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    Burgherrin Avatar von Eispfötchen
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    Eispfötchen ist offline

    Post [Story]Hungersnot

    Wer gerne mehr über die Geschehnisse in Myrtana zur Zeit der Hungersnot erfahren möchte kann gerne in "Neue Abenteuer braucht der Held" reinsehen. Die beiden Geschichten gehören zuzusagen zusammen, aber diese Geschichte funktioniert auch allein.



    Otis wurde grob im Nacken gepackt und von dem Orkkrieger einfach aus seinem eigenen Haus geschleppt. Er hatte sich wehren wollen, seine Familie verteidigen wollen, aber er als Tischler konnte nicht mit großen Kampfähigkeiten glänzen. Sein Handwerkshammer war fast schon lächerlich, wenn er sie mit der Waffe seines Gegners, eine riesengroße Axt, verglich. Der Ork konnte ihn einfach nehmen und herumschubsen wie eine Puppe. Verzweifelt versuchte Otis von ihm loszukommen, doch es war vergeblich. Er hörte die Schreie und ängstlichen Rufe seiner Töchter. Er wollte sie beschützen, er war doch ihr Vater, doch seine eigene Schwäche stand ihm im Weg. Dass er nichts tun konnte, um ihr Schicksal abzuwenden, ließ ihn seine ohnmächtige Hilflosigkeit so richtig bewusst werden. Verzagt fragte er sich, ob seine Frau überhaupt noch am Leben war, denn er konnte sie nicht hören. Als der Ork ihn nach draußen schob, konnte er seine Familie sehen. Seine Frau war bewusstlos, ein weiterer Orkkrieger hatte sie sich einfach über die Schulter geworfen und trug sie so zum Ziel. Seine Töchter folgten ihm einfach, wohl, weil sie wussten, dass Widerstand zwecklos war, aber auch, weil sie ihre Mutter nicht allein lassen wollten. Die jüngste war gerade einmal zwölf, die mittlere fünfzehn und die älteste war kürzlich siebzehn Jahre alt geworden. Plötzlich fragte sich ihr Vater, ob er sie noch einmal würde in die Arme schließen können. Bang stolperte er voran. Überall in den Straßen lagen die letzten Verteidiger der Stadt. Es waren einfache Jäger, Schmiedelehrlinge und Arbeiter. Sie alle waren Väter, Brüder und Söhne von denen gewesen, die sie versucht hatten zu beschützen, nachdem die Orks die eigentliche Verteidigungslinie, bestehend aus einigen versprengten Resten der königlichen Soldaten und der städtischen Miliz, überwunden hatten. Die Orks gingen sehr organisiert vor. Anders, als man es bei einer siegreichen Streitkraft erwarten würde, plünderten und brandschatzten sie nicht. Sie hatten ihren Befehl die verbliebene Bevölkerung Monteras vor die Stadt zu führen und daran hielten sie sich. Niemand tanzte aus der Reihe, niemand musste darauf hingewiesen werden die Disziplin zu wahren. Die Menschen wurden zwar grob behandelt, aber nicht respektlos. Sie wurden nicht beschimpft oder unnötig geschlagen, nur wer sich weigerte den Anweisungen der Sieger Folge zu leisten, musste mit Bestrafung in Form eines Hiebes oder groben Stoßes rechnen. Als sie die Stadt verließen, war schon fast die gesamte Bevölkerung aufgestellt, was angesichts der Umstände, das Krieg herrschte, nicht viel war. Seit Anfang des Krieges waren es in der Stadt immer weniger Bewohner geworden. Männer wurden zum Krieg eingezogen und manche hatten sich klammheimlich aus dem Staub gemacht, um diesem Schicksal zu entgehen und woanders ihr Glück zu suchen. Übrig geblieben waren die Handwerker, treibende Kräfte der Wirtschaft, auf die nicht verzichtet werden konnte, wenn eine Grundzufriedenheit der Bürger beibehalten werden sollte. Außerdem natürlich ihre Familien. Mehr als die Hälfte von Monteras Bewohnern war weiblich. Alte Muttchen hielten ihre Enkelinnen und Enkel in den Armen und flüsterten ihnen beruhigende Worte ein, damit sie nicht in Panik verfielen, was schwer war, weil gleich nebenan ein Schwung junger Frauen in Hysterie geriet. Besorgte Mütter hielten ihre Kinder eng an sich geschlungen wie Schätze. Otis war sofort aufgefallen, dass die Bewohner Monteras aufgeteilt wurden. Die Männer, die noch einigermaßen in Schuss waren auf die linke Seite zur Stadt hin, Greise, Frauen und Kinder auf die rechte Seite, die zum Wald lag. Otis Angst nahm extreme Ausmaße an. So hatte er sich noch nie in seinem Leben gefühlt. Er wusste, hier würde gleich schreckliches Geschehen. Die Orkarmee, die sich an den Seiten der Besiegten aufgestellt hatte, schien unüberwindlich. Ein besonders, großer und kräftiger Ork trat vor. Vermutlich war es der Anführer seiner Truppe. Er räusperte sich und hob mit seiner kräftigen, unnachgiebigen Stimme an: „Morras, ihr habt den Kampf um eure Stadt verloren. Ich, Varek, bin ab sofort der Herrscher von Montera. Ich würde gerne behaupten ihr hättet euch gut geschlagen und ehrenvoll gekämpft, aber das wäre eine Lüge. Ich hatte eine größere Herausforderung erwartet. Der Krieg war lang und vielleicht hat euch das schwach gemacht. Wie dem auch sei, jetzt gehört Montera uns und bald schon ganz Myrtana. Dieses Land wird unser Land sein und wir werden es nicht teilen. Ich habe meine Befehle und sie sind klar. Ein Teil von euch…“
    Der Ork wies mit einer seiner großen Pranken auf die streng bewachten Männer.
    „… wird uns bis ans Lebensende als Sklaven dienen. Wenn ihr folgsam seid und fleißig, dann werden wir euch gut versorgen. Doch wer nicht gehorcht wird seine Strafe bekommen.“
    Der Anführer ließ seinen Blick auf die furchtsame Gruppe der Alten, Kinder und Frauen ruhen. Eine Zeit lang sagte er nichts. War da Mitleid in seinen Augen? Bedauern? Vielleicht wollte er das Nachfolgende nicht tun, doch er würde ganz sicher nicht den Befehl seines Chefs in Frage stellen.
    „Euch erwartet ein anderer Weg. Für euch haben wir keine Verwendung. Dies wird bald ein Land für die Orks, hier habt ihr keinen Platz. Doch seid versichert: Euer letzter Gang wird ehrenvoll sein, so dass eure Ahnen stolz auf euch sein können.“
    Es dauerte einen Moment bis die Bedeutung des Gesagten in die Köpfe der Menschen durchsickerte. Dann brach ein Tumult los. Die alten Mütterchen schluchzten und jammerten, die Kinder schrien, weil ihre Mütter schrien, die Greise schauten aus hoffnungslosen, leeren Augen ungläubig auf die Orks und die Männer versuchten jetzt, gegen jede Vernunft, dieses schreckliche Schicksal abzuwenden. Ihre Gegenwehr bäumte sich noch ein letztes Mal auf, doch die Orks hielten sie mühelos in Schach. Zwei Männer brachen sich Bahn, wollten zu ihren Familien, die ihre Arme ausstreckten und nach ihnen schrien, doch zwei Orks waren rasch bei Ihnen und schlugen Ihnen kräftig auf den Kopf, so dass sie bewusstlos umkippten. Natürlich hatte auch Otis versucht zu seiner Familie zu kommen. Er rief die Namen seiner Töchter, drängte zu ihnen, doch die Orks hatten einfach eine Mauer aus Leibern um sie gebildet und hielten sie mit einer geradezu unheimlichen, stoischen Ruhe zurück. Otis schrie, schrie aus Leibeskräften, bis seine Lunge brannte und sein Hals schmerzte, doch es nützte nichts. Seine Familie wurde in den Wald gebracht, zusammen mit all den anderen Frauen, Kindern und Alten. Sie alle würde er nie wiedersehen.
    Schweißgebadet wachte Otis auf. Es war nicht direkt ein Traum gewesen. Es war eine Erinnerung, die ihn fortwährend plagte. Doch jedes Mal war es ihm, als wäre er noch dort. Als würde er die Stimmen seiner Familie wieder hören. Er wusste, dass er das nicht sollte, aber manchmal wünschte er sich sogar, dass er es träumte, nur, damit er seine Familie noch einmal sehen konnte, auch wenn es schrecklich war, so war es doch die einzige Möglichkeit sie noch einmal zu sehen. Es war dumm, das wusste er. Er sollte so nicht denken. Er sollte sie stattdessen so in Erinnerung behalten wie sie waren, als sie alle noch zusammen und einigermaßen glücklich waren. Doch er konnte nichts dagegen tun. Noch immer lag die Trauer schwer in seinem Herzen und er würde alles tun, um sie noch einmal wiedersehen zu können. Er erinnerte sich, dass er damals weinend am Rand von Montera gestanden hatte. Später waren hohe Flammen von einer Lichtung im Wald zu sehen. Jeder wusste was es bedeutete. Die Orks hatten die Menschen getötet und anschließend im Feuer bestattet. Dass es sich vermutlich um eine respektvolle Exekution handelte, konnte ihn natürlich nicht trösten. Die Orks hatten damit nicht nur erreicht, dass es für die Menschen in Myrtana kaum eine Zukunft gab, sie hatten auch jeglichen Widerstandswillen gebrochen. Nach dieser Nacht wagte kein Mensch mehr aufzubegehren. Sie waren jetzt Sklaven und mussten bis zur völligen Erschöpfung für ihre neuen Herren schuften. Die Orks waren nicht so grausam, wie es vielleicht zu vermuten gewesen wäre. Trotz allem behandelten sie ihre Sklaven mit einem gewissen Respekt. Es war, als wären die Menschen Nutztiere für sie. Wie ein Schäfer seine Schafe versorgte, so taten es die Orks mit ihren Sklaven. Sie gaben ihnen zu essen, sorgten für ihre Unterkunft, aber verlangten auch Arbeit und Gehorsam. Vielleicht gab es sogar den einen oder anderen Ork, der seine Menschen mochte, doch war es nie auf gleicher Augenhöhe. Sie waren nur „Morras“ und keine Orks. Es dauerte einige Zeit, doch sprach sich irgendwann herum, dass es Menschen gab, die gegen die Orks rebellierten und da suchten die Orks sich Söldner unter den Menschen. Ihre Absicht war die Rebellen zu unterwandern, um herauszufinden wo sie sich befanden und was ihre Pläne waren, doch der Plan ging nicht so richtig auf. Nach einer Ewigkeit, so kam es Otis und den anderen Sklaven vor, kam eines Tages ein Fremder nach Montera und schließlich wurden sie von ihm und den Rebellen befreit. Erst Montera und schließlich das ganze Land. Die Rebellen und vor allem auch der Fremde waren in den Augen der ehemaligen Sklaven Helden. Myrtana war befreit, das Land gehörte wieder ihnen, doch konnte nicht bestritten werden, dass sie immer noch am Rand des Abgrunds lebten. Der überwiegende Teil der Bevölkerung war während des langen Krieges gestorben, Felder zertrampelt und Gehöfte in Schutt und Asche gelegt wurden. Das Volk hungerte. Ob die Menschen in Myrtana überhaupt eine Zukunft hatten war sehr ungewiss. Jeder schlug sich so durch. Es ging ums bloße Überleben. Um Wohnraum musste sich kaum Gedanken gemacht werden. Genügend Hütten standen frei und so genau schaute niemand hin wer denn nun welche Hütte bekam. Manche Männer behaupteten einfach sie würden den ehemaligen Besitzer gut kennen, wären ein Freund oder Mitglied der Familie. Die wiedereingesetzte Miliz hatte keinen Kopf sich um so etwas zu kümmern. Nachdem der „Held von Myrtana“ wie er jetzt genannt wurde, die Herrschaft der Orks niedergeschlagen hatte, war eine gewisse Ordnung wiedereingekehrt. Es gab eine Miliz, die darauf achtete, die Banditen im Land in Schach zu halten und für eine gewisse Grundsicherheit zu sorgen. Der Rest der Bevölkerung versuchte zum alten Leben zurückzukehren, was augenscheinlich von vornherein zum Scheitern verurteilt war. So wie es einmal gewesen war, würde es nie mehr sein. Doch immerhin war es eine kurze Zeit der Ruhe und des Friedens, bis der Held aus unerklärlichen Gründen wieder verschwand und die Orks zurückkehrten. Die Menschen konnte ihre Städte zwar zum Teil halten, aber die Orks ließen sich auch nicht zurücktreiben. Hartnäckig hielten sie sich in Trelis und verstreut im Wald und in Höhlen in ganz Myrtana. Sie verfolgten jetzt eine andere Strategie. Kurze aber wuchtige Angriffe, nur um sich dann zurückzuziehen. Sie wollten jegliche Versorgung mit Nahrungsmitteln unterbinden, dann müsste sich die Bevölkerung von Myrtana früher oder später geschlagen geben. Sie selbst wurden durch immer neue Truppen- und Warenladungen über den Seeweg unterstützt. Diese Zeit zehrte an den Nerven und zermürbte die Menschen. Erst als der Held wieder zurückkehrte, waren die Orks in kurzer Zeit vertrieben und der Frieden wieder sicher. Doch jetzt dachten die Menschen nicht wieder daran in einen Abklatsch ihres früheren Lebens zurückzukehren. Die Nahrungsmittelversorgung war vollends zusammengebrochen. Durch die langen Blockaden konnten die Städte, von den wenigen noch notdürftig funktionierenden kleinen Höfen, nicht mal ansatzweise versorgt werden. Die Jäger waren in den Wäldern oft den Orks begegnet und von ihnen vertrieben oder sogar erschlagen wurden. Und wenn‘s die Orks nicht waren, dann irgendwelche wilden Biester. Tatsächlich war in den Wäldern weniger Wild angetroffen wurden, als vermutet. Irgendetwas oder irgendjemand musste den Bestand der Tiere im Land drastisch verringert haben. Jetzt, wo die Menschen hungerten, war der Wald die größte Hoffnung auf Nahrung. Das wenige von den Höfen wurde an die Miliz verteilt, oder in eigener Sache teuer verkauft. Selbst die Bauern, die an der Quelle saßen, darbten. Sie wussten es zwar eigentlich besser, denn immerhin wollten sie auch noch im nächsten Jahr etwas zu essen haben, dennoch mussten sie ihre Tiere schlachten, um nicht zu verhungern. Gerade für die Städter wurde es jetzt besonders hart. Der Winter stand kurz bevor, die Speisekammern waren so leer, dass sich selbst Ratten nicht mehr hereintrauten, aus Furcht, selbst gegessen zu werden. Es blieb den Bürgern nichts Anderes übrig, als in die Wälder zu gehen und dort nach etwas zu essen zu suchen. Einige Menschen zogen aus ihrer alten Heimatstadt fort, an der sie so lange, selbst in den übelsten Zeiten, gehangen hatten und suchten in anderen Orten nach Essen. In Kap Dun, Reddock und Ardea ging so gut wie jeder zum Angeln. Fische im Meer gab es reichlich, ohne Schiffe oder Boote war das zwar nur ein kleiner Trost, aber das war den Menschen wohl egal, denn immerhin gab es Hoffnung. Vielleicht zuckte der Bindfaden mit dem Wurm doch nach unten und es biss endlich etwas an. Otis hatte zwar auch überlegt ein Fischer zu werden, doch er konnte sich einfach nicht von Montera trennen. Hier war er aufgewachsen, hier hatte er sein Leben gelebt und wenn es zum schlimmsten kam, dann würde er auch hier sterben. Hier hingen seine Erinnerungen. Vielleicht wäre es tatsächlich das Vernünftigste gewesen, das alles hinter sich zu lassen und ein neues Leben in einer anderen Stadt zu beginnen. Doch Otis brachte es nicht übers Herz die letzte Verbindung zu seiner Familie zu kappen. Er lebte wieder in seinem alten Haus, das ihm jetzt so groß und leer vorkam. Niemand brauchte im Moment die Dienste eines Tischlers. Möbel gab es mehr als genug. Hatte er seine Erzeugnisse früher in ganz Myrtana verkauft, so wollte heute niemand seine Waren. Mehr als Zeitvertreib, denn als wirkliche Arbeit setzte er sich abends manchmal hin und arbeitete an einen mit Ornamenten bestückten Stuhl oder Tisch. Dabei dachte er an seine Frau und seine Kinder, hing seinen eigenen Gedanken nach, während seine Hände geschickt und erfahren genau wussten was sie zu tun hatten, ohne, dass er sich groß darüber den Kopf zerbrechen musste.
    Otis beschloss, endlich die Grübelei zu beenden, vom Bett aufzustehen und den neuen Tag zu beginnen. Als er aufstand, wurde ihm schwindelig. Er war schwach auf den Beinen. Das kam vom Hunger. Gestern hatte es wieder nur eine dünne Suppe gegeben. Wenn er in den Spiegel sah, starrte ein dürrer, kraftloser Mann mit traurigen Augen, fast kahlem Kopf und nur noch etwas grauem Haar zurück. Er wankte einen Moment, wartete bis sich der Schwindel gelegt hatte. Heute ging es mit den Kopfschmerzen, aber an manchen Tagen war es so schlimm, dass er dachte, ihm platze der Schädel. Auch das kam vom Hunger. Es gab da etwas das half. Er schlurfte zum Schrank und holte eine Flasche mit Wasser hervor. Durstig trank er, wischte sich dann den Mund und kniete sich hin. Dort am Boden unter einer lockeren Holzlatte hatte er sein Geheimnis versteckt. Es war seins, ganz und gar seins und er würde auch niemanden verraten, dass er es besaß. Mit zitternden Fingern griff er in dem Loch im Boden herum und erst als sich seine Finger um das glatte, kleine Gefäß schlossen, atmete er erleichtert auf. Es war noch da. Er holte die kleine Dose hervor und öffnete sie. Zum Vorschein kam ein weißes, feines Pulver. Salz. Er hatte es ein halbes Jahr vor der feindlichen Übernahme der Orks bei einem Händler aus Varant gekauft. Salz war kostbar und wurde deswegen nur bei besonderen Anlässen verwendet, weswegen er nie viel benutzt hatte. Jetzt, in Zeiten der Not, war es pures Gold wert. Jeden Morgen träufelte er eine Priese auf seine Hand und leckte sie dann ab. Dann tat er das kleine Döschen zurück ins Versteck und trank Wasser. Bald hörte dann sein Kopf auf zu schwirren und ihm war nicht mehr schwindelig. Seinen Hunger konnte es nicht stillen, weswegen er sehr froh war Rüdiger zum Freund zu haben. Rüdiger war Metzger, oder besser, er war früher Metzger gewesen, als es noch Tiere zum Schlachten gab. Doch auch heute war er ein gefragter Mann. Niemand in Montera wusste besser als er, wie man ein Tier so zerlegte, dass man das meiste herausholen konnte. Letzte Woche hatte ein weiterer Bekannter, Ulf, sein letztes Schwein vorbeigebracht. Vermutlich war es das letzte Schwein in ganz Myrtana gewesen. Ulf hatte lange gezögert, doch war klar, dass etwas getan werden musste, um dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. So hatten Ulf und Rüdiger ganz Montera zusammengerufen und zur Abwechslung hatte jeder reichlich Fleisch zum Essen abbekommen. So viele Mäuler waren ja auch nicht mehr zu stopfen. In Montera lebte nur noch ein knappes Dutzend Menschen. Vollmundig hatte jeder Ulf seine Hilfe angeboten, sollte er mal selbst nach einer Mahlzeit fragen. Ulf war ein hilfsbereiter, umgänglicher, aber auch strenger alter Mann und er hatte einen schlagkräftigen Sohn, der jedem, der sein Versprechen vergaß nachdrücklich daran erinnern würde. Otis war froh zum Kreis seiner Freunde zu zählen. Jeden Tag um die Mittagszeit fand er sich bei Rüdiger ein. Sein Haus war zum Treffpunkt von Montera geworden, denn dort war die Wahrscheinlichkeit etwas zu essen zu bekommen am höchsten. Bevor es heute aber so weit wäre, musste Otis in den bunten Herbstwald ziehen, um einen Beitrag zur Mahlzeit leisten zu können. Manchmal, wenn er nichts fand, kam er sich richtig schäbig vor. Dann fühlte er sich als Schnorrer. Dieses Gefühl mochte er gar nicht. Seine Freunde sagten nichts, gaben ihm trotzdem ein Schälchen mit dünner Suppe, aber er spürte ihre enttäuschten Blicke und fühlte sich schrecklich. Heute sollte dies nicht geschehen. Er nahm seinen Handwerkshammer zur Hand, verließ sein Haus und ging den Weg entlang in Richtung Stadtmauer. Seine Freunde hatten ihm gesagt, er solle sich Wissen im Umgang mit Schwertern aneignen, doch fand Otis, dass er für neue Experimente inzwischen zu alt geworden war. Mit dem Schwert würde er wohl nie mehr ein gescheiter Kämpfer werden, doch mit dem Hammer konnte er einigermaßen umgehen. Seine größte Heldentat war wohl, als er im Wald einem Wolf den Schädel einschlug. Rasch hatte er seine Freunde herbeigerufen, um das tote Tier zu bergen und in der Metzgerei zu verarbeiten. Dennoch wünschte sich Otis nicht von wilden Tieren angegriffen zu werden. Da war er etwas eigen. In Ihrer Not wünschten sich einige Männer von Myrtana plötzlich möglichst große Scheusale würden aus dem Gebüsch gesprungen kommen, damit sie diese töten und anschließend Essen konnten. Das allein verdeutlichte in was für verzweifelten Zeiten sie lebten. Doch war es in den Wäldern Myrtanas weitestgehend still geworden. Die meisten großen Biester waren wie vom Erdboden verschwunden. Volker, Ulfs Sohn, hatte letzte Woche beteuert, er hätte im Wald Richtung Okara einen Schattenläufer gesehen, doch so Recht hatte ihm niemand glauben wollen. Schattenläufer waren früher eine sehr reale Gefahr gewesen, jetzt aber so selten wie Frauen. Die Zeiten hatten sich eben geändert, die Welt war eine andere geworden. Männer hockten alleine und hungernd, bei schlecht zubereitetem Essen, in ihren Häusern und selbst ein vereinzelter Ripper, der die Gegend terrorisierte war eine Sensation, von dessen Erscheinen rasch die gesamte Stadt unterrichtet und ein großer Trupp losgeschickt wurde, um das Tier zu erlegen und nach Hause zu schaffen. Otis war kein Kämpfer und mochte sein Hunger noch so groß sein, auf den Angriff eines Rippers, oder gar eines Schattenläufers konnte er getrost verzichten. Er wusste, dass er keine Chance gegen solch ein Ungeheuer hätte. Wie so viele Männer in Myrtana bewunderte er da den Helden des Landes. Wie war es wohl so furchtlos durchs Land zu ziehen? Kein Biest schien gefährlich genug. Offenbar kannte er keine Angst. Sein Mut war wohl grenzenlos. Wo er hinging, da brachte er Hoffnung auf ein neues, besseres Leben. Otis träumte so dahin, als er plötzlich auf etwas stieß. Brennnesseln. Das früher so unscheinbare Gewächs, von manchen gerne auch als Unkraut bezeichnet, erlebte während dieser Hungersnot ein regelrechtes Umdenken in der Bevölkerung. Wer sich der Pflanzen habhaft werden konnte, schaffte sie nach Hause um die Blätter zu kochen und anschließend zu verspeisen. Otis freute sich, einen guten Fund gemacht zu haben. Er zog sich seine widerstandsfähigen Handschuhe an und begann die Stängel herauszurupfen. Dabei stellte er sich schon einmal vor, wie er sie später den Anderen präsentieren würde. Sie würden die Blätter zerdrücken und kochen und dann in die Suppe geben. Als die Brennnesseln im Sommer Samen bekamen, hatten sie die geröstet und damit ihr Essen bereichert. Jetzt mussten sie sich mit den Blättern begnügen und gerade jetzt im Spätherbst schmeckten sie sehr bitter. Das war zwar ärgerlich, doch tat es der Freude überhaupt etwas zu Essen gefunden zu haben, keinen Abbruch. Die Pflanzen packte er in einen großen Stoffbeutel und zog dann eilig weiter, nun froh gemutes, vielleicht noch mehr zu finden. Leider war die Pilzzeit vorbei. Während er weiter durch den Wald zog und sein Magen vor Hunger schmerzte, erinnerte er sich gerne an die letzte Morgentausuppe, die er geschlürft hatte. Herrlich hatte sie geschmeckt und anschließend hatte er sich so richtig ausgeruht und geistig gestärkt gefühlt. Leider gab es auch kaum noch Feuernesseln, Feuerkraut, oder Feuerwurzeln auch alle Arten von Heilkräutern waren sehr selten geworden. Sie waren wie vom Erdboden verschwunden. Otis vermutete, dass die Hungersnot alle Menschen dazu brachte sich die Taschen mit dem zu füllen was sie kannten und wussten, dass sie es essen konnten. Der Hunger trieb die Menschen aber auch immer wieder zu allerlei Experimenten. So hatte Bengerd, ein Arbeiter aus Montera, bei unbekannten Beeren zugegriffen und litt dann mehrere Tage lang an schlimmem Durchfall und Erbrechen. Nach eigener Aussage fühlte er sich wie ausgekotzt. Otis war so in Gedanken versunken, dass er sich selbst dazu ermahnen musste wachsamer zu sein. Sollte sich doch ein Biest an ihn heranschleichen, wollte er bereit sein, um davon zu laufen. Außerdem würde er wertvolle Pflanzen übersehen, wenn er so geistesabwesend war. Er erstarrte, als er etwas entdeckt hatte. Es hatte sich ausgezahlt, sich selbst zur Aufmerksamkeit zu gemahnen. Dort, an einem der Bäume hatte er einen dicken Klumpen Harz entdeckt. Er trat heran und betrachtete es. Es hing sehr hoch. Otis sah sich um, ergriff einen Stein vom Boden, sprang den Stamm hinauf und schlug das Harz ab. Geschickt fing er es auf. Das würde er ganz für sich beanspruchen. Grinsend drehte er das Harz in seinen Fingern. Es war bereits komplett ausgehärtet, doch war das nicht schlimm. Er legte den Klumpen in seinen Mund und lutschte daran wie an Naschwerk. Sofort breitete sich ein leicht herber Geschmack in seinem Mund aus, doch davon ließ sich Otis nicht die Laune verderben. Zufrieden lutschte er an seinem Fund herum und setzte seinen Weg fort. Zwischen den Bäumen konnte er jetzt die Ausläufer einer Wiese entdecken. Dort trieb es ihn hin. Auch wenn es Spätherbst war, so gab er die Hoffnung nicht auf, denn auf Wiesen gab es zahlreiche Pflanzen, die er brauchen konnte. In Zeiten der Not sprach sich sehr schnell herum, was essbar war und was nicht. Hunger konnte ein guter Lehrmeister sein. Kaum war Otis aus dem Wald gestiefelt, bemerkt er große, dünnstielige Pflanzen, die dort wuchsen wo die Sonne ihre Strahlen fallen ließ. Als er näher herantrat und die oberen pfeilspitzenförmigen Blätter in die Finger nahm, um sie genauer betrachten zu können, stellte er fest, dass es Hirtentäschel war. Was hatte er doch für ein Glück. Sie würden es kochen und an die Suppe geben, damit sie die nötige Schärfe bekam, so dass sie auch nach etwas schmeckte. Es wuchs hier wie Unkraut. Otis konnte sich nicht bremsen und nahm kurzerhand alles mit. Prall gefüllt war sein Sack, den er jetzt auf seinem Rücken schleppte und kam sich dabei wie ein Held vor. Vergnügt kaute er auf dem nun weichgewordenen Harz herum und ging zurück nach Montera.
    Tatsächlich war die Freude seiner Kumpel über seine Mitbringsel nicht ganz so überschwänglich gewesen, wie er sich das vorgestellt hatte, aber immerhin waren sie sehr zufrieden.
    „Macht sich bestimmt hervorragend an der Knochensuppe, die ich machen werden“, sagte Rüdiger.
    Besagte Knochen lagen bereits vor ihm auf dem Tisch aufgeschichtet. Es waren die letzten Überbleibsel von Ulfs Schwein. Der war ebenfalls anwesend und hatte bereits einen Topf Wasser auf den Herd gesetzt. Bevor die Knochen aber in die Suppe kamen wurden sie noch anderweitig verwendet. Rüdiger nahm einen Knochen zur Hand und spaltete ihn kraftvoll mit einem seiner massiven Fleischerbeile. Der Metzger fuhr so auch mit einem halben Dutzend weiterer Knochen fort und reichte den Haufen dann anschließend Otis. Der legte sie alle auf seinen Teller und begann, das jetzt freiliegende Mark herauszukratzen und zu essen. Auch Ulf bekam solch eine Portion und als letzter nahm sich der Fleischer selbst. Anschließend sammelte Rüdiger die Knochen wieder ein, zermahlte sie zu einem feinen Mehl und erst dann kamen sie in die Suppe, um auch noch das letzte Quäntchen an Nährstoffen herausszukochen. Währenddessen zerstückelten und zerrieben Ulf und Otis die Brennnesselblätter und die Hirtentäschel. Dabei erzählten sie, damit es nicht so langweilig war.
    „Für heute ist uns unsere Suppe sicher“, sagte Otis, der sich selber aufheitern wollte.
    Heute war ein guter Tag und er fühlte sich hoffnungsfroh. Er versuchte es positiv zu sehen. Er war kein Sklave mehr. Seine Freunde waren bei ihm und zumindest heute würden sie etwas zu essen haben. Doch lange währte sein Hochgefühl nicht. Ulf musste es ja unbedingt zunichte machen, indem er sagte: „Ja, aber was ist mit morgen, oder mit übermorgen? Ich sag wie es ist, wir leben von der Hand in den Mund. Und was machen wir wenn der Winter kommt? Lange ist es nicht mehr hin. Können nur hoffen, dass es nicht zu kalt wird.“
    Montera lag an der Schneegrenze. Weiter südlich schneite es auch im Winter nur selten. Otis hatte mal gehört, das läge an irgendwelchen Winden und Strömungen, aber davon verstand er nichts und so genau wollte er es auch gar nicht wissen. Es war wie es war und damit hatte es sich. Auch er hoffte, dass es diesen Winter nicht schneien würde. Die Pflanzen würden im Winter sowieso kaum etwas hergeben, da konnte er auf Schnee gut und gerne verzichten. Bei der Vorstellung auf Baumrinde herumkauen zu müssen, sank seine Stimmung sofort in den Keller. Volker kam von draußen herein, ließ die Tür ins Schloss zurückfallen und fegte die drückende Stimmung hinweg, als er sagte: „Es ist was passiert. Ich hab gehört, da wäre ein Bauer auf halbem Weg zwischen hier und Trelis von Wölfen zerrissen wurden.“
    Das waren in der Tat interessante Neuigkeiten, denn jetzt würden Jägertrupps sowohl von Trelis, als auch von Montera aufbrechen, um die Wölfe zu erschlagen, zu braten und schlussendlich zu essen. Doch damit nicht genug, verkündete Volker weiterhin: „Es wird gemunkelt, der Bauer hätte zu seiner versteckten Miete gewollt. Jetzt laufen alle wie die Bekloppten mit Spaten los und versuchen sie zu finden, als wäre es ein Goldschatz.“
    „In diesen Zeiten ist sowas ein Schatz“, sagte sein Vater belehrend. „Wer weiß was da alles drin ist.“
    Auch Otis hing seinen Gedanken nach. „Rüben, Wurzeln, Äpfel, Birnen, vielleicht sogar Getreide.“
    Er leckte sich über die Lippen bei der Vorstellung von der Suppe, die er daraus zubereiten könnte. „Vielleicht wäre sogar eine Mahlzeit drin, so ganz ohne Wasser. Das wär’s.“
    „Wenn wir hier rumstehen und nur fantasieren kriegen wir davon aber nichts ab“, murrte Volker.
    „Ach mein Junge. Es ist weit bis dahin und viele Mäuler sind unterwegs. Selbst wenn es diese Miete gibt, so weiß doch kein Mensch wo sie ist und wenn da alle den Acker durchbuddeln würden sie uns bestimmt zur Seite drängen, wenn wir doch die Glücklichen wären, die sie finden. Die Jüngsten sind wir ja auch nicht mehr.“
    Die drei Männer im gesetzten Alter nickten sich bedeutungsschwer zu.
    „Pah, das gilt vielleicht für euch, aber ich bin nicht alt“, wehrte sich Volker.
    „Stimmt, aber willst du es jetzt deswegen ganz allein mit all den anderen aufnehmen? Es sind Zeiten, da gehen die Leute für ein bisschen was zu Essen über Leichen“, knurrte Rüdiger.
    Es war soweit. Sie streuten die Pflanzen in die Suppe, die mittlerweile sehr munter vor sich hinköchelte. Es war gerade Zeit zum Essen, da kam, so als hätte er es geahnt, Markus herein und brachte einen kalten Luftzug mit, welcher der erste Vorbote des Winters war. Markus war Mitglied der Miliz und gehörte auch zum Kreis ihrer Freunde. Markus war ein paar Jahre älter als Volker und sie beide verband eine Freundschaft, die nicht sofort als solche erkannt werden konnte, denn stets und ständig stritten sie sich. Sie hatten einfach gegenteilige Ansichten, was aber nicht hieß, dass sie sich ansonsten nicht leiden könnten. Kaum war Markus eingetreten fing Volker auch schon wieder an.
    „Ich versteh gar nicht wieso wir uns hier so ein paar Pflanzen zusammenklauben müssen. Lee hatte doch was davon gefaselt, dass es bald Hilfe für uns Bürger geben würde. Also, ich habe von irgendeiner Hilfe von nichts mitbekommen. Waren das nur leere Versprechungen … oder ist der vielleicht selbst schon verhungert?“
    Feixend warf er Markus einen Blick zu, um zu sehen, ob ihn das zu einem Streit animierte.
    „Regent Lee, bitte sehr“, verbesserte Markus, der sich an einen Tisch gesetzt und die Beine hochgelegt hatte, mit mahnenden Zeigefinger seinen Freund und hielt so gleichzeitig zum Gönner seiner täglichen Ration.
    Die war zwar kärglich, aber immerhin meist besser, als das, was die Bürger sich täglich zusammensuchten.
    „Sowas dauert, oder glaubst du, es ist leicht mal eben die große Lösung für ein Problem dieses Ausmaßes aus dem Ärmel zu ziehen?“ sagte Markus gewichtig und sah achtungsheischend in die Runde.
    Otis fand, dass er in diesen Momenten immer sehr dick auftrug, aber es konnte eben auch einen großen Vorteil haben einen Freund bei der Miliz zu haben.
    „Ich wette der Held von Myrtana hätte schon längst eine Lösung gefunden“, sagte Volker mit funkelnden Augen und kaum zu überhörender Ehrfurcht in der Stimme.
    „Hm… vielleicht“, sagte Markus.
    Vermutlich war er der gleichen Meinung, wollte das aber nicht sagen, weil er Volker dann ja zugestimmt hätte.
    „Jede Wette“ kam es von Volker. „Warum ist der eigentlich nicht unser Anführer?“
    „Junge,“ brummte sein Vater. „Nur, weil einer ein Held ist, heißt das nicht, dass er auch ein guter König wäre.“
    „Aber bestimmt besser als Lee“, lehnte sich Volker weit aus dem Fenster. „Ich kenn immerhin keinen der uns sonst aus der Sklaverei der Orks hätte befreien können, oder du etwa?“
    Die anderen machten sich gar nicht die Mühe etwas zu entgegnen. Natürlich kannten sie niemanden und sie alle waren dem Helden dankbar. Niemand würde sich darauf versteigen etwas dagegen zu erwiedern.
    „Ich habe gehört, er soll einen Haufen Drachen erschlagen haben. Drüben in Khorinis und hier auch ein paar. Wäre doch toll einen König zu haben, der auch wirklich was kann. Wer kann schon von sich behaupten einen König zu haben, der ein Drachentöter ist? Und es heißt doch, dass der König der Beschützer des Reichs sein soll.“
    „Ja, na und? Lee macht das auch“, entgegnete Markus stur.
    „Pff… ja, natürlich“, kam es abfällig von Volker.
    „Ich wette Regent Lee muss nur mal husten und du würdest dich schon in die Hosen machen“, kam es belustigt vom Milizionär.
    „Denkste. Klar, ich würde verlieren, aber ich wette der Held könnte Lee ganz leicht besiegen.“
    „Und warum glaubst du, dass die überhaupt gegeneinander kämpfen sollten? Ich habe da was läuten hören, dass die zwei ganz dicke Kumpel sind“, kam es im Plauderton von Markus, ganz so, als wäre er jemand, der darüber bestens informiert wäre.
    Die drei älteren Männer ahnten natürlich, dass er sich nur wieder wichtig machte, doch Volker bekam große Augen.
    „Wirklich?“
    Er klappte seinen Mund wieder zu, als er endlich bemerkte, dass er offenstand, und dachte dann angestrengt nach.
    „Na, dann sollte es doch kein Problem sein, dass Lee den Helden zum König ernennt. Ich meine … muss doch selbst dem aufgefallen sein, dass sich hier nicht alles zum Besten entwickelt. Ich glaube jedenfalls fest daran, dass der Held es wieder hinbekommt, ganz egal wie tief die Karre im Schlamm steckt.“
    „Stellst du ihn da nicht auf ein etwas hohes Treppchen?“ fragte Otis schmunzelnd.
    Er hatte den Helden mal gesehen. Eigentlich war nichts Besonderes gewesen. Er war einfach nur die Straßen der Stadt entlanggelaufen und hatte ihn gefragt was so läuft. Wer es nicht besser wusste, hätte glauben können, er wäre ein ganz normaler Landstreicher. Das milderte seine Ehrfurcht vielleicht ein bisschen, aber dadurch empfand er ihn sympathisch und viele anderen auch. Er wirkte wie ein ganz normaler bodenständiger Typ, wie einer von ihnen, nicht so ein aufgeblasener Adeliger, wie sie für gewöhnlich an der Macht waren. Ja, auch Otis hätte den Helden gerne zum König, aber er musste zugeben, dass er sich nicht vorstellen konnte, wie selbst er die Probleme ihres Landes lösen sollte.
    „Ach, jetzt komm nicht wieder mit der ausgelutschten Geschichte, wie du mal mit ihm gesprochen hast“, maulte Rüdiger, der diese Erzählung nicht mehr hören konnte. „Außerdem ist die Suppe fertig. Essen fassen!“
    Damit war jegliche Diskussion vorerst vom Tisch, damit der Suppenteller Platz hatte. Für einen Moment herrschte gefräßiges Schweigen. Jeder, auch Markus, saß mit seiner Portion am Tisch und ließ es sich schmecken. Es war wichtig sich zu beherrschen und langsam zu essen. Sie waren derart ausgehungert, dass es zu einem echten Test der Willensstärke wurde. Am Beginn der Hungersnot hatten sie sich das Essen so schnell wie möglich hineingestopft, um den Hunger rasch zu tilgen, die einzige Folge war aber, dass ihr Magen rebellierte und sie alles wieder erbrachen. Sie mussten ihre zusammengeschrumpften Mägen das Essen häppchenweise anbieten, um sie nicht zu überfordern. Jeder Bissen wurde genossen. Trotzdem waren die Teller viel zu schnell leer. Satt waren sie zwar nicht, aber damit war auch nicht zu rechnen gewesen. Es kam vor allem darauf an überhaupt etwas im Bauch zu haben.
    Geändert von Eispfötchen (21.01.2022 um 13:11 Uhr)

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    Hoffnungsschimmer

    „Die Hand, die sie füttert, die Faust, die sie schlägt.“
    Ottis erwachte schweißnass aus einem unruhigen Schlaf. Als er sich aufrichtete, merkte er, wie stark er zitterte. Immer wieder träumte er von der Zeit der Besatzung und ganz besonders dieser Satz hatte sich tief in sein Gedächtnis eingebrannt. Otis hatte sich damals wie Vieh gefühlt. Er war nie ein mutiger oder besonders selbstsicherer Mann gewesen, aber die Behandlung der Orks hatte ihn an den Tiefpunkt des Selbstvertrauens gebracht. Manche Orks hatten gut für ihre Sklaven gesorgt, andere waren weniger freundlich, doch immer hatten sie die Menschen als minderwertig betrachtet und dieser Satz brachte das gut auf den Punkt, da er klar ausdrückte, dass sie entschieden wer am Leben blieb und wer starb. Die Orks sagten ihn laut. Ihre Sklaven sollten ihn immer hören.
    Er hing seinen Gedanken nach bis er auf laute Stimmen und die hastigen Schritte vor seiner Tür aufmerksam wurde. Skeptisch richtete er sich auf. Gab es einen erneuten Angriff? Die Orks waren doch fort, oder nicht? Ängstlich stand er auf und trat vorsichtig zur Tür, öffnete sie und lugte hinaus. Nein, die Menschen draußen wirkten fröhlich, sogar aufgeregt. Es musste etwas Gutes passiert sein. Otis schaute ungläubig wie Sanford und Volker eilig an seinem Haus vorbei liefen und hörte Ulfs Sohn noch sagen: „Ich kann nicht glauben, dass er wieder da ist. Das muss ich sehen.“
    Wer war wieder da? Otis wurde jetzt auch hellhörig. Eilig trat er auf die Straße und lief den anderen nach, langsamer, weil er sich geschwächt fühlte, aber zielstrebig. Vor dem Stadttor von Montera hatten sich die Bewohner an einer Linde versammelt und bei ihnen stand niemand anderer als der Befreier von Myrtana. Heute trug er eine leichte bequeme braune Rüstung und am Gürtel hing ein schwarzes Schwert. Am Knauf steckte ein menschlicher Schädel und dunkle Schwaden waberten um es herum. Otis verschlug es kurz den Atem, doch dann sah er wieder zum Helden. Oberflächlich betrachtet sah dieser Mann wie irgendein Rumtreiber aus. Ein Mann der Straße, immer unterwegs, ungeduldig und unzuverlässig, doch bei näherem Hinsehen fiel dieses entschlossene Funkeln in seinen Augen auf. Jede Bewegung zeugte von Selbstsicherheit und Durchsetzungswillen. Trotz der lang währenden Hungersnot stand dieser Mann voller Kraft vor ihnen, so als würden die Schrecken dieser Zeit ihm nichts anhaben können. Otis konnte nicht anders, als ehrfürchtig zu ihm hinzuschauen. Er stand zwischen den Bewohnern von Montera und redete, als wäre er einer von ihnen. Er sah trotz all seiner Taten, Fähigkeiten und Errungenschaften nicht auf sie herab, keine Spur von Überheblichkeit. Er hörte den Menschen aufmerksam zu und sagte ihnen: „Keine Sorge, alles wird gut. Wir finden eine Lösung. Habt ihr euch überlegt, wie ihr die Hungersnot überstehen wollt?“
    Eben hatte noch gefühlt jeder wild durcheinandergerufen, damit der Mann, der sie von der Sklaverei der Orks erlöst hatte, einen selbst zwischen all den anderen Rufen hören konnte, doch jetzt verstummten alle. Plötzlich wollte niemand mehr etwas sagen. Otis kam weiter heran, aber auch er traute sich nicht den Mund aufzumachen. Es war Ulf, der zu sprechen wagte: „Vor drei Wochen mussten wir mein letztes Schwein schlachten. Möglich, dass es das letzte in ganz Myrtana war, jedenfalls haben wir schon lange von niemandem mehr gehört, der noch ein Schwein hätte. Vor zwei Wochen dann kam eine Nahrungsmittellieferung aus Vengard. Immerhin hatten wir damit für drei Tage Rationen. Seitdem haben wir nichts Richtiges mehr gegessen. Wir sammeln Kräuter und Wurzeln im Wald, doch das reicht auf Dauer natürlich nicht und wenn der Winter kommt, wird es schwer noch etwas zu finden. Leider haben wir keine Ahnung was wir dagegen tun können. Jetzt stehen wir hier herum wie khorinische Schafe im Winter und warten auf Heu.“
    Otis sah, dass es den anderen Bewohnern Monteras offenbar genauso ging wie ihm. Sie schämten sich in so erbärmlichen Zustand vor ihren Retter zu treten und ihn um Hilfe anbetteln zu müssen.
    „Hm…“, kam es vom Erlöser. „In den nächsten Tagen sollte eine neue Lieferung mit Essen von Vengard eintreffen.“
    Jubel brandete auf und Otis stimmte fröhlich mit ein. Sein Herz tat einen großen Sprung, bei der Vorstellung endlich wieder etwas Richtiges in den Magen zu bekommen.
    „Ich habe auch Saatgut für Rüben und Wintergerste aus Khorinis organisiert“, erzählte der Held und machte eine ausholende Handbewegung.
    Der Jubel wurde leiser und verklang. Die Leute fingen an sich Gedanken zu machen.
    „Wie sollen wir denn die Saat ausbringen? Der Hof von Montera ist schon zugewuchert“, erklärte Kelvin.
    „Dann müsst ihr ihn eben wieder entwuchern“, antwortete der Abenteurer keck.
    „Nimm es uns nicht übel, aber wir sind ganz schön geschwächt. Keine Ahnung wie wir so einen Pflug ziehen sollen“, wagte Ulf zu sagen.
    Der Held lächelte gewinnend.
    „Ich habe euch etwas Bisonfleisch aus Silden mitgebracht.“
    Wieder jubelten die Stadtbewohner begeistert und hörten gleich viel motivierter zu, als ihr Heilsbringer erklärte: „Ich habe einen Plan. Einer von euch verwandelt sich in ein großes Tier, um den Pflug besser ziehen zu können. Ich habe hier fünf Verwandlungstränke in einen Ripper. Das sollte ausreichen, um ein gutes Feld fertig zu pflügen. In Trelis, Silden, Geldern und Kap Dun sind die Männer schon am Arbeiten. Sie machen es genauso.“
    Otis staunte. Auf was für Ideen dieser Mann kam. Ulf hatte aber wohl Bedenken, denn er fragte: „Gut und schön, aber was ist, wenn wir den Winter nicht überleben? Dann haben wir nichts davon, dass wir im nächsten Jahr Gerste und Rüben ernten könnten.“
    „Lee versucht so viele Lebensmittel wie möglich von Khorinis heranzuschaffen, doch er hat nur ein … ich nenne es mal Schiff. Es dauert eben bis dieser Klapperkasten die Überfahrt schafft. In Silden werden jetzt hin und wieder Bisonbullen gejagt, aber wenn zu viel gejagt wird, gibt es dort auch bald nichts mehr. Auch wenn es hart ist, muss das Fleisch deshalb eingeteilt werden. Doch macht euch keine Sorgen, alles wird gut.“
    Die Leute wollten ihm gerne glauben. Osko, der etwas von der Feldarbeit verstand, wollte wissen: „Meinst du, dass das Zeug noch anwächst? Wir sind schon reichlich spät für die Aussaat. Wir hätten schon vor zwei Wochen säen sollen, so wie die Wetterlage ist. Die Nebentriebe müssen bis zum Winter gewachsen sein. Wenn es zu kalt wird erfriert uns das Zeug.“
    „Montera liegt günstig. Hier schneit es doch kaum“, wollte sich Bengerd die aufkeimende Hoffnung nicht mies machen lassen.
    „Entweder ihr sät und habt dann nächstes Jahr was zu essen, oder ihr lasst es und müsst verhungern“, sagte der Abenteurer ihnen klipp und klar ins Gesicht.
    „Wir versuchen es natürlich“, beeilte sich Markus von der Stadtwache zu sagen.
    „Gut, und wer nimmt die Tränke?“ fragte der Held kurz angebunden.
    Die Männer sahen sich mit betretenen Mienen gegenseitig an, so als hofften sie, es würde sich schon irgendjemand anders finden, der diese Aufgabe übernehmen würde.
    „Ich mache es“, erklärte sich schließlich Volker bereit.
    „Gut, hier nimm!“ sagte der Erlöser und förderte zum Erstaunen aller Männer fünf Verwandlungstränke aus seiner Hosentasche zu Tage.
    Volker ging sofort zurück nach Montera. Er wollte die Tränke rasch nach Hause bringen und dann zurückkommen, um möglichst nichts zu verpassen.
    „Was ist mit dem Fleisch?“ wagte Rüdiger zu fragen.
    „Du hast doch eine Metzgerei, gehen wir zu dir. Dort kannst du das Fleisch portionieren, braten und verteilen“, sprach ihr Gönner Rüdiger ganz direkt an.
    Der wurde kurz bleich und schaute dann ergriffen, weil der Befreier Myrtanas sich offensichtlich an ihn erinnerte.
    „Na … natürlich, kommt alle mit!“
    Rasch gingen die Einwohner durch die Straßen von Montera, wobei der Befreier von Myrtana immer von fröhlichen, hoffnungsvollen Bewunderern umringt war. Rüdiger hatte eins der größten Häuser in Montera, doch trotzdem drängelte sich bald alles in seinem Haus, denn jeder wollte natürlich zuerst etwas zu Essen haben. Der Held stand an der Arbeitsplatte von Rüdiger und holte acht Kilo Bisonfleisch hervor. Es wäre vernünftig gewesen das Fleisch für die nächsten Tage einzuteilen, doch sie würden die Leute wohl nicht dazu überreden können. Stattdessen wurden die Stücke zu je einem Pfund Gewicht portioniert und verteilt. Wer etwas bekommen hatte, versuchte eilig das Weite zu suchen. Dabei gab es natürlich immer Neider, die versuchten die glücklich Beschenkten zu bestehlen. Die Stadtwache hatte alle Hände voll zu tun, damit das Fleisch nicht den Besitzer wechselte.
    „Jeder bekommt etwas ab!“ rief Rüdiger barsch in den Raum, doch das half nur wenig.
    Jeder hielt vor ihm die Hand auf und bettelte als nächster etwas zu bekommen. Kaum war das Fleisch portioniert, wurde es verteilt. Es sollte möglichst flott gehen. Einige Männer, die weiter dachten, hatten bereits ein Feuer entzündet, damit das Fleisch gebraten werden konnte. Schon hatte der er Erste sein Fleisch in eine Pfanne gelegt und nun brutzelte es munter über den Flammen. Trotzdem verließen immer wieder Leute Rüdigers Haus, denn sie wollten in aller Ruhe zuhause essen, ohne dass ihnen alle beim schmausen aufs Essen glotzten. Der Futterneid war in diesen Tagen wirklich sehr stark ausgeprägt. Immerhin war es deswegen bald nicht mehr so voll in Rüdigers Haus. Als das letzte Fleisch verteilt wurde, an Rüdiger selber, der sich so lange geduldet hatte, sagte der Held laut in die Runde: „Ich geh dann mal. Ich verlass mich auf euch, dass ihr das mit dem Pflügen und säen hinbekommt. Bis später.“
    Er holte eine Rune hervor, wurde in gleißendes Licht getaucht und war verschwunden. Sofort brach wieder lautes Gerede aus. Von diesem Tag würden sie wohl noch lange sprechen. Während Rüdiger noch sein Stück Fleisch briet, saßen Ulf und Otis schon am Tisch und verspeisten mit großem Appetit ihren Anteil.
    „Herrlich“, sagte Volker, der sich nun ebenfalls mit einem nicht ganz durchgebratenen Steak zu ihnen setzte.
    Offenbar hatte er es nicht geschafft so lange zu warten, bis es ganz und gar durch war, oder er mochte es etwas blutig. Der junge Mann stellte den Teller vor sich ab und hielt seine Nase dann dicht über die reichhaltige Mahlzeit und schnupperte.
    „Hmm… was für ein himmlischer Geruch. Und wie das aussieht … Wie heißt es so schön? Das Auge isst mit. Da ersäuft man ja im eigenen Mundwasser.“
    Sofort steckte er sich ein großes Stück Fleisch in den Mund.
    „Du weißt doch, dass du langsam Essen sollst, mein Sohn“, tadelte sein Vater. „Sonst kotzt du wieder und das wäre eine wirkliche Verschwendung bei diesem guten Essen.“
    „Hm…“, kam nur von Volker, der mit sichtlichem Genuss ganz langsam kaute, um den herrlichen Geschmack ganz und gar auszukosten.
    Otis steckte auch ein neues Stück in seinen Mund und schloss für einen Moment die Augen. Wohlige Wärme breitete sich in seinem Magen aus, als ein weiteres Fleischstück nach unten rutschte.
    „Ich hätte nie gedacht, noch einmal so etwas Gutes zu essen.“
    Ulf nickte.
    „Guter Mann. Kümmert sich um uns, obwohl er das gar nicht müsste“, stimmte Ulf zu.
    „Sag ich doch“, sagte Volker und kaute. „Er ist wirklich unser Erlöser und sollte unser König werden. Mit ihm schaffen wir es durch diese Hungersnot.“
    „Warten wir erstmal den Winter ab“, meinte Rüdiger und setzte sich nun ebenfalls an den Tisch.

    Nach dem Essen gingen sie in ihre Hütten und schliefen lange. Es war endlich mal wieder ein wirklich erholsamer Schlaf. Am nächsten Morgen fühlte sich Otis nicht so zittrig wie sonst. Es war ein heller, sonniger Tag. Wie einige andere ging Otis heute zum verwilderten Gehöft. Früher hatte es hier Schweine und Hühner gegeben, doch heute lebte hier nichts mehr. Der Acker war verwildert und kaum noch zu erkennen.
    „Wir werden ein Geschirr brauchen, das wir im Umfang flexibel anpassen können“, hörte er den Schmied Pekro sagen, als er zu den anderen Bewohnern Monteras stieß, die das Feld bearbeiteten wollten.
    „Na, was stehst du dann hier noch rum? Tu was!“ sagte Markus barsch.
    Er war offenbar einfach nur hier, um andere herum zu scheuchen, doch weil er von der Stadtwache war, kuschten die meisten.
    Pekro warf ihm immerhin einen finsteren Blick zu und gab zurück: „Aber nur, damit wir hier endlich mal vorwärts kommen. Während ich das Geschirr mache, solltet ihr aber auch fest zu packen.“
    „Das überlass mal uns“, meinte Markus.
    Als Pekro allerdings weg war, wandte sich der Mann der Stadtwache an Bengerd, Kelvin, Leon und Osko, die während der Besatzungszeit auf diesem Hof gearbeitet hatten und sich deswegen mit der Feldarbeit auskannten.
    „Ihr kennt euch aus. Macht irgendwas, damit das hier vorwärtsgeht!“
    „Ja, eure Lordschaft“, sagte Kelvin, grinste spöttisch und verbeugte sich übertrieben vor Markus.
    „Möchten eure Lordschaft nicht vielleicht auch selber ein bisschen im Dreck wühlen?“ sprang auch Bengerd auf diesen Witz auf und verbeugte sich noch tiefer.
    „Nein, möchte ich nicht“, sagte Markus kalt. „Ich pass auf, dass nicht irgendein Mistvieh aus dem Wald springt und euch den Arsch aufreißt.“
    Volker schnaubte, ergriff einen Spaten und triezte seinen Freund, indem er sagte: „Tse, als wenn’s hier noch irgendwelches Viehzeug gäbe. Du bist nur zu faul zum Arbeiten.“
    „Bin ich nicht. Selbst wenn’s keine Viecher gibt, könnten ja … Banditen kommen und euch ausrauben.“
    „Was gibt es denn bei uns zu rauben?“ lachte Volker.
    „Halt die Klappe oder ich schieb dir diesen Spaten so tief in den Arsch, dass du Kiefersperre kriegst“, sagte Markus halb mit derbem Scherz, aber auch mit fester Stimme, so dass sein Freund nicht wissen konnte, ob sich die Situation weiter hochschaukeln würde, wenn er wieder etwas entgegnete.
    Volker hatte diesen Wink verstanden und brummte nur: „Gut, halt ichs Maul.“
    „Aber ich muss was sagen“, meinte Kelvin, der es wohl nicht lassen konnte.
    Markus sah ihn finster an.
    „Schau mich nicht so an. Ihr wollt, dass wir den Boden pflügen, doch ich habe gelernt, dass es schneller geht, wenn wir nur die Oberfläche umgraben, außerdem ist dann die Ernte besser.“
    „Ach und warum?“ fragte Markus barsch.
    Kelvin zuckte mit den Schultern.
    „Keine Ahnung. Ist eben so. Irgendwas mit der Erde, wie tief man da reingräbt und so.“
    Jetzt diskutierte auch Leon mit.
    „Pflügen ist jetzt aber besser, weil hier alles verwildert ist. Wir müssen auch all das Unkraut rausholen. In den nächsten Jahren brauchen wir uns dann nicht mir so viel Mühe machen und es würde reichen, wenn wir ein bisschen hacken und die Egge nutzen.“
    „Ja, gehen wir lieber auf Nummer sicher“, stimmte auch Osko zu. „Wäre doch scheiße, wenn wir das Unkraut nicht in den Griff kriegen. Wer weiß was da noch alles unten ist. Vielleicht auch irgendwelche Wurzeln.“
    „Die größeren Steine müssen wir zuerst wegsammeln“, erklärte Kelvin. „Otis, Ulf, Rüdiger, fangt damit schon mal an.“
    „Ach, die alten Säcke sollen Steine schleppen?“ knurrte Rüdiger.
    „Ja, sollen sie“, gab Kelvin keck zurück und feixte.
    Rüdiger knurrte nur und begann zusammen mit seinen beiden Freunden Steine zu suchen. Sie sammelten alle Steine, die größer als eine Hand waren vom Acker und trugen sie zum Straßenrand, wo sie nicht im Weg waren. Währenddessen waren die anderen freiwilligen Arbeiter damit beschäftigt das Unkraut rauszurupfen. Durch das Pflügen würde es später leichter werden, aber so lange das Geschirr noch nicht fertig war, wollten sie nicht einfach nur tatenlos herumstehen.
    Osko wischte sich den Schweiß von der Stirn, nachdem er ein besonders widerstandsfähiges Gewächs mit Stumpf und Stiel aus der Erde gerissen hatte und schlug vor: „Ich würde sagen wir säen das Getreide auf der Ackerfläche direkt beim Hof, da ist es Windgeschützter und es gibt mehr Sonne. Die Rüben können auch am Anfang des Feldes stehen.“
    „Was haben wir überhaupt für Getreide?“ wollte Otis wissen, der das vergessen hatte.
    „Wintergerste“, erinnerte Bengerd ihn.
    „Und das heißt?“ fragte Markus.
    „Brotbacken wird nicht so einfach, aber wir können es sonst vielseitig einsetzen. Brei machen, oder in die Suppe tun, könnten wir auch als Tierfutter nehmen … wenn wir denn Tiere hätten, aber es eignet sich auch um daraus Bier zu machen“, erklärte Bengerd.
    „Sehr gut“, sagte Markus und freute sich.
    „Ich bin froh, dass es Gerste ist“, sagte Leon offensichtlich erleichtert. „Wir fangen erst so spät mit dem Säen an, doch Gerste ist robust. Vermutlich wird es uns nicht gleich erfrieren, wenn der erste Frost kommt.“
    „Trotzdem“, warf Osko ein. „Es könnte schon zu spät sein, wenn die Keimlinge kaum wachsen können, bevor es Arschkalt wird, dann bilden sie keine Nebentriebe und es gibt keinen dichten Bewuchs.“
    „Und was heißt das?“ fragte Otis, weil er keine Ahnung davon hatte.
    „Mickrige Ernte“, knurrte Osko.
    „Ach was, Oktober ist doch richtig“, meinte Bengerd.
    „Der Oktober ist aber schon bald vorbei und dieses Jahr ist es Arschkalt“, gab Osko zu bedenken.
    „Jetzt verdirb hier nicht allen die Laune. Das wird schon …“, brummte Bengerd.
    Gegen Mittag kam Pekro zurück. Er hielt ein Geschirr in den Händen, das mithilfe von Riemen verstellbar war.
    „Kann losgehen!“
    Volker holte einen Ripperverwandlungstrank aus dem Bauernhaus, wo er die Tränke für die Arbeit abgestellt hatte. Bevor er den Korken löste, zögerte er. Vielleicht fragte er sich, wie es sich anfühlen würde, ein Tier zu werden.
    „Wir zählen auf dich“, sagte Otis und hoffte, dass Volker jetzt keine kalten Füße bekam.
    Der junge Mann nickte und trank den Inhalt der Flasche in einem Zug aus. Es war ganz erstaunlich zu sehen wie er sich verwandelte und Ruckzuck stand ein großer furchteinflößender Ripper vor ihnen. Die Bewohner von Montera sprangen erschrocken zurück. Sie hatten natürlich damit gerechnet jetzt einen Ripper vor sich zu sehen, aber sie waren es einfach gewohnt bei wilden Tieren entweder zu kämpfen oder zu fliehen. Volker war aber mindestens genauso überrascht. Aus großen Schweinsäuglein sah er erst zu ihnen und dann an sich selbst herab. Seine Flanken zitterten, offenbar hatte er große Angst.
    „Alles ist gut mein Sohn“, sagte Ulf, der sich als erster an ihn heranwagte und ihm aufmunternd gegen die Flanke klopfte.
    Volker wollte wohl etwas sagen, doch nur ein tiefes Glucksen kam aus seiner Kehle. Wieder schaute er überrascht. Mit zitternden Klauenfüßen setzte er einige Schritte nach vorne. Das beruhigte ihn wohl etwas.
    „Gut, sollten jetzt sehen, ob das Geschirr was taugt“, sagte Pekro und legte zusammen mit Ulf das Geschirr um Volkers Körper.
    Er ließ es geschehen und die beiden Männer zogen an den Riemen, damit es gut saß.
    „Passt.“
    „Gute Arbeit“, lobte Ulf.
    „Komm hierher!“, wies Kelvin Volker an und lotste ihn zum Rand des alten Ackers, damit er von hier starten konnte.
    Otis, Rüdiger und selbst Markus beteiligten sich an der Aufgabe den Pflug an Volker anzuhängen. Ulf hielt hinten am Pflug fest, damit Volker das Gerät nicht ausversehen umriss.
    „Du musst einfach nur der Rille folgen, die Bengerd und ich schon in den Boden gezogen haben“, erklärte Kelvin und strich sich über seinen roten Schopf.
    Volker schaute etwas scheu zu Kelvin und ging dann los. Er war wohl etwas zu stürmisch, denn sein Vater wäre beinahe mitgerissen wurden und er musste sich dann ganz schön beeilen, um nicht zu stolpern.
    „Glaubt wohl der Trank hält nicht lange an“, meinte Markus.
    „Weißt du denn wie lange so ein Trank hält?“ fragte Otis verwundert.
    „Nein“, gab die Stadtwache zu.
    „Na dann ist doch gut, wenn er die Zeit möglichst gut nutzt.“
    Tatsächlich hielt der Trank bis sie ein Viertel des Ackers bearbeitet hatten. Ganz plötzlich verwandelte sich Volker zurück und das Geschirr fiel um seine schmalen Schultern herab zu Boden.
    „Huch“, kam es überrascht von ihm.
    „Gute Arbeit Junge“, lobte sein Vater. „Meinst du, du schaffst noch eine zweite Runde?“
    „Klar, jetzt wo ich einmal dabei bin. Es ist erstaunlich wie leicht mir die Arbeit als Ripper fällt“, antwortete sein Sohn.
    „Sehr schön, aber ich löse Ulf dann ab“, sagte Rüdiger, der sah, dass sein Freund eine Pause brauchte.
    Otis hatte das Gefühl, er würde zu wenig tun. Die anderen trugen alle so viel bei. Naja außer Markus, der eigentlich nur gewichtig herumstand. Otis redete sich damit heraus, dass er nicht genug Ahnung von der Landwirtschaft hatte und deshalb lieber nur das tat, was die anderen von ihm verlangten. Tatsächlich war Volker kaum zu bremsen. Bis zum Abend hatten sie den Bereich, den sie als Feld abgesteckt hatten, komplett gepflügt. Dafür hatten sie drei Verwandlungstränke benötigt. Zwei blieben ihnen also noch. Volker saß jetzt schwer atmend auf einer Bank, trank in großen Zügen Wasser und ruhte sich aus. Alle waren stolz auf ihn. Er war jetzt ein kleiner Held, denn ohne ihn hätten sie es nie so schnell geschafft.
    „Gut. Morgen können wir dann mit der Egge weitermachen. Ich hoffe wir schaffen es mit den zwei übrigen Verwandlungstränken“, sagte Bengert hoffnungsvoll.
    „Es ist aber unfair, wenn immer die gleichen hier arbeiten müssen“, nörgelte Leon.
    „Wir könnten uns aufteilen. Es sollten immer zwei von uns erfahreneren Landarbeitern da sein“, erklärte Osko.
    „Ich bin in der Schicht mit Bengerd, Leon nörgelt mir zu viel“, sagte Kelvin schnell.
    „Wenn du willst“, kam es etwas grantig von Osko zurück.
    „Wer von den Anderen heute gearbeitet hat, sollte morgen nicht hier schuften. Dann könnt ihr euch ausruhen und übermorgen besser anpacken. Volker muss natürlich morgen wieder diese Tränke schlucken. Er hat sich ja dazu bereit erklärt und danach hat er sich eine Woche Ruhe verdient, oder was meint ihr?“ fragte Ulf.
    Die anderen Männer stimmten zu, manche etwas verhalten.
    „Die anderen aus Montera sollten aber auch mithelfen“, nörgelte Leon weiter.
    „Ja, ist ja gut“, kam es von Markus. „Wie hört sich das an, ich frage überall herum wer mithelfen will und wer nicht mitmacht, kriegt auch nichts vom Ertrag ab, außer er bezahlt kräftig was dafür.“
    „Schön, dann trägst du immerhin auch einen kleinen Teil zu allem bei“, stichelte Volker. „Aber du musst dann auch dafür sorgen, dass später keiner was vom Acker klaut.“
    „Sicher doch“, sagte Markus und zwinkerte ihm zu.
    Sie lösten ihre Versammlung auf und gingen nach Hause. Otis war erschöpft, doch auch zufrieden, weil er das Gefühl hatte heute etwas wirklich Wichtiges getan zu haben. Sie zogen alle an einem Strang. Er hatte ein gutes Gefühl. Vielleicht würde ja wirklich alles gut werden, so wie der Befreier Myrtanas es ihnen gesagt hatte.
    Geändert von Eispfötchen (16.01.2022 um 19:43 Uhr)

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    Die Lebensmittellieferung

    In den nächsten Tagen hatte Otis ausgesprochen gute Laune. Auch wenn sich die Lebensmittelsituation nicht gebessert hatte, half es ihm ein festes Ziel vor Augen zu haben und ihm gefiel, dass er mit den anderen zusammen an einem Strang zog. So einen Zusammenhalt hatte er in Montera selten erlebt. Während der Besatzungszeit herrschte eine Atmosphäre der Angst, während der Rebellion hielten dann alle zusammen, doch danach hatte meist jeder für sich versucht irgendwie durchzukommen. Jetzt halfen sie einander wo es nur ging. Nur ein paar wenige Bürger wollten für sich bleiben. Sie halfen nicht dabei den Acker für die Saat vorzubereiten, sie teilten das wenige Essen nicht, dass sie im Wald fanden. Doch Markus meinte, die würden schon sehen, was sie davon haben würden. Allerdings musste Otis bald feststellen, dass der gefühlte und der tatsächliche Zusammenhalt dann doch sehr unterschiedlich waren. Nach einigen Tagen kam tatsächlich die Lebensmittellieferung aus Vengard, ganz so wie der Befreier von Myrtana es ihnen gesagt hatte. Die Truppe bestand aus einem Paladin und zwei Rittern, sowie acht Arbeitern. Sie wechselten sich wohl mit dem ziehen des schweren Proviantwagens ab, denn vier liefen zur Zeit ihrer Ankunft nur müde neben dem mit Kisten und Säcken vollgeladenen Wagen her. Alle diese Männer sahen gut genährt aus.
    „Ich bin Oric und das sind meine Männer. Wir bringen die Nahrungsmittellieferung aus Vengard“, stellte sich der Paladin vor.
    „Der Befreier Myrtanas hat uns schon gesagt, dass ihr kommen würdet“, sagte Martin und lächelte.
    Die Gesichter des Paladins und der Ritter verfinsterten sich, was Otis verwunderte. Er hatte den Helden von Myrtana selbst schon in einer Paladinrüstung herumlaufen sehen, deswegen war er davon ausgegangen, dass er und die Paladine sich gut verstanden.
    „Dieser Schurke!“ spie Oric jedoch aus. „Wie sich herausstellte, hat er das Tor in der Burg im Minental geöffnet und uns so an die Orks verraten. Außerdem hat er einen Ritter bestohlen und später sogar ermordet. Auch wenn er die Orks hier auf dem Festland vertrieben hat und die Drachen tötete, so kann doch nicht einfach jeder machen was er will. Wo bleibt die Gerechtigkeit, wenn so ein Lump frei in der Gegend herumläuft? Früher hätte man ihn einfach eingebuchtet und in irgendeinem Kerker verrotten lassen.“
    Dieser Paladin war ganz offensichtlich nicht gut auf den Erlöser zu sprechen und so wie er redete, fragte sich wohl der eine oder andere, ob der Erlöser wirklich einer war. Die Bewohner Monteras blieben stumm. Niemand wollte den Zorn dieses Paladins auf sich lenken, in dem er etwas Unvorsichtiges sagte. Die Ritter und der Paladin sahen sich abschätzig um.
    „Was ist nur aus Montera geworden? Ist ja eine Schande. Die Stadt ist richtig heruntergekommen und dafür haben wir gekämpft?“ fragte Oric einen seiner Ritter und man konnte ihm leicht ansehen, dass er sehr unzufrieden und verbittert aussah.
    „Ein richtiges Dreckloch ist das hier geworden“, stimmte Tandor seinem Vorgesetzten zu.
    „Was habt ihr mit der Stadt gemacht?“ fuhr Oric jetzt das Volk an. „Könnt ihr keine Ordnung halten? Montera ist zu einem Schandfleck verkommen. Schämt ihr euch nicht in diesem Dreck zu leben?“
    Die Bürger sahen den Paladin stumm an. Die meisten hatten wohl das Gefühl, dass er Recht hatte. Auch Otis fühlte sich beschämt. Er als Tischler hätte vielleicht tatsächlich mehr machen können, um die Stadt etwas herzurichten. Alte Häuser reparieren, das Holz der Hütten pflegen, die Straßen fegen, solche Sachen. Arbeit gab es mehr als genug. Doch er fühlte sich so schrecklich schwach und erschöpft und er musste zugeben, dass er so gar keine Lust auf all diese Arbeiten gehabt hatte. Er schaute in die Gesichter von seinen Nachbarn und ihnen ging es wohl ähnlich.
    „He, du da, komm hierher, erstatte mir Meldung!“ befahl Oric und winkte Markus heran.
    Der trat vor ihn und salutierte.
    „Die Stadt befindet sich in so einem desolaten Zustand, weil die Bürger hungern. Wenn sie bei Kräften wären, dann würde es hier auch nicht so jämmerlich aussehen.“
    Oric sah ihn abschätzig an.
    „Das nennst du eine Meldung? Dir fehlt es an Disziplin, Bürschchen. Du kommst nachher noch einmal zu mir und wir werden das üben! Wenn dieses Lotterleben schon bei der Stadtwache herrscht, dann brauch ich mich gar nicht wundern, warum es in dieser Stadt so aussieht. Wir werden bis morgen bleiben und nachdem wir hier diese Nahrungsmittel verteilt haben, erwarte ich, dass jeder sein bestes gibt und mit anpackt, um diese Stadt wieder etwas herzurichten.“
    Volker neigte sich zu Otis und flüsterte ihm ins Ohr: „Der sollte mal nach Trelis gehen, war gestern da, um mit Rendell zu sprechen. Der hat sogar einen Druidenstein des Schattenläufers bekommen.“
    Er hörte sich ein wenig neidisch an.
    „Jedenfalls sieht es in Trelis noch viel schlimmer aus als hier. Da würde dieser Schnösel bestimmt in Ohnmacht fallen.“
    Otis sah zu Volker und sah wie er feixte. Otis fühlte sich immer noch schuldig und antwortete: „Trotzdem sollten wir etwas aufräumen, meinst du nicht?“
    Volker grummelte nur. Mittlerweile hatte Oric damit begonnen die Lebensmittel zu verteilen und das tat er nicht planlos, sondern es war bestens organisiert. Er führte eine Liste mit allen Namen der Bürger von Montera, alphabetisch geordnet, damit jeder seinen Teil bekam und anschließend hakte der Paladin den Namen ab, damit niemand auf die Idee kam sich einen zweiten Anteil zu erschleichen. Einer versuchte es trotzdem. Ein ehemaliger Rebell, namens Peter, der nach der Befreiung Monteras hierhergezogen war. Beim zweiten Mal gab er sich als Tino aus und behauptete noch nichts bekommen zu haben.
    „Ein Tino steht hier nicht auf der Liste“, sagte Oric streng und blickte Peter dann eingehend ins Gesicht. „Außerdem hast du schon etwas bekommen.“
    Tandor baute sich drohend neben Peter auf, der ganz klein wurde, aber nicht wagte einfach wegzulaufen.
    „Schämst du dich denn nicht, dass du deine Nachbarn um ihren Anteil betrügen willst?“
    „Mistkerl!“ rief Ulf
    „Arschloch!“ kam es von Volker.
    Auch einige andere gaben ihr Missfallen in sehr unterschiedlichen Schmähungen kund.
    „Geh mir aus den Augen! Du hast deine Verwarnung hiermit erhalten, nächstes Mal setzt es was!“ sagte Oric streng und sah Peter nach, bis der in der noch wartenden Menge verschwand die ihn mit verächtlichen Blicken strafte.
    Während sie warteten, fingen Otis und seine Freunde an die Arbeiter, die jetzt nur noch neben dem Wagen herumstanden auszufragen.
    „Wie lange wart ihr denn unterwegs?“ wollte Otis wissen.
    „Fast fünf Tage. Dieser Wagen ist schwerer als ein Troll“, übertrieb einer der Arbeiter.
    „Kräftig seht ihr aber aus“, meinte Ulf.
    „Ja, ihr steht ganz gut im Futter“, bemerkte Rüdiger.
    Der Arbeiter druckste einen Moment herum, dann erklärte er: „Ich stamme eigentlich aus Faring und bin mit meinen Kumpels nur deswegen nach Vengard gekommen, weil es hieß, es würden Leute gebraucht, um die Wagen zu ziehen und wer sich freiwillig meldet, bekommt etwas vom Proviant ab. Da haben wir nicht lange überlegt. Es wären sogar noch mehr mitgekommen, aber es durften nur jeweils acht bei einem Konvoi dabei sein. Von mir aus hätten wir uns auch noch mehr Zeit lassen können. Hätten wir ein wenig gebummelt und wir hätten immer was zu essen gehabt, aber die Blechkameraden da haben uns Beine gemacht.“
    „Gut so, denn sonst hättet ihr uns noch alles weggefressen“, sagte Ulf trocken.
    „He, jeder schiebt jetzt Hunger“, wehrte sich der Arbeiter.
    „Aber wir mehr als ihr“, knurrte Rüdiger. „Also verzieht euch jetzt gefälligst zurück nach Faring!“
    Der Arbeiter warf ihm einen verletzten, aber auch trotzigen Blick zu.
    „Ein Dankeschön wäre wohl zu viel verlangt gewesen, was?“
    Er schüttelte seinen Kopf und ging zu seinen Kumpels zurück, um mit ihnen zu reden.
    „He, ihr wart doch sonst nicht so grantig“, meinte Volker zu seinem Vater und dessen besten Freund.
    „Hunger macht böse“, sagte Otis traurig.
    Jeder bekam ein halbes Kilo Getreide, fünf Rüben und zwei Bier. Im Grunde war das erschreckend wenig, zu wenig, um lange damit überleben zu können, doch niemand murrte, aus Angst der Paladin würde ihnen das wenige Proviant dann wieder wegnehmen.
    Während Otis darauf wartete, dass auch seine Freunde ihr Essen bekamen, überlegte er sich schon einen Plan. Eins der Biere würde er gleich zusammen mit seinen Freunden trinken. Das andere würde er sich für Morgen aufheben. Die Rüben würde er auch in den nächsten Tagen verspeisen, einzig das Getreide würde er über die Tage hinweg strecken und in die Suppen tun.
    „Hätte mir vor zwei Jahren mal einer gesagt, ich würde mich so über etwas Kaninchenfutter freuen, ich hätte ihn wohl ausgelacht“, kam Ulf ihm entgegen.
    „Wollen wir zu Rüdiger nach Hause gehen und dort zusammen kochen?“ schlug Otis vor und seine Augen leuchteten bei der Aussicht einen gemütlichen Nachmittag zusammen mit seinen Freunden zu verbringen.
    „Hört sich gut an“, hörte er Rüdiger sagen, der sich jetzt auch seinen Weg durch die Menge bahnte. „Aber wir sollten uns beeilen. Wenn die Typen es ernst meinen, müssen wir wohl nachher noch raus und hier etwas Ordnung in die Stadt bringen.“
    Otis nickte und zusammen machten sie sich auf den Weg.
    Es wurde eine gute Suppe. Am Vormittag hatte Otis noch einige Kräuter und eine essbare Wurzel im Wald gefunden. Das kam auch mit an die Suppe. Sie achteten darauf fair zu sein. Jeder gab eine Tasse von seinem Getreide in die Suppe und jeder gab eine Rübe dazu. Endlich hatten sie mal eine Suppe, die ihren Hunger auch wirklich stillte. Allerdings war es auch nicht so ein Festessen wie vor ein paar Tagen, als der Befreier von Myrtana ihnen das Bisonfleisch vorbeigebracht hatte. Offenbar ging nicht nur ihnen das durch den Kopf, denn später kamen auch Volker und Markus vorbei, die sich mal wieder kabbelten.
    „… nur so ein bisschen Getreide und ein paar Rüben“, hörten sie Volker sagen, als er durch die Tür trat.
    „Besser als nichts, oder?“ gab Markus zurück.
    „Aber der Befreier hat uns richtig gutes Fleisch gebracht“, entgegnete Volker.
    „Aber der Paladin hat erzählt, dass er die Leute in der Burg an die Orks verraten hat, sogar einen Ritter soll er auf dem Gewissen haben.“
    „Pff, vielleicht hatte der es ja verdient“, sagte Volker abfällig.
    „Lass das bloß nicht diesen Oric hören“, kam es sofort von Markus zurück.
    „Und wer weiß wozu das mit diesem Tor war. Er wird schon wissen was er da macht.“
    „Heirate ihn doch, wenn er dir so gut gefällt“, stichelte Markus.
    „Halts Maul!“ schnappte Volker.
    „Seid ihr nur hergekommen, um zu streiten?“ fragte Ulf genervt.
    „Nein“, antwortete Markus. „Alle sollen rauskommen, um dabei zu helfen Montera auf Vordermann zu bringen.“
    „Dacht ich‘s mir doch“, kam es von Rüdiger.
    Sie kippten rasch den letzten Rest Suppe in ihre Rachen und beeilten sich dann Markus zu folgen, denn sicher würde es Ärger geben, wenn sie sich vor der Arbeit drückten und sie wie sie diesen Paladin einschätzten, war mit ihm nicht gut Kirschen essen. Sie verbrachten den Nachmittag mit kleinen, aber lästigen Aufgaben. Fegen, putzen, reparieren. Otis fand es genauso nervig wie die meisten Bewohner, allerdings hatte er auch das Gefühl diese Arbeiten verdient zu haben, denn in den letzten Monaten hatten sich alle Anstrengungen ausschließlich um die Nahrungsmittelbeschaffung gedreht und alles andere hatten sie vollkommen vernachlässigt. Selbst seine Klamotten hatte er schon lange nicht mehr gewaschen. Jetzt besserte er gerade einen Querbalken im Haus von Sanford aus, damit er über den Winter nicht nachgab und den armen Kerl in den Trümmern des Hauses unter sich begrub. Otis nahm sich vor, mehr auf seine Nachbarn zu achten und ihnen zu helfen. Früher hatte er sich nicht groß um sie geschert. Sie waren eben da, doch wieder hatte er das Gefühl durch diese Arbeiten würde der Zusammenhalt in Montera wachsen und er musste zugeben, dass dieser Oric ein gescheiter Mann war, wenn auch vielleicht nicht sehr sympathisch. Er patrouillierte mit seinen Rittern durch die Straßen der Stadt und achtete tatsächlich darauf, dass sich niemand drückte. Wer es doch tat, dem hielt er eine Standpauke, die sich gewaschen hatte. Otis dachte sich, dass dieser Paladin es wohl nur gut meinte und die Lage des Landes zum Besseren wenden wollte, doch die meisten anderen Bewohner Monteras sahen dies wohl nicht so.
    Geändert von Eispfötchen (29.10.2021 um 18:33 Uhr)

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    Der Wassermagier

    Oric und seine Ritter und Arbeiter zogen am nächsten Tag mit dem leeren Karren ab. Die meisten Bewohner von Montera waren froh darum. Otis konnte Volker und Sanford sehen, wie sie kaum, dass der kleine Tross abgezogen war, ihre Besen fallen ließen und ihre Bögen schnappten um zusammen auf der Suche nach Wild durch den Wald zu stromern. Irgendwie ärgerte und belustigte Otis dieser Anblick gleichzeitig. Zum einen fand er, dass diese beiden jungen Männer ruhig etwas mehr Disziplin aufbringen könnten. Da hatte Oric vermutlich Recht gehabt. Sie lebten hier ein Lotterleben und wenn es so weiterging, dann zerfiel Montera bald vermutlich wirklich in seine Einzelteile. Zum anderen fand er es aber auch schön, dass es selbst in dieser schweren Zeit Freundschaft und den Spaß an kleinen Dingen gab, wie zum Beispiel einer Jagd. Vermutlich würden sie nichts finden, doch allein einfach zusammen loszuziehen und etwas erleben zu wollen, weckte Otis Erinnerungen an seine Jugend. Damals war er auch gerne mit seinem Freund losgezogen. Nicht zur Jagd. Davon hatten sie nie etwas verstanden. Sie waren runter zum Weiher im Wald gegangen, um zu angeln. Was aus seinem Freund wohl geworden war? Als Otis zuletzt von ihm gehört hatte, war er eingezogen wurden, um für den König zu kämpfen. Bestimmt war er im Kampf gefallen. Otis schüttelte den Kopf. Er wollte nicht mehr daran denken, denn er versuchte seinen Kopf mit positiven Gedanken zu füllen. Zum Beispiel damit wie sehr sich Leon freuen würde, weil er ihm dabei half etwas Holz für den Winter zu schlagen. Obwohl Oric und seine Ritter weg waren, wollte Otis auch weiterhin den anderen Menschen in Montera helfen, denn er fühlte sich dadurch nützlich und hoffte, dass die anderen ihm auch halfen, wenn er Hilfe brauchte. Wie er bald erfuhr, musste er an seiner Außenwirkung aber wohl noch etwas arbeiten.
    „Hast du schon gehört? Jurem ist krank“, erzählte ihm Leon.
    Otis Stirn furchte sich.
    „Wer war noch mal Jurem?“
    Leon seufzte.
    „Wenn du dich auch mal für etwas anderes interessieren würdest, als deinen eigenen Hintern wüsstest du das! Jurem wohnt seit der Rebellion bei uns, hinten bei Pekro dem Schmied.“
    „Ach der“, sagte Otis, weil er den Nachbarn von Pekro vom Sehen her kannte. „Was hat er denn?“
    Leon zuckte mit den Schultern.
    „Weiß nicht genau. Friert dauernd und kann kaum Atmen. Schnodderseuche vermutlich. Bestimmt nichts Ernstes.“
    „Und was, wenn doch?“
    Leon zuckte nur mit den Schultern. Offenbar wollte er nichts weiter darüber sagen. Als hätte Adanos ihr Gespräch gehört, sahen sie einen Wassermagier des Weges kommen. Leon und Otis sahen sich überrascht an und ließen ihre Arbeit Arbeit sein.
    „Dich hat wohl Adanos persönlich zu uns geschickt?“ fragte Leon und ging auf den ehrwürdigen Magier zu.
    Der Mann blieb stehen, steckte die Hände in seine Ärmel und lächelte sanft.
    „Sozusagen. Mein Name ist Myxir. Ich bin im Auftrag meines Ordens hier. Natürlich werde ich euch helfen, soweit dies in meiner Macht steht.“
    „Das trifft sich gut. Jurem ist krank. Wir wissen nicht was es ist und er ist vom langen Hunger sowieso schon geschwächt“, beeilte sich Otis zu sagen.
    Er spürte wie der Magier sie musterte. Sie sahen wohl auch nicht wie das blühende Leben aus. Der Wassermagier, der also Myxir hieß, nickte dann und sagte: „Gut, dass ihr mich darüber unterrichtet. Es ist wichtig, dass wir die Krankheit schnell eindämmen, bevor sie sich weiter ausbreitet. Führt mich zu dem Kranken.“
    Otis und Leon gingen voraus und führten den Magier bis zur Tür von Jurems Haus.
    „Bleibt hier!“ wies der Wassermagier sie an und trat ins Haus.
    Leon und Otis hielten sich an die Anweisung, doch sie spähten neugierig durchs Fenster und sahen dabei zu wie sich Myxir über den zitternden und geschwächten Jurem beugte und ihm eine Hand auf die Stirn legte.
    „Hm… starkes Fieber“, murmelte Myxir und suchte in den Taschen seiner Robe, bis er einen gelb schimmernden Trank hervorholte.
    Der Wassermagier half dem Kranken sich aufzusetzen und aus der Flasche zu trinken.
    „Du solltest bald wieder gesund sein. Ich würde dir gerne etwas zu Essen anbieten, doch ich habe leider selbst nichts mehr bei mir“, sagte Myxir traurig. „Ich koch dir stattdessen einen Tee, der wird dich wärmen und viel Flüssigkeit ist wichtig bei einer Erkrankung.“
    Otis und Leon, die immer noch durchs Fenster lugten, warfen sich einen überraschten Blick zu. Also hatte die Hungersnot selbst die Magier ergriffen. Sie sahen noch wie der Wassermagier zur Feuerstelle ging, um sich um den Tee zu kümmern, dann traten sie vom Fenster weg.
    „Muss wirklich schlimm sein, wenn selbst die Obrigkeit nichts mehr zu fressen hat“, sagte Leon beunruhigt.
    Otis nickte und sagte dann unruhig: „Ja und der Winter steht uns erst noch bevor. Ich hoffe wirklich, dass dem Befreier Myrtanas etwas einfällt, um uns über den Winter zu bringen.“
    „Morgen haben wir wieder Felddienst. Mal sehen ob die Pflanzen schon aus der Erde gucken.“

    Wie sie am nächsten Tag sahen, hatten die milden Tage und der Wechsel aus Sonne und Regen dafür gesorgt, dass die ausgebrachte Gerstensaat keimte. Otis konnte kaum glauben, dass er sich so sehr über den Anblick dieser kleinen Pflanzen freute. Aber auch das Unkraut war zurückgekommen und so machte er sich mit Leon, Osko, Sanford, Rüdiger, Ulf und Volker an die Arbeit, um die unerwünschten Pflanzen loszuwerden. Leon beobachtete sehr genau was Otis tat, damit nicht ausversehen eine Gerstenpflanze dran glauben musste. Auch Markus war hier, doch er stand nur herum und machte nichts weiter. Als sie mit dem Unkrautziehen fertig waren und gehen konnten, sah Volker Markus schelmisch an und sagte: „So, du Oberwichtigtuer. Wir gehen jetzt. Du bist ja da, um das Feld zu bewachen. Hier dürfen keine Vögel aufkreuzen, um die Rübensaat zu fressen.“
    Die Stadtwache sah ihn wütend an.
    „Sehe ich etwa aus wie eine Vogelscheuche?“
    „Ja“, gab Volker zurück und lachte.
    „Wäre nur gerecht, wenn du auch etwas beiträgst“, sprang Ulf seinem Sohn bei.
    Markus knurrte, sagte aber nichts weiter. Immerhin war es wirklich nicht zu viel verlangt einfach nur herumzustehen und darauf zu achten, dass sich keine Vögel näherten. Nach der Feldarbeit ging Leon mit Otis zusammen in den Wald, um nach etwas zu Essen zu suchen. Sie hatten Glück und fanden ein paar Pilze und Nüsse. Der Hunger trieb sie sogar dazu das Schilfrohr vom Weiher abzuschneiden und mitzunehmen. Das würde eine harte Kost, aber immerhin war es etwas zu Essen. Leon und Otis teilten ihren Fund zu gleichen Teilen und trennten sich, als sie durch das Statttor von Montera liefen. Otis ging zu seinen Freunden wo sie wieder zusammen kochten und die letzten Rüben und etwas Getreide an die Suppe gaben. Abends legte er sich wieder in seine Hütte und schlief erschöpft ein.

    Es war noch sehr früh am Morgen, als Otis von Stimmen geweckt wurde.
    „Ja, ich hab den Wassermagier gesehen. Er ist mit einem anderen Magier und einem Typen, der wie ein Gauner aussah, aus der Stadt verschwunden.“
    „Was die wohl vor hatten?“
    Otis wurde kurz wütend. Warum mussten die unbedingt direkt vor seinem Fenster stehen und palavern? Er hätte noch so schön weiterschlafen können. Doch dann stand er wacklig auf und trat aus der Haustür. Davor standen Sanford, Ulf und Volker und quatschten.
    „Der Magier ist weg?“ fragte Otis verwundert.
    „Ja, wohl noch in der Nacht. Die Stadtwachen haben ihn und die beiden anderen weg gehen sehen, in Richtung Gotha.“
    „Myxir hatte gesagt, dass er hier für einen Auftrag seines Ordens ist“, erzählte Otis und fühlte sich ein wenig Stolz, weil er das wusste.
    „Wirklich?“ fragte Sanford interessiert. „Hat er noch etwas dazu gesagt?“
    Otis schüttelte den Kopf.
    „Nein, wir sind anschließend zu Jurem gegangen, damit er ihn heilt. Weiß einer von euch, ob es ihm bessergeht?“
    „Dem geht’s wieder gut. Springt schon wieder im Kreis herum und hat angefangen auch bei der Feldarbeit zu helfen“, erklärte Sanford.
    „Mich interessiert brennend was das für ein Auftrag der Wassermagier war“, sagte Volker neugierig.
    „Vielleicht ist es ein Plan, um die Hungersnot zu beenden“, riet Ulf hoffnungsvoll.
    „Glaub ich nicht. Wie sollte das denn gehen?“ fragte Sanford skeptisch.
    „Naja, vielleicht beschwören sie irgendwelche Tiere, töten sie und dann haben wir Fleisch?“ schlug Volker vor.
    Sanford runzelte skeptisch die Stirn.
    „Ich weiß nicht, ob das funktioniert. Ich hab mal gehört, dass man beschworene Viecher nicht essen kann.“
    „Warum denn nicht?“ wollte Volker wissen.
    „Keine Ahnung, seh ich vielleicht aus wie ein Magier?“ gab Sanford barsch zurück.
    Sie rätselten noch eine Weile herum, doch das brachte sie auch nicht weiter. Selbst als Otis an die Arbeit ging, dieses Mal sammelte er für sich selber Reisig im Wald, dachte er immerzu an Myxir und was er wohl in Montera getan hatte. Vielleicht hätte er neugieriger sein sollen? Jetzt würde er vielleicht nie mehr erfahren wozu der Wassermagier hier war. Otis seufzte. Manchmal wünschte er sich nicht nur so ein kleines Licht zu sein, doch dazu fehlten ihm entschieden die Zielstrebigkeit und das Selbstvertrauen.
    Geändert von Eispfötchen (29.10.2021 um 18:33 Uhr)

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    Der Feuermagier

    Die Tage vergingen in beinahe völliger Eintönigkeit. Jeden zweiten Tag arbeitete Otis auf dem Feld, wobei jetzt gar nicht mehr so viel zu tun war. Sie waren sehr gründlich bei der Unkrautbekämpfung und wenn es nichts zu tun gab, saßen sie einfach nur am Rande des Feldes und achteten darauf, dass nicht irgendwelche Vögel herbeigeflogen kamen, um die Rübensamen auszugraben und wegzupicken. Die Gerste wuchs gut. Die anderen Tage verbrachte Otis damit seinen Nachbarn seine Hilfe anzubieten. Er musste allerdings zugeben, dass sein Eifer durch seinen unbändigen Hunger erneut gebremst wurde. Immer öfter ging er dann doch wieder lieber auf eigene Faust los, um nach etwas zu Essen zu suchen, oder für sich selbst Holz zu schlagen. Daher traf es sich ganz gut, dass Rüdiger ihn bei einem Mittagessen im November fragte: „Was hältst du von der Idee den Winter gemeinsam hier in meinem Haus zu verbringen?“
    Otis runzelte die Stirn.
    „Wie meinst du das?“
    Rüdiger schmunzelte und neckte ihn: „Na wie soll ich das schon meinen? Wirklich, manchmal glaub ich, dass du langsamer denkst als ein khorinisches Molerat.“
    Ulf war es, der ihm schließlich erklärte: „Wenn wir hier zusammenwohnen, dann brauchen wir nur einen Ofen zu heizen. Wir könnten uns mit dem Holzhacken abwechseln. Es wäre doch unsinnig, wenn jeder in seiner eigenen Hütte herumgammelt. Wenn wir uns zusammentun wird es leichter für uns alle. Wenn wir so eine Art Winterschlaf machen, dann kommen wir vielleicht über die Runden. Mein Sohn macht auch mit. Den wird sein Bewegungsdrang schon oft genug nach draußen treiben, um Holz zu hacken.“
    Ulf zwinkerte Otis zu.
    „Hört sich ganz gut an. Aber wo sollen wir schlafen?“
    „Wir könnten die Betten hierherschleppen. So weit ist es ja nicht“, schlug Rüdiger vor.
    „Uff, ob ich das schaffe? Ehrlich gesagt fühle ich mich recht schlapp“, gab Otis zu.
    „Macht nichts, zu viert schaffen wir es“, meinte Rüdiger und klopfte seinem Freund aufmunternd auf die Schulter.
    So kam es, dass an diesem Tag drei Betten durch Montera zur Metzgerei geschleppt wurden. Dies erregte bei den Nachbarn einiges Aufsehen und hin und wieder blieb jemand stehen, stupste jemand anders an, zeigte auf das herumgetragene Bett und lachte laut.
    „Was ist denn hier los?“ hörten Volker, Rüdiger, Ulf und Otis auf einmal eine unbekannte Stimme.
    Otis sah sich um und erblickte einen abgemagerten hohen Magier des Feuers. Er war so erstaunt, dass er seine Seite des Bettes losließ. Ulf konnte die ganze Seite allein nicht länger tragen, so dass ihm ebenfalls seine Seite entglitt und auf den linken Fuß fiel.
    „Au!“
    Er hopste voller Pein im Kreis herum und schimpfte wie ein Rohrspatz. Doch niemand achtete auf ihn. Volker und Rüdiger stellten nun auch das Bett ab und schauten so wie die anderen Bewohner wie gebannt auf den Feuermagier, der zuerst auf den herumhüpfenden Ulf sah, dann wieder zu den anderen und leise lächelte.
    „Oh entschuldigt, dass ich mich nicht vorgestellt habe. Ich heiße Sebastian und ich bin hier, um Informationen für diese Chronik zu sammeln.“
    Er hielt ein großes, dickes in Leder gebundenes Buch hoch.
    „Was denn für eine Chronik?“ wollte Rüdiger erstaunt wissen.
    „Wir Feuermagier sind zu dem Schluss gekommen, dass es wichtig ist die Chronik von Myrtana fortzusetzen. Seit der Besatzungszeit der Orks wurde sie nicht mehr weitergeführt. Jetzt endlich ist es an der Zeit die Arbeit daran wiederaufzunehmen. Es ist doch wichtig, dass die Nachwelt erfährt was hier geschehen ist. Deshalb ziehe ich jetzt durch Myrtana und befrage Zeitzeugen zum Orkkrieg.“
    Volkers Stirn runzelte sich.
    „Du warst doch selbst dabei.“
    „Ja, aber es genügt natürlich nicht nur meine Erlebnisse aufzuschreiben. Denkt nur, vielleicht liest in einigen Hundert Jahren jemand dieses Buch. Der Leser soll sich doch ein umfassendes Bild von dieser Zeit machen können.“
    „Wenn dann überhaupt noch jemand in Myrtana lebt“, sagte Rüdiger zähneknirschend.
    „Wir wollen doch mal das beste hoffen“, sagte Sebastian hoffnungsvoll.
    Mittlerweile hatte sich eine große Traube um den Feuermagier und das Bett gebildet. Es war ein wirklich seltsamer Anblick.
    „Nun … wir können zu mir in die Metzgerei gehen. Dort ist genug Platz. Ich kann leider nur etwas Tee und eine dünne Suppe mit einem Rest Getreide anbieten“, bot Rüdiger dem Feuermagier gastfreundlich an.
    „Sehr gern“, sagte Sebastian und sein Lächeln wurde breiter.
    „Wir müssen nur noch eben schnell dieses Bett dort hinbringen“, sagte Rüdiger.
    „Ja und ohne mich. Otis hat mir vermutlich den Fuß gebrochen“, knurrte Ulf, der nun auf einem Holzsstoß seiner Nachbarn saß.
    Er hatte sich den linken Stiefel ausgezogen und besah sich besorgt seinen rasch anschwellenden Fuß.
    „Es tut mir leid, es war ein Unfall“, versuchte sich Otis zu entschuldigen.
    Sebastian sah kritisch auf den Verletzten und sagte: „Ich denke, ich kann hier Abhilfe schaffen. Innos, segne diesen Mann und nimm ihm seine Schmerzen.“
    Sebastian führte einen Fernheilzauber aus und alle anwesenden Bewohner Monteras sahen ihm gebannt dabei zu. Es war immer wieder erstaunlich jemanden zaubern zu sehen. Voller Ehrfurcht standen sie da und glotzten.
    „Ich bin geheilt“, sagte Ulf erstaunt. „Vielen Dank ehrwürdiger Feuermagier.“
    Ulf zog rasch seinen Stiefel an und verbeugte sich ehrerbietig vor dem Magier.
    „Schon gut. Würdet ihr anderen braven Leute bitte diesen Vieren helfen dieses Bett an seinen neuen Bestimmungsort zu bringen?“
    Otis war erstaunt wie schnell jetzt alle mit zufassen konnten. Ruckzuck hatten sie das Bett in die Metzgerei neben den Ofen verfrachtet und ohne, dass Rüdiger sie dazu eingeladen hätte, setzten sie sich rund um den Feuermagier an den Tisch, wobei viele Stühle herumgeruckt wurden und als alle besetzt waren, stellten sie sich rundherum auf. Der Feuermagier war eine willkommene Abwechslung im tristen Alltag und so war die Metzgerei wieder einmal zum Mittelpunkt der Stadt geworden. Rüdiger entzündete rasch ein Feuer im Kamin und hängte die vorbereitete Suppe darüber.
    „Hast du etwas vom Erlöser gehört?“ fragte Volker neugierig.
    Sebastians Gesicht wirkte nun besorgt. Er legte das große Buch vor sich und schlug es auf, dann seufzte er schwer und sagte: „Ja, das habe ich. Er hat Myrtana mit einem großen Schiff verlassen.“
    Es klapperte laut, weil Rüdiger die Suppenkelle hatte fallen lassen.
    „Was?“ fragte er laut.
    Er war nicht der Einzige, der erstaunt aussah. Fast alle Bewohner Monteras machten ein erschrockenes oder besorgtes Gesicht.
    „Das kann nicht sein!“ wollte Volker die Worte des Feuermagiers nicht wahr haben. „Sag mir, dass das nicht wahr ist!“
    Er und einige andere sahen geradezu verzweifelt aus. Sebastian blickte die Bewohner von Montera mit festem Blick an und sagte: „Es ist wahr. Ich kann es leider nicht ändern. Auch ich bin bestürzt über die plötzliche Abreise unseres Befreiers.“
    „Aber … aber …“, stammelte Volker und rang die Hände. „Das kann einfach nicht wahr sein. Er würde uns doch nie einfach so im Stich lassen.“
    Er hörte sich flehentlich an.
    „Warum sollte er einfach weggehen?“ fragte Kelvin.
    „Wo ist er hingegangen?“ wollte Osko wissen.
    „Hat ihm hier jemand Ärger gemacht?“ war Pekros laute Stimme zu hören.
    „Wie sollen wir denn jetzt den Winter überstehen?“ jammerte Leon.
    „Was ist nur passiert?“ fragte jetzt auch Markus.
    Es war Sebastian anzusehen, dass er nicht gerne in dieser Situation war, aber einsah, dass jemand die Bürger Monteras über die Geschehnisse aufklären musste. Er seufzte noch einmal und sagte dann mit trauriger Stimme: „Vielleicht habt ihr mal ein schwarzes Schwert bei ihm gesehen?“
    Einige nickten.
    „Das war die Klaue Beliars. Der Held Myrtanas hat es auf der Insel Khorinis einem Diener Beliars abgenommen und damit die Drachen zur Strecke gebracht. Dieses unheilige Schwert hatte jedoch auch einen schlechten Einfluss auf ihn. Wir Magier fürchteten, dass die Klaue Beliars ihn korrumpieren könnte, deswegen mussten die Wassermagier es ihm abnehmen.“
    „Deswegen war Myxir also hier. Er hat gehofft, der Drachentöter würde nach Montera kommen“, war Sanford zu hören.
    „Na ob das so gut war?“ zweifelte Kelvin.
    „Hätten sie es ihm mal gelassen, dann wäre er bestimmt nicht weggegangen“, sagte Volker trotzig.
    „Aber wenns noch gefährlich war …“, sagte Bengard laut.
    Sebastian ließ sich vom aufkommenden Tumult nicht beeinflussen und redete unbeirrt weiter: „Viele Magier schlossen die Klaue Beliars in eine magische Barriere, damit sie keinen Schaden mehr anrichten würde. Als der Befreier Myrtanas merkte, dass ihm die Wassermagier die Klaue Beliars abgenommen hatten, wurde er sehr wütend. Der hohe Rat in Vengard versuchte ihn zu überzeugen, dass es das Beste wäre, wenn die Klaue unter Verschluss bliebe, aber er teilte die Meinung des Rates nicht. Regent Lee wollte, dass der Befreier Myrtanas der neue König wird, doch der hielt sich nicht für geeignet und lehnte ab.“
    „Was, warum denn das?“ fragte Volker und schien verletzt.
    Auch einige andere sahen aus, als hätten sie den Helden gerne auf dem Thron gesehen.
    „Das Amt des Königs ist eine große Verantwortung und auch wenn er große Taten vollbracht hat, heißt das nicht automatisch, dass er auch ein guter König wäre.“
    „Doch!“ behauptete Volker stur und hieb mit der Faust auf den Tisch, so dass es knallte.
    „Genau!“ grölte Pekro.
    „Naja, ich weiß ja nicht“, meinte Osko zurückhaltend.
    „Lee bemüht sich eigentlich sehr …“, sagte Markus etwas halbherzig und kassierte dafür einige grimmige Blicke. „He, immerhin haben wir Lebensmittellieferungen bekommen, oder?“
    Rüdiger ging derweil zur munter kochenden dünnen Suppe und schöpfte eine große Portion in eine Schale und stellte sie dem Feuermagier ehrerbietig auf den Tisch. Sebastian schenkte ihm ein Lächeln und bedankte sich. Langsam begann er die dünne Suppe zu löffeln.
    „Bleibt Lee jetzt unser Herrscher?“ wollte Ulf wissen.
    „Ja, zumindest zeitweise“, sagte Sebastian und erklärte weiter. „Der Held schlug vor, dass es eine Wahl geben sollte, damit die Bürger Myrtanas den nächsten König bestimmen.“
    Der Tumult erstarb sofort. Alle Umstehenden waren wie vom Donner gerührt und schauten verdattert auf den Feuermagier, der weiter seine Suppe aß. Es dauerte ein wenig, bis die Leute wieder anfingen durcheinander zu reden und neue Fragen zu stellen.
    „Wir dürfen bestimmen?“, „Wirklich?“, „So richtig in echt?“, „Unfassbar“, „Das hat es doch noch nie gegeben, oder?“, „Finde ich toll, dass der Befreier das vorgeschlagen hat“, „Ja, so können wir uns aussuchen wer uns führen soll, unglaublich“, „Wann soll diese Wahl denn sein?“
    „Um die Wintersonnenwende herum“, erklärte Sebastian und tauchte den Löffel erneut in die Suppe.
    „Und was bringt uns das, wenn wir den Befreier zum König wählen und der ist gar nicht da?“ wollte Rüdiger wissen.
    Wieder redeten alle durcheinander. Selbst Sebastian sah jetzt etwas unsicher aus.
    „Vielleicht … vielleicht bezweckt er etwas Bestimmtes mit seiner Fahrt. Vom Feuermagier Milten, der gut mit ihm befreundet ist, habe ich gehört, dass das großartige Schiff mit dem sie von Khorinis hierher gesegelt sind, von Piraten gestohlen wurde. Vielleicht versucht er es zu finden. Es soll sich sehr viel Gold an Bord befinden und vielleicht noch nützlicher und entscheidender ist das Schiff selbst. Denn dem abgewrackten Kutter mit dem im Moment die Fahrten nach Khorinis gemacht werden ist eine längere Schiffsreise nicht zuzutrauen.“
    „Ja genau!“ kam es jetzt von Volker und seine Augen leuchteten fanatisch. „Das muss es sein! Er sucht das Schiff und das Gold! Er wird diese verlausten Piraten zu Beliar jagen, dann kauft er haufenweise Essen ein und bringt das Schiff zurück. Damit wären wir gerettet und wir könnten mit anderen Königreichen endlich wieder handeln.“
    „Das wäre unsere Rettung“, jubelte jetzt auch Pekro.
    „Und was wenn nicht?“ sagte Leon niedergeschlagen. „Was wenn er einfach nur abgehauen ist, weil er die Nase voll hat? Immer muss er hinter uns herräumen. Also ich würde das auch nicht machen wollen.“
    „Ach du!“, schnauzte Volker. „Du Trauerklotz kannst ja auch nichts!“
    „Ach und du glaubst, du bist was Besseres?“ fragte Leon giftig.
    „Ich hab immerhin gewagt mich in einen Ripper zu verwandeln und so das Feld zu pflügen“, sagte Volker wichtigtuerisch und zeigte mit dem Daumen auf seine Brust.
    „Oh, entschuldige, dass ich was gesagt habe, großer Held“, spottete Leon und deutete eine Verbeugung an.
    „Du fängst dir gleich einen Satz warmer Ohren ein!“ schnauzte Volker zurück.
    „Beruhigt euch doch!“ versuchte Sebastian es mit Deeskalation, doch es war schon zu spät.
    Es hatten sich schon zwei Lager gebildet und es kam zu einer ordentlichen Prügelei. Schon flogen Stühle und Schmerzensschreie hallten durch die Metzgerei.
    „Seid ruhig!“
    Sebastian fühlte sich genötigt laut zu rufen und als er aufstand und böse in die Runde guckte, hielten die Bürger Montera‘s tatsächlich in ihrer Prügelei inne. Nur Volker, der gerade von Leon einen Hieb verpasst bekam, gab diesen noch schnell zurück.
    „Wenn ihr euch hier prügelt hilft das keinem. Ich verstehe, dass die Lage schwierig ist. Ihr seid hungrig, ihr seid geschwächt, aber offenbar geht es euch noch gut genug, als dass ihr euch prügeln könnt. Wisst ihr nichts Besseres mit eurer Energie anzufangen?“ fragte Sebastian streng.
    Die meisten sahen betreten zu Boden. Besonders Markus sah verlegen aus. Er als Stadtwache hätte eigentlich für Ordnung sorgen sollen, doch er hatte bei der Prügelei genauso mitgemacht wie die Anderen.
    „Ich weiß nicht warum der Befreier Myrtanas weggesegelt ist. Ich weiß nicht wann er zurückkommt. Wir können nur zu Innos beten, dass es bald sein wird und dass er unsere Rettung bringt. Und nun möchte ich gerne zu meinem eigentlichen Besuchsgrund zurückkehren.“
    Der hohe Magier des Feuers setzte sich wieder und holte Federkiel und Tintenfass aus seiner Robe.
    „Also, wer möchte mir zuerst erzählen was er während der Zeit des Orkkrieges erlebt hat?“
    „Hier ich!“ meldete sich schon der erste zu Wort.
    Es war Pekro, der Schmied. Er setzte sich dem hohen Feuermagier gegenüber und erzählte was in den letzten Jahren geschehen war. Pekro redete langsam und bedächtig. Zuerst war ihm anzusehen, dass es ihm unbehaglich war vor so vielen Menschen zu sprechen, doch nach und nach wurde er offener und konnte selbst schwierige Erlebnisse erzählen. Seine Worte waren oft voller Trauer, Schmerz und Scham. Otis fühlte sich mit Pekro plötzlich seltsam verbunden. So wie er, hatte auch der Schmied seine Familie im Orkkrieg verloren. Er hatte sich unter der Herrschaft der Orks genauso verletzlich, hilf- und hoffnungslos gefühlt. Umso größer war dann die Freude nach der Befreiung. Nach Pekro war Markus an der Reihe und dann Sanford und Ulf. Manche Männer verließen die Metzgerei, denn sie wollten nicht über ihre Zeit während der Belagerung sprechen, doch die meisten blieben, denn sie wollten ihre Erlebnisse weitergeben und auch hören was die anderen erlebt hatten. Bisher hatten sie nur ihren besten Freunden von ihren Ängsten erzählt und wer schon lange in Montera war, wusste natürlich was seine Nachbarn durchlitten hatten, doch es war noch einmal etwas ganz anderes wenn jemand selbst so ausführlich darüber berichtete. Otis konnte fühlen wie die Gemeinschaft von Montera durch diesen wichtigen Besuch des hohen Feuermagiers Sebastian weiter zusammenwuchs. So mancher legte seinem Nachbarn tröstend eine Hand auf die Schulter, oder sagte ein nettes Wort und Otis hatte auch das Gefühl, dass es wichtig war sich aussprechen zu können. Sebastian selbst hatte erzählt, dass er während der Rebellion in Reddock war. Er zeigte viel Verständnis und spendete Trost. Auch wenn er nicht in Montera lebte, fühlten sie sich von ihm verstanden. Er hatte selbst gegen die Orks gekämpft. Er war sozusagen einer von ihnen. Als Otis selbst seine eigene Geschichte erzählte, spürte er wie all der Schmerz, die Trauer und die hilflose Wut wieder in ihm aufwallten. Als er davon berichtete wie die Orks seine Töchter und seine Frau in den Wald brachten, um ihrem Leben ein Ende zu setzen, rannen ihm Tränen über die Wangen. Sebastian spendete ihm Trost und auch seine Freunde waren bei ihm. Otis fühlte sich erleichtert, als er seinen Bericht beendet hatte. Ihm war, als hätte sein Herz eine Steinummantelung abgeworfen. Er fühlte sich seltsam befreit und auch wenn er wusste, dass der Schmerz noch lange in ihm wühlen würde, so hatte er das Gefühl, dass sein Herz jetzt langsam heilen könnte. Weil es draußen langsam dämmerte, holte Rüdiger einige Kerzen herbei, damit der Feuermagier mehr Licht zum Schreiben hatte. Dann setzte auch er sich und erzählte seine Geschichte. Sie sprachen bis tief in die Nacht. Es waren noch lange nicht alle mit ihrer Geschichte an der Reihe gewesen, doch Sebastian sagte, dass sie am nächsten Tag weitermachen würden. Volker bot freimütig an, dass der Magier sein frisch ins Haus gebrachtes Bett für die Nacht nutzen durfte, dann müsste er nicht noch einmal raus in die abendliche Kälte. Er selbst würde bei Freunden unterkommen. Der Feuermagier stimmte zu und kurz vor dem zu Bett gehen legte Rüdiger noch einmal ordentlich Holz in den Kamin, damit es nachts nicht zu kalt wurde.

    Da Otis, Rüdiger und Ulf jetzt zusammen in der Metzgerei wohnten, hörten sie oft mit wenn in den nächsten Tagen immer mal wieder Bürger zu Sebastian kamen, um ihre Erlebnisse aufschreiben zu lassen. Aber nicht nur das. Sie gaben dem Feuermagier auch Briefe mit, denn da er durch Myrtana ging, kam er viel herum und könnte Freunden und Verwandten in anderen Städten ihre Schreiben zustellen. Früher hätte sich ein Feuermagier sicher nicht für solche Dienste hergegeben, doch die Zeit der Rebellion und die Zeit, als Sebastian die Macht der Runen verlor, hatten ihn geerdet. Viele Bürger von Montera hatten durch ihre Berichte dem Feuermagier gegenüber eine gewisse Vertrautheit entwickelt. Freimütig zeigten sie ihm wie sie die neuen Felder angelegt hatten und wie die Gerste bereits gewachsen war. Die meisten hätten ihn gerne noch länger bei sich behalten, doch als der letzte Willige seine Erlebnisse diktiert hatte, verkündete Sebastian er würde am nächsten Tag wieder aufbrechen, um seine Reise fortzusetzen. Sein nächster Halt würde Trelis sein. Otis fand es schade, dass Sebastian schon aufbrechen würde, aber er war sehr froh, dass der Feuermagier sich die Mühe machte durch Myrtana zu reisen. Die Chronik war dem Feuermagier wichtig, dass war ihm ganz klar anzusehen, doch mit seinem Besuch brachte er auch Hoffnung mit und spendete dringend benötigten Trost.
    Geändert von Eispfötchen (12.05.2022 um 21:23 Uhr)

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    Der Winter ist da

    Der Winter war gekommen. Es gab zwar noch keinen Schnee und nur Nachtfrost, aber für die ausgehungerten Männer von Montera war es, als würde ihnen die Kälte direkt in die Knochen fahren. Weil sie so abgemagert waren froren sie leichter. Volker, Ulf, Rüdiger und Otis waren froh für den Winter vorgesorgt zu haben. Zusammen hatten sie vor gut einer Woche eine abgetrocknete vier Meter hohe Fichte am Waldrand gefällt und mithilfe von Gurten in den leerstehenden Schlachtraum geschleppt. So mussten sie noch nicht einmal raus in die Kälte, um Holz zu holen. Der Raum wurde nicht mitgeheizt, aber trotzdem drang etwas Wärme vom Nebenraum herein und das Holz lag trocken, so dass es gut brannte. Jeden Tag war jeder mal an der Reihe, den Baum weiter zu zerteilen und das Holz zu spalten. Sie wussten, die Fichte würde nicht reichen, um sie durch den Monat zu bringen, doch sie wollten noch nicht daran denken einen weiteren Baum zu fällen. Die Plackerei den Baum in die Stadt zu schaffen hatte ihnen gereicht. Im Wald war jetzt fast gar nichts mehr zu Essen zu finden. Alles lag tot und leblos da und Otis bekam das Gefühl, als würde nie wieder Leben in den Wald und die Stadt Einzug halten. Die vier Männer in der Metzgerei verbrachten die größte Zeit des Tages ruhend, doch das wurde Volker bald zu langweilig. Zunächst reichte es ihm mit den älteren Männern Karten- oder Würfelspiele zu spielen, doch dann verschwand er immer länger nach draußen in die beißende Kälte. Wenn er zurückkam erzählte er, dass er bei seinen Freunden Markus und Sanford war, doch dort gab es entweder auch nicht viel zu berichten, oder Volker wollte ihre vertraulichen Gespräche nicht weitertratschen. Heute konnte Volker allerdings wieder von interessanten Neuigkeiten berichten.
    „Eine neue Lebensmittellieferung ist da!“
    Mit einigen Schwierigkeiten rappelten sich die drei älteren Männer auf und folgten Volker aus dem Haus. Tatsächlich war Oric zurück. Offensichtlich hatten er und seine Männer ebenfalls unter der Hungersnot zu leiden. Obwohl sie nicht weniger Männer waren, hatten die Ritter beim Ziehen des Lebensmittelwagens mithelfen müssen. Die Männer aus Faring, andere dieses Mal, wirkten nicht mehr so gut genährt und fast ebenso heruntergekommen wie die Leute aus Montera. Die Rüstungen der Ritter hingen zu locker und selbst der Paladin sah schmaler im Gesicht aus.
    „Die Stadt sieht ja immer noch furchtbar aus“, knurrte Oric, doch dabei beließ er es.
    Ein Blick auf die ausgehungerten Gestalten, die sich ihm näherten, sagte ihm, dass er diese Leute nicht mehr zum Arbeiten motivieren könnte. Heute hielt er keine Reden, doch er hielt sich immer noch strickt nach dem Verteilungsplan. Wie auch beim letzten Mal wurde jeder Name genannt und jeder Bewohner bekam wieder einen halben Kilo Getreide, drei Rüben und zwei Bier zugeteilt. Dieses Mal versuchte sich niemand eine weitere Ration zu erschleichen, da niemand die vor Hunger ohnehin angespannten Nerven des Paladins und der zwei Ritter strapazieren wollte. Zurück bei Rüdiger kochten Otis und seine Freunde aus dem Proviant eine Suppe. Sie erzählten, doch so richtige Freude wollte trotz der neuen Lebensmittel nicht aufkommen und Ulf sprach aus, was sie alle dachten: „Damit schieben wir das Unvermeidliche auch nur weiter hinaus.“
    „Wir müssen durchhalten Vater“, schwor sein Sohn ihn darauf ein.
    Sein Vater seufzte nur. Die Resignation der drei alten Männer reichte Volker wohl, denn er verkündete: „Ich halt das bei euch drei Miesepetern nicht länger aus. Lieber habe ich hoffnungsvolle Menschen um mich.“
    „Hoffnungsvoll, hoffnungsvoll …“, knurrte Rüdiger. „Gar nicht so einfach in diesen Zeiten irgendwie Hoffnung aufzubringen.“
    „Sanford kann das“, sagte Volker trotzig.
    „Dann zieh doch zu ihm“, brummte sein Vater missmutig.
    „Mach ich auch!“ giftete Volker zurück.
    Er trank den Rest seiner dünnen Suppe aus, stand auf, durchschritt den Raum, öffnete die Tür, so dass ein kalter Wind hereinbließ, sah noch einmal trotzig in die Runde und schlug die Tür hinter sich zu. Es war nicht so laut wie Volker wohl erhofft hatte. Ulfs einzige Reaktion auf diese Szene war ein langer Seufzer. Otis und Rüdiger warfen sich einen verwunderten Blick zu, sagten aber nichts. Sie hielten es ganz und gar für eine Sache zwischen Volker und Ulf und wollten sich nicht einmischen. Sie tranken noch etwas Hagebuttentee und legten sich dann in die Betten, die sie rund um den Ofen aufgebaut hatten, damit es möglichst behaglich war. Heute konnten sie dank der warmen Nahrung schnell einschlafen.
    Otis träumte wieder von dem Tag als er von den Orks aus seinem Haus getrieben und seine Familie getötet wurde. Gerade wurde er vor die Stadt geschleift, als ein Scheppern und Poltern ihn aufschreckte. Er war hellwach. Er musste lange geschlafen haben. Im Ofen glühte nur noch etwas Asche. So war es schwer etwas zu erkennen. Otis musste nicht mal aufstehen, um Holz nachzulegen. Unter seinem Bett hatte er einen kleinen Stapel aufgeschichtet, von dem er nun drei Holzscheite in den Ofen legte. Noch leckten die Flammen nur am Holz, so dass er nicht erkennen konnte was für das Poltern verantwortlich war. Ulf neben ihm sah müde hoch, doch Rüdiger war bereits auf den Beinen, denn er hatte wohl einen üblen Verdacht. Im Dunkeln konnte Otis nur seine schemenhafte Gestalt ausmachen.
    „Hab ich‘s mir doch gedacht!“ brüllte Rüdiger mit erstaunlich lauter Stimme.
    Otis sah wie sich Rüdigers Gestalt bückte, dann polterte es und jemand anderes wehrte sich fluchend. Der Eindringling hatte wohl versucht sich unter der Anrichte zu verstecken.
    „Peter, du elende aus der Latrine gekrochene ins Hirn geschissene Fleischwanze!“ schimpfte Rüdiger und prügelte mit seiner knochigen Faust immer wieder auf den ehemaligen Rebellen ein.
    Aus dessen Händen kullerte eine angebissene Rübe.
    „Zeig’s dem dreckigen Dieb!“ rief Ulf und war nun auch erstaunlich schnell auf den Beinen.
    Peter und Rüdiger rangen trotz der hochgekochten Emotionen etwas kraftlos miteinander, bis sich Peter Rüdigers schwachem Griff entziehen konnte. Peter trat rasch einige Schritte zurück und zog sein grob geschmiedetes Schwert, ein wilder Ausdruck in seinen Augen.
    „Schwirrt ab, oder ich bring euch um!“
    „Du Aasgeier! Unfassbar, dass ich mal Respekt vor dir hatte, weil du ein Rebell warst“, schimpfte Ulf. „Du bist eine Schande!“
    Peter erwiderte nichts, hielt nur demonstrativ sein Schwert ausgestreckt, in dessen Klinge sich nun die auflodernden Flammen des Ofens spiegelten. Seine Augen huschten von Rüdiger zu Ulf, dann kurz zu Otis, der wie versteinert auf seinem Bett saß und nur gaffte und wieder zurück zu den anderen beiden Männern, die er als die größte Gefahr sah. Dann bückte er sich rasch, um die Rübe aufzunehmen. Schon waren Rüdiger und Ulf zwei Schritte auf ihn zugegangen, wobei der Metzger nach einem Schlachtmesser griff, dass auf der Anrichte lag. Peters Augen verengten sich, als er auf die Waffe sah. Er ging nun rückwärts auf die Tür zu und hielt das Schwert drohend vor sich.
    „Ja, verzieh dich du Arschloch!“ brüllte Rüdiger Peter nach, der rasch die Tür geöffnet und nach draußen gerannt war.
    Die anderen folgten ihm nicht. Dazu fehlte ihnen die Kraft. Um sich gegenseitig zu beschimpfen reichte sie aber noch.
    „Und du? Sitzt einfach nur da! Hättest ja mal was machen können!“, schnarrte Rüdiger.
    „Was denn?“, wollte Otis wissen.
    „Egal, irgendwas. Ihm den Weg versperren, oder so“, meinte der Metzger.
    „Der hatte ein Schwert!“, rief ihm Otis ins Gedächtnis.
    „Ja, ich weiß“, knurrte Rüdiger zurück.
    „Peter ist ein Arschloch“, bekräftigte Ulf noch mal und hoffte seine beiden Freunde so zu versöhnen. „Wir können ja nichts dafür, dass er hier eingebrochen ist. Abgeschlossen war, das weiß ich, weil ich selbst abgeschlossen habe.“
    „Tja und wie sicher sind wir, wenn jeder Hanswurst unser Schloss knacken kann?“ echauffierte sich Rüdiger.
    „Immerhin hast du gemerkt, dass er da war“, versuchte Otis Rüdiger zu beruhigen.
    „Ja, weil der Depp auf der Suche nach unserem Essen die Pfannen runtergerissen hat. Volltrottel. Wäre er auch nur ein wenig geschickter gewesen, diese miese kleine Ratte hätte uns alles unterm Hosenboden weggeklaut“, grollte Rüdiger weiter.
    Ulf und Otis warfen sich einen vielsagenden Blick zu, dann schlug Ulf vor: „Wir können ja Wachen einteilen. Ich bin jetzt eh zu aufgeputscht um weiter zu schlafen.“
    „Ich auch“, brummte Rüdiger.
    „Ich auch“, kam es nun auch von Otis.
    Sie saßen einige Zeit einfach nur auf ihren Betten und immer mal wieder schimpften sie auf Peter. Mehr fiel ihnen nicht ein. Nicht wie sie sich vor weiteren Übergriffen schützen sollten, nicht wie sie ihre allgemeine Lage verbessern könnten. Ihnen fehlte nicht nur die Kraft etwas zu ändern, sondern auch die Ideen.

    Am nächsten Tag kam Volker zu Besuch und sie erzählten ihm gleich was in der Nacht passiert war.
    „Oh Mann, dann ist hier schon mal was los und ich bin nicht da“, sagte Volker gedankenlos.
    „Wie kannst du sowas sagen? Rüdiger hätte draufgehen können!“ ermahnte Ulf seinen Sohn.
    „Ach Peter kann doch nichts“, meinte Volker großspurig.
    „Ach? Immerhin war der mal Rebell. Der kann kämpfen und er war entschlossen an unsere Vorräte zu kommen“, hielt Ulf dagegen.
    „Ja, ist ja gut. Ich geh mal zu Markus und sag ihm, dass ein Dieb sein Unwesen treibt“, sagte Volker, froh seinen Freunden endlich eine spannende Geschichte auftischen zu können.
    Ulf, Rüdiger und Otis verließen das Haus nicht. Heute hatten sie beschlossen eine besonders große Portion zu kochen. Besser im Magen, als dass ihnen wieder jemand Lebensmittel stahl. Mehr war ihnen nicht eingefallen. Sie waren gerade dabei ihre Suppe zu essen, als Volker zurückkam.
    Er wirkte wie jemand, der gerade höchstselbst mit bloßen Fäusten einen Troll erlegt hätte.
    „Markus und die anderen von der Stadtwache haben Peter dingfest gemacht. Hat sich gerade aus der Stadt verpissen wollen. Haha. So ein Trottel. Hätte gleich gehen sollen, doch er hat erst noch ordentlich bei Osko geklaut. Dann hat er sich mit dem Essen den Bauch vollgeschlagen und hat gepennt und als er aufgewacht ist, war er wohl der Meinung, dass es Zeit wäre sich vom Acker zu machen. Haha, so ein Idiot“, höhnte Volker.
    „Und was macht die Miliz jetzt mit ihm?“ wollte Rüdiger angespannt wissen.
    „Die haben ihn eingesperrt“, erklärte Volker trocken.
    „Und?“, bohrte Rüdiger weiter.
    „Und was? Das wars. Der bleibt jetzt erstmal in der Zelle. Da ist es Arschkalt, glaub mir, dass ist kein Spaß.“
    „Aber er hat uns mit dem Tod gedroht und Essen zu stehlen ist in diesen Tagen ein schweres Vergehen“, entgegnete Rüdiger.
    „Und was soll die Miliz deiner Meinung nach mit ihm machen? Ihn an den Galgen hängen?“ fragte Volker und hob eine Braue.
    Rüdiger schwieg. Dazu wollte er wohl nichts sagen.

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    Futterneid

    Die nächsten Tage verliefen langweilig und monoton. Nicht ein einziger Sonnenstrahl drang durch die triste, trübe Wolkendecke. Sie kochten ihre Suppe, spielten Karten und Würfelspiele und verschliefen den Rest der Zeit. Erst als ihre Vorräte aufgebraucht waren gingen sie jeden Tag in den Wald und suchten nach Essbarem. Der bestohlene Osko tat sich mit ihnen zusammen und das war ihr Glück, denn er kannte sich gut mit essbaren Wildpflanzen aus. Da ihre Kräfte deutlich nachgelassen hatten, bewegten sie sich wir uralte Männer. Sie froren bitterlich. Ihre langen Wintermäntel kamen ihnen erdrückend vor, doch sie schützten vor der beißenden Kälte. Ihre Mahlzeiten bestanden in den nächsten Tagen aus Rohrkolben, Waldschaumkraut, Brombeerblättern, Sauerampfer, Fingerkraut, Löwenzahn, Nelkenwurz, Beinwell, Knoblauchsrauke, Gundermann, Spitzwegerich, Sauerklee, Giersch, Vogelmiere, Labkraut und silbernen Taubnesseln. Jetzt im Winter waren die Pflanzen schwer zu finden und sie schmeckten meist bitter und herb. Während ihrer Suche mussten sie immer öfter rasten, da sie zu geschwächt für längere Ausflüge waren. So waren sie oft den ganzen Tag unterwegs und obwohl sie manchmal mit einem gut gefüllten Sack nach Hause kamen, war es für die Anstrengungen doch ein magerer Gewinn. So waren sie sehr erstaunt, als sie nach einem weiteren Tag im Walde Montera in heller Aufregung vorfanden. Zwei Männer waren in die Stadt gekommen. Besonders der eine tönte laut, sie wären Drachenjäger und hätten drüben in Khorinis zusammen mit dem Helden von Myrtana und einem anderen Drachenjäger einen Drachen im Sumpf getötet. Otis kannte sich nicht gut mit Rüstungen aus, doch tatsächlich sahen die roten Rüstungen der beiden beeindruckend aus. Sie trugen sogar gehörnte Helme mit vergittertem Gesichtsschutz. Jedem war sofort klar, warum die beiden Männer ihre Stärke hervorhoben. Niemand sollte auch nur auf den Gedanken kommen sich gegen sie zu stellen. Sie standen am Eingang der Stadt und holten rotes Fleisch aus einem Sack und hoben es hoch, damit es wirklich alle sehen konnten.
    „Bestes Bisonfleisch aus Silden. Wir verkaufen es euch. Hundert Goldstücke für jedes Stück“, sagte der schmalere Drachentöter.
    „Das sind aber kleine Stücke. Kaum hundert Gramm und dafür wollt ihr hundert Goldstücke?“ knurrte Rüdiger, der mit seinem erfahrenen Blick das Gewicht gut abschätzen konnte.
    „Ja, genau“, antwortete der Drachenjäger mit der leichten Rüstung.
    „Du Cipher, findest du das nicht ein bisschen viel?“ fragte jetzt sogar der größere Drachenjäger.
    „Pscht, Rod, halt die Schnauze! Lass mich das machen“, zischte ihm der schmalere Drachenjäger, der also Cipher hieß, zu.
    Er richtete sich auf, kratzte sich fast schon demonstrativ im Schritt und tönte: „Ihr könnt das Fleisch für hundert Goldmünzen pro Stück kaufen, oder hungrig nach Hause gehen. Eure Entscheidung. Wer versucht sich das Fleisch mit Gewalt zu nehmen, wird uns von einer anderen Seite kennen lernen. Wir haben einen Drachen getötet. Da habt ihr keine Schnitte gegen uns.“
    Die Bürger von Montera murrten und schauten mit finsteren Blicken zu den beiden Drachenjägern.
    „Was für Großkotze“, knurrte Ulf, aber so leise, dass die beiden ihn nicht hören konnten.
    „Ich habe keine hundert Goldstücke“, jammerte Osko.
    „Ich auch nicht“, gab Ulf zu.
    „Gehen wir erstmal nach Hause und suchen alles Wertvolle zusammen was wir eintauschen könnten“, kam von Otis mal ein brauchbarer Vorschlag.
    Sie brachten den Jutesack mit den Wildkräutern zunächst zu Rüdiger, wobei Osko nochmal betonte, dass er auch seinen Anteil von ihrem Fund wollte und ihn sich später holen würde, dann trennten sie sich und jeder schritt so schnell wie die wackligen Beine sie trugen zurück zum eigenen Haus. Natürlich lag ihr Gold nicht offen herum, doch angesichts der Tatsache, dass es bisher sowieso keine Lebensmittel mehr zu kaufen gab war die Bedeutung des Goldes in den Hintergrund gerückt. Otis dachte darüber nach, als er im Versteck unter den Holzdielen nach seinem Gold kramte. Seine goldene Reserve hatte dort all die Zeit überdauert. Einiges hatte er bereits ausgegeben, als es noch Essen zu kaufen gab, doch ein nicht unbeträchtlicher Teil war übrig geblieben. Otis holte zwei der mit Gold gefüllten Lederbeutel hervor. Es waren früher drei gewesen und in ihnen lagerte das Gold, das für die Mitgift seiner Töchter gedacht war. Das Herz wurde ihm schwer. All die Jahre, in denen er das Gold angespart hatte, hätte er nie gedacht, dass er es für etwas anderes als die Hochzeit seiner Töchter ausgeben würde. Noch nie in seinem Leben fühlte er sich so kraftlos wie in eben diesem Moment. Er hockte auf dem staubigen Boden, sah auf die beiden Goldbeutel und Tränen rannen ihm übers Gesicht. Zunächst versuchte er sie wegzuwischen, doch dann ließ er es bleiben, gab der Trauer nach und schluchzte hemmungslos. So saß er eine Weile, bis er jemanden an der Tür hörte. Es war Osko.
    „Otis? Was ist los? Hast du nicht genug Gold gefunden?“
    Otis sagte nichts und als Osko schließlich eintrat und ihn mit dem Gold sah, stand die Verwirrung in sein Gesicht geschrieben.
    „Was ist denn?“
    „Dieses …“, fing Otis an, doch ein letzter Schluchzer unterbrach ihn und er musste tief einatmen um wieder die Kraft für das Gespräch zu finden. „Dieses Gold … es war für meine Töchter bestimmt und jetzt … sind sie … sie sind tot.“
    Osko sah bestürzt auf dem am Boden zerstörten Otis. Zögerlich setzte er sich zu ihm, tätschelte ihm tröstend auf die Schulter und hörte ihm zu. Otis redete lange. Es war nicht viel, denn immer wieder unterbrach er sich und fing Sätze neu an. Vermutlich klang sein Gerede daher etwas wirr und vielleicht dachte Osko daher, dass es mit ihm losginge. Schließlich half Osko Otis aufzustehen und sagte: „Na komm, gehen wir zu den beiden Drachentötern, sonst bekommst du doch kein Fleisch mehr ab.“

    Trotz der Wucherpreise war tatsächlich schon reichlich Fleisch weggegangen. Sie konnten sehen wie Pekro im Tausch für zwei Fleischstücke seinen gesamten Vorrat an Bolzen eintauschte und versprach den riesigen Zweihänder des größeren Kerls zu schleifen. Bengerd hatte mühsam neunzig Goldstücke zusammengekratzt und bettelte nun zu Füßen der Drachenjäger, damit er trotzdem Fleisch bekam. Besonders Cipher sah so aus, als würde er sich gar nicht beeilen das Geschäft voranzutreiben, lieber ließ er den verzweifelten und ausgehungerten Bengerd noch etwas zappeln.
    „Jetzt reicht’s aber!“ knurrte Markus und baute sich vor Cipher auf.
    „Was willst DU denn?“ höhnte Cipher abfällig. „Willst wohl kein Fleisch, oder was?“
    Markus grollte. Sie sahen alle wie es in ihm arbeitete. Wenn er sich weiter für Bengerd einsetzte und Cipher drohte, dann würde der ihm vielleicht kein Fleisch verkaufen, selbst wenn er hundert Goldstücke aufbringen konnte.
    „Gib ihm doch einfach ein kleineres Stück“, wagte Markus dann aber trotzdem zu sagen.
    „Hm… ja, das könnte ich machen“, sagte Cipher hochmütig und lächelte verschlagen. „Aber werde ich das auch tun?“
    Bengerd jammerte noch ein wenig und dann sagte Cipher, ganz so, als hätte er dessen Unterwürfigkeit nicht genossen: „Na schön, hör schon auf zu jammern, du kriegst ja dein Fleisch. Los Rod such ihm ein kleines, aber schönes Stück heraus!“
    Rod steckte den Kopf in den Sack, um ihn abzusuchen und tauchte dann mit einem Stück wieder auf, das wirklich kleiner war. Bengerd tauschte sein letztes Gold für das kleine Stück, stand rasch auf und ging damit davon, wobei er die erbettelte Nahrung wie einen Schatz hütete. Einige andere Bewohner Montera‘s, die sich nichts hatten leisten können warfen begehrliche Blicke darauf.
    „Jeder behält seine Finger bei sich!“ polterte Markus und er und seine drei Kollegen achteten darauf, dass nicht geklaut wurde.
    „Ich hab nur fünfzig Goldstücke, aber dann gib mir doch einfach ein halb so großes Stück“, sagte Kelvin und versuchte es mit einem freundlichen Lächeln, doch Cipher lachte nur.
    „Haha, so hab ich mir das gedacht. Da sind wir so großmütig und entgegenkommend und dann wird das gleich wieder ausgenutzt. Man reicht den kleinen Finger und ihr wollt wieder den ganzen Arm, aber nichts da! Wer nicht genug Gold hat, soll sich verpissen!“
    Kelvin warf Cipher einen bösen Blick zu, doch anders als Bengerd bettelte er nicht, offenbar hatte er seinen Stolz. Er reckte das Kinn und ging dann davon. Otis trat nun vor. Er tauschte heute das meiste Gold gegen Fleisch und bekam sechs Stücke.
    „Willst den anderen wohl nichts überlassen, wie?“ fragte Cipher und grinste tückisch.
    Eigentlich sollte er froh sein, dass jemand mit so viel Gold daherkam, doch selbst das wandelte er wieder in eine Schmähung, einfach weil er es konnte, weil er sich überlegen fühlte und wusste, dass er in diesem Moment für die anderen unantastbar war.
    „Ich teile mit meinen Freunden“, entgegnete Otis ruhig und er war selbst ein wenig erstaunt über seinen Mut.
    „Da können deine Freunde aber froh sein, dass sie so einen alten abgewrackten klapprigen Kauz zum Kumpel haben“, sagte Cipher und lachte wieder.
    Es war ganz offensichtlich, dass er jeden einzelnen Moment in vollen Zügen auskostete. Der andere Drachenjäger namens Rod, stand nur da wie ein Fels. Vermutlich wäre es vorschnell ihn als simpel im Kopf zu bezeichnen, denn vielleicht war er einfach nur ein ruhiger Mann, doch ganz offensichtlich überließ er das Reden und Verhandeln Cipher und griff nur ein, wenn zu viele Bürger um sie herumwaren und sie weiterhin anbettelten. Diese Leute wurden von ihm mit einem groben Stoß zurückgeschupst. Otis machte sich mit seinem gekauften Fleisch so schnell davon wie seine kraftlosen Beine ihn trugen, dabei musste er sich gegen andere Bewohner Monteras behaupten, die nicht so viel Gold hatten.
    „He, so viel Fleisch brauchst du doch gar nicht, gib mir doch auch etwas ab“, versuchte Leon ihm etwas abzuschwatzen.
    „He reicher Mann, denk doch auch mal an die armen Hungerleider“, versuchte Kelvin ihm ein schlechtes Gewissen einzureden.
    „Bitte gib mir was ab, nur ein kleines Fitzelchen, ich verhungere sonst“, jammerte Jurem.
    Es tat Otis in der Seele weh, doch er konnte nichts hergeben, da das sein eigenes Überleben gefährden würde. Osko ging schweigend neben ihm her. Er bettelte und jammerte nicht, doch an seinen Augen erkannte Otis, dass er sich auch etwas erhoffte.
    Die Schar der Bittsteller zerstreute sich erst, als vom Eingang Monteras ein Ruf herüberwehte: „He, braucht jemand Gold? Ich leihe euch welches.“
    Sofort hielten Kelvin, Jurem und Leon inne und drehten sich zum Urheber des Rufes um. Auch Otis und Osko sahen neugierig zurück. Dort, am Eingang der Stadt, stand ein Mann mit schwarzen, aber langsam ergrauenden Haaren und Schnauzbart. Über den Rücken trug er einen Kriegsbogen und an seiner Seite hing ein Degen. Er sah wie ein alter Kämpfer aus. Otis hatte ihn noch nie gesehen. Er sah wie sich einige Bürger Monteras um ihn drängten und darum baten bei ihm Geld leihen zu dürfen. Otis wandte sich ab. Er hielt nichts vom Leihen. Selbst in so schweren Zeiten nicht.
    Zurück in der Metzgerei sah Otis wie der Herr des Hauses ein Stück Fleisch briet. Er hatte sich eins erkaufen können. Ulf nicht. Er saß am Tisch und sah Rüdiger zu, während ihm der Zahn tropfte.
    „Was hat DICH denn her verschlagen?“ fragte Rüdiger Osko ruppig.
    Er fürchtete wohl sein Fleisch gegen noch jemanden verteidigen zu müssen.
    „Mein Anteil von den Wildpflanzen“, erklärte Osko knapp.
    „Stimmt“, sagte Ulf, der aufstand und zum Jutesack ging, um etwas zu tun zu haben.
    Er teilte die Kräuter in vier gleichmäßige Häufchen und sagte dann: „Hier bitte sehr.“
    Osko holte selbst einen kleineren Sack hervor und wollte seine Beute einstecken.
    „Warte …“, kam es von Otis, der es nicht mehr mit ansehen konnte. „Du hast uns mit deinem Pflanzenwissen geholfen. Ohne dich hätten wir viele der Wildpflanzen gar nicht erkannt, oder vielleicht sogar welche gesammelt, die unverträglich sind. Du hast dir ein Stück Fleisch verdient.“
    Oskos Augen leuchteten auf.
    „Danke“, sprach er das selten gewordene Wort aus.
    „Und was ist mit mir? Krieg ich auch was?“ kam es sofort ruppig von Ulf.
    Das enttäuschte Otis, denn er hatte gehofft sein Freund würde entweder wissen, dass er ihm natürlich etwas abgab, oder in einem freundlicheren Ton fragen.
    „Natürlich bekommst du auch was“, sagte Otis und reichte Ulf ebenfalls ein Stück.
    „Gut, ich dachte für einen Moment schon, es hätte jeder hier in Montera vergessen, dass ich mein letztes Schwein geopfert habe“, brummte Ulf verbiestert.
    „Nein, haben wir nicht“, sagte Rüdiger und es hörte sich so an, als wäre das Thema vorhin schon ein paar Mal zur Sprache gekommen.
    Sie bereiteten einen Wildkräutersalat zu, während das Fleisch munter in den Pfannen brutzelte. Leckerer Bratengeruch waberte durch die Metzgerei und wässerte ihren Mund. Zu viert saßen sie dann am Tisch und genossen ihr Festmahl. Es schmeckte herrlich. Als Beilage eigneten sich die Wildpflanzen hervorragend, denn die Bitterkeit ließ den Geschmack des saftigen Fleisches noch kräftiger erscheinen. Zufrieden saßen sie noch eine Weile da und als Rüdiger schließlich aufstand, um neues Holz nachzulegen fragte Osko: „Ich sehe, ihr habt hier noch ein Bett frei. Darf ich auch hier schlafen? Weniger Heizkosten.“
    Rüdiger drehte sich sofort um und brüllte: „Kommt gar nicht infrage! Wenn wir mal kurz nicht hingucken klaust du Otis sein Fleisch.“
    Osko zog unter Rüdigers plötzlicher Wut den Kopf ein, doch er entgegnete dann ebenfalls mit erhöhter Lautstärke: „Was du wieder denkst. Ich dachte nur, wir hätten uns in den letzten Tagen angefreundet, aber da hab ich wohl falsch gedacht.“
    Er stand ruckartig auf, packte seinen übrig gebliebenen Anteil an Wildpflanzen in seinen Sack und während er hinausging, warf er Rüdiger einen beleidigten, aber auch bösartigen Blick zu. Die Tür knallte.
    „Der lügt doch“, meinte Rüdiger und ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen.
    „Vielleicht fühlt er sich aber wirklich als unser Freund und … nun … irgendwie sehe ich ihn auch schon fast als Freund“, sagte Otis.
    „Pah! Der wollte sich doch nur lieb Kind machen und hat ja funktioniert, oder? Er hat seinen Teil vom Fleisch abbekommen“, grollte Rüdiger, so als hätte ihn das persönlich beleidigt, oder so als ärgerte er sich, dass er selbst nicht auch Fleisch geschenkt bekommen hatte.
    Otis erkannte, dass das Fleisch Zwietracht säte und richtig, die nächsten Stunden wurden nicht einfach. Er hatte das Gefühl, dass jeder jeden belauerte. Wenn Otis Rüdiger und Ulf ansah, dann schauten sie meist rasch weg, so als fühlten sie sich ertappt. Dachten sie vielleicht darüber nach wie sie Otis bestehlen konnten? Sie waren Freunde, doch beim Kampf gegen das Verhungern hörte die Freundschaft wohl auf. Diese Feststellung erschütterte Otis Seele tief, denn er hatte geglaubt, dass er ihnen uneingeschränkt vertrauen könnte. Immerhin, bisher hatten sie nichts gestohlen, aber vielleicht war das der letzte Rest Menschlichkeit, der sie davon abhielt. Schlafen wollte heute irgendwie so recht keiner. Jeder meinte, er wäre nicht müde. Als Volker schließlich durch die Tür kam, merkte der schnell wie die Stimmung war.
    „Na, habt ihr ordentlich reingehauen?“ fragte Volker und lächelte schief.
    „Geht dich gar nichts an!“ schnauzte Rüdiger.
    „He, rede nicht so mit meinem Sohn!“
    „Und was will der hier überhaupt?“ polterte Rüdiger.
    „Schluss jetzt! Volker hat immerhin lange mit uns unter einem Dach gelebt und jetzt keifst du ihn so an!“ rief Otis ihn zur Ordnung.
    Rüdiger sah immer noch mürrisch aus, aber er wagte nicht Widerworte zu geben. Die Macht des Fleisches lag nun bei Otis. Rüdiger wollte es sich nicht mit ihm verscherzen, denn er spekulierte darauf noch eins der verbliebenen Stücke zu bekommen.
    „Was läuft denn hier?“ fragte Volker verwundert.
    Otis lächelte ihn entschuldigend an.
    „Ach, wir verlieren nur gerade unsere Menschlichkeit“, sagte er abgeklärt.
    Volker schaute verdutzt.
    „Hast du denn etwas Fleisch abbekommen? Wenn nicht, ich hab noch drei Stücken da. Du könntest eines bekommen“, bot Otis freimütig an.
    Es wirkte wie der verzweifelte Versuch sich selbst zu Beweisen noch nicht vollends in die Barbarei abgekommen zu sein. Rüdigers Augen verengten sich bei Otis Worten, doch er hielt den Mund. Volker sah von einem zum anderen und er sagte das einzig richtige in diesem Moment: „Nein, ich hab mir etwas kaufen können. Wenn es noch genau drei Stücke sind, dann sollte jeder von euch eins bekommen.“
    Rüdiger seufzte erleichtert auf und selbst Ulf sah froh aus, dass sein Sohn sich so entschieden hatte. Otis fühlte sich selbst erleichtert und das versetzte ihm einen Stich. Wie hatte es nur so weit kommen können, dass er so fühlte?
    „Sanford und ich, wir wollen morgen nach Silden aufbrechen und uns die Bisons ansehen. Vielleicht können wir ja auch etwas erjagen. Dann können wir Fleisch für ganz Montera mitbringen.“
    Otis konnte gar nicht sagen wie wohltuend es war Volker zu sehen, der noch so voller Optimismus steckte. Ein ganz kleines bisschen erinnerte Volker ihn an den Helden von Myrtana. Der war auch optimistisch und weigerte sich selbst in den dunkelsten Stunden aufzugeben.
    „Das ist eine gute Idee, mein Sohn. Ich wünsche euch viel Glück und Jagderfolg. Kommt heil und mit Beute nach Hause“, sagte sein Vater, stand mühsam auf und umarmte seinen Sohn.
    Der war ganz überrascht von dieser plötzlichen Zuneigungsbekundung.
    „Ich … wir kriegen das schon hin. Mach dir keine Sorgen. Und ihr auch nicht“, sagte er dann über die Schulter seines Vaters blickend an dessen Freunde gewandt.
    „Bist ein guter Sohn“, sagte Ulf, strich Volker noch einmal über den Kopf und tätschelte ihn dann dreimal ruppig.
    Volker entwand sich und verließ dann das Haus.
    „Er ist ein guter Sohn“, wiederholte Ulf und setzte sich wieder an den Tisch.
    „Ist er wohl“, meinte Rüdiger.
    Otis hoffte, dass Volkers Auftauchen etwas verändert hätte, doch dem war nicht so. Sie machten die Nacht mit Kartenspielen durch. Einmal äußerte Rüdiger sogar den Vorschlag, sie könnten um das Fleisch spielen, doch Ulf und Otis wiesen das mit harten Worten zurück. Irgendwann hielt Otis es nicht mehr aus und schlug vor das Fleisch zu braten und zu essen, damit diese schwierige Situation überstanden war. Vermutlich spielte sein Verstand ihm einen Streich, doch dieses Mal schmeckte ihm sein Essen nicht so gut wie zuletzt. Die Wildkräuter waren zumindest etwas lasch, aber das Fleisch war bestimmt noch nicht schlecht. Es lag wohl eher daran, dass jeder sein Fleisch schweigend aß. Otis war fast froh, als das Bisonfleisch aufgebraucht war, denn der letzte Tag hatte das Gefühl des Zusammenhalts vermissen lassen. Er hoffte, dass sich das nun wieder änderte, doch er fürchtete, dass dem nicht so war.

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    Der drohende Hungertod

    Die ersten Tage nachdem sie so gut gegessen hatten fühlten sie sich wunderbar, doch dann ging es steil bergab. Osko wollte nicht mehr mit ihnen zusammen in den Wald gehen, weil Rüdiger ihn beleidigt hatte. Er sagte zwar, dass es ihm für Otis leidtue, aber er blieb bei seiner Entscheidung. Ohne ihn konnten sie nicht so viele Pflanzen bestimmen. Bei manchen waren sie sich nicht sicher und ließen sie dann doch lieber stehen, aus Angst sonst an Durchfall zu leiden. Das wäre in ihrer Lage äußerst fatal und könnte den Tod bedeuten. Ein weiteres Problem war, dass sie natürlich nicht allein auf der Suche nach Essen waren. Deutliche Spuren im Wald zeigten, dass viele Sammler unterwegs waren und so gab es immer weniger zu finden. Irgendwann hatten sie nicht mehr die Kraft um in den Wald zu gehen. Sie blieben zuhause und streckten die Suppe. Zum Glück hatten sie genug Wasser. Die Regentonne stand voll. Die meiste Zeit schliefen sie, nur ab und zu holte jemand neues Spaltholz aus dem Schlachtraum. Neulich hatte sich eine Ratte dorthin verirrt. Ein Glücksfall.
    Weil die Wolkendecke am Himmel nicht weichen wollte verloren sie das Zeitgefühl. Die Tage vergingen im trüben Halbdunkel, nachts wurde es etwas dunkler und kälter, doch das war auch der einzige Unterschied. Weil sie das Haus schon so lange nicht mehr verlassen hatten, bekamen sie langsam einen Lagerkoller. Sie fauchten sich mehr an, als dass sie redeten. Die Nerven lagen blank. Der Hungertod stand jedem der drei Männer nun wie ein unabwendbares Ende vor Augen.
    Otis war furchtbar ausgezehrt. Er hatte kaum noch Fleisch auf den Rippen. Sein Körper wirkte wie ein mit Haut und Sehnen überzogenes Skelett. Die Augen lagen tief in ihren Höhlen und blickten stumpf und hoffnungslos auf den Raum, der zu seiner ganzen Welt geworden war. Die meiste Zeit des Tages verschlief er, doch weil er sich sonst wund lag, musste er sich hin und wieder doch aufsetzen. Das fiel ihm jetzt schwer. Auch Rüdiger und Ulf ging es nicht besser. Sie spielten kaum noch Karten- oder Würfelspiele. Hatten sie sonst noch lange erzählt, schwiegen sie jetzt oft, weil jedes Gespräch zu einem anstrengenden Konflikt führen könnte. Volker war ihnen mit ihren Reden manchmal auf die Nerven gegangen, doch seitdem er weg war, hatten sie das Gefühl, dass die allumfassende Stille das erste Anzeichen des nahenden Todes war.
    „Essen ist fertig“, verkündete Rüdiger mit schlaffer Stimme knapp und stellte den dampfenden Topf auf den Tisch.
    Müde und schlapp erhoben sich Ulf und Otis lahm und es dauerte erschreckend lang bis sie den kurzen Weg von der Schlafstelle zum Tisch zurückgelegt hatten. Angewidert sah Ulf auf seine kleine Schüssel, in die Rüdiger nun eine stark gestreckte Suppe schöpfte.
    „Rattensuppe, schon wieder Rattensuppe.“
    „Wenns wenigstens mal eine andere Ratte wäre“, sagte Otis leidend.
    „Besser als gar nichts“, brummte Rüdiger und unterband damit jede weitere Diskussion.
    Mit zitternden Fingern hoben sie die Löffel zum Mund und schlürften geräuschvoll. Zunächst redeten sie gar nicht. Erst als sie den Rest der dünnen Suppe ausgelöffelt hatten und damit auch nichts mehr von der Ratte über war, fing Otis leise an.
    „Meint ihr, wir …“, stammelte Otis und suchte nach Worten. „wir … halten noch lange durch?“
    „Weiß nicht“, sagte Rüdiger matt, der sich mit solchen Gedanken wohl lieber nicht befassen wollte.
    „Wird wohl nicht mehr viel in uns sein. Es hat vorgestern ewig gedauert bis ich mich ausgeschissen hatte“, knurrte Ulf.
    „Hab ich seit einer Woche nicht mehr gemacht“, sagte Otis matt.
    „Seit einer Woche?“ fragte Rüdiger baff. „Meine Fresse, das ist echt nicht gut.“
    Er schüttelte den Kopf.
    „Es war so schmerzhaft, ich bin gar nicht scharf drauf“, antwortete Otis und dachte mit Schrecken an diese Tortur zurück.
    Sie waren einen Moment still, dann fragte Otis: „Meint ihr wir haben uns falsch entschieden? Hätten wir zur Küste gehen sollen? Dort wäre es uns vielleicht besser ergangen.“
    „Jetzt sprich nicht so, als wenn wir gleich zu Staub zerfallen“, brummte Rüdiger, doch es hörte sich kraftlos an.
    „Wir hätten Fischen können“, sagte Otis matt und hing seinen Gedanken nach.
    „Ach wir alten Säcke …“, fing Ulf an Otis auf seine Weise zu trösten. „uns hätten die Jungen doch ruckzuck die Fische aus den kraftlosen Händen gerissen.“
    Rüdiger brummte zustimmend. Otis seufzte, dann wurde es still. Niemand schien mehr etwas zu sagen zu haben in diesem Leben.
    Unvermutet öffnete sich plötzlich die Tür und der frische Windhauch, der zur Tür hereinwehte, ließ die eingestaubten Lebensgeister kurz aufatmen. Zunächst dachten die drei Männer es wäre Volker, doch es war Markus. Er war noch nicht so abgemagert wie sie, doch er trug seine Rüstung nicht mehr, da sie ihm zu schwer geworden war. Stattdessen hatte er nun ein ausgewaschenes blassrotes Hemd an, durch das sich seine abgemagerte Gestalt abzeichnete.
    „Ihr seht ja furchtbar aus“, begrüßte Markus sie und setzte sich zu ihnen.
    Die drei Männer gingen nicht darauf ein.
    „Hast du was von Volker gehört?“ fragte Ulf bang.
    „Nein“, antwortete Markus knapp.
    Er sah selbst besorgt aus.
    „Dann ist ihm bestimmt was passiert“, klagte Ulf und schlug die dürren Hände über dem Kopf zusammen.
    „Ach, vielleicht hat er sich nur verirrt, oder es hat ihm in Silden so gut gefallen, dass er dortgeblieben ist. Glaube nicht, dass ihn irgendein Vieh erwischt hat. Hier gibt’s doch nichts mehr“, sprach Markus dem Vater Mut zu.
    „Gibt es irgendwas Neues?“ wollte Rüdiger wissen.
    „Ja, zumindest für euch. Ihr seid ja schon ewig nicht mehr vor die Tür gekommen“, antwortete Markus.
    „Zu anstrengend“, murmelte Otis.
    „Peter ist Tod, ist schon letzte Woche gestorben.“
    „Was? Habt ihr ihn nun doch an den Galgen gebracht?“ wollte Ulf wissen.
    „Nein. Er ist in seiner kalten Zelle verreckt. War krank. Heiko meinte dann auch, dass er sich ebenfalls krank fühlt. Trotz der Pflege von Anno und Reinhard geht es ihm echt dreckig. Ist seit gestern nicht mehr aufgewacht. Er atmet noch, aber ich fürchte, er machts nicht mehr lange.“, sagte Markus besorgt.
    „Übel“, kommentierte Ulf.
    Die anderen nickten nur.
    „Myxir hat Jurem geheilt“, sagte Otis dann nach einer längeren Pause.
    „Ja, aber er ist nicht da, oder?“, fragte Markus etwas verbittert. „Warum sind diese Scheißmagier eigentlich nie da, wenn man sie braucht?“
    „Sprich nicht so über sie“, trat Otis für die Ehre der Magier ein.
    Markus schnaubte bloß.
    „Vielleicht könntest du einen Magier holen, der sie heilt“, schlug Otis vor.
    Markus warf ihm einen bockigen Blick zu.
    „Pah! Und wo soll ich suchen? Durch die Wüste latschen bis ich einen finde? Ich wüsste nicht mal wo ich mit der Suche anfangen sollte. Außerdem ist es viel zu weit. Das schaff ich nicht mehr. Auch nach Nordmar wäre der Weg zu lang und ich hab gehört man kann sich in den Schluchten dort leicht verirren. Dann noch all der Schnee und die Eiseskälte …“
    Er ließ den Satz unvollendet. Es wurde kurz still. Offenbar gab es zu dem Thema nichts weiter zu sagen.
    „Sonst noch was Neues?“ wollte Rüdiger wissen.
    „Das reicht ja wohl, oder etwa nicht?“, knurrte Markus. „Außer sterben passiert hier nichts mehr in Montera. Totentanz. Die meisten haben sich so wie ihr in ihre Häuser verkrochen. Im Wald ist ja auch nichts mehr zu holen. Vorhin hat es auch ein bisschen geschneit. Ich kenn mich damit nicht aus, aber wäre möglich, dass die Ernte uns wegfriert.“
    Sie saßen noch eine Weile deprimiert zusammen, doch es kamen keine wirklichen mehr Gespräche zustande. Sie saßen nur deprimiert herum. Die Tür öffnete sich abermals und Volker trat ein, ein breites Grinsen im Gesicht.
    „Euer Retter ist da. Ich habe Bisonfleisch mitgebracht.“
    Die vier Männer am Tisch sahen erstaunt auf.
    „Volker!“ rief Markus erfreut.
    „Mein Sohn, du lebst“, sagte Ulf und versuchte aufzustehen.
    Er brauchte zwei Anläufe um hochzukommen.
    „Natürlich, was dachtest du denn? Hat nur etwas gedauert in Silden“, sagte Volker und ging seinem alten Vater entgegen, um ihn zu stützen.
    Der umarmte ihn gleich. Besorgt sah Volker auf ihn und die anderen.
    „Ihr seht ja furchtbar aus.“
    „Aber dir geht es ganz gut, oder? Hast wieder etwas Fleisch auf die Rippen bekommen“, sagte Markus und grinste.
    Volker sah verlegen aus, so als müsste er sich rechtfertigen, weil er um so vieles besser in Schuss war, als seine Mitmenschen. Er war nicht so ausgemergelt wie die anderen, sondern sah einfach nur etwas dünn aus. Sehnige Muskeln zeichneten sich an seinen Armen ab.
    „Sanford, Udar und ich, wir hätten es sonst nicht geschafft die Säcke mit dem Bisonfleisch herzuschaffen“, sagte Volker, weil er sich wohl genötigt fühlte seine gute Verfassung zu erklären.
    „Wer ist denn Udar?“ wollte Ulf wissen.
    „Ein Ritter. Der Paladin Marcos leitet einen Trupp Ritter, die zur Bewachung der Bisonherde von Lord Hagen in Silden stationiert wurden“, erklärte Volker weiter. „Die beiden Drachenjäger, die hier waren hätten das Fleisch gar nicht haben dürfen. Ein paar Söldner aus Okara hatten Anog, den Anführer von Silden beschwatzt, damit sie die Bisons auch jagen dürfen. Es gab einen festen Zeitplan wann wer jagen darf, doch die Söldner haben sich nicht daran gehalten und daher hat Anog sie zukünftig von der Jagd ausgeschlossen. Nun sollen die Ritter darauf achten, dass sich niemand unberechtigt an den Bisons vergreift. Jedes Dorf und jede Stadt bekommt seinen Anteil. Die Bisons werden in Silden gejagt und geschlachtet und das Fleisch ganz genau portioniert.“
    „Aha? Wäre doch aber ungerecht, wenn jede Stadt gleichviel bekommt, denn in Montera leben doch bestimmt mehr Leute als in Ardea, oder Kap Dun“, unterbrach Rüdiger ihn, der sofort auf Streit aus war.
    Volker biss sich auf die Unterlippe.
    „Die Unterschiede sind gar nicht mehr so groß wie du glaubst. Nach Kap Dun und Ardea sind viele Männer gegangen, um dort zu fischen. Da leben jetzt sogar mehr Leute als in Montera. Marcos ist da sehr genau. Er sagt, in Vengard gibt es Namenslisten, auf denen steht wer in welcher Stadt lebt. Die werden für die Verteilung der Nahrungsmittel von Khorinis genutzt und jetzt auch für das Bisonfleisch. Lord Hagen hat befohlen, dass alle Städte und Dörfer, die noch nichts von dem Fleisch bekommen haben benachrichtigt werden sollen. Sanford und ich waren eben schneller und sind zu ihnen gekommen. Zum Glück, wenn ich euch so ansehe. Da zählt jeder Tag.“
    „Und wo ist das Fleisch jetzt?“ wollte Rüdiger ungeduldig wissen.
    „Udar und Sanford verteilen es gerade. Ich wollte schon mal sehen wie es euch geht.“
    Wieder wirkte Volker verlegen.
    „Nun spuck es schon aus Junge!“ knurrte Ulf ungehalten, denn er merkte, dass sein Sohn etwas nicht sagen wollten, um sie zu schonen.
    „Udar hat auch den Auftrag nachzuprüfen, wer gestorben ist, um ihn von der Liste zu streichen.“
    „Damit auch ja keine Stadt zu viel bekommt, was?“ knurrte Rüdiger.
    „Ist doch auch vernünftig“, meinte Ulf versöhnlich. „Wird bestimmt auch nicht unendlich viele Bisons geben.“
    „Also ich finde die Herde recht groß. Das ist ein außergewöhnlicher Anblick wie die alle über die Wiesen donnern“, sagte Volker ehrfürchtig. „Aber Udar sagt, bisher werden auch nur die Bullen außerhalb der Herde gejagt, aber wenn wir weiterhin so viel Fleisch verteilen wollen, dann müssen wir bald an die Herde gehen.“
    „Gab es Probleme auf dem Weg nach Silden, oder hierher zurück?“ fragte Ulf.
    „Nein. Nicht ein Vieh ist uns über den Weg gelaufen, aber der Weg war rutschig von all dem Regen. Mehrmals haben wir uns schmerzhaft lang gepackt. Der Rückweg war besser. Trockener. Wir haben viel erzählt. Udar hat wirklich was erlebt. Er war damals im Minental, als die Drachen angriffen. Hat ihm wirklich zugesetzt. Außerdem hat er gesagt, nachdem sie wochenlang in der Burg von Orks eingekesselt waren, kann er keine mehr sehen. Auf den Helden von Myrtana ist er aber nicht gut zu sprechen. Meinte, zuerst kam er gut mit ihm aus und der Befreier hätte ihm sogar bei einer wichtigen Angelegenheit mit seinen Freunden geholfen, aber dann hätte er einen Kameraden bestohlen und umgebracht und später sogar das Burgtor geöffnet.“
    „Kennen wir schon, hat Oric doch bereits erzählt“, knurrte Rüdiger, der wohl ahnte, dass Volker wieder in lange Geschichten über den Befreier abschweifen würde.
    „Ja, aber es war noch einmal etwas anderes es von Udar zu hören. Ich weiß nicht mehr was ich glauben soll. Ich habe an Orics Worten gezweifelt, weil der mir so aufgeblasen vorkommt, aber Udar ist ein ganz bodenständiger Typ. Ich weiß nicht mehr was ich glauben soll. Ich hab mir immer gesagt, er hatte bestimmt seine Gründe für seine Taten, aber waren die wirklich gerechtfertigt? Ist er wirklich der große Held als den ich ihn sehe?“
    Rüdiger verdrehte genervt die Augen.
    „Ich hoffe Udar kommt bald vorbei, damit wir hier nicht verhungern“, murrte er.
    „Wir könnten ihn ja suchen gehen“, schlug Ulf vor.
    „Und auf halbem Weg pack ich mich hin und hab keine Kraft mehr aufzustehen“, malte Rüdiger den Tod schon an die Wand.
    In eben diesem Moment öffnete sich die Tür erneut und Udar und Sanford traten ein, zwei Jutesäcke auf dem Rücken, die nicht mehr so prall gefüllt waren. Sanford grinste breit und rezitierte ein selbst getöpfertes Gedicht: „Draußen vom Walde kommen wir her, unsere Säcke sind mächtig schwer, wir werden euch nicht sterben lassen, denn jetzt heißt es Essen fassen!“
    „Scherzkeks“, sagte Markus in ernstem Ton, aber dann stahl sich doch ein selten gewordenes Lächeln auf sein Gesicht.
    Der Ritter Udar sah sogar noch etwas genährter aus als Volker und Sanford, trug ein edles zweihändiges Schwert und eine schwere Armbrust. Die glänzende Rüstung ließ darauf schließen, dass Udar sie selbst in diesen schwierigen Zeiten gut pflegte. Er stellte seinen Sack zu seinen Füßen ab und zog eine Liste aus einer seiner Taschen. Die Männer am Tisch erhoben sich schwankend. Die paar Schritte mussten sie jetzt gehen.
    „Nennt eure Namen!“ forderte der Ritter sie zackig auf.
    Sie kamen seinem Befehl nach und jeder erhielt drei Kilo Fleisch. Ungläubig sahen sie auf all das Essen.
    „Teilt es euch ein! Sanford und Volker haben sich bereit erklärt auch in zwei Wochen wieder nach Silden zu gehen, um die nächste Ladung Fleisch zu holen. Dazwischen braucht dort keiner aufkreuzen und darauf hoffen sich was zu erschleichen. Wir halten uns strickt an den Plan den Anog und Marcos ausgearbeitet haben, klar?“
    Die Worte des Ritters hörten sich hart an. Er wollte wohl unter allen Umständen vermeiden, dass sich die Bürger auf eigene Faust nach Silden aufmachten und dort Ärger verursachten. Die vier Männer nickten, doch nur Markus sagte zackig: „Jawohl.“
    „Gut, komm Sanford! Es gibt noch viele Hungernde die auf uns warten“, wollte Udar sich zum Gehen wenden.
    Sanford warf einen auffordernden Blick zu Volker.
    „Ich bin dafür meinen Beutel an Volker zu übergeben. Ich hab halb Montera beliefert, da ist es nur fair, wenn er die andere Hälfte übernimmt und ich mich in meinem Haus von der anstrengenden Reise ausruhe.“
    „In Ordnung“, stimmte Volker zu und übernahm die Last.
    Die drei verließen das Haus von Rüdiger und die verbliebenen Männer blieben noch etwas sprachlos zurück. Schließlich räusperte sich Markus und sagte: „Tja, hm. Sollten das Fleisch jetzt besser noch mal anbraten. Wie ich sehe ist es schon mal gebraten wurden, um es haltbarer zu machen, aber kalt müssen wir es ja nun auch nicht Essen, oder was meint ihr?“
    Die anderen drei stimmten ihm zu. Wortlos gingen sie daran das Fleisch zu braten. Sie konnten noch gar nicht fassen, dass sie dem drohenden Hungertod doch noch mal von der Schippe gesprungen waren.

    Mit der Aussicht, dass künftig regelmäßig Fleisch geliefert wurde besserte sich die Disziplin der drei Männer wieder deutlich. Jeder wusste, wer sich an den Vorräten der anderen vergriff, würde von künftigen Lieferungen ausgeschlossen werden, was den sicheren Hungertod bedeuten würde. Nach ein paar Tagen fühlten sich die drei Männer auch wieder kräftig genug um die ersten vorsichtigen Schritte vor das Haus zu wagen. Von Bengerd und Leon erfuhren sie, dass nun auch Anno und Reinhard, zwei weitere Männer von der Stadtwache, erkrankt waren. Sie fühlten sich fiebrig und schwach. Sie hatten ihren Kameraden Heiko gepflegt, damit er die Krankheit überstand, doch trotz ihrer Hilfe hatte Heiko es nicht geschafft. Er lag nun tot und begraben vor der Stadt und seine beiden Kameraden waren nun ebenfalls krank. Markus war daher vorsichtig. Er stellte den beiden anderen Wachen das Essen und Trinken vor die Stube, schlief selbst nun aber nicht mehr in der Wachstube, sondern in einem leerstehenden Haus, weil er fürchtete ebenfalls zu erkranken.
    Die Stimmung in Montera war furchtbar. Erkranken, oder verhungern, so fürchteten viele Menschen, sähe ihre Zukunft aus. Volker und Sanford waren im Ansehen der Bewohner allerdings deutlich gestiegen. Ein jeder mochte gerne mit ihnen erzählen und wieder und wieder fragten die Bewohner sie nach den Bisons in Silden und wie gut die Ritter diese bewachten. Manche fanden es wohl beruhigend, dass die Ritter Räuber davon abhielten die Bisons zu jagen, andere spielten im Kopf vielleicht mit dem Gedanken selbst auf die Jagd zu gehen, doch keiner verließ Montera. Für längere Ausflüge durch Myrtana waren die meisten Bewohner immer noch zu schwach.
    Umso überraschter waren die Männer, als eines sonnigen Tages hoher Besuch eintraf. Lee, Anog und Lord Hagen waren da, um den Wahlkampf anzuheizen. Die Bürger sahen neugierig zu ihnen. Selbst diesen dreien war die Nahrungsmittelknappheit anzusehen, doch sie trugen immer noch voller Stolz ihre Rüstungen, denn diese drei harten Krieger würden diese wohl erst abnehmen, wenn Gevatter Tod sie holen kam. Viele Bewohner Monteras löcherten Anog, der recht passend in einen warmen Bisonfellmantel gekleidet war, mit Fragen zu den massigen Tieren, so wie sie vorher Sanford und Volker gelöchert hatten. Dies veranlasste Anog offenbar seine komplette Rede umzuschmeißen. Vor dem Rathaus stellte er sich auf und trotz seiner improvisierten Rede kam er gut bei den Leuten an.
    „Vertraut auf mich und ihr werdet nie wieder Hunger leiden!“ verkündete er vollmundig und alle jubelten ihm zu. „Wählt mich und ich sorge dafür, dass das Fleisch auch künftig gerecht an alle verteilt wird und nicht nur das, ich habe vor Myrtana auch langfristig mit Bisonfleisch versorgen zu können. Die Nahrungsmittelversorgung ist unser drängendstes Problem. Erst wenn wir alle satt und kräftig sind, können wir den Wiederaufbau Myrtanas vorantreiben. Ich … äh … werde mit den Leuten aus Nordmar sprechen, damit die uns einige ihrer Bisons in den Süden treiben, dann kriegt UNSERE Herde frisches Blut. Und dann … ja dann … ähm… dann werden bestimmt noch mehr Bisonjunge geboren und wir haben mehr Fleisch.“
    Es war eine kurze Rede, aber sie verfehlte ihre Wirkung nicht. Einen vollen Bauch, das war es was die Leute wollten. Nun war Lord Hagen an der Reihe. Mit fester Stimme verkündete er: „Vergesst nicht, es sind die Ritter, die darauf achten, dass die Bisons gut bewacht werden und es war meine Idee das Bisonfleisch an alle Städte Myrtanas zu verteilen. Es soll gerecht zugehen. Das ist das Wichtigste. Die Ordnung in Myrtana muss wiederhergestellt werden. Stellt euch nur vor, jeder würde kommen und die Bisons jagen. Ihr selbst habt es miterlebt. Zwei verschlagene Lumpen, die sich als Drachenjäger bezeichnen, haben aus lauter Gewinnsucht völlig überteuertes Fleisch an euch verkauft. So etwas darf es in Myrtana nicht geben! Wählt mich und ich sorge dafür, dass aus Myrtana wieder ein ordentlich geführtes Königreich mit Anstand und Würde wird, in dem hart arbeitende Bürger sich sicher und geborgen fühlen können, in dem niemand fürchten muss, jederzeit überfallen oder ermordet zu werden. Wählt mich und ihr wählt eine sichere Zukunft.“
    Lord Hagens Rede wurde lange nicht so euphorisch aufgenommen, obwohl schnell zu erkennen war, dass er sich sehr viele Gedanken zu seiner Rede gemacht hat. Sicherheit war tatsächlich ein wichtiger Punkt für die Bürger im chaotischen Myrtana, in dem längst das Recht des Stärkeren galt, doch wichtiger noch als Sicherheit war die Rettung vor dem Hungertod. Lee wusste das, doch er wollte beides mit einer Klappe schlagen.
    „Meine Vorredner haben beide Recht“, fing der Herrscher an und erntete von den Anwärtern der Krone verwunderte Blicke.
    „Wir müssen es schaffen die Hungersnot zu überwinden, aber wir brauchen auch Sicherheit. Viel dringender als die Sicherheit in Myrtana selbst ist aber noch die äußere Sicherheit. Wir brauchen einen starken König. Jemanden, den niemand wagt anzugreifen. Die Orks mögen weg sein, aber das könnten andere Königreiche zum Anlass nehmen unser geschwächtes Land anzugreifen. Niemand könnte uns besser beschützen als der Held von Myrtana, der Befreier, der Entscheider, der Drachentöter, derjenige der den Avatar Beliars bezwungen hat. Wir brauchen jemanden, der das unmögliche schafft, jemanden der uns aus unserer misslichen Lage befreit. Er war es, der unser Überleben überhaupt erst ermöglich hat. Es war seine Idee die Felder wiederherzurichten und in Tiergestalt zu pflügen. Es war seine Idee die Bisons zu jagen und die Jagd zu reglementieren. Er ist pragmatisch und willensstark, genau das was wir jetzt im Moment brauchen. Ihr wisst wie schlimm es um Myrtana steht und ich weiß selbst aus erster Hand wie schwer es ist das Land wieder ins Licht zu führen. Außer ihm schafft das keiner, nicht Anog, nicht Lord Hagen, nicht ich, nur er. Also wählt den Befreier zum neuen König, denn er ist der einzige, der uns überhaupt eine Zukunft ermöglichen kann.“
    Lees Rede war kurz, aber sehr eindringlich. Auch wenn nicht alle Bürger jedes Wort verstanden, gab es zunächst auch hier jede Menge Beifall, zum Ende hin wurden die Bürger aber nachdenklich. Orics Erzählungen über die Schandtaten des Helden hatten den einen oder anderen am Helden zweifeln lassen, doch Lee stellte dessen Wahl als alternativlos dar. Den Helden zum König wählen, oder sterben. Entweder verhungern oder in einem möglichen Angriffskrieg umkommen.
    Lee, Anog und Lord Hagen blieben nicht lange in Montera. Was sie hatten sagen wollen war gesagt. Nun wanderten sie zur nächsten Stadt, um den Wahlkampf dort fortzuführen. Ohnehin hatten die Männer in Montera genug worüber sie nachgrübeln konnten. Sie standen auf der Straße und redeten angeregt darüber wen sie zum König wählen werden.
    „Anog hat mich überzeugt“, sagte Rüdiger frei heraus.
    „Essen ist wichtig, aber was ist, wenn dir jemand eins mit dem Streitkolben auf die Rübe gibt und dein letztes Essen aus den kraftlosen Fingern klaut?“ fragte Ulf.
    „Wir brauchen Essen und Sicherheit“, meinte Otis und nickte. „Aber ich weiß nicht, ob es wirklich so eine gute Idee ist den Helden von Myrtana zum König zu wählten.“
    „Aber du hast doch Lee gehört. Entweder wir wählen ihn, oder wir sterben. Wenn Lee sich nicht mal selbst als geeignet für den Posten sieht …“, kam es von Volker.
    „Vielleicht hat Lord Hagen ja mehr drauf“, mutmaßte Sanford, doch der Zweifel in seiner eigenen Stimme ließ ihn nicht überzeugend klingen.
    „Glaub ich nicht“, entgegnete Volker. „Lord Hagen kann seine Ritter führen, aber willst du vielleicht streng militärisch geführt werden? Vielleicht vergisst er uns einfachen Leute dabei. Anog tönt zwar viel, aber dem traue ich erst recht nicht zu uns alle als König anzuführen und was macht er, wenn uns ein anderes Königreich angreift?“
    Sanford nickte zustimmend.
    „Stimmt. Er hatte es schon schwer sich gegen die Orks zu stellen. Ohne den Befreier hätte er es bestimmt nicht geschafft Silden zu erobern“, musste Sanford zugeben.
    Volker redete aufgeregt weiter: „Lord Hagen könnte vielleicht einige Zeit gegen ein fremdes Land bestehen, aber ich hab in Silden gehört, er brauche ewig um eine Entscheidung zu fällen. So jemand ist als König ungeeignet. Bis er sich entschieden hat sind wir schon alle tot.“
    „Richtig“, stimmte Bengerd zu.
    „Wir sterben doch eh alle bald“, sagte Osko depressiv.
    Trotz der Fleischlieferung sah er aus wie ein wandelndes Skelett.
    „Nein! Ich gebe nicht auf!“ sagte Volker entschlossen. „Ich glaube fest daran, dass wir es schaffen werden und deswegen werde ich auch den Helden von Myrtana zum König wählen.“
    „Dann mach, ich wähle lieber Anog“, kam es starrköpfig von Rüdiger.
    „Mach ich auch!“ kam es jetzt in giftigem Ton von Volker zurück.
    Er drehte sich um und ging davon. Sanford sah ihm nach und folgte ihm dann. Otis, Rüdiger und Ulf redeten nicht weiter über ihre Meinungen. Sie wollten hitzige Diskussionen vermeiden und für heute reichte es ihnen auch und sie gingen in die Metzgerei zurück, zündeten das Holz im Ofen an und legten sich zum Schlafen nieder.

    Die Zeit verging zäh. Volker und Sanford brachten die nächste Lieferung Fleisch zuverlässig nach Montera. Bei ihrer Rückkehr wurden sie gefeiert wie zwei Helden, die aus einer glorreichen Schlacht zurückkehrten. Und sie hatten zwei zusätzliche Portionen Fleisch zu verteilen, denn während sie weg waren, hatte die Krankheit Anno und Reinhard dahingerafft, so dass Martin die letzte Stadtwache in Montera war. Aus Angst selbst zu erkranken waren Anno und Reinhard von den anderen Menschen in Montera weitestgehend fallen gelassen wurden. Martin hatte ihnen immer noch Essen und Trinken vor die Stube gestellt, aber mehr Hilfe hatten die beiden nicht erwarten können. Vielleicht hätten sie es geschafft, wenn sich jemand gut um sie gekümmert hätte. Allerdings wären dann vielleicht auch weitere Menschen angesteckt wurden und ganz Montera hätte mit der Seuche zu kämpfen. Die Zeiten waren hart. Jeder dachte nur noch ans eigene Überleben, selbst zwischen alten Freunden war die Lage weiterhin angespannt. Umso überraschender war es, als es eines Abends eine Woche vor der Wintersonnenwende an die Tür der Metzgerei klopfte. Otis öffnete und sah einem seltsamen Gespann entgegen. Den einen erkannte er an der Rüstung als Paladin, allerdings trug er nur ein einfaches Schwert, das für einen Paladin eigentlich unangemessen war. Seine Rüstung umspannte seinen abgemagerten Körper lose und bei jeder Bewegung klapperte sie. Der andere Kerl war groß und dunkelhäutig und im Vergleich zu allen anderen Menschen, die Otis in den letzten Monaten gesehen hatte, sah er immer noch verdammt kräftig aus. Er trug einen schwarzen Bart und sah echt genervt aus.
    „Wir sammeln die Stimmzettel für die Wintersonnenwendwahl ein“, sagte er mit einer tiefen brummigen Stimme.
    Otis runzelte die Stirn. Neugierig kamen nun auch Ulf und Rüdiger an die Tür.
    „Hier wohnen drei?“ fragte der Krieger und ohne auf eine Antwort zu warten langte er in eine Ledertasche und holte drei blassrosa gefärbte kleine Zettel aus der Tasche hervor und reichte sie den Bewohnern der Metzgerei.
    Zuerst glotzten sie nur darauf ohne etwas zu tun. Jeder Zettel hatte drei Spalten auf denen stand: Name, Wohnort, Wahl. Der mutmaßliche Paladin seufzte schwer und sagte, so als hätte er es heute schon vierzig Mal gesagt: „Schreibt eure Namen, euren Wohnort und denjenigen, den ihr zum König wählen wollt auf die Zettel und werft sie hier rein.“
    Der strahlende Streiter Innos hob kurz einen großen Jutesack an und sie hörten das Rascheln von Papier im Inneren.
    „Einen Moment“, sagte Otis und ging mit Ulf zum Tisch, während Rüdiger nach Kohlestiften suchte.
    Währenddessen überlegte Otis, ob er bei seiner Entscheidung bleiben wollte. Die war ihm wirklich nicht leichtgefallen. Tagelang hatte er sich den Kopf zermartert, wen er wählen sollte. Auch wenn Volker so überzeugt vom Befreier war, Otis hielt ihn zwar für einen guten Mann, doch er war nicht überzeugt, dass er auch zum König taugte. Dann schwankte Otis zwischen Lord Hagen und Anog, doch der Paladin würde bestimmt auch eigene Interessen vorantreiben wollen und Anog fehlte bestimmt die Erfahrung. Volker sagte, dass er sich schon schwer damit tue Silden gut anzuführen. Schlussendlich hatte sich Otis daher entschieden Lee zu wählen. In Anbetracht der Umstände hatte dieser Mann wohl alles getan was in seiner Macht stand, um der Bevölkerung von Myrtana zu helfen. Otis war aber nicht wohl bei dem Gedanken, dass der derzeitige Herrscher statt für sich selbst für den Befreier des Landes die Werbetrommel gerührt hatte. Wahrscheinlich wollte Lee gar nicht mehr König sein. Daher war sich Otis nicht sicher, ob es wirklich die richtige Entscheidung war Lee zu wählen, doch ihm blieb nicht mehr länger Zeit.
    „Nun mach schon Otis, schreib endlich auf wen du wählen willst!“, drängte ihn Ulf.
    „Wenn du dich nicht entscheiden kannst, dann überlass mir dein Stimmrecht und ich wähle für dich“, meinte Rüdiger knurrig.
    „He! Jeder wählt für sich selbst!“ kam es barsch vom Paladin.
    Er und der Krieger waren unaufgefordert in die Metzgerei eingetreten und beobachteten wachsam wie die Stimmzettel beschrieben wurden. Offenbar hatten sie strikten Befehl die Wahlen zu überwachen und so wie sie aussahen würden sie hart durchgreifen, wenn jemand versuchte zu schummeln.
    „Aber dein Kamerad hat recht, jetzt mach mal hin!“ knurrte der Krieger. „Du hattest wochenlang Zeit dich zu entscheiden.“
    Otis atmete noch einmal tief durch und schrieb dann in der letzten Spalte den Namen des derzeitigen Herrschers. Er faltete den Wahlschein, so wie Rüdiger und Ulf es auch schon getan hatten und steckte ihn dann in den Sack.
    „Gut, dann können wir ja weiter“, sagte der Paladin und er sah aus, als wäre er heilfroh wenn diese Arbeit endlich erledigt wäre.
    „He Roland, jetzt bin ich aber dran den Sack zu tragen!“, knurrte der große Krieger.
    „Du hast ihn schon in Kap Dun getragen Gorn“, hielt der Paladin dagegen.
    „Ja, aber Montera ist eine viel größere Stadt“, entgegnete der Kämpfer.
    „Hier leben aber auch nicht mehr Leute als in Kap Dun“, kam es zurück. „Ich hab es dir schon tausendmal gesagt, ich schummle bestimmt nicht, wenn dann du! Du willst doch unbedingt, dass der Drachentöter König wird.“
    „Und du willst, dass Hagen das Kommando übernimmt!“, gab der Krieger in hartem Ton zurück.
    Die beiden funkelten sich mit bösen Blicken an. Für einen Moment sah es so aus, als würden sie sich gegenseitig an die Kehlen gehen, doch der Moment verstrich und der Paladin sah weg.
    „Also schön, wenn du unbedingt den Beutel schleppen willst, dann mach, aber ich behalte dich fest im Auge.“
    Der Krieger riss ihm den Beutel mit den Stimmzetteln aus den Händen und schwang ihn sich über die breite Schulter. Dann verließen sie die Metzgerei.
    „Die beiden sind schon ein komisches Duo“, murmelte Otis.
    „Wird sich wohl irgendwer was dabei gedacht haben, die zusammen loszuschicken“, meinte Ulf.
    „Immerhin haben wir jetzt gewählt und unseren Teil damit getan“, brummte Rüdiger.
    „Ja“, sagte Otis leise und hing seinen Gedanken nach.
    Er war tatsächlich froh, dass er sich entschieden hatte und alles weitere jetzt nicht mehr in seiner Hand lag, doch er hoffte, dass er sich richtig entschieden hatte. Würde Lee mithilfe seiner Stimme König werden? Oder fiel die Wahl doch auf jemand anderen?

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    Der Magenparasit

    Am Morgen bedeckte wieder Raureif den Boden. Ohne Feuer war es nicht lange auszuhalten. Doch der Holzvorrat von Ulf, Rüdiger und Otis war aufgebraucht und ihnen fehlte die Kraft einen neuen Baum zu schlagen. Die Nahrungslieferungen aus Bisonfleisch und den mickrigen Rationen von Khorinis hielten sie mehr schlecht als recht am Leben. Die Bewohner von Montera erweiterten ihren Speiseplan mit Baumrinde.
    "Buchenrinde noch so klein, mahle dir zu Mehle fein, mache daraus gutes Brot, so hast du Speise in der Not", war derzeit Oskos liebster Spruch.
    Bengerd schwor mehr auf Pappelrindenmehl. Die beiden lieferten sich einen regelrechten Wettstreit, wer das bessere Rindenmehl herstellte.
    Auch Eichenrinde war beliebt. Osko beteuerte, dass sie gut gegen Erkältung war, allerdings schmeckte sie auch sehr bitter, weswegen einem schnell von zu viel Eiche schlecht werden konnte. Dazu gab es Wurzeln und Fichtennadeltee. Doch ein anderer Spruch hielt sich noch viel hartnäckiger als der von Osko: „Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel.“
    Obwohl das nicht unbedingt stimmte. Obwohl in Montera ohnehin kaum noch jemand lebte, so starben immer mehr Menschen an Hunger, aber auch an rätselhaften Toden.
    Die und das Ergebnis der Wintersonnenwendwahl waren derzeit die häufigsten Gesprächsthemen in der Stadt. Sanford, Volker, Markus, Rüdiger, Ulf und Otis hatten sich wieder einmal in der Fleischerei zusammengefunden, um zu erzählen und sich so die lange Zeit zu vertreiben.
    „Hätte echt gedacht, dass Anog gewinnt“, sagte Rüdiger wieder einmal.
    Er machte keinen Hehl daraus, dass er für ihn gestimmt hatte.
    „Ich konnte mir schon denken, dass der Held von Myrtana gewinnt. So beliebt wie er ist …“, kam es zum wiederholten Mal von Volker.
    Rüdiger verdrehte die Augen. Er konnte es wohl nicht mehr hören. Trotzdem sagte er: „Na dann sag mir mal wie er Myrtana regieren soll, wenn er nicht hier ist? Wenn er nicht mal weiß, dass er überhaupt zum König ernannt wurde? Von dem hat doch schon ewig keiner mehr was gehört. Der kommt vielleicht nie wieder hierher.“
    Volkers Gesichtsausdruck wechselte zu einer bedrückten Miene.
    „Ja, leider könnte das sein. Ich hatte echt gehofft er kommt mit einer Schiffsladung voll Essen zurück, aber da habe ich mich wohl geirrt.“
    „Vielleicht dauert es nur länger“, versuchte Sanford ihn aufzumuntern.
    Sein Freund warf ihm einen dankbaren Blick zu.
    „Also mir ist es inzwischen egal wer das Land regiert, Hauptsache es gibt was zu essen“, knurrte Rüdiger. „Ich will diese Bauchschmerzen endlich los sein.“
    „Na hoffentlich ist es nicht so ein Magenparasit wie bei Pekro“, sagte Markus.
    „Ein was?“ fragte Rüdiger alarmiert und seine Augen traten aus ihren Höhlen hervor.
    „Pekro, der Schmied, er klagte über Bauschmerzen. Ich mein, wir alle haben Schmerzen, das liegt nun mal in der Natur der Sache, aber er meinte es sei schlimmer geworden. Letzte Woche habe ich ihn bei meiner Patrouille tot aufgefunden.“
    Sanford nickte.
    „Habe ich bemerkt, der war einer meiner Nachbarn. Wisst ihr noch wie er das Geschirr für Volker gemacht hat, damit wir Pflügen konnten? War ein guter Mann.“
    „Eigentlich ist es in diesen Tagen ja nichts Ungewöhnliches, wenn einer abkratzt, aber das Komische war, wir hatten an dem Tag ja erst unsere Portion Bisonfleisch bekommen. Verhungert kann er also nicht sein“, fuhr Markus fort und genoss wie gespannt die anderen ihm zuhörten.
    „Vielleicht kam es nicht mehr rechtzeitig“, mutmaßte Ulf.
    „Und was ist da jetzt mit diesem Magenparasit?“ drängelte Rüdiger.
    „Clemens, du weißt schon dieser ehemalige Rebell aus Reddock, der seit drei Wochen bei uns wohnt. Der hat gesagt, er kenne sich mit Naturheilkunde aus. Er hätte sich einiges von Sebastian abgeguckt, als sie zusammen im Widerstand waren.“
    „Sebastian ist ein guter Mann“, kam es von Otis, der sich noch gut an die Zeit erinnerte, als der Feuermagier bei ihnen in Montera war.
    Markus warf Otis einen wütenden Blick zu, denn er mochte es wohl gar nicht, wenn man ihn unterbrach.
    „Jedenfalls kam er zu mir und bot an Pekro zu untersuchen. Meinte es könnte irgendwas Gefährliches sein, dass uns andere auch befallen kann. Mir war nicht wohl dabei. Das sind doch dunkle Praktiken Beliars. Leichenbeschau und Todeszeugs und so.“
    Markus wedelte flatterhaft mit der rechten Hand in der Luft herum, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.
    „Wollte das eigentlich nicht, aber das Letzte was wir brauchen können ist wieder irgendeine sich ausbreitende Krankheit, also sagte ich dann doch zu. Später kam er dann mit einem toten Wurm an. Das Vieh war zwar schmal, aber sicher so lang wie mein Arm. Clemens sagte, der Wurm hatte sich im Magen von Pekro eingenistet. Die Dinger legen ihre Eier auf Pflanzen und wenn man die dann isst, dann isst man auch die Eier und wenn der Wurm im Magen schlüpft, dann frisst der sich mit am Essen satt und wächst und wächst und wächst.“
    Rüdigers Kinn sackte tiefer, je länger Markus sprach. Schließlich war er ganz grau im Gesicht. Auch Otis wurde richtig schlecht. Die beiden Freunde tauschten einen verstörten Blick.
    „Tja und dann irgendwann stirbt man, weil der Wurm einem all das Essen wegfrisst und wer weiß, vielleicht frisst der einen ja von innen auf“, sagte Markus unheilschwanger.
    „Hör bloß auf“, kam es düster von Sanford.
    „Widerlich“, sagte Otis und rümpfte die Nase.
    „Kannst du laut sagen. Clemens fragte, ob ich die Leiche noch mal sehen wolle, aber ne, wollte ich echt nicht. Sagte ihm er solle Pekro draußen vor der Stadt begraben. Da ist ja nun schon ein großer Friedhof angewachsen.“
    Für einen Moment breitete sich Totenstille aus. Markus sinnierte einen Moment vor sich hin, dann sprach er aus, was ihn beschäftigte: „Ich war nur froh, dass es nicht wieder irgendeine Krankheit ist. Meine Kollegen sind alle an sowas verreckt. Ich bin der letzte von der Miliz. Weiß eh schon nicht wie ich hier noch länger alles am Laufen halten soll.“
    „Als wenn du noch so viel machst“, stichelte Volker. „In deinem roten Hemd bist du eh nicht mehr wirklich als Miliz zu erkennen.“
    „Pass bloß auf, sonst setzt es was!“, kam es von Markus zurück, der das wohl persönlich nahm.
    „Was kann man denn gegen so einen Wurm im Bauch machen?“ fragte Otis, der sich fragte, ob er nicht vielleicht auch so ein Vieh in sich hatte.
    Waren seine Bauchschmerzen in den letzten Tagen nicht auch schlimmer geworden? Was, wenn das Ding ihn in diesem Moment von innen heraus auffraß? Hatte sich gerade eben nicht vielleicht doch etwas in seinem Magen bewegt? Etwas Fremdes? Etwas Unheimliches?
    Markus Antwort riss ihn aus seinen Grübeleien: „Clemens hat gesagt, er könne irgendeinen Kräutertee mischen, der solches Viehzeug abtötet.“
    Das laute durchdringende Geräusch eines Stuhls, der über den Holzboden schabte ließ sie zu Rüdiger sehen.
    „Wo willst du hin?“ fragte Volker.
    „Ich hol mir einen Kräutertee“, sagte Rüdiger knurrig.
    Sanford und Markus lachten. Otis fand das gar nicht lustig. Wäre Rüdiger nicht so überstürzt aufgebrochen, er wäre vielleicht mitgegangen.
    Seine Überlegungen wurden von dem tiefen Klang eines Jagdhorns unterbrochen.
    „He, draußen ist bestimmt was los!“, sagte Volker aufgeregt und sprang auf.
    Sanford und Markus folgten eilig. Otis und Ulf brauchten länger um ihre schwindenden Kräfte zu mobilisieren. Als sie ins Freie traten, sahen sie Kelvin und Osko an ihnen vorbeilaufen. Es zog sie Richtung Rathaus. Was wohl passiert war? War jemand Wichtiges in der Stadt?
    Als sie den anderen folgten, sahen sie, dass eben dies der Fall war. Anog, Lord Hagen, König Lee und dessen Sekretär standen vor dem Rathaus und sahen ernst auf all die vielen Gesichter vor sich, die sie mit Fragen bedrängten. Otis fiel auf, dass selbst diese mächtigen Männer nicht vor der Hungersnot verschont geblieben waren. Schmal sahen sie im Gesicht aus. Ihre Rüstungen klapperten. Doch noch hielten sie sich aufrecht, versuchten unbeugsam zu erscheinen. Otis fragte sich, ob es von guter Führung sprach, wenn ihr Herrscher genauso litt wie sie. Wenn Lee verhungerte, wer sollte sie dann führen? Wer sollte all die unliebsamen Aufgaben übernehmen? Andererseits wusste er, es hätte viel Missmut gegeben, wäre ein überversorgter Herrscher vor sie getreten, der sich über den dicken Bauch streichelt, während er ihnen die nächsten Einschnitte wegen der Hungersnot mitteilen würde. Otis nickte. Er fand es immer noch richtig Lee gewählt zu haben.
    Vor dem Rathaus wurde ihnen noch einmal schonungslos vor Augen geführt wie wenige Menschen noch in Montera lebten. Otis zählte zwölf Männer, wobei er sich schon mitgezählt hatte. Die Leute bestürmten die drei Gäste mit ihren Fragen und sahen nicht so aus, als würden sie Ruhe geben, bis sie Antworten hatten.
    „Wann kommt die nächste Essenslieferung?“, fragte Osko aufgeregt.
    „Wie viele Bisons gibt es noch in Silden?“, wollte Kelvin wissen.
    „Werden die Bisons ausreichen, um uns über den Winter zu bringen?“ kam es von Clemens, dem ehemaligen Rebellen aus Reddock.
    „Wisst ihr was Neues vom Befreier?“ fragte nun Volker und drängte sich zu Lee durch.
    „Sind wir noch sicher? Oder habt ihr was von Orks, oder anderen Eindringlingen gehört?“ wollte Sanford erfahren.
    „Wie sieht es bei den anderen Städten aus? Sterben da auch so viele Leute am Hunger wie hier?“ fragte Leon.
    „Ist ja nicht nur der Hunger, hier grassieren auch Krankheiten“, fügte Bengerd an.
    „Nicht zu vergessen dieser eklige Magenparasit, den Clemens aus Pekro rausgeholt hat“, sagte Rüdiger, der offensichtlich noch keine Zeit gehabt hatte sich seinen Kräutertee zu holen.
    Er schüttelte sich vor unterdrücktem Ekel.
    „Und warum seid ihr eigentlich hier?“ fragte nun Jurem.
    „Das würden wir euch gerne sagen, aber dazu müsste erstmal Ruhe hier einkehren“, versuchte es Lord Hagen zunächst auf die höfliche Art, doch es half nichts.
    Alle palaverten wild durcheinander.
    „RUHE!“ brüllte Anog und endlich hörten die Bewohner von Montera auf sich gegenseitig an Lautstärke überbieten zu wollen.
    „Wir sind hier…“, begann Regent Lee. „Weil es ein Problem gibt. Mit großem Vorsprung wurde der Held von Myrtana zum neuen Herrscher gewählt. Doch er ist immer noch nicht von seiner langen Reise zurück.“
    „Ja“, fuhr Lord Hagen fort, der wohl sicher gehen wollte seine Idee selbst vorzutragen, um Gewalt über den genauen Wortlaut zu haben. „Deswegen sind wir gekommen. Wir wollen euch Fragen, ob ihr mit Neuwahlen einverstanden seid, wobei dann nur die Auswahl zwischen uns dreien besteht. Wir drei hatten nach dem Drachentöter die meisten Stimmen und der ist ja eh nicht hier.“
    Das Murmeln der Menge schwoll zu einer lauten Welle an. Jeder rief irgendwas. Niemand verstand den anderen, aber vielleicht ging es auch nur darum wer am lautesten Brüllen konnte.
    „Oder“, kam es laut von Lee, in der Hoffnung seine Mitmenschen übertönen zu können. „Wir halten am Wahlergebnis fest und bis der Held von Myrtana zurück ist, werde ich als sein Stellvertreter weiterregieren.“
    Als das gesagt wurde, gab es gar kein Halten mehr. Die zwölf Männer von Montera machten einen derartigen Radau, das man glauben könnte es wären Hundertzwanzig. Anog, Lee und Hagen ließen ihnen Zeit das untereinander auszudiskutieren. Otis meinte Beunruhigung in Lees Blick zu sehen, doch er wusste nicht, ob das auf die mögliche Entscheidung der Bürger zurückzuführen war, oder auf den Umstand, dass hier nur noch so wenige Menschen lebten.
    „Neuwahlen! Ich war eh nie für den Orkschlächter!“, kam es von Jurem.
    „Pah? Neuwahlen? Wir haben bereits gewählt“, kam es trotzig von Leon.
    „Richtig, Neuwahlen würden alles verzögern. Wir wollen, dass uns JETZT geholfen wird“, sagte Bengerd nachdrücklich.
    „Wir verhungern, wir werden alle sterben!“, jammerte Leon.
    „Halt’s Maul du Jammerlappen“, schimpfte Kelvin.
    „Wir haben gewählt, wir wollen jetzt Taten sehen“, kam es von Rüdiger, der die Arme verschränkt vor Lee stand und ihm direkt in die Augen sah.
    Es konnte nun wirklich niemand behaupten, dass die Bürger Myrtanas vor der Obrigkeit kuschten und daher erschloss sich schnell warum es sinnvoll war einen kampferprobten Herrscher auf den Thron zu heben. Schwache Führer hatten in Myrtana nichts zu lachen. Clemens und Jurem prügelten sich gar, um sich gegenseitig von der Richtigkeit ihrer Worte zu überzeugen.
    „Schluss jetzt!“, kam es ungehalten von Lord Hagen. „Wir machen es ganz einfach.“
    Der Paladin trennte sich von seinen beiden Mitreisenden und ging auf die andere Seite der Straße.
    „Wer für Neuwahlen ist, kommt zu mir. Wer am ersten Wahlergebnis festhalten will, der geht zu Lee.“
    Wieder redeten alle durcheinander, dann teilte sich Montera scheinbar möglichst umständlich in zwei Lager auf. Einige rempelten sich auf dem Weg zu ihrem Ziel absichtlich an und warfen einander böse Blick zu. Es war klar worum es hier ging. Recht hatte immer man selbst, falsch lagen immer die Anderen. Als sich alle an einem Platz eingefunden hatten, wurde Lord Hagens Mund noch schmaler, als er ohnehin schon war. Es war offensichtlich, dass er hier keine Mehrheit erringen würde.
    „Schreib auf Mattes!“, wies Lee seinen Sekretär an. „Vier Stimmen für Neuwahlen. Acht für das ursprüngliche Wahlergebnis.“
    Lees Sekretär nickte, zückte ein Buch und trug dort etwas ein.
    „Sieht schlecht aus für dich“, stichelte Lee gut gelaunt. „Bisher hast du noch nirgendwo die Mehrheit erringen können.“
    Lord Hagens Gesicht lief trotz der Kälte hochrot an.
    „Das hat noch gar nichts zu sagen. Es zählen die absoluten Zahlen. Wollen erstmal sehen was die Leute in den anderen Ortschaften dazu sagen.“
    Er drehte sich um und ohne noch ein weiteres Wort zu sagen, stapfte er die Straße hinunter, um Montera zu verlassen. Lee lachte.
    „Hat er wohl in den falschen Hals gekriegt.“
    Der Herrscher wandte sich noch einmal an sein Volk.
    „Also Bürger von Montera. Noch ein paar Worte zum Abschluss, um eure Fragen zu beantworten. Die Herden von Silden sind groß genug, um uns über den Winter zu bringen, doch dazu ist eine strenge Rationierung nötig. Wir müssen daher an den bisherigen Zeitplänen festhalten. Von Khorinis erhalten wir jetzt aber weniger Lebensmittel. Die Vorratslager leeren sich schnell. Auch dort Hungern die Menschen und Lord Andre ist nach der Wahl nach Khorinis zurückgekehrt, um die Lage zu überwachen. Möglicherweise droht ein Bürgeraufstand, weil die Menschen nicht länger damit einverstanden sein könnten ihre Lebensmittel zum Festland verschiffen zu lassen. Orks oder andere Eindringlinge sind zum Glück nicht ins Land eingefallen. Haltet euch wacker. Zusammen überstehen wir diesen schrecklichen Winter.“
    Die letzten Worte klangen etwas hohl. Er wusste es wohl selber, doch fand er wohl, es bedurfte ein paar aufbauender Worte, auch wenn ihre Lage jeglicher Hoffnung entbehrte.
    „Komm Mattes lassen wir ihn nicht zu weit vorlaufen“, sagte Lee dann zu seinem Sekretär und er Mattes und Anog folgten Lord Hagen, der bereits nicht mehr zu sehen war.
    Otis sah ihnen noch lange nach, bis er eine vertraute Stimme in seiner Nähe hörte.
    „He, hab von Markus gehört, du kannst so einen komischen Kräutertee zusammenmischen, der gegen Magenparasiten hilft.“
    Er drehte sich um und sah Rüdiger, der zu Clemens stieß, der Jurem ordentlich zusammengeschlagen hatte. Clemens rieb sich über die Backe, wo er offenbar ordentlich hatte einstecken müssen, setzte dann ein Lächeln auf und sagte: „Ja, klar, kein Problem. Markus hat dir wohl von meinem Kräutertee erzählt, was?“
    „Ja genau, ist ja ne furchtbare Geschichte mit Pekro.“
    „Kann man wohl sagen. Komm mit! In meiner Hütte ist noch ein großer Vorrat an Kräutern. Weißt du während meiner Zeit in Reddock bei Sebastian hab ich einiges gelernt.“
    Otis sah Rüdiger und Clemens nach und überlegte, ob er mitgehen sollte, dann wurde er aber von Markus angesprochen.
    „Was ist mit dir? Siehst so unzufrieden aus. Du wolltest doch an dem alten Wahlergebnis festhalten, oder etwa nicht?“
    „Ja, schon, aber ich mag nicht wie sich Montera zerstritten hat. Wir sind doch sowieso schon so wenige, da sollten wir uns nicht auch noch gegenseitig die Köpfe einschlagen“, sagte Otis bedrückt.
    Markus seufzte tief. Zuerst sagte er nichts, vielleicht überlegte er gar nichts weiter dazu zu sagen, doch dann tat er es doch.
    „Wenn es stimmt was Lee sagt und sich die Lage mit den Lebensmitteln noch verschärft, dann wird es wohl nur noch eine Frage der Zeit sein, bis hier alle übereinander herfallen. Ich bin allein. Ich bin der letzte von der Miliz. Ich weiß nicht was ich tun soll, wenn das passiert. Hast du vielleicht Lust der Miliz beizutreten?“
    „Ich? Miliz?“ fragte Otis verblüfft.
    Er war ein alter, klappriger Mann ohne jede Kampferfahrung.
    „Du bist wirklich verzweifelt, oder?“
    Markus rieb sich über den Bart.
    „Hm… Ja, ist es so offensichtlich?“
    „Frag doch mal Sanford und Volker. Sie haben sich in den letzten Monaten ein gutes Ansehen bei den Bewohnern aufgebaut. Auf sie würde man sicher hören. Außerdem sind sie noch jung und kräftiger als die meisten.“
    „Gute Idee“, sagte Markus. „Ich werde mal mit ihnen reden.“
    Er stiefelte davon, um Sanford und Volker zu suchen.
    Geändert von Eispfötchen (04.11.2022 um 22:30 Uhr)

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    Kräutertee

    Otis hielt sich den schmerzenden Bauch. Er war sich immer noch nicht sicher, ob es wirklich etwas Schlimmes war. Vielleicht waren die üblichen Schmerzen nur schlimmer geworden, doch was wenn es wirklich so ein ekliger Wurm war? Was wenn der ihn von innen langsam auffraß? Otis schauderte. Seine Befürchtungen hatten ihn trotz der späten Stunde aus Rüdigers Haus getrieben. Clemens konnte ihm einfach so einen Tee machen, der solches Viehzeug tötete und gut wäre. Und wenn er keinen Wurm hatte und es wirklich nur normale Bauchschmerzen waren, dann würde der Tee ihm auch nicht schaden, also wieso war er überhaupt nervös?
    Clemens hatte sich eine Hütte ganz am Rand von Montera gesucht. Nur Sanford wohnte noch in der Nähe, die übrigen Hütten waren inzwischen leer. Langsam tappte Otis auf Clemens Hütte zu. Er fragte sich, wie der neue Bewohner auf die späte Störung reagieren würde? Immerhin war es mitten in der Nacht. Vielleicht würde er ihn wieder wegschicken? Dann hätte er den Weg umsonst gemacht. Vielleicht war Otis deshalb so nervös. Er ging an Sanfords Haus vorbei. Von innen waren Stimmen zu hören. Otis erkannte sie als die von Sanford und Volker. Offenbar amüsierten sie sich über irgendwas. Hatten sie so gute Laune, weil sie auf Markus Vorschlag eingegangen waren und nun bei der Miliz arbeiteten? Oder hatten sie sein Angebot ausgeschlagen und machten sich darüber lustig? Zwischen Volker und Markus hatte es bisher ja immer mal wieder Reibereien gegeben, daher wusste Otis nicht, ob eine Zusammenarbeit überhaupt möglich wäre. Er konnte nun auch Clemens Hütte sehen. Er hatte Glück. Unter den Fensterläden schimmerte schwach Licht hervor. Offenbar war er noch wach. Der verführerische Geruch nach gebratenem Fleisch waberte durch die Luft. Offenbar gab es ein spätes Abendessen bei Clemens. Wo er das wohl herhatte? Vielleicht hatte er sein Bisonfleisch besser eingeteilt.
    Otis klopfte. Drinnen hörte er etwas Metallisches zu Boden fallen. Es hörte sich nach einem Topf oder einer Pfanne an.
    „Wer da?“ hörte er Clemens Stimme.
    Er hörte sich alarmiert an.
    „Ich bin’s, Otis. Tut mir leid, dass ich so spät störe, aber ich hab echt üble Bauchschmerzen. Markus hat erzählt, dass du einen Kräutertee gegen Magenwürmer machen kannst.“
    „Komm morgen wieder!“ kam es barsch von drinnen.
    Otis zögerte. Der Anstand gebot, nun wieder nach Hause zu gehen. In seiner misslichen Lage war der Weg aber so weit gewesen. Er fühlte sich schwach. Er wollte, dass man ihm jetzt half, nicht irgendwann morgen.
    „Ach komm schon. Es ist doch nur ein Tee. Bitte.“
    „Scher dich weg!“ rief Clemens von drinnen.
    Otis grollte. Hunger macht böse. Es stimmte. Ohne weiter nachzudenken stieß Otis die Tür auf und schritt in die Hütte.
    „Jetzt hab dich doch nicht so. Du hast diese Kräuter sicher noch …“
    Otis blieben die weiteren Worte im Halse stecken und er blieb mitten im Raum stehen. Er war so auf sein Ziel fokussiert gewesen, dass sein Gehirn einen Moment gebraucht hatte, um zu verarbeiten was er da eigentlich sah. In der Ecke des Raumes lag eine Leiche auf einem Tisch. Markus hatte ihnen erzählt, dass Clemens die Leute aufschnitt, wenn ihr Tot rätselhaft war. Doch neben diesem grässlichen Anblick gab es noch etwas anderes, das ihn verstörte. Er kannte diesen Menschen, der dort lag. Sehr gut sogar. Otis schmerzender Bauch ballte sich abrupt zusammen. Ihn würgte es. Die Reaktion kam, noch bevor Otis wirklich realisierte warum. Er hörte das Geräusch von bratendem Fleisch in einer Pfanne. Das sollte ihm doch eigentlich willkommen sein. Wer würde in diesen Zeiten ein schönes Stück Fleisch ausschlagen? Er sah zu Clemens der wie versteinert an der Kochstelle stand und ihn erschrocken ansah, ganz so wie ein Hirsch, der sich von einem Rudel Wölfe in eine Falle manövriert sah. Es war als würde die Zeit gefrieren. Sie blickten sich einfach nur erstarrt an. Dann als Otis endlich verstand, ging alles ganz schnell.
    „Woher … woher hast du das Fleisch?“ krächzte Otis und wurde im Gesicht ganz bleich.
    Er wusste es schon. Wusste woher das Fleisch kam. Clemens sagte nichts. Er brauchte nichts zu sagen.
    „Oh bei Innos, was … was hast du getan?“
    Otis würgte, sein Magen ballte sich schmerzhaft zusammen, doch auch wenn sein Hals brannte, es gab nichts was er nach oben würgen konnte. Das machte es noch schmerzhafter. Als er sich umdrehte und zur Tür rannte, löste sich auch Clemens Erstarrung. Er rannte Otis nach und gerade als der zur Tür raus war, hatte er ihn eingeholt und riss ihn rabiat am linken Arm zurück ins Haus.
    „Moment, hiergeblieben! Eben wolltest du doch unbedingt zu mir. Warum willst du denn jetzt so schnell gehen?“
    Clemens Stimme ließ Otis schaudern. Er klang so übertrieben freundlich, doch in seiner Tonlage klang noch eine abgrundtiefe Boshaftigkeit durch.
    „Ich hab’s mir anders überlegt. Lass mich … lass mich nach Hause gehen.“
    „Du gehst nirgendwohin!“ schrie Clemens und zerrte ihn weiter in die Hütte hinein.
    Otis versuchte sich loszureißen, doch Clemens war viel stärker als er. Verzweifelt versuchte er sich aus seinem Griff zu winden, doch in seiner Panik achtete er nicht auf seine Umgebung, stolperte über ein Stuhlbein und fiel der Länge nach hin. Clemens war sofort über ihm, warf sich auf ihn und hielt ihn eisern am Boden fest. Otis kämpfte gegen ihn an, doch Clemens hielt ihn mühelos fest, so dass sich Otis schwach und hilflos fühlte.
    „Hilfe!“ rief er so laut wie er konnte, doch das war nicht besonders laut. „Hilfe!“, wiederholte er seinen Versuch und diesmal klang es etwas kräftiger.
    Ein dritter Versuch wurde von Clemens unterbrochen, der ihm seine linke Hand auf den Mund hielt.
    „Wirst du wohl still sein?!“, zischte er Otis an.
    Seine Augen waren weit aufgerissen, seine Zähne gefletscht.
    Otis spürte seinen heißen übelriechenden Atem auf seinem Gesicht. Er zitterte unter ihm wie ein verschrecktes Kaninchen, das in den weit aufgerissenen Rachen eines Wolfs sah.
    „Du hast gesehen was ich mit der Leiche gemacht habe. Du gehst nirgendwo mehr hin! Sieht so aus, als hätte ich für die nächsten Wochen ausgesorgt.“
    Eine stumme Träne drang Otis aus dem rechten Auge und rann seine Wange hinab, als er realisierte, was diese Worte für ihn bedeuteten. Hier würde es enden. Clemens war so viel stärker als er. Er war ein Kämpfer, ein Krieger, er hatte gegen Orks gekämpft. Er selbst war nur ein ehemaliger Tischler, schwach und hilflos, ausgezehrt vom Hunger. Was hatte er schon für eine Chance? Doch als Clemens seine rechte Hand von seinem Mund nahm und er sie zusammen mit seiner linken an seinen Hals legte, um ihn zu würgen, spielte all das keine Rolle mehr. Der Überlebensinstinkt schob alle rationalen Überlegungen einfach beiseite. Otis bäumte sich auf, kämpfte um sein Leben, mit einer Kraft, die er nicht mehr für möglich gehalten hätte. Der Druck auf seinem Hals war unerträglich. Erbarmungslos drückte Clemens auf seine Luftröhre, drohte den Knorpel unter seinem starken Griff zu zerquetschen. Otis schnaufte, versuchte irgendwie an Luft zu kommen, doch es half nichts. Die nackte Panik brach in ihm aus. Mit einer gewaltigen Anstrengung drückte er gegen seinen Peiniger, doch der gab nicht nach. Nach dieser großen Anstrengung wurden Otis Bewegungen unkontrolliert. Er zuckte hilflos nach allen Richtungen, ohne, dass er damit auch nur die leise Aussicht auf Erfolg hatte.
    „Stirb endlich!“ zischte Clemens zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und verstärkte seinen Griff nur noch.
    In Otis Ohren rauschte es und vor seinen Augen tanzten helle Tupfen. Er spürte wie ihn die Kräfte verließen. Nun sank er schlapp zurück auf den harten Holzboden. Für ihn war es vorbei. Die unbarmherzige Erkenntnis, dass Clemens ihn gleich töten und dann zerhacken und essen würde, traf ihn und ließ ihn in ein bodenloses Loch der Hoffnungslosigkeit stürzen.
    Plötzlich hörte er Stimmen. Er verstand nicht was gesagt wurde, doch dann gab es einen kräftigen Ruck und das Gewicht von seinem Körper wurde hinfortgerissen. Otis röchelte und angestrengt sog er Luft in seine schmerzenden Lungen. Die Stimmen wurden lauter. Er hörte Schläge, ein Stuhl ging zu Bruch, dann ein Aufschlag auf dem Boden. Das Brüllen wurde noch lauter, noch aggressiver. Jemand rüttelte ihn.
    „Otis, Otis!“
    Seine Augen schwommen unkontrolliert umher, stierten dann zur Decke. Ein bekanntes Gesicht geriet in sein Blickfeld. Es war Volker, der beunruhigt auf ihn hinuntersah.
    „Alles in Ordnung mit dir?“
    „Dreckige Fleischwanze! Abscheulicher Guhl!“ hörte er eine andere Stimme rufen.
    Otis Augenbrauen zogen sich verwirrt zusammen. Er verstand nichts, bis er sich umsah und bemerkte, dass diese Worte nicht an ihn gerichtet waren, sondern an Clemens. Sanford stand über ihn gebeugt und traktierte ihn links und rechts mit harten Schlägen. Um Clemens auf dem Boden herum lagen die Trümmer eines Stuhls. Volker war gleich bei ihm und versuchte seinen Freund zurückzuhalten.
    „Lass ihn am Leben. Das ist ein Fall für die Miliz!“
    „Scheiß auf die Miliz! Hat Markus etwa was gemacht? Nein! Wir hätten uns gar nicht auf ihn verlassen dürfen. Siehst doch was passiert ist! Diese Krokodilfresse konnte einfach morden und …“
    Ruckartig beugte er sich nach vorn und würgte, doch auch bei ihm kam nichts aus dem Mund. Gut für Clemens, der sonst alles abbekommen hätte.
    „He, es ist nicht so wie ihr denkt. Pekro war eh tot gewesen. Sollte ich das Fleisch etwa einfach begraben oder verbrennen? Das wäre doch Verschwendung gewesen. In diesen Zeiten muss man eben nehmen was man kriegen kann.“
    „Du verschissener Kannibale!“ brüllte Sanford und prügelte wieder brutal auf ihn ein.
    Clemens krümmte sich unter seinen Schlägen zu einem Ball zusammen und versuchte seinen Kopf mit seinen Armen zu schützen.
    „Es ist ja nicht nur Pekro. Erstaunlich viele Leute sind in letzter Zeit gestorben“, sagte Sanford. „Da hast du doch bestimmt nachgeholfen. Wenn ich nur dran denke,… meine Nachbarn … und ich hab nichts gemacht. Ich hab mich nur gewundert was los ist. Ich bin so dumm. Ich hätte viel früher drauf kommen müssen.“
    „Wer denkt denn an sowas?“ fragte Volker. „Wir hätten Markus gleich zusagen sollen, als er uns anbot bei der Miliz mitzumachen, aber du wolltest ja unbedingt Bedenkzeit.“
    „Ich will mich nicht mehr herumkommandieren lassen. Versteh das doch!“, kam es barsch von Sanford zurück. „Hab ja nicht geahnt, dass dieses Stück Scheiße hier alle absticht und frisst!“
    „Stimmt nicht. Ich hab gar nichts gemacht. Nur wer eh schon tot war …“, versuchte Clemens sich zu verteidigen, doch Sanford brüllte ihn an und schlug ihm immer wieder ins Gesicht, bis er vier Zähne verlor und Blut aus seinem Mund troff.
    Volker stand unschlüssig daneben und wusste nicht war er tun sollte. Der Schreck saß ihm offensichtlich tief in den Knochen. Sein Blick flackerte immer wieder von der Leiche zur Kochstelle, wo eine giftige Rauchwolke vom mittlerweile kohlrabenschwarzen Fleisch aufstieg.
    „Nimm die Pfanne vom Feuer, oder wir gehen hier noch ein!“ kommandierte Sanford.
    „Nimm du sie doch vom Feuer!“
    „Ich geh keine zehn Schritte an dieses … dieses Fleisch ran“, sagte Sanford und sah schon wieder so aus, als müsse er gleich würgen.
    Volker schwitzte trotz der Kälte. Er sah sich hilfesuchend um, doch es gab niemanden, der ihm helfen konnte. Sanford stand immer noch über den am Boden zusammengekrümmten Clemens. Otis saß apathisch auf dem Boden und wimmerte. Volker atmete tief durch und ging dann auf die Pfanne zu. Mit zitternden Fingern nahm er den Griff, stellte die Pfanne mit dem verkohlten etwas darin zur Seite und löschte das Feuer.
    „Wir müssen ihn zu Markus bringen!“ sagte er, als er sich wieder den anderen zuwandte.
    „Nein, Markus muss herkommen und sich das ansehen, sonst glaubt er wir ticken nicht ganz richtig.“, kam es von Sanford.
    Die beiden Freunde sahen sich lange an, dann nickte Volker und ohne ein weiteres Wort zu sagen, war er aus dem Haus gerannt. Plötzlich war es merkwürdig still. Man hörte nur Otis Wimmern und Sanfords schweres Atmen. Von Clemens war gar nichts zu hören. Vermutlich versuchte er sich so still wie möglich zu verhalten, damit Sanford ihn nicht weiter zusammenschlug. Endlich schaffte Otis es sich aufzusetzen. Er zog die dürren Beine an und verbarg sein Gesicht in den knochigen Händen. Er konnte nicht verhindern, dass ihm die Tränen kamen. Tränen der Furcht, Tränen der Trauer, aber auch der Erleichterung, weil er dem Tod noch mal von der Schippe gesprungen war. Er war ganz und gar überfordert mit der Situation.
    Sanford sah nun, da die unmittelbare Gefahr vorbei war, recht hilflos aus. Er stand unschlüssig da und wusste nichts zu sagen oder zu tun. Eine innere Unruhe erfasste ihn. Er begann auf und ab zu gehen. Schließlich näherte er sich doch der Leiche, um zu sehen, wer das eigentlich war und erkannte den Metzger von Montera.
    „Scheiße! Das ist ja Rüdiger. …Vorhin haben wir noch miteinander erzählt. Du … Du…“, sagte Sanford, dessen Stimme vor Wut zitterte. „Lügner! Mörder! Kannibale!“
    Diesen Moment nutzte Clemens. Unerwartet schnell sprang er auf die Füße und stürzte zur Tür. Sanford wurde knallrot im Gesicht. Er erkannte seinen Fehler. Obwohl er nur ein paar Schrittlängen von dem Kannibalen entfernt war konnte das zu viel sein. Doch Clemens kam nicht weit. Er war gerade erst aus der Tür raus, da hörten sie seinen Aufschrei und Markus markante Stimme donnern: „Hiergeblieben Freundchen!“
    Gleich darauf wurde Clemens zurück ins Haus gestoßen. Markus und Volker kamen hinterher. Die Stadtwache verschaffte sich mit einem Blick in die Runde einen kurzen Überblick der Lage. Sein Blick blieb an Rüdigers Leiche hängen.
    „Bei Innos, was ist das denn für eine verfickte Scheiße hier?!“ brüllte er und seine Stimme wurde mit jedem Wort lauter.
    Damit startete Markus eine schier endlose Schimpftirade während er Clemens in Eisen legte und dann die ganze Hütte auseinandernahm. Markus fand abgenagte Knochen eines anderen Opfers, neben der Ofenklappe sowie Klamotten in einem Verschlag. Volker und Sanford bewachten Clemens, taten sonst aber nichts. Otis bekam das alles nur am Rande mit. Er wollte es gar nicht sehen, wollte nicht an das Denken was er zuletzt erlebt und gesehen hatte, versuchte sich in eine Realität zu flüchten, in der Rüdiger, sein Freund, noch lebte. Er saß wie ein einziges Häufchen Elend auf dem Holzboden und weinte stumm vor sich hin.
    „He Markus. Otis kann doch gehen, oder?“ fragte Volker und warf einen beunruhigten Blick auf den älteren Mann.
    „Erst muss er mir erzählen was passiert ist“, beharrte der Milizionär.
    „Meinst du so wie es ihm gerade geht schafft er das?“ gab Volker zu bedenken.
    „Er hat das zu schaffen!“, kam es brüsk von Markus.
    Er schritt zu Otis, ging vor ihm in die Hocke und fragte laut: „Was genau ist passiert?“
    Otis schwieg. Er hörte Markus gar nicht richtig.
    „Nun sag schon! Volker kam zur Wache gerannt und erzählte uns Clemens wäre ein Kannibale und wäre drauf und dran gewesen auch dich umzubringen. So wie ich das sehe stimmt das. Sieht ja hier eindeutig wie in einem Schlachthaus aus, aber ich muss wissen was du hier gemacht hast! Warum bist du mitten in der Nacht in Clemens Haus gekommen?“
    Otis antwortete nicht. Er stierte auf einen Punkt auf dem Boden.
    „Verfluchte Scheiße! Mach endlich das Maul auf!“ brüllte Markus und fing an Otis rabiat durchzuschütteln.
    Die Nerven lagen blank.
    „Lass ihn, verdammt noch mal!“ fing jetzt auch Volker an zu Schreien.
    „Du hast mir gar nichts zu sagen!“, brüllte Markus zurück und richtete sich wieder zur vollen Größe auf.
    Um seinem Kumpel beizuspringen herrschte nun auch Sanford ihn an.
    „Siehst du nicht, dass es ihm echt beschissen geht? Will dich mal sehen, wenn einer versucht hat dich umzubringen mit der Aussicht dich zu zerhacken und zum Abendbrot in die Pfanne zu legen.“
    Volker warf ihm einen schiefen Blick zu, der ihn wohl wortlos fragte, ob er das jetzt wirklich so drastisch hatte sagen müssen.
    „Ich hab hier meine Arbeit zu erledigen!“, sagte der Chef der Miliz und warf sich in die Brust. „Mischt euch da nicht ein!“
    Volker ignorierte das und beugte sich zu Otis hinunter. Er tätschelte sanft seine Schulter.
    „He Otis. Hörst du mich?“ fragte er behutsam.
    Er wartete. Es dauerte, doch dann nickte Otis.
    „Keine Sorge. Wir sind ja jetzt da. Niemand kann dir jetzt noch was tun. Es ist ganz normal, wenn man nach so einer Sache Angst hat und weint. Du brauchst dich deswegen nicht schlecht fühlen. Wir verstehen das. Ich fühle mich auch schrecklich.“
    Er hielt kurz inne. Alle hörten wie Otis mühsam schluckte und dann zitternd durchatmete. Markus sah ungeduldig auf den am Boden kauernden Mann, blickte dann zu Volker, der abwehrend die rechte Hand gehoben hatte, so als wollte er Otis vor ihm abschirmen. Otis nächster Atemzug kam schon tiefer. Bemüht ruhig redete Volker weiter mit Otis.
    „Gut, dass du um Hilfe gerufen hast. Sanford und ich sind so auf das hier aufmerksam geworden. Dafür, dass du immer darüber klagst wie schwach du bist, hast du dich gut gewehrt. Zuerst dachte ich, wir wären zu spät gekommen, aber du hast dich tapfer gehalten.“
    Es fiel Otis schwer alles zu verstehen, aber Volkers mitfühlende Stimme beruhigte ihn.
    „Weißt du Otis, wir brauchen dich jetzt. Markus muss wissen was genau passiert ist, damit wir dieses Schwein verurteilen können. Du bist ganz wichtig für diesen Fall.“
    Otis sagte immer noch nichts. Er starrte nun aber nicht mehr auf einen unsichtbaren Punkt, sondern begann Volker zu fokussieren. Der sah ihn lange an und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. Dann sah Volker zu Markus hinauf, der ihm dankbar zunickte. So umsichtig wie Volker hätte er das wohl nicht hinbekommen. Leise schniefte Otis, dann wischte er sich unbeholfen die Tränen aus den Augen.
    „In Ordnung“, sagte Otis mit krächzender halb erstickter Stimme.
    „Woran erinnerst du dich? Was ist passiert?“ fragte Volker, weiterhin bemüht ruhig zu sprechen, doch wer genau hinhörte, konnte seine innere Aufregung erahnen.
    „Ich … ich bin gekommen, wegen meiner Bauchschmerzen“, fing Otis an.
    Er schluckte schwer. Sein Hals tat ihm schrecklich weh.
    „Wegen dem Tee. Er wollte mich töten.“
    Otis konnte nicht seinen Namen sagen. Er wagte nicht ihn anzusehen. Er sah lieber weiter in Volkers Gesicht. Tränen drangen zurück in Otis Augen. Er versuchte sie zurückzuhalten. Ein unterdrücktes Schluchzen entrang sich seiner Kehle. Markus linke Augenbraue hob sich bei Otis wirrem Gestammel. Volker sah ihm fragend ins Gesicht.
    „Reicht das? Glaube nicht, dass wir ihm heute mehr zumuten sollten.“
    „Na schön, er kann gehen“, knurrte Markus.
    „Wir begleiten ihn nach Hause“, sagte Volker.
    Es war eine Absichtserklärung. Keine Frage. Markus knurrte etwas Unverständliches, ließ die drei aber gehen. Der Weg nach Hause blieb Otis nicht im Gedächtnis. Er erinnerte sich später nur noch daran, wie sie dann in Rüdigers Metzgerei bei Ulf saßen und Volker und Sanford ihm erzählten was sie über den heutigen Abend wussten. Ulf konnte es zuerst nicht glauben. Mehrfach sagte Ulf seinem Sohn wortwörtlich, er solle ihn gefälligst nicht verarschen. Als die Erkenntnis langsam durchsickerte, dass die beiden jüngeren Männer ihn nicht anlogen und Rüdiger wirklich tot war, wurde er sehr still. Otis fühlte sich unfassbar müde, so dass er irgendwann einfach aufstand und ohne die anderen weiter zu beachten zu seinem Bett ging, um sich dort einzurollen, in der unmöglichen Hoffnung die Geschehnisse der heutigen Nacht einfach vergessen zu können.

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