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Der leitende Baumeister der letzten Variante der Stadt Stewark musste ganz offensichtlich etwas gegen Lahme und Krüppel gehabt haben. Treppen, Treppen und noch mehr Treppen. Mal flach, mal steil, mal breit, mal schmal, dass es jemandem mit Höhenangst (und Kiyan war ein solcher Jemand) den Angstschweiß auf die Stirn trieb. Irgendwann erreichte er jedoch den oberen Teil der Stadt und fand sich auf einem großen, ummauerten und von hohen Gebäuden gesäumten Platz wieder. Männer mit den Farben Setarrifs und des Silbersees patrouillierten hier, der eine oder andere Wassermagier war zu sehen und der Atmosphäre heftete etwas von Neubeginn an, zumindest soweit es ein Ortsfremder sagen konnte. Die Klippenschenke war schnell gefunden und empfing Kiyan mit einem bunten Sammelsurium verschiedenster Gerüche. Von gebratenem Schwein, gutem wie schlechtem Bier und Schweiß, der jedoch nur schlecht und schwer war. Aber was erwartete man schon in einer Stadt, in der alles so gedrängt war wie Stewark? Gerade in den Wintermonaten fand sich allerlei Volk im Schankraum an und saß dort so nah beieinander wie die hohen Häuser der Festungsstadt gebaut waren.
Entgegen seiner Befürchtung verstummten die zahlreichen Gespräche nicht, die schwermütige Musik eines nicht mehr ganz jungen Spielmanns riss nicht mit einem Misston ab und kein finsterer Blick der Marke ‚Typen wie Euch mögen wir hier nicht!‘ wurde in seine Richtung geworfen. So humpelte Kiyan nur zum Schanktisch und versuchte den Wirt auf sich aufmerksam zu machen. Irgendwann gelang ihm das auch.
„Ein Bett, was kostet das?“
„Mit Speis und Trank? Kann teuer werden. Is‘ Winter. Da haben wir hier eine Menge Besuch in Stewark.“
Kiyan sparte sich ein schweres Seufzen und einen mitleidhaschenden Blick. Er streckte sich, so gut das eben ging, und sah den Wirt entschlossen an.
„Wie viel?“, knurrte er.
„Zehn Münzen pro Nacht. Fünf zusätzlich, wenn Ihr Euch waschen wollt. Nochmal zehn zusätzlich, wenn das Wasser auch heiß oder zumindest fast lauwarm sein soll.“
Kiyan griff in die Taschen seines Mantels, kramte und suchte. In den letzten Jahren hatte er dort immer eine Börse getragen, schwer von den noch viel schwerer verdienten Münzen seines Vaters. Nun wirkte sie ausgehungert, ja fast krankhaft dürr. Sieben Münzen kamen zum Vorschein.
„Nun, Schankmann …“
„Nichts nun, Freundchen.“ Er schüttelte entschieden den Kopf. „Zehn Münzen. Die habt Ihr ja nicht, sonst würden da noch drei mehr liegen. Sucht Euch eine andere Bleibe oder kriegt auf die schnelle noch Gold zusammen. Ich kenne da vielleicht den einen oder anderen vertrauensseligen Kreditgeber …“
Die Züge Kiyans wurden härter. „Ich passe. Schönen Abend noch, Wirt.“
Und dass dir das Dach überm Kopf einbricht.
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 nomina nuda tenemus
In der Klippenschenke
Eben hatte ein möglicher Gast die allgemeine Ruhe in der Schenke unterbrochen, war sich jedoch anscheinend nicht mit dem Wirt handelseinig geworden. Bald verließ er das Haus wieder, ein Bein etwas nachziehend. Den Stock, auf den er sich stützte, trug er zum Spaß bei sich. Ein fähiger Heiler unter den Magiern hätte diese Unzulänglichkeit sicher leicht beheben können. Und außerdem bei der Erstversorgung der Verletzung das Bein so geschient, dass es gerade wieder zusammengewachsen und nicht verkrüppelt geblieben wäre.
Esteban ließ sich jedoch nicht ablenken in seinen Überlegungen und bekam all das nur am Rande mit.
»Ihr möchtet es also trotz Eurer Angst, dass Ihr aus dem Labyrinth dieser anderen Ebenen nicht wieder heraus finden könntet, weiter versuchen. Das ist sehr mutig von Euch. Überlegt Euch gut, ob Ihr das wirklich wollt. Ich mache mir Sorgen, dass etwas passieren könnte. Auf jeden Fall werde ich wie bisher bei Euch sein und Euch unterstützen«, versuchte er, ihre Furcht zu mildern. Es war eines der wenigen Beispiele, in dem Magiebegabung so offensichtlich auch eine Last war und er wollte Murielle damit nicht alleine lassen. Manch andere kamen sogar sehr gut damit aus und berichteten von keinen Nebenwirkungen, so unterschiedlich war das.
»Wir können gerne oben in unserem Zimmer erneut einen der Zauber versuchen, die Ihr schon einmal gewirkt habt. Ich werde Euch dabei wie bisher unterstützen.«
Sie erhoben sich, Esteban ließ noch einige Münzen in die offene Hand des herbeigeeilten Wirtes gleiten, um die Mietdauer ihres Dachzimmers zu verlängern und dann stiegen sie wieder die Treppe nach oben hinauf. Oben im Gang zu ihrem Zimmer knackte und krachte es plötzlich ganz fürchterlich im Gebälk.
»Das Dach stürzt ein!«, rief Esteban überrascht, doch es passierte nichts, alles beruhigte sich wieder und sie kamen ohne weitere beunruhigende Ereignisse an der Zimmertür an. Trotzdem ein seltsames Zeichen.
Sie betraten ihren Raum.
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Den Schrecken noch in den Knochen betrat sie das Zimmer nach Don-Esteban und nahm rasch auf dem Bettrand Platz.
"Das klang nicht gut.", stellte sie mit einer Spur Furcht in der Stimme rückblickend fest und kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf. Was das wohl gewesen sein mochte? Wie sollte sie nun hier in aller Seelenruhe mit ihm ihre magischen Kräfte erforschen?
Bald jedoch hatte sie Dons angenehm warme Hände ergriffen und sah ihm in die Augen, deren Farbe ihrer nicht unähnlich war, wie sie nebenbei bemerkte. Murielle ließ zu, dass der Schleier sich hob und den Blick freigab auf all die anderen Dinge, all die anderen Varianten des Hier und Jetzt. Wieder nahm sie unzählige Versionen der Dachstube wahr. Auch die ausgekohlte Ruine war noch immer vorhanden, jedoch rückte sie diese schnell in den Hintergrund, denn dort war nichts Nützliches oder Relevantes zu erkennen. Sie erschrak, als ihr bewusst wurde, dass in einer Ebene der Dachstuhl des Wirthauses vollständig eingestürzt zu sein schien. Aufgebrachte Menschen wuselten umher, riefen einander Dinge zu. Murielle blendete diese Variante gezielt aus und rückte eine andere in den Vordergrund.
Ihr Augenmerk lag darauf, etwas zu finden, das ungefährlich war. Nicht wieder so ein furchtbar zerstörerischer Schatten. Kein offenes Feuer. Das winzige Abbild des Sterns hatte ihr gefallen. Es war einfach nur hilfreich und wunderschön gewesen. Keinerlei Zerstörungskraft hatte ihm innegewohnt. Aber so etwas zu finden war gar nicht so einfach, wie sie nun mit Bedauern feststellte. Es schien etwas zu sein, das nur unter freiem Himmel funktionierte. So sehr sie sich auch bemühte, es gelang ihr nicht eine Version der Wirklichkeit zu finden, in welcher es etwas gab, das als Lichtlein dienen konnte. Kerzen, ja, in fast jeder Ebene. Jedoch wollte sie nicht wieder etwas in Brand setzen. Andererseits war sie nicht allein und Don-Esteban würde sicherlich darauf achten, dass nichts schief ging.
So konzentrierte Murielle sich auf eine brennende Kerze. Irgendwo in weiter Ferne hörte sie die Stimme des Magiers und folgte ihr heim, in Gedanken die Flamme dabei. Das Problem vorher, so dachte sie kurz, war wohl gewesen das Ziel zu bestimmen. So ließ sie das Abbild des flackernden Lichtes erst dann aus ihren Gedanken frei, als sie die gelöschte Kerze im eigenen Dachzimmer fokussiert hatte. Ein leise tanzendes Flämmchen entzündete sich an dem Docht und tauchte die Stube in ein schwaches, warmes Licht.
"Interessanterweise", berichtete sie dem Magier, noch bevor dieser das Geschehene kommentieren konnte, "sah ich eine Variante des Gasthauses, in welcher der Dachstuhl eingestürzt war. Ich kann nur hoffen, dass es sich nicht um Visionen handelt."
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 nomina nuda tenemus
»Das hoffe ich ebenfalls. Oder wenn doch, dann eine Vision, die noch in ferner Zukunft liegt, in der wir längst nicht mehr hier sein werden. Auch wenn es dann vielleicht leider trotzdem andere trifft.«
Dann sah er die brennende Kerze.
»Hervorragend. Eine Flamme, ohne etwas in Brand zu setzen, das lieber nicht entzündet werden sollte«, freute er sich. »Ich denke, ich muss mir keine Sorgen mehr machen, dass Ihr der Pyromanie verfallt«, fügte er - für seine Verhältnisse - besonders schelmisch hinzu. Er schaute in die Kerzenflamme, die ruhig vor sich hin brannte, wie dies Kerzenflammen für gewöhnlich eben tun.
»Ihr wart schnell und es schien mir als Außenstehenden, als ob Ihr sicherer darin wart, wieder zurück zu finden - mit der gefundenen Magie.« Er wies mit der Hand auf die Kerze.
»Ist es mittlerweile einfacher, vertrauter für Euch, durch die Realitäten zu blättern? Sich in ihnen zu bewegen?«, wollte er wissen. »Ich weiß, dass Euch das sehr anstrengt. Und ich denke, es ist wichtig, diese Anstrengung zu vermindern. Auch, damit es für Euch einfacher wird, die Magie in Euch zu kontrollieren.«
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Endlich war sie wieder in Cerys Hütte angekommen, nachdem sie den ganzen Tag auf den Beinen gewesen und von Patient zu Patient geeilt war. Halb Stewark schien sich erkältet zu haben, obwohl sich das Wetter einigermaßen mild und trocken zeigte. Bald würde sie sich um neue Kräutervorräte bemühen müssen, denn auf so einen hohen Verbrauch war sie nicht vorbereitet gewesen.
"Ich bin totmüde.", ließ sie ihren Gastgeber wissen, der an etwas schnitzte, das nach einer kleinen Statuette in Form einer Frau aussah. Vermutlich irgendeine gegenwärtige oder verflossene Liebschaft, überlegte Danika und schüttelte den Gedanken dann sofort wieder ab. Seine Frauenbekanntschaften interessierten sie nicht, schließlich war dies seine Angelegenheit und ihr Rat als gute Freundin in solcherlei Dingen stieß bei ihm regelmäßig auf taube Öhrchen.
Sie ließ sich auf das Bett sinken und schloss die Augen, um ein wenig Schlaf zu finden. Während sie begann wegzudämmern, hörte sie das leise und beruhigende Prasseln des einsetzenden Regens, der auf das Dach der Hütte niederging. Doch war es plötzlich nicht mehr gleichbleibend, sondern wurde immer stärker und klang nun nach einem bedrohlichen Unwetter. Sie setzte sich erschrocken im Bett auf und sah zu Cery hinüber, der seine Schnitzarbeit unterbrochen hatte und nun aufstand und zum Fenster trat.
"Bei den Göttern, guck dir das an, Danika!", forderte er sie auf und winkte sie eilig zu sich heran.
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Nachdenklich nickte sie Don-Esteban zu.
"Ja, doch, es fiel mir leichter. Nicht leicht, aber leichter.", bestätigte sie seine Annahme. "Ich traue mir dennoch nicht zu, das ohne Euch zu bewerkstelligen. Ich weiß, eines Tages werde ich das müssen. Aber davon bin ich noch weit entfernt. Und zurück finde ich überhaupt nur, weil Ihr hier seid und mir den Weg weist. Ohne Euch wäre ich verloren."
Sie grübelte ein wenig über die Dinge nach, die sie gesehen hatte. Über die Dinge, die möglich waren, möglich sein könnten. Das Herüberholen der Flamme hatte die ursprünglich brennende Kerze nicht gelöscht. Sie hatte nicht das Gefühl, dass sie auf irgendeine Art und Weise in einer anderen realität etwas bewirken könnte, ja nicht einmal dass sie dort physisch anwesend war.
Ihre Rolle war lediglich die einer Beobachterin.
Und in Gedanken - so erschien es ihr zu sein - konnte sie eine Art Duplikat einiger Dinge anfertigen und in ihrer Realität wahr werden lassen. So weit zumindest ihre Theorie. Sie war neugierig darauf, ob dies auch mit anderen Dingen als nur Licht und Schatten funktionieren würde. Wo waren die Grenzen? Waren sie eng gesteckt oder fließend?
Das laute Trommeln von unzähligen Regentropfen, die auf das Dach herniedergingen, riss sie aus ihren Gedanken. Was war das denn für ein plötzlicher Starkregen?
Verwundert sah sie Don-Esteban an und stand auf, um zum Fenster zu gehen. "Huch, schaut Euch das nur an, eine wahre Sturzuflut, die sich da aus dem Himmel ergießt!", rief sie aus.
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Auch der Magier war, wenn nicht beunruhigt, so doch erstaunt. »Solche Wetterereignisse sind ungewöhnlich, ja«, stimmte er ihr etwas steif formuliert zu. In Wirklichkeit wusste er nicht, was er davon halten sollte. Das Wetter auf Argaan war größtenteils mild und es gab kaum Extreme, was wohl an der Lage der Insel mitten im Meer liegen mochte. Bis vor wenigen Augenblicken war es noch recht mild - kühl aber nicht kalt - gewesen; eben so, wie die Winter hier auf den südlichen Inseln für gewöhnlich waren. Trocken war es ebenfalls die letzten Tage gewesen mit wenig Wolken am Himmel.
Nun hatte sich, wie ein Blick aus dem Fenster bestätigte, als er sich hinter Murielle stellte, das Firmament scheinbar ganz schnell zugezogen. Zu erkennen war nichts. Nicht einmal die anderen turmartigen Häuser der Stadt waren noch zu sehen, geschweige denn, der Himmel oder Wolken darin. Der dichte Regen verschluckte alles. Dementsprechend war es auch plötzlich richtig dunkel geworden und das Licht der von Murielle entzündeten Kerze war auf einmal viel hilfreicher als eben noch, als diese nur ein Übungsobjekt gewesen war. Der Regen trommelte mit großer Wucht auf die Ziegel des Daches und Esteban fragte sich unwillkürlich, ob durch diese Wucht der Dachstuhl nicht doch noch einstürzen würde?
Überhaupt, vielleicht waren die Realitäten, die Murielle in ihren Gedanken bereisen konnte, nur eine einzige, nämlich ihre in verschiedenen Zeiten. Irgendwann würde hier der Dachstuhl einstürzen und irgendwann würde auch das Haus abbrennen. Aber würde er noch oft mit Murielle oder alleine oder mit jemand anderem hier in idesem Zimmer stehen? Wohl eher nicht. Er verwarf diese Theorie daher als unsinnig.
»Mir erscheint dieses Wetter kaum noch natürlich«, sagte er dann. »Was wäre, wenn den Wassermagiern irgendeine Magie außer Kontrolle geraten ist? Vielleicht hat ein vorlauter Novize oder Adept mehr erreicht als er wollte, weil er einen von ihm ausgesprochenen Zauber nicht mehr unter Kontrolle hat oder er etwas ausprobieren wollte, für das er noch nicht bereit ist?«, vermutete er mehr fantasievoll als auf tatsächliches Wissen gestützt.
»Auf jeden Fall dürfte es hier oben fast sicherer sein als im Erdgeschoss oder gar in einem Keller«, konstatierte er. »Wenn es nicht bald wieder aufhört« - wonach es derzeit nicht aussah - »dürften die Wassermassen so einige tiefergelegene Räume überfluten. Da die gesamte Stadt auf Felsen steht, kann das Wasser auch nicht so einfach versickern, sondern muss durch Kanäle verrinnen. Auf dem Weg hierher sah ich links neben der Brücke das Mundloch eines Abwasserkanals. Und es hatte keinen besonders großen Querschnitt und war dazu noch mit einem Gitter verschlossen. Sobald sich von innen mitgeführte Gegenstände oder Abfall darin verkeilen, wird noch weniger Wasser abfließen und die Stadt zum Teil überschwemmen«, gab er eine düstere Prognose ab.
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Fluchend quälte sich der Mann im Mantel aus seiner Schlafstätte, die er einigermaßen überdacht und warm nahe dem Hause eines Bäckers verbracht hatte. Die Nächte auf diesen Inseln waren nicht kalt, selbst im Winter war Argaan – so zumindest die einhellige Meinung gortharischer Experten der Meteorologie – milder als beispielsweise das Südliche Midland von Myrtana zu gleicher Jahreszeit. Dieser Umstand stimmte ihn einigermaßen froh, hatte er die vergangene Nacht doch fast unter freiem Himmel verbracht. Nass geworden war er trotzdem, gleichwohl er sich zwischen Kisten und Fässern eingeigelt hatte, nah an der Wand, an der die Öfen des Bäckers lagen. So war zusätzlich noch etwas Wärme durch den Stein gesickert.
„Heda, was bist denn du für einer?“, fragte der Bäcker, als er eine leere Kiste zu den anderen stellen wollte. „Ein Penner?“
Kiyan schüttelte den Kopf. „Einfach kein Freund von überteuerten Schenken.“
„Ah, die Klippenschenke.“ Der Bäcker lächelte kurz. „Ja, der Wirt ist manchmal ziemlich auf Gold aus. Liegt daran, dass jetzt gehobene Magierschaft unser schönes Stewark bevölkert. Mitsamt der Krieger Ethorns. Da kann man die Preise etwas anziehen.“
Ein kurzes Zögern war dem Bäcker anzumerken, dann seufzte er. „Nun, Feind teurer Schenken, komm rein. Drinnen ist es warm und ich habe noch etwas Eintopf von gestern. Brot gibt es – natürlich – auch.“
Kiyan räusperte sich. Dieser Akt der Freundlichkeit, diese altruistische Tat, bewegte ihn durchaus. Er mühte sich auf, stützte sich auf den Stock und bewegte sich humpelnd vorwärts. Der Bäcker sah dies und schaute einen Moment mitleidig.
Im Innern der Bäckerei war es mollig warm und es roch angenehm nach Mehl, warmen Brot und sogar den einen oder anderen Gewürzen, was bei der Bewohnerschaft dieser Stadt, wie der Bäcker erklärte, aber nur rechtens sei. Ein König Ethorn und ein Baron Renwick würden eben nur exquisite Brotspeisen zu sich nehmen, nichts wo vielleicht versehentlich (oder absichtlich) Sägemehl genutzt wird, um Kosten zu sparen.
Der Eintopf war großartig, schmeckte wahrscheinlich noch um Welten besser als am Vortag. Ebenso das fast ofenfrische Brot, welches sich problemlos essen ließ. Der Bäcker saß Kiyan gegenüber am Tisch und blickte zufrieden. Als der Mann aus Gorthar schließlich fertig gespeist hatte, deutete der Bäcker auf den Gehstock.
„Kriegsverletzung?“, fragte er vorsichtig.
Kiyan schüttelte den Kopf. „Dummheit. Ich war jung, ich hatte zu viel Gold, welches mir nicht gehörte, ich aber als meines betrachtete. Ich verprasste es und machte mir Feinde. Einen verspottete ich in … Kreisen, in denen ich früher unterwegs war. Der Kerl nahm es mir übel und forderte mich zu einem Duell auf. Er war besser, viel besser. Er prügelte mich windelweich und brach mir dann mehrfach das Bein.“
Der Blick ging zum Fenster hin, wurde nachdenklich.
„Ein guter Heiler, ein Magier zum Beispiel, hätte es problemlos heilen können. Ein Kinderspiel mit solcher Macht. Aber ich war jung und dumm, hatte Angst. Vor der Enttäuschung im Gesicht meines Vaters, dem bestätigenden, triumphierenden Ausdruck in den Augen meines Bruders. Also brachte mein Diener mich mit einer Kutsche zu einem kleinen Sommeranwesen außerhalb der Stadt und pflegte mich dort. Er war kein Heiler und im Umland gab es nur einige Quacksalber, die allesamt versagten.“
Er seufzte und hob die Schultern.
„Ich könnte sicherlich einen Magier aufsuchen, so sie bereits lange ‚verheiltes‘ Fleisch und falsch zusammen gewachsene Knochen wieder umformen können. Irgendwo … hat es mir aber gutgetan. Ich habe daraus eine Lektion gelernt.“
Kiyan führte nicht weiter aus, welche Lektion dies denn war und den Bäcker schien es nicht weiter zu interessieren. „Kiyan.“, sagte der Gortharer irgendwann.
„Abel“, der Bäcker neigte lächelnd den Kopf. „Mh. Willst du mir helfen? Ich verteile … ab und an … meine überschüssige Ware an Leute, denen es nicht ganz so gut geht. Magst du mir helfen?“
Kiyan nickte. „Natürlich. Du hast mir doch auch geholfen.“
Geändert von Kiyan (19.01.2020 um 12:58 Uhr)
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Cerys Hütte in Stewark
"Das ist doch vollkommen widernatürlich.", stellte sie fest, nachdem sie sich zu Cery an das Fenster gesellt hatte. Wenn man hinausblickte, konnte man keinen halben Meter weit sehen, so stark regnete es.
"Ich habe so etwas auch noch nicht erlebt.", stimmte er ihr zu und betrachtete fassunglos die Wassermassen, die sich aus dem Himmel zu ergossen. "Zum Glück liegt meine Hütte weiter oben, ich will gar nicht wissen, wie es denen ergehen mag, die ihre Häuser weiter unten haben. Da wird doch vieles überschwemmt sein, die Kanalisation hier ist doch mit der großen Menge völlig überlastet."
Einige Minuten standen sie bang schweigend nebeneinander und hofften, dass es bald enden würde.
So abrupt wie der Starkregen begonnen hatte, endete er dann auch. Von einer Sekunde auf die andere war alles still, so als wären die Himmelsschleusen mit einem schnellen Ruck geschlossen worden.
"Das war unheimlich", sagte Danika und warf Cery einen äußerst beunruhigten Blick zu.
"Ja. Wir sollten gehen und schauen, welche Schäden diese sturzflutartigen Regenfälle angerichtet hat. Vielleicht können wir irgendwo helfen.", schlug er vor.
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Dachstube der Klippenschänke
Was war nur los? Solch heftige Wetterereignisse hatte sie noch nie zuvor erlebt. Es war als hätten alle Wolken der Welt sich über Stewark versammelt und gleichzeitig entleert. Don-Estebans Vermutung war vielleicht gar nicht einmal so unwahrscheinlich, überlegte sie, während sie fasziniert versuchte, durch den dichten Regen zu blicken.
Beinahe ohne nachzudenken griff sie hinter sich und nahm seine vertraut gewordene Hand. Sie musste wissen, ob dies überall geschah oder nur in dieser, ihrer Variante der Welt.
"Helft mir, redet.", bat sie ihn noch als sie schon damit begonnen hatte, einen Blick in die anderen Wirklichkeiten zu werfen.
Was sie sah, erschrak sie zutiefst. Da gab es andere Ebenen, in denen sich das gleiche Schauspiel bot, aber dann waren dort auch welche, in denen es Feuer vom Himmel regnete. Ganz Stewark brannte lichterloh. Einige Varianten der Stadt wurden von einer unheimlichen Schwärze verschluckt, ähnlich dichten Dämmernebels. Die Dachstubenbewohner und auch alles andere im Umkreis schien binnen weniger Sekunden der Lebenskraft beraubt zu werden und zu verdorren.
Es gab kein Entrinnen. Für niemanden.
Sie drehte sich zu Don-Esteban um, der ihr mit dem ruhigen Klang seiner Stimme und seiner warmen Berührung den Weg zurück in die eigene Ebene gewiesen hatte und blickte ihn mit Tränen in den Augen an. Sie fürchtete sich so sehr. Ihr Herz war voller Mitgefühl für all die armen ausgelöschten Seelen. Selbst wenn sie nur in ihrem Kopf existierten, aber daran glaubte Murielle inzwischen nicht mehr.
"Es ist so schrecklich.", begann sie leise und mit bebender Stimme.
"Es gibt andere Stewarks, in denen nichts geschieht. Dann welche, in denen es auch diese sintflutartigen Regenfälle gibt. Aber dann..", sie versuchte sich zu beruhigen und umklammerte nun seine Hände fester, auf dass sie ihr den Halt böten, den sie gerade so dringend vonnöten hatte.
"In einigen Ebenen regnet es Feuer. Die Stadt hat sich dort in ein einziges Meer aus Flammen verwandelt und alles Leben darin verbrennt zu Asche."
Sie umklammerte seine Hände nun noch fester.
"Und dann", fuhr sie fassungslos fort, "gibt es einige Versionen der Stadt, in denen sich Schwärze ausbreitet wie ein dicker, undurchdringlicher Nebel. Sie löscht alles Licht aus. Sie saugt alles Leben aus. Als wären alle Schatten lebendig geworden und würden die Welt verschlucken. Ich habe nie etwas so Grauenerregendes gesehen, Don-Esteban. Und wenn ich so darüber nachdenke, ähnelte diese Schwärze in ihrer Art dem, was Ihr Schattenflamme nanntet. Nur war es erheblich größer, dunkler, vernichtender. Ich sah uns auf grausamste Weisen sterben, in so vielen Ebenen. Ihr habt Recht, der Regen ist magischen Ursprungs."
Als sie mit dem Reden aufhörte, ließ auch urplötzlich der Starkregen nach. Für einen Moment herrschte gespenstische Stille.
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Die beiden wateten durch das in dieser Gasse nur knietief stehende Wasser. Den Göttern sei Dank herrschten milde Temperaturen, sonst hätte es wohl viele Fälle von Unterkühlungen gegeben, denn sie hatten auch schon Stellen passiert, an welchen das Wasser hüfthoch stand und nur langsam abfloss.
Die oberen Bereiche der Stadt waren weitestgehend verschont geblieben, aber hier unten sah es wahrlich nicht gut aus. Kellerräume und nicht wenige Erdgeschosse waren zumindest teilweise geflutet.
Einige Kanaldeckel waren durch den Druck, der sich unter ihnen aufgebaut hatte, angehoben worden und gaben die unter Stewark verlaufenden Abwassergräben frei, aus denen allerlei Unrat hervorgeschwemmt wurde und nun neben den Kadavern ertrunkener Ratten und anderen Getiers in den Straßen trieb.
"Sieh dir das an.", sagte sie zu Cery.
"Was für ein gewaltiges Chaos!"
Überall um sie herum hatten die Bewohner der Stadt begonnen, sich ein Bild von den Auswirkungen zu machen und dort wo es möglich war, Schadensbegrenzung zu betreiben. Viel konnte man jedoch nicht tun, bevor das Wasser endlich zur Gänze abgeflossen sein würde.
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 nomina nuda tenemus
Der Magier hatte zuerst erstaunt und dann immer nachdenklicher Murielles Beschreibungen vernommen.
»Feuer ... tödlicher Schatten ...«, griff er sich einige Worte aus ihrer Erzählung heraus. »Es klingt für mich nach Variationen der Ereignisse, abhängig von der Art der Magie, die den verschiedenen Göttern zugeschrieben wird.
So gesehen«, musste er zugeben, »ist die Wassermagie der Adanos-Schule die für Menschen angenehmste. Alles andere hat doch zu oft zerstörenden Charakter. Dass Beliar, dem Gott des Todes, Zauber zugeordnet werden, die mit Zerstörung und Verfall einher gehen, mag noch angehen. Aber Innos, der in ganz Myrtana verehrt wird ... letztendlich besteht ein Großteil dessen, was seine Magier vollbringen, aus Bestrafungen, dem Erzeugen von Angst und dem Sähen von Furcht vor Strafe. Ich glaube, mit der Magie von Adanos wärt Ihr viel glücklicher gewesen«, stellte er resignierend fest.
»Die Schule von Beliar kann euch auch nur Dinge lehren, die wenig Hoffnung enthalten. Ihr werdet vom Tod profitieren, von Dingen, die tot sind und die den Tod verheißen, Zerfall und Auslöschung. Wesen aus fremden Ebenen, aus Beliars Reich, die nur Furcht sähen. Es gibt kaum etwas Konstruktives, etwas, das Dinge erschafft, die keine Furcht verbreiten. Wer mag so etwas schon? Wer kann darin etwas Nützliches entdecken? Die dunkle Magie lässt keine Pflanzen sprießen, sie lässt nicht die Sonne scheinen, sie bringt kein Leben hervor und sie erleichtert auch nicht die Mühsal des Daseins. Sie entspringt aus der traurigen Gewissheit, dass alles Leben einmal endet, um den Kreislauf des Lebens mit Gewalt zu schließen und alles einem neuen Zyklus des Seins zuzuführen. So wie der Beschluss lautete, als die Welt erschaffen wurde. Der Halbkreis der oberen Hälfte gehört Innos, der mit Licht und wärme Leben wachsen lässt. Der Halbkreis unten hingegen in Dunkelheit und Kälte ist Beliars Domäne. Er bedeutet Auflösung, Vergessen, Hoffnungslosigkeit.«
Esteban war sehr nachdenklich gestimmt durch den Anstoß von Murielles Erzählung und eigentlich wollte er sie nicht mit solchen - noch dazu in dieser Länge formulierten - Gedanken langweilen. So versuchte er, sich von diesen zu lösen und schlug vor: »Gehen wir doch nach unten, vielleicht können wir uns dort einen Überblick über die Schäden verschaffen oder es wird irgendwo Hilfe benötigt?«
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Seine letzten Worte hörte sie schon gar nicht mehr, da Murielle mitten in seiner ausufernden Rede den Raum verlassen hatte und zur Treppe geeilt war. Sie musste wissen, ob dort unten noch alles in Ordnung war. Was kümmerten sie im Augenblick irgendwelche Götter? So sehr sie Don-Esteban auch schätzte, der Mann hatte das Einfühlungsvermögen eines alten Brotkantens und die oft unterhaltsame, nun gerade jedoch eher lästige Angewohnheit, sich in Verklausulierungen zu verlieren.
Manchmal, so dachte sie, bräuchte auch er jemanden, der ihn ins Hier und Jetzt zurückholte. Einen Anker, so wie er der Ihre war.
Ein Blick die Treppe herab ließ die Schäden erahnen. "Kommt Ihr?", rief sie hinter sich, in der Hoffnung, dass der Magier sie überhaupt hörte und stieg dann die Stufen hinab in die Schankstube - die Untersten von ihnen waren im Wasser verschwunden, das Murielle bis zu den Hüften reichte. Teile des Mobilars schwammen im Raum umher und ein paar besonders einfallsreiche Gäste hatten sich auf die schweren, großen Holztische zu retten versucht.
Langsam schritt sie durch das Wasser zu der offenen Tür, um das Gasthaus zu verlassen und zu sehen, was draußen vor sich ging.
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 nomina nuda tenemus
Esteban seufzte und folgte ihr. Schließlich wollte er nicht allein zurück bleiben. In der Schankstube schwammen einige Bierkrüge und Becher sowie diverse Holzteller umher. Vermutlich enthielt dass Wasser im Raum auch diverse Fettaugen von der Suppe - oder was auch immer in dem großen Topf über dem Feuer in der Küche zubereitet worden war. Das Feuer war natürlich längst erloschen und überschwemmt. Er sah noch, wie Ingor mit einem Gesicht wie sieben Tage Regenwetter auf der Theke saß. Dabei hatte es nur kurze Zeit geregnet. Aber er würde das schon wieder wett machen, indem er einfach die Preise etwas anhob, nachdem sich das Wasser verlaufen hatte. Da war sich Esteban sehr sicher.
»Wartet, Murielle«, rief er seiner Gefährtin hinterher, als er ihr folgte.
Weshalb sie unbedingt jetzt schon nach draußen wollte, wo das Wasser noch so hoch stand, dass nur die wenigen Menschen, die tatsächlich schwimmen konnten, dort eine Chance hatten, wie er vermutete, war ihm ein Rätsel. Oder hatte sie schon von oben aus dem Dachfenster etwas entdeckt, dass sie unbedingt von nahem sehen wollte? Wollte sie sich ablenken von den furchtbaren Dingen, die sie gesehen hatte, als sie erneut durch die Realitäten gewandelt war? Er hatte versucht, sein Bedauern darüber auszudrücken, dass Murielle nun auch eine Magie erlernte, die ebenso zerstörerisch war wie das, was sie - wie sie ihm berichtet hatte - in einigen davon gesehen hatte und was so erschreckend war, dass es sie sichtbar ängstigte. Er verstand, dass sie Furcht empfand vor dem, was sie gesehen hatte und dass es sie sehr betroffen machte. Ihm ging es ja nicht anders. Auch wenn seine Worte sicher nur wenig davon wiedergeben konnten.
Esteban folgte ihr nach draußen, um dort die Zerstörungen durch das viele Wasser direkt zu sehen. »Nicht so schnell!«, rief er ihr hinterher, denn er machte sich Sorgen um sie. Wer wusste schon, welche Strömungen irgendwelche Treppen hinabflossen, um arglose Leute mitzureißen.
»Wollen wir nicht warten, bis sich das Wasser verlaufen hat?«, versuchte er es ein letztes mal.
»Wo wollt Ihr denn bloß hin?«
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Irgendwo hinter sich hörte sie Don irgendetwas sagen. Es war nicht wichtig. Er redete in den entscheidenden Momenten eindeutig zu viel und handelte zu wenig.
Murielle war in Vengard - am Meer - aufgewachsen und hatte das Wasser stets geliebt. Natürlich konnte sie schwimmen, hatte es sogar dem ältesten Kind der Fischerfamilie beigebracht, bei der sie zuletzt gelebt hatte. Aber so schlimm, dass man schwimmen können musste, würde es schon nicht sein.
Keine Sekunde zu spät trat sie hinaus auf die Straße. In all dem Chaos, das entstanden war, hatte noch niemand bemerkt, dass dort, in der Nähe des Eingangs zum Gasthaus, ein Kind im Wasser trieb. Eilig bewegte Murielle sich zu ihm hin, zog den kleinen Körper aus dem Wasser heraus und hielt ihn auf dem Arm.
"Don!", rief sie so laut sie konnte, in der Hoffnung er würde ihr helfen. So schnell es eben ging, watete sie zurück zur Klippenschänke, wo sie gedachte, das Kind - ein kleines Mädchen - auf einen der Tische zu legen und ihm das Wasser aus den Lungen zu pressen.
Inständig hoffte sie, dass es noch nicht zu spät war. Sie war hinuntergegangen, um zu helfen. Dennoch hatte sie mit so einem Vorfall nicht gerechnet.
"Bitte, helft mir, ihr zu helfen.", bat sie Don-Esteban, als sie ihn schließlich wieder erreicht hatte und betrat erneut den Schankraum.
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Esteban nahm das bewusstlose Mädchen in die Arme und watete durch den überfluteten Schankraum, um es vorsichtig auf die Theke zu legen. Die Gäste, die sich auf verschiedene Tische gerettet hatten, starrten und glotzten. Vermutlich dachten einige, die Familie hatten, an ihre eigenen Kinder und daran, wie schlimm es für sie wäre, wenn diese ertrunken aus dem Wasser geborgen werden würden und andere, die noch keine Ahnung von der Welt hatten, daran, wie schnell der Tod einen ereilen konnte. Eben noch genoss man das Leben in vollen Zügen oder dachte sich nichts und wenige Momente später konnte es durch irgendein plötzliches Ereignis, mit dem niemand gerechnet hatte, damit vorbei sein. Diese Endgültigkeit hatte etwas sehr Beängstigendes und Esteban vermutete, dass solcherart Gedanken die meisten Menschen verstummen ließen. Vieles, was mit dem Tod und der eigenen Vergänglichkeit zu tun hatte, war ihm geläufig. Doch es gab keinen Grund, das nun weiter auszuführen.
Ingor, der sich auf den Schanktisch gerettet hatte, machte wortlos Platz, indem er zur Seite rückte. Der Magier hingegen legte das kleine Mädchen, das er in den Armen hielt, vorsichtig auf der Holzplatte ab, wischte einige Becher beiseite, die hier noch herum standen und kletterte dann selbst aus dem hüfthohen Wasser auf den Tisch. Er legte dem Kind die Hand auf die Brust und horchte darauf, was die Magie ihm sagen würde.
Sie sagte nichts.
Verwirrt, beunruhigt und verunsichert versuchte er, erneut dem nachzuspüren, was er erwartete. Er erinnerte sich kaum daran, seine Heilungsfähigkeiten je eingesetzt zu haben. Es musste sehr viele Jahre her sein, vielleicht noch innerhalb der Barriere.
Wasser rann aus der vollgesogenen Kleidung des Magiers, aus seinen Stulpenstiefeln liefen ebenso Rinnsale über die hölzerne Platte des Schanktisches. Doch darauf achtete Esteban nicht. Er sammelte erneut seine Kräfte, konzentrierte sich, versuchte, sich nicht auf die Beschwörung von Magie zu fokussieren, sondern in den Körper des kleinen Mädchens hinein zu horchen, stellte sich vor, was sie denken mochte in den Augenblicken, als das Wasser sie verschlungen hatte, welche Angst und Hilflosigkeit sie wohl empfunden haben mochte, wie sie nach der Mutter gerufen haben mochte, ehe die Flutwelle über ihr zusammengeschlagen war. Er stellte sich das kleine Herz vor, wie es geschlagen hatte, wie das Blut durch die Arterien pumpte und es durch die Venen wieder gewann. Wie sich die Lungenflügel hoben und senkten, wie Leben durch den Körper pulsierte. Wie das Mädchen lachend und glücklich das Leben eines Kindes führte, ohne die üblichen Sorgen, die so typisch für Erwachsene waren. Nur damit beschäftigt, das nächste Spiel zu entdecken, den Spielkameraden von gestern wieder zu treffen und die Welt um sich herum zu entdecken.
Nun endlich, als sein eigener Schmerz groß genug war, erfühlte er das einst durch den Körper dieses kleinen Menschen jagende Leben, wie es inne hielt, wie eine verängstigte Katze, die sich nicht traut, zum nächsten Sprung anzusetzen, sondern sich in eine Ecke kauert, nicht davon überzeugt, etwas zu bewirken, etwas zu schaffen. »Schlage, kleines Herz«, murmelte er zu sich selbst, so dass es niemand anderes hören konnte.
Magie floss durch die Hand, die auf der Brust des Mädchens lag, in Wellen in ihren Körper und erreichte die Organe, die er erfühlte. Das Wichtigste war, das Herz wieder zum Schlagen zu bringen. Und endlich pochte es wieder, widerwillig zuerst, so als ob es davon überzeugt war, seine Funktion zu Recht eingestellt zu haben.
Esteban wusste, dass er Beliar ein Leben entzogen hatte. Er würde dafür bezahlen, er tat es schon, in jeder Minute. Doch wer, wenn nicht ein Schwarzmagier, war geeignet dafür, mit dem Todesgott zu verhandeln, eine neue Frist zu erkaufen, ihn davon zu überzeugen, seine sonst alles erbarmungslos umfassende Hand wieder zurückzuziehen. Es gab nichts umsonst. Der Preis dafür war zu entrichten. Aber er war bereit, dies zu tun, denn er kannte ihn nicht nur, sondern er war auch geübt darin, damit umzugehen.
Lange hatte er seine Hand auf die Brust des Mädchens gedrückt. Stumm bewegten sich seine Lippen, murmelten tonlos in auf Argaan unbekannten Sprachen Worte, die hier nichts bedeuten mochten. Die Linien, die in seinen Körper tätowiert waren, leuchteten unter seiner Kleidung auf, Wasser in der Kutte und den Schichten darunter verdampfte in der Nähe dieser Linien. Doch irgendwann, er wusste nicht, wie lange er über den Körper dieses Mädchens gebeugt gesessen hatte, ertönte ein Husten. Wasser drang aus dem Mund des Kindes. Es schlug die Augen auf, hustete weiter und spie noch mehr Wasser aus, das wohl auf dem Weg in die Lungen gewesen war.
»Atme, mein Kind, atme«, flüsterte er. Dann setzt sich das kleine Mädchen auf, atmete schwer. Doch mit jedem Atemzug verminderten sich die ungewöhnlichen Geräusche.
»Bleib in der Schenke, hier bist du sicher, bis sich das Wasser verlaufen hat«, sagte der Magier zu ihr.
Und wandte sich dann an Murielle: »Ich danke Euch! Ihr habt ein Leben gerettet, für das es noch viel zu früh war.«
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Murielle runzelte die Stirn und sah Don-Esteban mit hochgezogener Augenbraue an.
Gar nichts hatte sie. Alles was sie konnte, war zerstören und ein paar bunte Lichtlein erzeugen.
"Ihr habt das getan, nicht ich.", erwiderte sie und blickte nun das Kind mit einer Mischung aus Freundlichkeit und Besorgnis an.
"So wie es aussah, hätte ich wohl kaum noch etwas ausrichten können, sie war doch schon beinahe verloren. Ich bin Euch so dankbar." Sie widerstand dem Impuls, ihn kurz zu umarmen und strich stattdessen behutsam dem kleinen Mädchen einige Strähnen des feuchten blonden Haares aus dem Gesicht.
Was für Todesängste musste sie durchgestanden haben? Wie verloren musste sie sich gefühlt haben und noch fühlen, so ganz ohne ihre Mutter bei sich?
"Wir werden deine Mama finden und dich zu ihr zurückbringen, sobald sich alles etwas beruhigt hat. Wie heißt du denn?", fragte sie die Kleine. Diese war viel zu verstört, um zu einer Antwort fähig zu sein und sah sich mit tränengefülltem, suchenden Blick um. Zwar hatte Murielle eine Weile mit den Söhnen der Fischerfamilie verbracht, jedoch waren diese schon ein wenig älter gewesen als das Mädchen. Sie hatte keine Ahnung, wie man mit so jungen Kindern für gewöhnlich redete und was man tun musste, um ihnen Halt und Sicherheit zu vermitteln.
"Einer von uns sollte bei dem Mädchen bleiben, der andere vielleicht nach draußen gehen, sehen wo er helfen kann und nach einer Mutter Ausschau halten, die ihre Tochter vermisst.", schlug sie Don-Esteban vor.
Der Magier hatte hier etwas ganz Wunderbares getan, fand sie. Das Leben dieses unschuldigen Kindes gerettet. Und nebenbei hatte er ihr damit auch eindrucksvoll gezeigt, was alles möglich war, wenn sie sich nur mehr bemühte und häufiger übte.
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„Bei den Göttern …“
Abel und Kiyan stand der Schock in Großbuchstaben ins Gesicht geschrieben. Waren sie nur von einem einfachen, vielleicht etwas lauten Gewitter mit Starkregen ausgegangen, erwartete sie nun das Nachspiel eines wahrhaft titanischen Wassersturzes aus den Wolken. Als hätte Adanos einen Moment den Blick auf seine Sphäre gerichtet und war auf die Idee gekommen, seinen Schäfchen eine kleine Abreibung in Form einer kurzen Sintflut zu geben. Kiyan hatte in der Nacht wohl einfach Glück gehabt, in einer so verwinkelten Gasse zu schlafen, die hoch und wohl auch schräg genug gewesen war, um keinerlei Sammelfläche fürs Wasser zu bilden. Deswegen war auch Abels Bäckerei völlig trocken gewesen. Nun, nachdem sie sich quasi auf dem Hauptplatz befanden, wirkte es, als wären sie in einem überdimensionierten Bad. Hier zeigte sich der Nachteil der Bauweise von Stewark. Es wirkte im Angesicht einer göttlichen Regenflut wie ein schön verzierter Vogelbrunnen. Wasser würde sich sammeln und sammeln und sammeln. Sicherlich irgendwo abfließen, da die Bauherren anno dazumal an Abwasserkanäle gedacht hatten, aber nicht schnell genug und nicht breitflächig genug, um wirklich viel zu bewirken.
Das Brot hatten Abel und Kiyan schnell wieder in die Bäckerei gemacht und geschaut, wie die Lage war und wo gegebenenfalls Not am Mann war. Wo Abel mit anpackte, wirkte Kiyan Fehl am Platz. Ein Mann, der nur auf einem Bein richtig stehen konnte, war zum Schleppen von Menschen oder Trümmern völlig ungeeignet. Also stapfte er neben Abel her, als der den Weg durch das Wasser suchte, welches auf dem unteren Platz auf Höhe der Klippenschenke noch etwas über Hüfthöhe stand.
„Los, zu Ingor! Sieht aus, als hätte es die Schenke schwer getroffen!“, gab Abel entschieden die Richtung vor. Kiyan verkniff sich einen bissigen Kommentar und blickte sogar fast sorgenvoll zum Dach der Klippenschenke und hoffte, es sei noch heil und er besäße keine hellseherischen, ja nahezu prophetischen Kräfte.
Die beiden Männer wateten durch den Eingang der Taverne und fanden im Schankraum noch verschiedene Gäste vor, die jedoch fast alle in eine Richtung starrten. Zum Schanktisch, neben dem missmutig der Wirt Ingor stand, der Abel ein grüßendes Nicken schenkte, Kiyan jedoch nur einen misstrauischen Blick. Am Tisch standen außerdem ein weißhaariger, dunkelhäutiger Mann sowie eine etwas kleinere, dunkelhaarige Frau. Der Mann mit dem Gehstock brauchte einen Moment um zu realisieren, dass auf dem Tisch ein kleines Mädchen hockte, klitschnass. Es schien noch Probleme mit dem Atmen zu haben und hustete immer wieder, als hätte es sich ganz ordentlich verschluckt.
„Bei den Dreien“, Abel schüttelte den Kopf und sah sich um, fuhr sich über die Glatze. „Als hätte Adanos entschieden, von heute auf morgen ein Feind der Tavernen zu werden.“
Kiyan räusperte sich. „Nun denn, Abel“, krähte er, „Meinst du die haben hier noch einen Platz? Das Waten tut mir nicht gut … vor allem dem Bein. Sitzen wäre jetzt schön.“
Der Bäcker schüttelte den Kopf, kurz verwirrt. „Adanos!“, rief er aus, „Natürlich, Kiyan. Dein Knüppel bringt dir im Wasser ja wenig. Aber Respekt, mein Freund, dass du trotzdem geholfen hast, wo es ging.“
Der Gortharer lächelte bitter. „Im überschaubaren Rahmen meiner noch überschaubareren Möglichkeiten, Abel“ – er deutete mit dem Kopf zu dem Weißhaarigen und der Frau – „Nicht zu vergleichen mit deren Tat. Ich schätze, sie haben das Mädchen gerettet.“
Er verzog das Gesicht, nicht vor Ärger, sondern einem stechenden Schmerz im Bein. Das klare Zeichen, dass die Bewegung der letzten Zeit eher geschadet hatte. Fluchend watete er zu einer langen, hohen Eckbank, die so schwer war, dass das Wasser sie nicht angehoben hatte und setzte sich auf die Lehne und massierte das schmerzende Bein in der klatschnassen Hose.
Hätte ich doch eher darauf bestanden, nach Thorniara gebracht zu werden. Da fließt das Wasser zumindest richtig ab …
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 nomina nuda tenemus
»Gut, dann kümmert ihr Euch bitte um das Kind?«, bat er Murielle.
Das war ihm ganz recht, mit kleinen Kindern hatte Esteban nun so gar keine Erfahrungen. Da war ihm Magie schon lieber, damit kannte er sich halbwegs aus - wenn man das überhaupt behaupten konnte. Denn sie war rätselhaft und es glich einem Stochern im Nebel, sie zu verstehen und irgendwelche Gesetzmäßigkeiten darin zu erkennen. Doch erschienen ihm Kinder ebenso rätselhaft, wenn nicht noch viel undurchschaubarer in ihren Reaktionen und dem, was sie wollten oder tatsächlich brauchten. Meistens unterschied sich beides diametral.
»Ja, die Mutter«, stimmte er Murielle zu. Das war eine gute Idee. Er selber wäre wohl nicht so schnell darauf gekommen.
Er strebte der Tür zu, als plötzlich jemand die Schenke enterte.
»Ah, kaum hört der Regen auf, kommen schon wieder die ersten Gäste«, kommentierte er scherzhaft, ehe er in einem der beiden denjenigen wiedererkannte, der vor kurzem das Angebot des Wirtes ausgeschlagen und sich wahrscheinlich woanders ein Lager gesucht hatte.
»Durchaus möglich, dass die Preise gerade etwas gesunken sind«, rief er ihm deshalb zu. »Schließlich hat der Komfort in diesem Etablissement arg gelitten in letzter Zeit.«
Ingor hörte es und verzog das Gesicht.
»Ich werde wohl meine Miete auch noch einmal neu verhandeln«, setzte er noch hinzu, was den Wirt nur noch zu einer Verdeutlichung seines Gesichtsausdruckes veranlasste.
Mit einem stillen Lächeln trat Esteban auf die Straße. Oder besser: Er lief durch einen See. Zum Glück war der Grund gepflastert. Das Wasser hatte sich schon ein wenig verlaufen, der Wasserspiegel senkte sich. Schlugen am Anfang die Wellen an seine Brust, so war das Wasser mittlerweile nur noch hüfthoch. Und so kam er auch viel besser voran als noch vor kurzem.
In einiger Entfernung bemerkte er einen Auflauf von mehreren Personen, zumeist wohl Wachen, wie er anhand der Kleidung und Rüstung vermutete. Auch sie versuchten, die Lage zu erfassen und zu schauen, ob irgendwo Hilfe benötigt werden würde.
»Kann ich helfen?«, fragte er, nachdem er die erste der Wachen erreicht hatte.
»Neinnein«, beschied ihm eine der Wachen in wichtigtuerischem Tonfall. »Ich verschaffe mir nur einen Überblick.«
»Wie Ihr meint«, zog sich Esteban wieder zurück. »Aber habt Ihr irgendwelche Berichte über vermisste Menschen? Wir haben da unten in der Klippenschenke ein kleines Mädchen, dessen Mutter sicher nach ihm sucht.«
»Verstehe«, gab der Wächter kurz angebunden zurück. »Schaut in den unteren Straßen nach, dort, wo das Wasser am höchsten steht. Von dort kommen Berichte über größere Schäden, sicher wird dort auch eher jemand vermisst.«
Nun, das machte sogar Sinn - sofern das Mädchen nicht aus den höheren Ebenen der Stadt stammte und nur zum Spielen zufällig gerade während des Regens im Bereich der Unterstadt gespielt hatte.
»Ich werde weiter unten suchen.«
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Ganz ruhig war die Kleine und hielt die Arme um Murielles Hals geschlungen, die das Mädchen inzwischen auf den Arm genommen hatte. Vermutlich war das Kind zu verängstigt, um zu reden und zu matt und ausgelaugt, um nach seiner Mutter zu weinen.
"Ach Kleines, du wirst langsam ganz schön schwer.", sagte sie und sah sich nach einer Sitzgelegenheit um. Sie wollte das Mädchen nicht nach oben ins Dachzimmer bringen, sondern hier unten darauf warten, sie der Mutter übergeben zu können, welche sicherlich außer sich vor Kummer und Sorge war.
"Schau, der liebe Herr Esteban ist nun losgegangen, um deine Mama zu holen, dann wird alles gut.", fuhr sie fort und ging dann zu einer Eckbank herüber, die noch ausreichend Platz für sie und das Mädchen bot. Das Kind auf den Schoß nehmend setzte sie sich ohne zu fragen neben den fremden Mann, der gerade erst mit einem anderen den Schankraum betreten hatte.
"Ihr habt dort draußen nicht zufällig eine Frau getroffen, die verzweifelt nach ihrem kleinen Mädchen sucht?", fragte sie ihn und streichelte der Kleinen währenddessen sanft das Köpfchen.
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