdig erweisen kann, bat Selene noch, bevor sie sich abwendete. Als sie den Tempel verließ, verließ ihre Eskorte ihn auch.
Hippo Regius war eine Stadt am Meer und solche Stürme gewöhnt – trotzdem erinnerte die Stadt nun an einen Matschhaufen. Das Wasser war nicht überall abgelaufen, vor allem an den erodierten Stellen des Bodens, so dass sich überall Pfützen gebildet haben – nicht das das die Einwohner in irgendeiner Weise störte. Das Leben musste weitergehen und der Sturm hatte zwei Tage und zwei Nächte gedauert – es war Zeit sich wieder an die Arbeit zu machen.
Die Eskorte der Römerin war nicht groß: vier Soldaten ihre Wache und Gisgo, der nicht von ihrer Seite wisch. Selene wanderte dieses Mal zu Fuß durch die Stadt, selbst wenn sie ihre Sandalen für Calcei eingetauscht hatte, während sie durch den Matsch ging. Sie schaute sich um und war angenehm überrascht über den Fleiß der Stadtbewohner, die sich vom Sturm nicht hatten unterkriegen lassen. Die Stellen, die der Sturm beschädigt hatte, wurden fix repariert und die meisten Geschäfte hatten bereits wieder geöffnet, um ihre Kunden um ein paar Sesterzen zu erleichtern.
Auch der Hafen war vom Sturm erwischt worden, selbst wenn der größte Schaden hatte verhindert werden können, weil man genügend Zeit hatte sich vorzubereiten. Ein Schiff soll es desto trotz führerlos aufs Meer getrieben haben, während andere beschädigt worden sind. Auch Selenes drei Schiffe hatten leichte Schäden abbekommen, aber wie Tamon es ihr versicherte, war dies normal. „Gebt mir nur drei Tage und die Schiffe werden wie neu sein.“, hatte er mal wieder angegeben, aber Selene hatte keine Probleme ihm Zeit zu geben – sie brauchte diese Zeit auch, um neue Pläne zu schmieden.
„Ich hätte da sein sollen.“, murrte Gisgo, nicht zum ersten Mal, „Ich bin eurer Leibwächter und ich hätte in dieser Nacht da sein sollen, anstatt…“, er schüttelte verärgert den Kopf.
Selen fühlte sich für einen Moment leicht benebelt, aber es verging schnell. „Du warst in meinem Auftrag unterwegs.“, erklärte Selene sanfter und geduldiger als sie es gewohnt war, denn dieses Gespräch führte sie nicht das Erste Mal seit sie dem Hauch des Todes entronnen war, „Es war nicht dein Fehler – es war meiner. Ich war hochnäsig und eitel. Ich habe die Gefahr unterschätzt in der ich schwebe seit ich diesen Ring trage.“, sie blickte auf den silbernen Ring hinunter, der an ihrer rechten Hand lag – sie hielt diese Hand öfter mal in ihrer palla versteckt, „Minerva sei Dank, dass ich ihn nicht an jenem Abend getragen habe – das wäre der eine Fehler zu viel gewesen, der mein Leben beendet hätte.“
„Herrin ich…“, Gisgo wollte es mal wieder abstreiten.
Sie blieb stehen und drehte sich zu ihm, so dass er es ihr gleichtun musste. „Glaubst du, du hättest einen Unterschied gemacht?“, fragte sie ganz ernst klingend.
Der Punier überlegte kurz. „Ich hätte den Attentäter gehört und dann…“, wollte er selbstbewusst beginnen, aber Selene schüttelte bereits ihren Kopf.
„Nein das hättest du nicht.“, erklärte sie ohne jeglichen Zweifel in ihrer Stimme, „Diese Fünf – Publius, Gnaeus, Nomanus, Uticus und Tanus – ich habe sie höchstpersönlich ausgesucht, als ich diese Handelsreise geplant habe. Jeder von ihnen war kompetent und zuverlässig – zuverlässig genug, dass ich ihnen mein und das Leben meiner Kinder anvertraut habe. Sie haben mehr als einmal bewiesen, dass sie selbst in der Nacht verlässlich waren. Und doch wurden sie getötet, einer nach dem anderen und sahen ihren Gegner nicht einmal kommen.“, sie schüttelte erneut ihren Kopf, „Nein, Gisgo. In einem Kampf, Auge um Auge, wärst du ihm vielleicht überlegen, aber die Obscurii sind nicht so edel – sie erstechen dich im Schlaf oder wenn du strauchelst. Sie sind Geschöpfe der Nacht und des Verborgenen, Diener der Tenebrae. Für so einen Gegner bist selbst du nicht vorbereitet.“
Gisgo knirschte mit den Zähnen. „Und was soll stattdessen geschehen?“, fragte er, offenkundig wütend, „Soll nichts getan werden?“
„Natürlich nicht.“, erklärte Selene und ging weiter, so dass die Männer ihr folgen mussten, „Aber übereilte Handlungen bringen uns nicht weiter. Was ich zuerst benötige, ist Wissen.“, sie warf ihm einen Blick zu, bevor sie ein neues Thema eröffnete, „Haben deine Untersuchungen in jener Nacht Früchte getragen?“
Er blickte sie immer noch unzufrieden an, aber am Ende nickte er. „Das haben sie.“, begann er und versuchte seine Wut runterzuschlucken, „Leider haben die Götter der Unterwelt meinen alten Feind noch nicht zu sich geholt.“
„Sein Name?“, fragte Selene schlicht. Sie fing an sich an den Hals zu fassen.
„Gnaeus Cornelius Ticitus.“, erklärte Gisgo, „Er wohnt in Carthago und hat ein äußerst angenehmes Leben begonnen, seit ich fort gegangen bin.“
„Ist er mächtig?“, fragte Selene neugierig klingend, den leichten Schmerz in ihrer Kehle ignorierend.
Gisgo nickte fast unmerklich. „Er und ich…wir lebten in einem Viertel von Carthago, in Gemeinschaften die sich bereits seit Generationen spinnefeind waren. Wir waren quasi die nächste Generation, die diesen Konflikt ausfechten musste – ich hatte gedacht…gehofft in meiner jugendhaften Blindheit, dass ich den Konflikt beenden konnte…nun, ich hab ihn beendet, aber nicht so wie es hätte sein sollen. Meine Seite hat verloren und ist quasi von dort vertrieben, wenn ich den Berichten meiner Quellen glauben kann. Er herrscht dort nun, unangefochten.“
„Ein ganzer Stadtteil?“, hakte Selene nach.
Gisgo nickte erneut. „Und das ist die Sache, die ich euch fragen muss, Herrin.“, erklärte der Punier, „Was ist, wenn er ein Ordensmann ist? Von dem was ihr mir über den Orden erzählt habt, scheint Ticitus genau in diese Art Kategorie zu gehören, nach denen sie Ausschau halten.“
Selene blieb stehen und verschränkte ihre Arme. „Dieser Gedanke war mir bereits gekommen, als ich anfing mehr über den Orden zu verstehen.“, gestand sie und blickte Gisgo an, „Aber das bedeutet nicht, dass ich mich von meinen Wort entfernen werde. Die Meinen sind mir näher als der Orden. Immer.“, erklärte sie ohne einen Hauch an Zweifel in ihrer Stimme, „Wenn er aber ein Ordensmann ist, dann werde ich diese Sache anders ausfechten müssen, als ich vorgehabt habe.“, und sie setzte den Weg durch die Stadt fort.
„Ich danke euch für eure Loyalität mir gegenüber, Herrin, aber…“, wollte Gisgo mal wieder seinen alten Protest beginnen, als Selene ihn bereits abschnitt: „Kein Aber. Ich habe meine Entscheidung diesbezüglich bereits in Burdigala klar und deutlich gemacht – zwing mich also nicht, mich zu wiederholen.“, ihre Stimme klang sanft, aber zeitgleich streng, als sie erneut stehen blieb, unweit des städtischen Forums, „Du wirst nun folgendes machen: du nimmst ein Pferd und reitest nach Carthago. Versuch nicht gesehen zu werden und nicht aufzufallen – Diskretion ist deine oberste Priorität.“, sie legte eine Hand an ihr Kinn, „Deine Aufgabe ist das Sammeln von Informationen – Informationen über Ticitus und Informationen über unsere werten Freunde von der Hetaeria. Und Informationen über Spezialisten.“
„Spezialisten?“, hakte Gisgo verwirrt nach, „Was für Spezialisten?“
„Ich werde Hippo Regius erst verlassen, wenn ich für einen ausreichenden Schutz für mich und meine Familie gesorgt habe.“, erklärte die Römerin klar und deutlich, „Ich brauche Leute, die genauso viel über das Verborgensein verstehen wie die Obscurii…oder zumindest fast genauso viel. Ein einziger würde schon reichen, jemand der kompetent ist, aber auch vertrauenswürdig und ein guter Lehrmeister – er könnte seine Leute dann selbst ausbilden.“
Der Punier begann sich am Bart zu zupfen. „Ich hätte ein paar Ideen, wo ich solche Leute ausfindig machen könnte.“, erklärte er nach einer kurzen Zeit der Überlegung, „Aber was ist mit dem Orden? Sie kämpfen doch schon lange genug gegen diese Hetaeria – müssten sie nicht auch irgendwelche Leute für sowas haben?“
„Lieber ich hab meinen eigenen, anstatt mir niemals sicher zu sein, ob sie mich beim nächsten Mal verraten, wenn ein anderes Ordensmitglied der Meinung ist, dass ich eine Gefahr darstelle.“, erklärte die Frau, „Ich werde sie aber auch Fragen – falls sich nichts anderes finden lässt, sind ihre Leute immer noch besser als gar keine.“
Selene trat einen Schritt näher an das Forum, als sie plötzlich ein Schwindelgefühl überkam. Sie fasste sich an den Kopf und spürte wie sie wankte. „Herrin!“, reagierte Gisgo besorgt, aber sie fasste sich schnell, „Geht es euch gut?“
Sie atmete laut aus. Seine Arme waren auf ihrem Körper, jederzeit bereit sie aufzufangen, falls sie fallen sollte. „Macht euch keine Sorgen.“, erklärte sie und drückte die Hände weg, „Ich fühl mich nur bisschen unwohl seit…nun der Nacht.“
„Vielleicht sollte Hippolyt euch untersuchen.“, schlug der Punier vor.
„Vielleicht sollt er das.“, erklärte Selene, bevor sie ihn wieder ernst anblickte, „Hast du noch weitere Fragen, bevor du losreitest?“
Der Punier blickte sie immer noch besorgt an. „Nein, Herrin.“, erklärte er schlussendlich, den Kopf schüttelnd.
„Gut.“, entgegnete die Römerin, „Dann reit los – je eher ich etwas Handfestes habe, desto eher kann ich wieder handeln.“
Aus ihrer spärlichen Heuballen-Deckung vom Dach aus konnte Amany einen kurzen Blick auf das unter ihr liegenden Schlachtfeld erhaschen, wo Chen und Sigurd die herannahenden Gegner in Schacht hielten. Chen hatte sogar seine Armbrust gegen sein Schwert getauscht, erledigte die Banditen mit Sigurd zusammen im Nahkampf.
In den Schatten tat sich auch irgendwas. Sie erblickte kurz Fackeln, die zu Boden fielen, aber was da genau vor sich ging, konnte sie aus ihrer Position nicht sehen.
Doch auch auf dem Dach tat sich einiges.
Yu hauchte ein kurzes "Danke", bevor sie den nächsten Bandit mit dem Bogen erledigte.
Amany wollte sie gerade noch warnen, als ein weiterer nach dem Fuß der Chinesin griff und diesen umklammerte.
"Shaaaa!" brüllte Yu entschlossen, machte eine Drehung und schlug mit dem Schienbein gegen den Kopf des bärtigen, der schließlich hinunter stürzte.
Überrascht blickte die junge Ägypterin zu Yu. Sie konnte kaum glauben, dass so eine kleine, zierliche Frau soviel Kraft hatte, auch wenn sie es eben mit eigenen Augen gesehen hatte. Plötzlich hörte Amany einen surrenden Pfeil, der in ihre Richtung flog.
"Vorsicht!" rief die Ägypterin und schubste die Chinesin hinter den Heuballen, während der Pfeil Amany knapp verfehlte.
"Bist du okay?" erkundigte sich die Ägypterin, während sie ebenfalls in Deckung ging.