Eine Frage musste man sich zwangsläufig stellen. Vermutlich stellte
er sie sich nun die gesamte Zeit über:
'Wie war es so weit gekommen?' Darauf gab es aber keine wirkliche, rationale Antwort. Außer, man war wie sie, die sich gerne und durchgehend Vorwürfe zu diesem Thema machte, im Wissen, dass es schlicht niemand anders es sein konnte, der hieran wirklich schuldig war. Sie war es. In dem Moment, in dem ihre Rückwärtsschritte unter Tränen im North Bent hinfällig wurden, sich von jeglicher Emotion untergraben ließen und sie die Nähe des Arztes in seiner Abteilung auf Proteus nicht ertragen hatte. Keinen Blick, keinen Atemzug. Sie hatte es tun müssen. Ein innerer Drang forderte sie dazu auf sich auf seinen Schoss zu setzen und ihn wieder zu küssen. Doch der einzige Ort an den sie sich nun setzte, war dieser Stuhl. Hinter einer kleinen Mauer, über der auf einer Seite eine kleine, holografische Anzeige schwebte und sowohl nach links als auch rechts hinter dem Bereich des eigentlichen Geschehens auf die leeren Stühle mit einem "Zeugen & Angehörige" verwies. Dort war jetzt ihr Ort. Distanziert von diesem Mann, der ihr eben noch die Karte zugespielt hatte und 'Mehr noch für alles andere liebe ich dich.' geschrieben hatte. Sie brach regelrecht auseinander. Zora und Vigilio hatten kaum gesprochen, alles, was sie taten, war sich hin und wieder das ein oder andere Wort zuzuflüstern, aber es half der Sizilianerin kaum, sich von dem Gedanken abzubringen, wie es Leif nun gehen musste. Oder was ihm wirklich durch den Kopf gehen musste. Sie nahm sich mit diesem falschen, aufgesetzten Äußeren und ihrer nun selbst aufgespielten Arroganz über ihrem toten Ausdruck heraus, ihn zu beobachten, wie er dort stand und rat- und hilflos um sich gesehen hatte. Panisch. Sie konnte ihm ansehen wie beschissen es ihm ging und wie tief dieser Schlund sein musste, der ihn immer tiefer zog...und sie unbewusst immer weiter mit. Und sie, Luceija, hätte es sein müssen, die seine Schulter berührte. SIE hätte es sein müssen, die nun bei ihm stand, die Hand auf seine Wange legte und ihn zurück zur Realität zog. Nicht diese....'Frau', als welche Luceija sie gedanklich nicht im geringsten bezeichnet hätte. Ihre innere Stimme verschrie sie noch am harmlosesten als Miststück, aber eigentlich waren es unzählige andere Begriffe die sie ihr an den verdammten Schädel werfen wollte bis sie blutend zu Boden ging. Ein irregeleiteter Hass auf eine Schuldige in diesem unsäglichen Gefühlschaos. Sie würde alles treffen und es war Luci recht, dass sie so schnell eine Schuldige hatte finden können. Ihre Finger krallten sich in die teure Hose am Oberschenkel ihres Bruders, obwohl ihre Mimik diese Wut nicht reflektierte, sondern immer kaltblütiger wurde.
"Calma giù, calma giù. Beruhige dich.", bat er seine Schwester, zupfte ihre kleine Hand von seinem Bein und hielt sie hierauf fest. Nahm den Druck an, mit der sie um seine Finger griff.
"Saresti tranquillo, Gil? Sareste davvero tranquilli se vi trovaste nella mia situazione? Wärst du ruhig, Gil? Wärst du wirklich ruhig wenn du in meiner Situation wärst?" wollte sie wissen und blieb dabei, passend zu dem was sie sagte, erstaunlich ruhig. Äußerlich jedenfalls. Aber sie nahm es sich zu Herzen, lies sich weiter die Hand halten und lies ihre müden Augen durch diesen Gerichtssaal streifen, der sich nach und nach mit immer mehr Leuten füllte. Es war hier nicht viel Platz, aber es war egal, wo der Saal genug hermachte. Die riesige Glasfassade zur Rechten der hier sitzenden war imposant und gab einen schicken Ausblick über diesen Stadtteil Londons und das Treiben auf den engen Strassen. Nicht die weitläufigste Ansicht aber imposant. Vermutlich würden nur die wenigsten die hier sassen die Möglichkeit haben diesen Ausblick zu bewundern. Die meisten würden wohl eher den dunklen Putz oder die Holzelemente anstarren, die sich aus dem Boden erhoben und zur Richter- und Zeugenbank wurden. Natürlich war die Architektur beeindruckend...aber er hatte dafür schon den Nerv, wenn es um, meist, das eigene Leben ging.
Wenn Sie sich nun umsah, nicht zu weit und eher dezent über ihre Schultern hinweg, erkannte sie viele Personen die sie auch auf Proteus schon gesehen hatte. Nicht alle davon beim Namen, aber ein paar. Diese Frauen auf der gegenüberliegenden Seite der Zeugenplätze jedenfalls waren ihr nicht unbekannt: Es war ein Teil derer die ihr Maul zu weit aufrissen. Die an Leif geklebt hatten wie jetzt, wo sie auffällig unauffällig hinter seiner Seite Platz genommen hatten. Dann waren da noch, so weit vorne wie es ging, drei Reporterteams, die die Zeit nutzten ihre Kameras aufzustellen, sich eine gute Sicht im Raum zu gönnen und auf viel Schreibarbeit einzustellen. Von einem, oder besser zweien, wurden sie jedoch überrascht. Sie beide. Urplötzlich schreckte Luci herum, ihre Strähnen schlugen um sich, bis sie erkannte, dass es kein geringerer als ihr Vater war, der mit einem leichten Lächeln die Hand an die Wange seiner Tochter gelegt hatte.
"La mia piccola Luceija è tornata. Si guarda bello. Mi ricordate davvero di vostra madre. Meine kleine Luceija ist tatsächlich zurück. Du siehst bezaubernd aus. Du erinnerst mich wirklich an deine Mutter." Zugegeben, es erschien ihr etwas viel auf einmal. Sie schien überfordert mit dieser Aussage, wusste für den Moment nicht, ob sie ihn nun Vater oder Gaius nennen sollte und nahm es einfach hin. Lies sich in diese italienische Begrüßung einbinden, an linker und rechter Wange küssen, kurz über die Wange streicheln lassen und für einen Augenblick konnte man wirklich glauben, Gaius hätte so etwas wie Stolz gegenüber seines Kindes gezeigt. Mit Vigilio verfuhr er ähnlich, drückte ihn aber noch an der Schulter und hielt schließlich für einen Moment beide an ihren Oberarmen zusammen, als sei ihm erst jetzt gewahr, was er wirklich vermisst hatte. Alessio, der mit seinem Bruder angekommen war, weil das Shuttle, wie sie sich erklärten, direkt von Neapel hier her geflogen war, begrüßte beide, seinen Neffen und seine Nichte, mit ähnlich herzlichem Ausdruck und Gesten.
"Bello vedervi entrambi di nuovo. Schön euch beide wieder zu sehen."
Fuer wirklich viel mehr blieb kaum Zeit als diese, kurze Begrüßung. Gaius jedoch beugte sich, nachdem er hinter seinen Kindern Platz genommen hatte, leicht nach vorne und flüsterte Vigilio die Frage zu:
"E 'che lui? Ist er das?" und nickte in Leifs Richtung. Zwar hatte er, der selbst Anwalt war, ihn bereits gesehen, aber er wollte sich dennoch rückversichern.
"Corretto. Richtig." Ein leicht anerkennendes
'Hmm!' folgte, er nickte zustimmend und lehnte sich schließlich in seinem Sitz zurück.
Viel Zeit sich von seinem Flug zu erholen hatte der Italiener aber nicht. Sie alle nicht. Denn schon im nächsten Moment kam die ganze, restliche Entourage nach vorne und füllte, unter kritischen Blicken, die linke der beiden Tische. Es war der Anwalt und offenbar auch ein Hilfsarbeiter oder ähnliches, der an ihnen durch den Saal vorbei zog, das kleine Gatter oeffnete und schließlich am linken Tisch Platz nahm und der Gegenseite nur ein knappes Nicken schenkte. Und noch bevor Leif oder die anderen viel Zeit hatten sich zu arrangieren, schob der Helfer des Staatsanwaltes jedem der vorne Sitzenden ein Datapad unter die Nase. Leif. Alicia. Max. Seinem Vorgesetzten. Die Anklageschrift, die gleich verlesen wurde.. . Eine Bank ganz hinten Rechts wurde schließlich mit einigen Geschworenen gefüllt.
Der Saal wurde ruhig, als sei es eine Kinovorstellung die gleich beginnen würde. Es hatte etwas gruseliges. Fehlte nur, dass die Lichter gedimmt wurden, was natürlich nicht geschah. Eine Protokollführerin setzte sich an seinen Platz und im nächsten Moment forderte eine Stimme: "Bitte erheben Sie sich." Und aus der Türe, hinter dem Pult, kam der Richter an seinen Tisch und alle setzten sich erst, als er bereits sass. Als sei er der Protagonist eines Theaters. Diese Inszenierung war so lächerlich. So lächerlich wie alles an diesem Tag. Und so unendlich vernichtend.
"Guten Morgen meine Damen und Herren. Wir verhandeln heute, am..", Luceijas Blicke wanderte langsam am grauen Boden nach vorne hinauf und zum Schreibtisch des emsigen Richters. Er rief eine Datei auf, oder blätterte, denn man sah es nicht,
"...das Strafverfahren gegen Doktor Leif Arvid Svensson." Beinahe gemütlich lehnte sich der Richter auf seinen Schreibtisch und verlas die Daten in einer einschlägigen Routine. Und das war Moment eins, an dem Luceija irgendwie verwirrt aussah. Sie hatte nie gewusst, dass er einen Zweitnamen hatte. Wie war der gleich...?
"Beim Aufruf im Sitzungssaal sind erschienen: Der Angeklagte, Dr. Svensson mit ihren Verteidigern Miss Sjörgen und Mister Åberg. Erschienen sind außerdem die Zeugen..", er sah kurz auf und glich die vorliegenden Texte mit den Anwesenden ab.
"Miss Luceija Natalicia Ascaiath, Miss Lisa Willoughby, Miss Hannah Michaels, Miss Heather Christensen, Mister Gaius Luciano Ascaiath, Mister Gaël Aguiler, Misses Zora Caroline Ascaiath, Mister Vigilio Gaius Ascaiath, Mister Arnou Daigle und Doktor-..", der Richter stockte kurz und schien Atem zu holen - was zwar ungewollt komisch anmuten musste aber wirklich Konzentration erforderte,
"Doktor Abuyin ibn Djadir ibn Omar Kalid ben Hadji al Sharidi. Ich hoffe ich habe alles richtig ausgesprochen.
Gut..ich stelle also fest, das Strafverfahren mit dem Aktenzeichen 427 Js 85472/07 gegen Dr. Svensson wegen unstandesgemäßem Verhalten durch sexuellen Missbrauch unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses durch die Staatsanwaltschaft London im Auftrag der internationalen Ärztekammer der Erde erfolgt.
Damit kommen wir zu Ihnen, Doktor Svensson und ihren Angaben zur Person", er überblickte den Saal und damit dann auch Leif von seiner exponierten Position aus und beäugte ihn kritisch, bevor er verlas,
"die Sie wahrheitsgemäß und vollständig zu beantworten haben.
Bitte geben Sie uns ihren Namen, ihren Geburtstag und -ort und ihre Staatsangehörigkeit an."