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    Deus Avatar von John Irenicus
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    John Irenicus ist offline

    Post [Story]Eine Geschichte über die Erkenntnis …

    Eine Geschichte über die Erkenntnis, dass derjenige, der mahlt, früher oder später selbst gemahlen wird


    für Sir Ewek Emelot

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    Geändert von John Irenicus (01.11.2020 um 18:41 Uhr)

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    Deus Avatar von John Irenicus
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    John Irenicus ist offline
    Es begab sich an einem schönen Morgen im Königreiche Afterflor, dass Domenicus von Taxenthurn, seines Zeichens Erster Postkurier für die Ständige Vertretung Biblurs, an die Tore von Haus Engfurt klopfte, in dem der biblursche Botschafter Phallemein von Zirkelwichs seinen Sitz hatte und der eben heute einen besonders wichtigen Brief empfangen sollte:

    Biblur, den 9ten Sabathon 1866
    Von Götter Gnaden Sabatha II., Königin von Biblur
    etc. etc.

    Zuförderst seien wohlwollendst sämtliche Grüße erboten, die dem Ständigen Vertreter Biblurs im fernen Lande Afterfloor, Seiner Exzellenz von Zirkelwichs, üblicherweise zugestanden sind und die der geschäftlichen Sitte entsprechen!
    Sodann möchten wir aber gleich in die Mitte der Dinge streben: Wir haben uns mit größter Sorgfalt wie auch mit gründlichster Regelmäßigkeit noch einmal der von Exzellenz wiederholt vorgetragenen Bitte, einen Assistenten für die diplomatischen Angelegenheiten in der Ständigen Vertretung Biblurs im Königreich Afterfloor einzustellen, zur Prüfung angenommen. Wir wollen Euch in diesem Brief nun das Ergebnis dieser Prüfung kundtun: Wir geben Euch drei Tage Zeit, damit Ihr einen Eurer Meinung nach geeigneten Kandidaten für die Stelle aussuchen mögt – sicher habt Ihr bereits eine Handvoll vielversprechender Assessoren im Hinterkopf gehabt, als Ihr Anfrage um Anfrage an den königlichen Hof schicktet.
    Solltet Ihr dann einen Kandidaten ausgewählt haben, so bereitet ihn bitte auf ein Treffen mit uns vor: Wir werden in drei Tagen ohnehin Afterfloor bereisen und daher diese günstige Gelegenheit nutzen, um einen Abstecher in das Haus Engfurt terminieren und uns selbst von der Qualität des Kandidaten zu überzeugen. Indes: Lasst mich kurz den pluralis majestatis verlassen, um präzisieren zu können: Ich selbst werde dem Haus Engfurt leider keinen Besuch in eigener Person abstatten können, denn ich werde bei meinem Aufenthalt in Afterfloor wohl von Anfang bis Ende in Beschlag genommen werden, noch dazu mindestens einen ganzen Tag lang von König Schwengelbald III. allein und höchstselbst. Deshalb habe ich für eine würdige und kundige Vertretung gesorgt: Frau Babetha VanBrewek, Leiterin des Königlichen Amts für Auswärtige Angelegenheiten, wird sich der Sache annehmen und Euren Kandidaten auf Herz und Nieren prüfen. Das Prozedere dazu mag Euch, mit Verlaub, vielleicht etwas eigen vorkommen, deshalb sei es in diesem Schreiben angekündigt: Frau Babetha VanBrewek wird mit dem Kandidaten eine Partie Mühle spielen, um im Spiele diejenigen Hemmungen und Vorbehalte abzubauen, die sonst einer Befragung des Kandidaten durch sie entgegenstünden. Ja, durchaus! Beim Spielen schwatzt es sich leichter, um einmal ein afterfloorsches Sprichwort in leicht abgewandelter Form zu zitieren. Stellt Euch und den Kandidaten also bitte darauf ein. Und lasst uns zur Sicherheit noch einen recht banal daherkommenden organisatorischen Hinweis anfügen: Spielbrett und Steine wird Frau Babetha VanBrewek selbst mitbringen – es handelt sich dabei um wertvolle Stücke aus dem Aerarium Biblurs, was der Bedeutung der Sache hoffentlich angemessen ist.
    Kommt Frau Babetha VanBrewek bei ihrer Prüfung zu einem Ergebnis, so wird sie es Euch unverzüglich, das heißt sofort mitteilen. Wir hoffen, dass wir so Eurer mannigfach formulierten Bitte um Entlastung bei Eurer geschäftigen wie anstrengenden diplomatischen Tätigkeit bald nachkommen können!

    In Vorfreude auf unseren – eigentlich ja leider nur: Frau VanBreweks – Besuch und Ihnen in Gnade gewogen,
    Sabatha II. R. etc. etc.

    Es ist nun beinahe überflüssig, es zu erwähnen, doch zur Sicherheit sei es gesagt: Selbstverständlich hatte Domenicus von Taxenthurn weder an diesem, noch an einem anderen Tage Einblick in den Inhalt dieses oder eines anderen, nicht an ihn adressierten Briefes genommen, war er doch in einem unverkennbar königlichen Umschlag ebenso unverkennbar königlich versiegelt übermittelt worden und so vor jeglichem neugierigen Blicke, auch dem eines Kuriers, geschützt. Und Domenicus, auch das ist nahezu überflüssig zu erwähnen, hatte zeitlebens diesem einen speziellen Rat seines Großcousins Ferdinand von Donnerbalken entsprochen: Sei niemals der erste, der das Siegel bricht! Genau so hatte es Domenicus stets gehalten, und genau so hielt er es auch am heutigen Tage, als er die Eingangspforte zu Haus Engfurt passierte, das ihm wohlbekannte Wach- und Dienerpersonal grüßte und dabei mitteilte, dass er eine Nachricht zu überbringen hatte, die nur und ausschließlich in seine und in die Hände des Empfängers, Seiner Exzellenz Phallemein von Zirkelwichs höchstselbst, gehörte. Natürlich: Was danach mit dem Brief passierte und durch welche Pfoten er noch wandern würde, das hatte Domenicus nicht mehr im Griff, aber in solchen Fällen konnte er etwaigen Beschwerden von Absendern, die den Inhalt des Briefs doch ausdrücklich als vertraulich markiert hatten, mit einem weiteren Sinnspruch aus seiner näheren Verwandtschaft begegnen: Sein Vertrauen sollte man dort suchen, wo man es verloren hat. So hatte es Domenicus' verstorbener Urgroßonkel Jakobius Stielaug, der es als, nun, aufgedrängter Vertrauter der Familie von und zu Nierenstein seinerzeit zu lokaler Bekanntheit gebracht hatte, einst formuliert, und auch noch Jahrzehnte später hatte ihn darin niemand zu widerlegen vermocht.
    Domenicus jedenfalls, als Vertrauter der Biblurschen Vertretung, genoss Freizügigkeit im gesamten Hause Engfurt, die er nun dazu nutzte, den mit opulenten Teppichen – ja, mehreren! – ausgelegten Treppenaufgang hinaufzusteigen. Oben von der Galerie mit der wunderbaren Marmorbrüstung unter den zahlreichen Kristallkronleuchtern hatte man einen wirklich atemberaubenden Ausblick auf das Foyer und den mit den Wappen Biblurs und Afterflors gezeichneten Boden. Für diesen Ausblick aber hatte Domenicus gerade keine Zeit, denn es war Eilpost, die er zu überbringen hatte, und wenn er ehrlich war, dann nutzte sich selbst der beeindruckendste Prunk irgendwann einmal ab und wurde zur Selbstverständlichkeit. Er war oft genug hier gewesen, um über die Dienerschar, all das Spektakel und den Pianisten in der Eingangshalle, der unentwegt und leidenschaftlich lieblich perlende Symphonien und triumphale Märsche spielte, nicht mehr verwundert zu sein, und er war ferner oft genug hier gewesen, um nicht überrascht zu sein, als er beim Flitzen über den gemäldegeschmückten Hauptflur schon von Weitem vergnügtes Gekicher mehrerer Personen durch die schweren Eichentüren zu Phallemeins Privatgemach vernahm. Wenn seine Taschenuhr nicht ohnehin stets mechanisch-exakt gelaufen wäre, Domenicus hätte sie danach stellen können: Um diese Zeit war Phallemein immer in seinem Privatgemach, wie er überhaupt zu sehr vielen Zeiten in seinem Privatgemach war und diese Stunden der intimen Privatheit eher die Regel denn die Ausnahme im Vergleich zu den Stunden der Amtswaltung waren, welche man überdies besser in Minuten denn in Stunden maß.
    Domenicus verabreichte dem Türblatt das vereinbarte Klopfzeichen. Das Gekicher verstummte, kurz darauf bat ihn die sonore Stimme Phallemeins herein. Domenicus ließ sich nicht lange bitten und leistete Folge. Er verbat sich ein Schmunzeln, als sein Blick auf das großzügig proportionierte Bett auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes fiel. Dort lag Phallemein, die pelzige Brust fast ganz von der seidenen Bettdecke verborgen, scheinbar allein. Offenbar gehörte dieses Schauspiel zur Anstandswahrung dazu, selbst wenn alle Beteiligten – und da waren Domenicus und Phallemein eben sehr sicher nicht die einzigen beiden – wussten, was gespielt wurde.
    „Domenicus, wie schön, Dich zu sehen.“
    Domenicus verbeugte sich zunächst der Etikette gemäß, griff dann aber den von Phallemein gewählten vertraulichen Tonfall auf.
    „Die Freude ist ganz meinerseits. Es ist Post für Dich gekommen.“
    „Das habe ich mir schon gedacht.“
    Phallemein grinste zufrieden. Sein Haupthaar war ein wenig zerstrubbelt, das Fell, das seinen Bart bildete, ebenfalls. Auch sonst war er sichtlich durchwuschelt. In seinem Auftreten aber ließ er sich das freilich nicht anmerken, oder besser gesagt: Er tat so, als wäre nichts. Wie immer. Und in diesem opulent ausgestatteten Gemach – eine Auflistung aller Wert- und Einrichtungsgegenstände würde jeden Rahmen sprengen – sah wohl jeder noch so abgerissen daherkommende Goblin wie ein wichtiger Staatsmann oder eine wichtige Staatsfrau aus, und auch Domenicus fühlte sich doch häufig sehr erhaben, wenn er dieses Zimmer betrat, mochte es auch zuweilen, oder genauer: in regelmäßiger Häufigkeit, für weniger erhabene Tätigkeiten genutzt werden.
    „Tritt ruhig heran, ich habe gerade eh nichts zu tun“, forderte Phallemein schließlich auf.
    Domenicus machte fünf Schritte nach vorne und streckte Phallemein den königlich versiegelten Briefumschlag entgegen. Phallemein nahm ihn sehr geschäftsmäßig an und riss ihn ohne Umschweife und mit zur Schau gestellter Achtlosigkeit auf.
    „Ach naja, das habe ich mir ja schon gedacht … dass die Ablehnung wieder postwendend kommt … bin mal gespannt, ob sie sich dieses Mal wenigstens was Neues au … au!“
    Domenicus sah, wie Phallemeins ohnehin schon recht große Augen sich nochmals weiteten, als er den auseinandergefalteten Brief las. Mit jeder Zeile schien er unruhiger zu werden. Da Domenicus noch nicht offiziell entlassen war, blieb ihm nichts anderes übrig, als dem Schauspiel weiterhin beizuwohnen. Mit Blick auf die beiden großen Ausbeulungen unter der Bettdecke links und rechts von Phallemein tat es Domenicus fast schon leid, aber als Bote hatte er nun einmal gewisse Pflichten zu erfüllen.
    Endlich ließ Phallemein das Papier wieder sinken. Sein Fell war eigentlich dunkler als dasjenige Domenicus', aber nun schien er mit einem Mal erblasst.
    „Das … das ist ja …“
    Domenicus konnte nur mutmaßen, was im Brief gestanden hatte, ob es aus Sicht Phallemeins positiver oder eher negativer Natur war oder beides. Jedenfalls aber schien es doch recht einschneidend zu sein, so einschneidend sogar, dass Phallemein etwas tat, was er bei Domenicus' bisherigen Besuchen nie getan hatte.
    „Ihr müsst jetzt gehen“, sagte er, als er mit einem Ruck die Bettdecke aufschlug und damit zwei derart attraktive und vor allem entkleidete Damen entblößte, dass Domenicus schnell die Augen verschloss, bevor man ihm noch irgendetwas nachsagen konnte. Auch, wenn es ihm schwer fiel. Für hellgrünes Fell hatte er schon immer eine gewisse Schwäche gehabt, wie ihm bei dieser Gelegenheit wieder ins Gedächtnis gerufen wurde.
    „Was soll das denn jetzt?“
    „Bist du bescheuert?“
    Die beiden Damen waren hörbar empört, und die Beschwichtigungsversuche Phallemeins liefen ins Leere, weshalb er sich offenbar genötigt sah, die Situation per Arroganz und Ignoranz zu lösen, was den Zank aber nur noch größer machte. Wortsalven flogen hin und her, und da Domenicus nun leider keine Hand mehr frei hatte, um sich auch noch die Ohren zu verschließen, versuchte er mittels anstrengenden Gedächtnistrainings – er lernte seit einiger Zeit Die hundert besten Partien von Gottlob Sündikus von Haremsschreck auswendig – dem Hier und Jetzt zu entschwinden, aber es gelang ihm nicht wirklich, sodass er große Teile des Streits mithörte, welcher sich dann aber glücklicherweise doch recht rasch dem Ende zuneigte. Eine der Damen rief noch „Dann gehen wir eben wieder zurück zu Labewitz!“, dann stürmten sie beide links und rechts an Domenicus vorbei aus dem Zimmer heraus. Als der Bote seine Augen wieder öffnete, blickte er in Phallemeins Zornesfalten.
    „Labewitz von Scheffelsberg“, knurrte Phallemein. „Der schafft es ohne die richtigen Mittelchen doch nicht mal mehr Wasser zu lassen, geschweige denn … pah!“
    Phallemein fischte eine Unterhose vom Nachttisch, was Domenicus nur lieb war und ihn etwas entspannen ließ. Er wusste allerdings immer noch nicht so recht, wie er die Situation auflösen sollte: Phallemein stand nun dort, in etwas gebückter Haltung, vor seinem Nachttisch unter dem riesigen Ölgemälde, das ihn selbst nur mit einem Feigenblatt bekleidet zeigte, und sah mit einem Mal sehr alt aus. Oder besser: Seinem Alter entsprechend, denn Phallemein pflegte sich als jünger auszugeben, als er eigentlich war. Wie auch immer: Wirklich niedergeschlagen sah er auch nicht aus, eher nachdenklich, was – Domenicus musste es zugeben – kein so häufiger Anblick bei Phallemein von Zirkelwichs war. Indes: Seine Exzellenz war als Schlitzohr bekannt und immer für eine Überraschung gut. Es hätte Domenicus nicht gewundert, wenn Phallemein jede Sekunde in seiner Haltung wieder erstarkt oder gar ganz in die Luft gesprungen wäre, beseelt von einer als fuchsig, wie er zu sagen pflegte, zu bewertenden Idee oder in erwartungsvoller Vorfreude auf einen bald in die Tat umzusetzenden Plan. Nur: Dergleichen geschah nicht.
    Nach einigem Herumgedruckse und Herumgescharre wurde Domenicus die Anspannung dann zu viel, und überhaupt, vielleicht hatte Phallemein ihn ja auch irgendwie schon wieder vergessen, wie er dort kontemplativ auf seine pelzigen Füße starrte.
    Domenicus räusperte sich. Dann räusperte er sich noch einmal. Und weil Phallemein darauf immer noch nicht reagierte, sprach er einfach.
    „Soll ich noch im Hause warten, bis Du ein Antwortschreiben verfasst hast? Ich kann es dann sofort zum Postamt bringen.“
    Phallemein sah auf. „Was, ich … nein, nein nein. Das wird nicht nötig … wobei, ja, doch, schon! Also, kein Antwortschreiben, aber … ich habe da einen persönlichen Auftrag für Dich. Ein Schriftstück wird dafür nicht nötig sein, wenn Du die Nachricht persönlich überbringst. Fühlst Du Dich dazu imstande?“
    Domenicus musste auf diese Frage kurz stutzen, weil er auf Anhieb nichts besonders Anstrengendes oder Problematisches daran sehen konnte, eine Nachricht mündlich zu überbringen – das war immerhin eine der Kerntätigkeiten in seinem Beruf, denn auch im Lande Afterflor ließ die Alphabetisierungsrate im Allgemeinen noch zu wünschen übrig, auch und gerade unter den hochgestellten Persönlichkeiten. Domenicus blieb angesichts der seltsamen Nachfrage Phallemeins also nur die Vermutung, dass der Diplomat seine eigene momentane Entrücktheit schlicht auf ihn, Domenicus, übertrug. Immerhin aber lächelte Phallemein schon wieder, und dieses Lächeln wurde mit jedem gesprochenen Satz sonniger, bis er wieder ganz der Alte war. Oder besser gesagt: Der jung wirkende Alte.
    „Ich fühle mich dazu imstande, ja.“
    „Sehr gut!“, rief Phallemein aus. „Du erinnerst Dich doch vielleicht an diesen Praktikanten, den ich vor zwei Wochen hier eingestellt habe, diesen, hm … Du hattest mir damals sein Bewerbungsschreiben überbracht, Du erinnerst dich bestimmt, da waren gerade Selinda von Tütenhausen und Marie von Bahlenbergen hier und wir hatten …“
    „Ja, ich erinnere mich“, schnitt Domenicus etwas unhöflich, aber notgedrungen dazwischen. „Das war der junge Gereon von und zu Tüdelingen, der Enkel von Professor Doktor Doktor Wahnfried von und zu Tüdelingen. Du hattest ihn …“
    „Ah ja, jetzt erinnere ich mich auch wieder, klar! Ich hatte ihn am dritten Tage schon wieder weggeschickt, weil … nunja, er war mir dann doch ein wenig, hm, übergelehrt, sage ich mal. Zumal für einen Praktikanten. Es passte einfach nicht, nicht wahr?“
    Domenicus nickte unentschlossen. Es stimmte vermutlich. Er war Gereon von und zu Tüdelingen ein oder zweimal hier begegnet, und tatsächlich schien der junge Student vom Treiben im Hause Engfurt dauerhaft peinlich berührt gewesen zu sein.
    „Er ist aber noch nicht wieder nach Biblur zurückgekehrt, oder?“
    „Nein“, bestätigte Domenicus. „Er hat sich tatsächlich wie von Dir empfohlen auf eine Stelle bei der afterflorschen Handelskammer beworben, und leistet nun, soweit ich weiß und soweit mein letzter Stand noch aktuell ist, dort den Rest seines Pflichtpraktikums ab.“
    „Hervorragend“, kommentierte Phallemein und rieb sich die Pfoten. „Ganz hervorragend.“ Er rückte sich seine hellblaue Unterhose zurecht. „Dann ist mein Auftrag an Dich, ihn aufzusuchen und ihn zu bitten … nein, ich bitte ihn nicht darum. Ich zitiere ihn hierher, hierhin zurück. Wir haben immerhin noch eine gültige Ausbildungsvereinbarung, die nie aufgekündigt wurde. So gesehen habe ich ja sogar Anspruch darauf, dass er hier anwesend ist. Aber das sagst Du ihm bitte erst, wenn er sich ziert. Locken sollst Du ihn mit der Information, dass Königin Sabatha II. höchstselbst eine Assistenzstelle für Haus Engfurt bewilligt hat, diplomatische Assistenz wohlgemerkt, und dass ich derjenige bin, der den Assistenten aussucht. Sofern er denn die Prüfung durch diese … diese … wo habe ich denn jetzt den Brief schon wieder …“
    Domenicus wollte gerade anheben mitzuteilen, dass Phallemein den Brief auf den Nachttisch gelegt hatte, da sprach sein Auftraggeber schon weiter.
    „Ach, sag ihm einfach, dass ein hohes Tier aus Biblur kommt und ihn ein wenig prüfen wird, dass er mit seinem Intellekt da aber ohne Weiteres bestehen wird. Man wird Mühle spielen. Den Rest bespreche ich dann mit ihm persönlich.“
    „Gut“, sagte Domenicus, der insbesondere über letzteren Punkt erleichtert war, denn Phallemeins Anweisungen waren zusehends konfuser geworden. Nicht auszudenken, wenn Phallemein ihm alles bis ins letzte Detail versucht hätte zu erklären und Domenicus wiederum Gereon von und zu Tüdelingen alles hätte erklären müssen. Eine Runde Stille Post hätte nicht viel mehr an Verwirrung stiften können.
    „Ich nehme mal an, ich soll mich sofort auf den Weg machen?“
    „Ich bitte darum!“, rief Phallemein nun äußerst gut gelaunt aus. „Am besten wäre es sogar, der junge Mann erscheint noch heute im Haus Engfurt! Der Prüfungstermin ist in drei Tagen. Und bis dahin haben wir noch einiges zu tun …“

    *

    „Bist Du sicher, dass Du es jetzt drauf hast? Einmal Husten bedeutet …“
    „Ja doch, ja doch“, wiegelte Gereon von und zu Tüdelingen die erneuten Erklärungen von Phallemein von Zirkelwichs ab, in einem Tonfall, der dem Verhältnis zwischen Praktikant und Ausbilder nicht wirklich angemessen war, aber eine Folge der anstrengenden Tage war, die Gereon und Phallemein miteinander verbracht hatten und in denen der Diplomat dem Assistenten in spe alle möglichen wie unmöglichen Tricks in Sachen Spiel einerseits und in Sachen Gesprächsführung andererseits versucht hatte beizubringen. Da war der Tonfall zwangsläufig irgendwann etwas vertrauter, aber auch genervter geworden.
    „Und vor allem immer aufpassen, dass Du in keine Zwickmühle gerätst, sonst kannst Du direkt aufgeben. Deshalb am Anfang immer die Kreuzungen im mittleren Ring besetzen, bloß nicht auf die Ecken gehen, auch wenn das im ersten Moment schlau aussehen sollte. Und wenn Du mit dem Setzen beginnen solltest, dann nimm am besten …“
    „Ich denke, ich habe es jetzt nun wirklich begriffen“, bekräftigte Gereon von und zu Tüdelingen nochmals, als er gemeinsam mit Phallemein von Zirkelwichs die Galerie entlang schritt, auf der ihnen alsbald einer der Diener des Hauses Engfurt entgegengelaufen kam, eine Verbeugung andeutend, seine Haltung aber vor allem von geschäftiger Hektik geprägt und weniger von bedingungsloser Unterwürfigkeit.
    „Eure Exzellenz von Zirkelwichs, der Salon ist nun fertig vorbereitet.“
    „Und das genau zur rechten Zeit“, kommentierte Phallemein knapp, während er zusammen mit Gereon nun die Treppe ins Foyer herunterging, ohne auf den Diener im dunkelblauen Livree – er selbst trug heute einen fliederfarbenen Anzug – zu warten. Der Diener kam aber hinterher, sodass Phallemein Gelegenheit hatte, ihm noch ein paar Fragen zu stellen.
    „Kamin brennt?“
    „Ja.“
    „Teppiche sind ausgelegt?“
    „Jawohl.“
    „Kronleuchter angezündet?“
    „Jawohl, alle sechs.“
    „Das Piano spielt?“
    „Ihr hattet gesagt, dass Musik bei diesem Treffen fehl am Platze wäre, deshalb -“
    „Gut. Ich wollte nur sehen, ob Ihr aufgepasst habt. Danke, Vögelwund.“
    Der Diener blieb auf der Treppe stehen, machte noch eine kleine Verbeugung, die niemand wahrnahm, und kehrte dann zurück die Stufen hinauf zur Galerie, wo er schließlich in irgendeinen Flur hineinbog und verschwand.
    Als Phallemein und Gereon unten im Foyer angekommen waren, marschierte direkt ein weiterer Diener auf sie zu, dieser in einem roten Frack und weißen Glaceehandschuhen, sowie einen halben Kopf kleiner als sie beide, und wandte sich direkt an seinen Herrn.
    „Eure Exzellenz, Frau Babetha VanBrewek aus Biblur wird jeden Augenblick hier eintreffen. Zum Empfang ist alles vorbereitet.“
    „Sehr gut, van Wiesenvik“, lobte Phallemein den sich verbeugenden Diener. Zu Gereon von und zu Tüdelingen sagte er: „Gereon, Du solltest dann schon einmal in den Salon gehen, um Dich etwas zu akklimatisieren. Das ganze Empfangsprotokoll ist zu ermüdend, Du musst ja fit sein für die Partie und das Gespräch.“
    Gereon rückte seine Brille zurecht. „Aber wäre es denn nicht ganz gut, wenn ich das auch schon einmal lernen würde, wie die Gepflogenheiten und das Protokoll bei so einem Staatsbesuch so sind?“
    Phallemein grinste. „Darauf kannst Du wetten; wenn alles gut geht, wird das ja schließlich Dein täglich Brot sein. Aber heute ist wahrscheinlich nicht der richtige Tag. Es ist also besser, wenn Du im Salon noch einmal für Dich alles durchgehst, was wir besprochen haben. Und denk daran: Der beste Weg, eine Zwickmühle zu vermeiden, ist -“
    „Ich weiß, ich weiß, ich weiß“, erwiderte Gereon, nickte erst Phallemein und dann dem Diener im roten Frack zu, und verließ das Foyer durch eine große Tür am Ende des Raumes gegenüber der Eingangspforte.
    „Ich weiß, was Ihr jetzt denkt“, sagte Phallemein, der nun Seite an Seite mit seinem Diener in die entgegengesetzte Richtung schritt. „Aber der Junge wird sich schon machen. Mittlerweile hat er sich ja auch schon ein bisschen an Haus Engfurt gewöhnt. Wenn ich bedenke, dass er vor knapp zwei Wochen noch bei jeder sich bietenden Gelegenheit errötet ist wie so ein Schulmädchen …“
    „Wenn Ihr diese Bemerkung erlaubt, Eure Exzellenz“, antwortete der Diener, während er seinem Herren die Pforte aufhielt, „so ganz besonders wohl scheint er sich noch immer nicht zu fühlen. Das gesellschaftliche Leben, zumindest, wie es hier bei uns im Hause Engfurt gepflegt wird, scheint ihm wirklich nicht zu liegen.“
    „Das ist korrekt, van Wiesenvik, aber deshalb haben wir ja bereits eine Abmachung über die künftige Arbeitsteilung getroffen.“ Phallemein schlüpfte durch die Pforte durch. „Selbstverständlich werde ich Gereon nicht mit Dingen belasten, für die er nicht das nötige Händchen hat und mit denen er sich nicht wohl fühlt. Wenn er dann also erst einmal offiziell Assistent in diesem Hause ist, dann wird er sich vollumfänglich um die diplomatischen und geschäftlichen Belange kümmern. Die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Pflichten obliegt dann ganz allein mir.“
    Nun grinste auch der Diener. „Dann blickt Haus Engfurt ja großartigen Zeiten entgegen“, schloss er.
    „Wie wahr Ihr nur sprecht, van Wiesenvik, wie wahr Ihr nur sprecht …“

    „Frau VanBrewek, ich habe die Ehre, Euch vorzustellen: Gereon von und zu Tüdelingen, Enkel von Professor Doktor Doktor Wahnfried von und zu Tüdelingen, seit nun schon einigen Tagen Praktikant im Hause Engfurt und dabei überaus erfolgreich. Und, wenn ich hinzufügen darf: Der perfekt geeignete Kandidat für die Assistenzstelle in diesem Hause!“
    „Von Letzterem würde ich mich dann gerne noch selbst überzeugen, wenn es nichts ausmacht“, sagte Babetha VanBrewek kühl, bedachte Gereon von und zu Tüdelingen dann aber mit einem warmen Lächeln und schüttelte ihm die Hand zum Gruße.
    „Selbstverständlich“, sagte Phallemein von Zirkelwichs nun deutlich weniger jovial und komplimentierte Babetha VanBrewek und Gereon von und zu Tüdelingen weiter in den Salon hinein. Die Dienerschaft des Hauses Engfurt hatte den als äußerst wandelbar bekannten Salon dem Anlass entsprechend eingerichtet: Die roten und violetten Vorhänge waren samtigen und grünen Gegenstücken gewichen, das Licht aus den Kronleuchtern war klar und farblos, aber nicht zu grell, und auch das ein oder andere Gemälde war gegen ein jeweils dezenteres Exemplar ausgetauscht worden, um den Blick nicht zu sehr vom Wappen Biblurs einerseits und dem Wappen Afterlors andererseits abzulenken, die über dem sachte schmauchenden Kamin angebracht waren und so an prominentem Platze über der Kulisse thronten. Man nannte diese Art der Einrichtung im Hause Engfurt den Grünen Salon, der für Staatsbesuche insbesondere von Repräsentanten Biblurs hergerichtet wurde. Es gab auch den Roten Salon für Treffen mit Ministern und Würdenträgern Afterflors, es gab den Violetten Salon für die Treffen Phallemeins mit Vertrauten des engeren Kreises von Haus Engfurt, es gab auch den Kalten Salon und den Heißen Salon, den Seidensalon und den Sandsalon, den Kissensalon und den Blümchensalon, den Bienchensalon und den Schäfchensalon, und überhaupt gab es jedwede Art von Salon, wenn Phallemein es nur wollte und die passende, fixe Idee parat hatte, die der Chefausstatter des Hauses Engfurt, Polyphor van Schönebusen, allzu bereitwillig diskutierte und dann zumeist unter kleineren Änderungen, die weniger der Ästhetik denn der Praktikabilität geschuldet waren, alsbald in die Tat umzusetzen pflegte. Das handwerkliche Umgestalten des Salons führte die dafür zuständige Teilgruppe der Dienerschaft des Hauses Engfurt mal mit mehr, mal mit weniger Elan, jedenfalls aber immer pünktlich aus, sodass auch am heutigen Tage alles angemessen hergerichtet war. Der Grüne Salon war größtenteils nüchtern, die Einrichtung klar und etwas streng, die Möblierung wertvoll, aber zurückhaltend. Heute lief es darauf hinaus, dass man sich zu dritt an einen polierten Rundtisch mit geschwungenen Formen setzte, wobei Phallemeins getreuer Diener van Wiesenvik wie verabredet peinlich genau auf die korrekte Positionierung der drei grün gepolsterten Stühle geachtet hatte: Während zwei von ihnen im Sinne eines direkten Gegenüber für Frau VanBrewek mit Blickrichtung zum Saloneingang einerseits und für den jungen Gereon in entgegengesetzte Richtung andererseits reserviert war, stand ein dritter Stuhl auf Seite des Assessoren in respektvoller Entfernung, aber eben doch nicht ganz unverbunden bereit. Auf diesem Stuhl ließ Phallemein sich unter einigem Geräusper nieder, nachdem sein Kandidat und die Gastbotschafterin auf den ihrigen Stühlen Platz genommen hatten.
    Statt eine Bemerkung über die Einrichtung zu verlieren oder gar ein kleines Zwischengespräch zur Einstimmung zu führen, packte Babetha VanBrewek ihren großen Koffer, den sie konsequent vor allen höflichen Gesten der Unterstützung beim Tragen abgeschirmt hatte, auf den Tisch und ließ die vier Verschlüsse des Behältnisses aufknallen, einen nach dem anderen. Babetha VanBrewek war eine Frau mit nicht einzuschätzendem Alter. Sie war ruhig und kühl und entsprach damit dem Klischee einer lebenserfahrenen, gereiften Person, hatte aber einen so wachen und zeitweise stechenden Blick und war stellenweise dann doch so flink im Reden, dass man ihr ein gewisses Moment an Sturm & Drang nicht absprechen konnte und bei ihr so manches Mal über konservierte Jugend nachdachte. Und rein äußerlich, da sah man ihr am ergrauendem Fell zwar durchaus ein gewisses Alter an, doch es war verdrängt durch die Optik eines jeden Gesandten aus Biblur, jedenfalls denen auf der diplomatischen Ebene, die auch dann Frack, Anzug oder Geschäftsbluse zu tragen schienen, wenn sie es tatsächlich doch nicht taten, und deren Diskretion so weit reichte, dass man ihnen nicht einmal die eigentlich offensichtlichen Dinge ansehen konnte. Kurzum: Babetha VanBrewek war das, was archäologisch wie mythologisch geschulte Personen zuweilen eine Sphinx nannten, wobei sich hinsichtlich Sphinx diese Personen teils nicht einig waren über Herkunft und Geschlecht – wenigstens das beides war bei Babetha VanBrewek aber unstrittig.
    Der Koffer war offen, Babetha VanBrewek holte einen bemalten Holzquader hervor, Gereon von und zu Tüdelingen rearrangierte noch einmal seine Sitzposition und Phallemein von Zirkelwichs hustete kurz. Dann klappte Babetha VanBrewek den Holzquader an einem Scharnier auseinander, sodass sich ein Quadrat ergab, welches sie zwischen sich und Gereon auf den Rundtisch legte. An den Seiten des Quadrates links und rechts von ihr, an denen niemand saß, zog sie sodann an kaum sichtbaren Griffen behände erst eine, dann eine weitere Schublade auf, aus der sie fein gearbeitete Spielsteine in Weiß und Schwarz hervorholte, die sie nach Schließen der Schubladen zwischen ihr selbst und Gereon verteilte. Gereon bekam Weiß, Phallemein bekam große Augen.
    „Herr von und zu Tüdelingen“, begann Babetha VanBrewek dann über einen Huster Phallemeins hinweg zu reden. „Ich gehe davon aus, dass man Euch darüber in Kenntnis gesetzt hat, dass wir während des Spiels ein wenig miteinander sprechen werden, damit ich mehr über Euch erfahre und darüber, ob Ihr als diplomatischer Assistent im Hause Engfurt geeignet seid?“
    Gereon hob zur Antwort an, während er, wie Babetha VanBrewek, beiläufig schon einmal seine Spielsteine sortierte, musste dann aber erst einmal warten, bis Phallemein mit seinem kleinen Hustenanfall fertig war. Babetha warf ihm einen kurzen Seitenblick zu, sagte sonst aber nichts.
    „Ja, das hat man mir gesagt“, sagte Gereon dann. „Ich bin bereit.“
    „Schön“, sagte Babetha VanBrewek und nickte ihm aufmunternd zu. „Ich denke, bei einer kleinen Partie hier kommt man viel besser ins Reden. Seid Euch aber sicher, dass Euer Spielgeschick für meine Entscheidungsfindung eher zweitrangig sein wird, wenn überhaupt.“
    Das Spiel ging los. Schon früh schien Phallemein einen ziemlichen Frosch im Hals zu haben, aber er war es ja auch nicht, der hier reden musste oder auch nur sollte.
    „Möchtet Ihr etwas über Euch erzählen, ganz frei, oder soll ich Euch lieber einzelne Fragen stellen? Seid Euch bewusst, dass es Euch als diplomatischer Assistent irgendwann einmal leicht fallen muss, aber auch wird, Euch aus dem Stegreif umfassend selbst vorzustellen, aber da Ihr so weit ja nun noch nicht seid …“
    Stille. Gereon druckste herum, Phallemein blieb ebenso stumm. Babetha VanBrewek machte einen Zug.
    „Nun gut: Wie alt seid Ihr denn eigentlich?“
    „Einundzwanzig Jahre … geworden, vor ein paar Tagen.“
    „Dann meine herzlichsten Glückwünsche nachträglich, junger Mann.“
    „Vielen Dank.“
    „Mit einundzwanzig Jahren seid Ihr ja nun wirklich noch recht jung … was für eine Ausbildung habt Ihr denn bisher genossen?“
    Gereon war drauf und dran, einen Zug zu machen, da kam das Husten Phallemeins dazwischen. Er ließ es daher zunächst bleiben und antwortete etwas zögerlich auf die Frage.
    „Nunja … also, meine Ausbildung war bisher eher … theoretischer Art, weniger praktischer Natur. Nach Besuch der öffentlichen Schulen Biblurs – erst vier Jahre auf der Fürchtegott-Hallelujah-Grundschule, dann neun Jahre auf dem Himmelbert-Pfanneheiß-Gymnasium – habe ich den Studiengang für Staatswissenschaften & Internationale Beziehungen belegt und nebenbei noch etwas bei meinem Großvater, Professor Doktor Doktor Wahnfried von und zu Tüdelingen, am Lehrstuhl ausgeholfen. Und … also, mein Studium habe ich noch nicht abgeschlossen, aber wenn alles gut geht … was ich ja sehr hoffe …“
    Gereon verlor den Faden und schaute etwas betreten auf das Spielbrett. Dann machte er einen Zug. Phallemein hüstelte.
    „Aber praktisch habt Ihr noch nicht gearbeitet, also jedenfalls nicht in einem Bereich, der Berührungspunkte mit der Assistenzstelle, die Ihr anstrebt, hätte?“
    „Nein … leider nein. Also, ich habe jetzt ein wenig Praktikum hier im Hause Engfurt absolviert, um auch wirklich praktische Erfahrungen zu sammeln, aber sonst … leider nein.“
    „Das ist kein Grund, sich zu grämen“, befand Babetha VanBrewek, während sie zielsicher einen Spielstein setzte. „Ihr seid ja erst einundzwanzig. Alles andere hätte mich gewundert.“
    „Ja … ja, das ist wohl so. Ich habe ja noch einige Jahre vor mir.“
    Das Gespräch dümpelte dann so vor sich hin, ohne ein rechtes Ziel anzusteuern oder in eine bestimmte Systematik hineingepresst zu sein. Von beidem hatte das Spiel mehr, aber auch nicht allzu viel: Die Spielsteine klackerten und schoben über das Holz, wechselten dann und wann ihren Besitzer, die einzelnen Spielzüge wurden immer mal wieder von kleinen Denk- oder Sprechpausen voneinander getrennt. Manchmal hustete Phallemein, teils sogar recht energisch, aber mit der Zeit schenkten ihm sowohl Gereon als auch Babetha VanBrewek keine Beachtung mehr und setzten Spiel und Gespräch unbeirrt fort. Mal ging es weiter um Gereons Ausbildung und die Inhalte seines Studiums, mal um die Tage in Haus Engfurt, mal um seine Zukunftspläne, ab und an auch um Persönliches:
    „Und wie sieht es sonst aus, mit dem Leben abseits von Studium und Arbeit? Es gibt ja nicht immer nur Pflichten im Leben, es gibt ja auch die Freuden.“
    Gereon führte noch in Ruhe seinen Zug zu Ende aus, dann sah er auf. „Naja … also … man sagt ja immer, so ein Studium, da bleibt nicht so viel Zeit für Muße. Aber deshalb habe ich ja das Studium selbst genossen. Und abseits davon … ich lese gerne, und bei Musik kann ich mich auch entspannen. Ich war ja, das sagte ich ja bereits, auf der Fürchtegott-Hallelujah-Grundschule, und auch, wenn ich nicht mit allen Stücken und insbesondere den Libretti zu mancher Oper von ihm einverstanden bin, finde ich ihn als Komponisten schon recht … außergewöhnlich. Außergewöhnlich gut! Zuletzt hörte ich bei einer Aufführung sein Opus Nr. 168, mit Namen 'In Erwartung eines noch zu fällenden Urteils', das ist ein Streichquartett in G-Moll mit kleineren Ausflügen in D-Moll. Das hat mich die ganzen letzten Tage noch innerlich begleitet, das Stück.“
    „Das ist ja interessant.“ Babetha VanBrewek machte einen raschen Zug. „Ich kenne das Stück nicht, aber der Titel wirkt doch irgendwie passend … meint Ihr nicht auch?“
    Gereon überlegte kurz. „Ja, doch“, sagte er dann – und machte auch einen Zug.
    „Ihr habt gesagt“, griff Babetha VanBrewek wieder den Faden auf, während sie einen ihrer Spielsteine führte, „dass Ihr nicht mit allen Stücken von Fürchtegott Hallelujah XVI. einverstanden seid. Gibt es da einen bestimmten Grund oder könnt Ihr bestimmte nennen? Das klingt interessant. Nicht, dass ich eine Kennerin wäre. Aber Ihr scheint da ja schon gewisse Vorstellungen zu haben über das, was Euch zusagt und was nicht.“
    Gereon schob einen Stein über das aggressive Husten Phallemeins hinweg. „Nunja …“, begann er zögernd. „Ich weiß ja nicht, wie gut Ihr Euch auskennt, aber Opus Nr. 147 ist ja den meisten Leuten ein Begriff. Ich glaube, das spricht für sich. Ansonsten würde ich das nur ungerne erklären. Und Opus Nr. 23 und Nr. 69 sprechen ebenso für sich. Nichts gegen Frivolitäten … selbst wenn die mir auch weniger zusagen. Aber die Titel dieser Stücke sind keine bloßen Frivolitäten. Das sind … wie gesagt, ich würde die Namen jetzt nur ungerne wiedergeben …“
    „Opus Nr. 147 ist mir ein Begriff, ich weiß, wovon Ihr sprecht“, sagte Babetha VanBrewek, machte einen Zug und nahm einen von Gereons weißen Spielsteinen an sich. „Ich denke, ich stimme da mit Eurer Meinung überein. Nicht, dass es relevant wäre. Aber es ist so, ganz sicher.“
    Es folgten noch einige Fragen, einiges Hin und Her im Spiel, weiße und schwarze Spielsteine kreuzten das Spielbrett, Huster Phallemeins verhallten ungehört und verstummten irgendwann, bis schließlich:
    „Remis?“
    Gereon blickte von der ausgestreckten Hand Babetha VanBreweks auf das Spielbrett und wieder zurück. Dann nickte er.
    „Remis.“
    „Dann bedanke ich mich ganz herzlich für das Spiel und das interessante Gespräch.“
    Sie gaben sich einen kräftigen Händedruck und räumten das Spielbrett ab.

    „Darf ich Euch vielleicht noch ein Getränk, oder etwas Gebäck, oder sonstige Annehmlichkeiten anbieten, Frau VanBrewek?“
    Phallemein von Zirkelwichs war bereits aufgestanden und machte den Eindruck, auf dem Sprung zu sein, wirkte etwas nervös und tatsächlich auch ein bisschen derangiert, als sei er selbst es gewesen, der gegen die Gesandte des Hauses Biblur hatte spielen müssen, und dann nicht nur eine, sondern gleich zehn Partien in Folge. Ab und zu hustete er noch ein wenig, und ein paarmal hatte Babetha VanBrewek eine Reaktion darauf gezeigt, jedoch nur durch Blicke, aufmerksam, aber nach außen hin nicht wertend. Phallemeins Husten hatte sich daraufhin zu einem Hüsteln dezimiert, und als er sprach, war seine Stimme klar und fest, allerdings betont fest, wie wenn jemand die Hände in Gebetsstellung faltete, nur, damit sie nicht mehr so zitterten.
    „Das wird nicht nötig sein“, entschied Babetha VanBrewek auf die Frage hin. „Wir wollen direkt zum Wesentlichen kommen und den jungen Mann nicht länger als nötig im Foyer schmoren lassen.“
    Babetha VanBrewek bedeutete Phallemein von Zirkelwichs mit einer knappen Geste, sich zurück zu ihr an den Tisch zu setzen. Man hatte Gereon von und zu Tüdelingen gebeten, den Salon vorübergehend zu verlassen, damit man die Entscheidung zunächst unter vier Augen bereden konnte. Der junge von und zu Tüdelingen hatte dies bereitwillig, aber auch unter einiger Nervosität akzeptiert und war mit leicht schlotternden Knien aus dem Gesellschaftszimmer gestiefelt. In diesem Moment drehte er vermutlich rastlos seine Kreise in der Eingangshalle. Phallemein konnte das nicht, er musste ja sitzen.
    Er, Phallemein, beobachtete Babetha VanBrewek noch eine ganze Weile dabei, wie sie in aller Ruhe die Spielsteine wieder in die Schubladen tat, das Spielbrett zusammenklappte und es in ihren Koffer zurückbeförderte. Verschlussschnallen rasteten ein.
    „Na dann … wie lautet Eure Entscheidung? Hat er … ist er als Assistent des biblurschen Botschafters im Hause Engfurt akzeptiert?“
    Babetha Van Brewek blickte beinahe beiläufig von ihrem Koffer auf. „Ja, das ist er. Natürlich ist er das. Er ist ein äußerst kluger junger Mann.“
    Phallemeins Miene hellte sich auf. „Na das ist doch eine erfreuliche Nachricht!“
    Babetha VanBrewek hievte ihren Koffer vom Tisch und stellte ihn neben ihrem Stuhl ab. „Im Übrigen wird der junge Herr von und zu Tüdelingen nicht nur Assistent werden, sondern das Amt des Botschafters selbst übernehmen, mit sofortiger Wirkung. Ihr seid entlassen.“
    Phallemein war nicht die Art Person, die derartigen Nachrichten mit einer heruntergeklappten Kinnlade oder sonstigen übertriebenen körperlichen Reaktionen begegnete. Aber seine Augen wurden schon sehr groß und sein Fell sichtlich blass.
    „Warum … warum das denn?“
    Babetha VanBrewek bedachte ihn mit einem weiteren Blick, der zunächst Mitleid zu beinhalten schien, dann aber in eine gewisse Neutralität zurückfiel.
    „Es ist wegen … Ihr habt es gemerkt, was? Ich habe es schon bei Eurem ersten Blick auf mein Husten vermutet. Aber ich dachte … wisst Ihr, ich wusste doch nicht … Moment, wir müssen das einmal kurz sortieren. Ihr habt also gemerkt, was es mit meiner Husterei auf sich hatte.“
    Babetha VanBrewek nickte. „Es war in der Tat nicht schwer zu erraten, dass Ihr Eurem Schützling Hilfestellung in der Partie geben wolltet.“
    „Gut“, sagte Phallemein betont geschäftsmäßig und bemüht gefasst. „Dann werde ich das auch nicht versuchen zu leugnen. Es stimmt. Aber ich bitte zu berücksichtigen, dass meine Verfehlungen erstens geringerer Natur sind und sie zweitens auch keinen Einfluss auf den Ausgang der Partie genommen haben. Es wird Euch dann nämlich auch nicht entgangen sein, dass Gereon nicht oder nur sehr selten auf meine Anweisungen gehört hat. Schon kurz vor der Hälfte der Partie hat er Euch eine Zwickmühle aufbauen lassen, obwohl ich mir beinahe die Lunge herausgehustet habe. Er kann von Glück reden, dass Ihr Eure Mühle nicht konsequent genutzt habt, dann wäre die Partie nämlich schnell vorbei gewesen! Zudem hat er sich nicht an die vereinbarte Taktik gehalten, seine Mühlsteine im mittleren Ring an strategisch günstigen Punkten zu platzieren, namentlich den Kreuzungen. Und überhaupt: Wenn er mal einen Eurer Steine vom Feld nehmen durfte, war er bei seiner Auswahl nicht nur unflexibel, sondern auch höchst unkreativ und unstrategisch. Ich habe deshalb auch schnell davon Abstand genommen, ihm noch weiter was zu husten, weil er mich ja ohnehin ignoriert hat. Ihr seht also: Mein Einfluss auf das Spiel war gar nicht so groß, wie es scheinen mag, und das Gespräch, das ja wohl wichtiger war, habe ich auch nicht beeinflusst. Ich sehe meinen Fehler gleichwohl ein, aber noch einmal: Ich bitte um Entschuldigung und außerdem darum, dass Ihr auch die ganzen entlastenden Umstände berücksichtigt.“
    Babetha VanBrewek faltete die Hände. Ihre Mundwinkel deuteten ein kleines Lächeln an.
    „Das alles haben wir bereits berücksichtigt. Aber Euer kleines Hustentheater war ohnehin nicht ausschlaggebend für unsere Entscheidung, Euch des Amtes entheben.“
    „Aber was denn … warum denn dann? Warum muss ich gehen?“
    Babetha VanBreweks Lächeln blieb milde und zurückhaltend, als sie ruhig und klar antwortete:
    „Weil wir nicht Mühle gespielt haben, sondern Dame.“
    Geändert von John Irenicus (01.11.2020 um 18:40 Uhr)

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