Zitat von
Luceija
Irgendwo in ihr schien sie noch einmal zu versterben. Ganz in der Nähe der Position, an der sie bereits ein erstes Mal gestorben war, als sie die Nachricht des eigenen, toten Sohnes vernommen hatte. Sie unfähig war zu realisieren, was genau in den wenigen Stunden, die sie außer Haus gewesen war, geschehen war. Es war ein Abend gewesen und sie naiv. Dumm. Leichtsinnig. In der Illusion ewiger Jugend gefangen, im Glauben, alles würde immer irgendwie gut gehen, auch, wenn einmal noch so dunkle Schatten über ihr Leben hinwegzogen. Bisher war es immer irgendwie so gelaufen. Auch, wenn sie sehr tief gefallen war, holte sie irgendetwas oder jemand wieder an die Wasseroberfläche und heraus aus dem Sumpf in den sie irgendwann gefallen war. Leif war schon viel zu lange an ihrer Seite gewesen. Nicht nur als Ehemann, aber auch. Schon in der Jugend hatten die beiden irgendwie und über Umwege zueinander gefunden. Und irgendwie hatte diese Beziehung alles überstanden. Sowohl Grundwehrdienst, als auch die lange Rekrutierung der Allianz, Elysium und unendlich viele Stunden, die der Schwede bei der Ausübung seiner Arbeit und Leidenschaft hinter sich ließ. Für Aries war es wirklich so, dass sie glaubte, dass sie doch alles überstanden hatten. Nur dieser eine Makel nicht. Ihren einen, kleinen Fehler der so verheerende Auswirkungen mit sich zog. Als sie glaubte, dass das Kind schon eine Weile allein auskäme. Und es dann diesen Anfall bekam. Unerkannt.
Jetzt starb sie wieder, auf ihre ganz eigene Weise, die eine unendliche Verzweiflung und einen quälenden Hass in ihr heraufbrodeln ließ. Es war nicht so, dass sie seine Nähe nicht genoss – ganz im Gegenteil. Er fühlte sich an und roch und war so warm wie früher. Auf eine beängstigende Weise genau das, was ihrem Leben so lange gefehlt hatte. Aber als sie die schmalen Finger und Kuppen in den Stoff seines Jacketts drückte und sie unweigerlich spürte, wie ihre Stirn gegen seinen Kiefer lag und ihr Atem gegen die Haut ihres Exmannes prallte, sah sie längst verschwommene Bilder einer stilisierten Silhouette dieses Feindbildes eines Frau vor ihren Augen. Die Blondine konnte sich kaum gegen den Eindruck wehren wie er nichtmehr sie selbst hielt, sondern eine gänzlich andere Person. Die, dort in diesem Gerichtssaal – denn zugegeben hatte sie bereits, auf eine entsetzlich dreiste Weise – dass diese Verhandlung ihretwegen aufgekommen war. Und Leif hatte eben bestätigt, dass es so sein musste. Und nun war der schmerzliche Eindruck unaufhaltsam. Fremde Küsse an den Lippen IHRES Mannes. An der Haut, die sie hier aus dieser Nähe roch. Die falsche Stimme, die ihm Dinge kurz vor dem zu Bett gehen ins Ohr flüsterten und dann noch in diesem für sie so entsetzlich schlechten und alles andere als akzentfreiem Englisch.
Ja, an einem anderen Tag als diesem, in einem anderen Moment, hätte sie sich für alles Folgende vielleicht sogar selbst gehasst. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht hätte sie es hingenommen, als den Ausbruch ihrer Emotionen, den weder ihr Exmann noch irgendjemand ihr nehmen konnte – denn sie fühlte sich im Recht. In jedem Sinne. Als sie sich von ihm drückte, den Kopf ruckartig streckte und mit den Tränen gespickten, seligen Augen hinauf in die ihres Exmannes sah. „Du warst immer schon…genau SO jemand.“, stellte sie fest und nickte mit einer Bestätigung, als müsse sie sich selbst erst darüber klar werden. „Der von diesen weinerlichen Leidensgeschichten angezogen wird, der diesen…Helferkomplex hat den ich irgendwann an dir wirklich mal niedlich gefunden habe. Aber dass das zu weit geht…das musst du doch selbst sehen!“, versuchte sie ihm mit einer beinahe tadelnden aber weinerlichen Stimmlage klar zu machen. Sie ließ von ihm ab, strich sich mit den Zeigefingern beider Hände synchron auf jeder Seite die Tränen aus den Augen ohne ihr Makeup zu ruinieren und strich sich schließlich mit den Handflächen über die Schläfen, als beruhige sie es in Kombination mit der festen Ausatmung. „Niemand…wird jemals so gut für dich sein wie ich es war und bin.“ Sie atmete zittrig, blickte ihn aber stark an. Nichts, was der Engelserscheinung einen wirklichen Abriss tat. Irgendwie hatte sie immer dieses Liebliche und Verletzliche, trotz der Größe. „Und ich denke das weißt du auch. Es war mir ja klar, dass du dir eine Neue suchst und sie möglichst das Gegenteil von mir sein muss, damit sie dich nicht an mich erinnert, aber die gehört doch überhaupt nicht zu deiner Gesellschaftsschicht!“ Aries jedenfalls hatte sie kaum getäuscht. Das Makeup, die Haare..alles schien durchaus von professioneller Hand gemacht worden zu sein. Aber das täuschte nicht über diese dreckige Aura hinweg, die die Blondine hatte regelrecht wittern können. Diese kleine Temporärbettgeschichte war vielleicht doch nur eine Tat aus Mitleid. Und das machte Aries beinahe rasend – weil sie wusste, dass Leif seinen Beruf immer vorgezogen hatte. Vielleicht nicht Lennart. Aber ihr. „Was soll das also werden – deshalb setzt du deine Karriere aufs Spiel, Leif, du? Ein überaus intelligenter Mann? Für eine vollkommen lächerliche Arzt-Patienten-Beziehung? Dass sowas nicht hält weiß man doch aus jeder Daily-Soap!“
Vielleicht war ihr Ziel nur das, ihm möglichst weh zu tun. Alles, was dieses scheinbare, ach-so-tolle, zerbrechliche, kleine Glück niedermetzeln konnte in eine Richtung zu werfen um ihre Verzweiflung irgendwie zu kompensieren und das Bild einer verschwommenen, irgendwie südländischen Frau auszuradieren, die nichts in der Perfektion ihrer gemeinsamen Beziehung verloren hatte. In der Illusion, Schweden käme irgendwann zurück. Und er zurück in ihr gemeinsames, viel zu leeres Haus.
Sie atmete diese gehässigen Tränen schwer hervor. „Dieses Flittchen hat mir die Schuld am Tod meines Kindes gegeben! Woher weiß eine Fremde überhaupt von meinem Sohn?! Ist es das, was du deinen Frauen erzählst? Welches Monster ich bin?!“