Es hätte kaum einen ungünstigeren Zeitpunkt geben können, Julian in der Menge der Anwesenden auszurufen. Schon während der Befragung des 'Künstlers' mit südländischen Wurzeln hatte Julian irgendwann für sich befunden, dass aus den nicht nur sprachlich etwas flapsigen Äußerungen und Umschreibungen ohnehin keine relevante Aussage entstehen würde. Wenn irgendein Volk verstand, dass eine Affäre einen Menschen nicht zum Unmenschen machte und man diesen Ausbruch gegen gesellschaftliche Anfeindungen decken musste, dann waren es die Südländer. Und gerade einem 'Musiker', dessen Geschäft der Mythos der unkontrollierbaren Leidenschaft war, würde sich selbst eher geißeln, bevor er eine Affäre gegenüber der Justiz ausplauderte. Mit diesem Wissen hatte Julian sich bereits seit einigen Minuten mental ausgeklinkt und hatte unaufällig etwas Musik für sein sukutanes Audioimplantat ausgewählt, mit der er sich stattdessen beschäftigte, während sein Blick aus dem Fenster ging. Dass eine gewisse Unruhe durch den Raum ging, bemerkte er zwar, jedoch blendete er die Eindrücke in der Manier eines meditierenden Mönches aus, während er stattdessen leise eine Bachsche Fuge mitsummte, dabei mit dem über das Bein geschlagenen Fuß wippte und das beindruckende Panorama der Stadt genoss. Erst, als einige beunruhigte Zuschauer um ihn herum sich erhoben, um einen besseren Blick auf das unglückliche Geschehen am Zeugenstand erhaschen zu können, damit aber dem Neurologen seinen Fensterblick ruinierten, stellte er die Musik ab und bemerkte, dass sein Name fiel.
"Anwesend", antwortete er reflexartig in einer Art Reizgeneralisierung seiner schulischen Erziehung, wo man nicht minder streng seinen Nachnamen rief. Erst dann, als er sich selbst erhob, und den bewusstlosen Musiker mit leicht blutender Nase am Boden sah, begriff er die Situation und drängte sich mit höflichen Floskeln an den Menschen in seiner Reihe vorbei - oft schon zu höflich, verbrachte er mit einer älteren Dame einige wertvolle Sekunden des Lächelns und Schwadronierens um sich für einen Rempler zu entschuldigen, obwohl diese ihn nur fassungslos über dessen Ruhe anstarrte und mit dem Finger in Richtung Zeugenstand deutete.
Bei Gaël angekommen, zog er in derselben Gemächlichkeit sein Sakko aus und reichte es einem Securitybeamten neben ihm, öffnete dann in Ruhe seine Manschettenknöpfe und faltete langsam seine Ärmel nach oben, während er sich zu Leif drehte und diesem mit einem Nicken ein begrüßendes Lächeln zuwarf.
"Schön Sie zu sehen, Herr Kollege. Wie ist die Luft da vorne?", witzelte er noch etwas spöttisch und deutete dabei mit dem Kopf zu Leifs Sitzplatz bei der Verteidigung. Erst dann begab er sich endlich ebenfalls neben Gaël in die Hocke und nahm einen Erste-Hilfe-Koffer entgegen, den ein Sicherheitsbeamter den Ärzten geistesgegenwärtig gebracht hatte. Nachdem er die Vitalzeichen auf die altmodische Art und anschließend mit einem Messinstrument geprüft hatte, ergab sich für ihn tatsächlich der Verdacht eines Infarkts.
"Sieht mir nach Kammerflimmern aus. Was sagen Sie, Doktor?", fragte er recht professionell nach, reichte Leif das Messgerät und orderte daraufhin von einem der Sicherheitsleute bereits vorsorglich einen Defibrillatorkoffer. Dann zog er eine kleine Taschenlampe aus seiner Brusttasche, hob die geschlossenen Lider des jungen Mannes an und prüfte die Pupillenreaktion. Dabei setzte bei Julian unbewusst das Gefühl seiner Arbeitsroutine ein, die ihn trotz des Drucks dazu veranlasste, die Melodie von Bachs Contrapunctus, die er gerade gehört hatte, fröhlich vor sich hinzupfeifen.