Der Schweinefelsen


Jeder braucht ein Vorbild, dachte Justinus von Prevorst, ein Ideal, nach dem er streben, ein Telos, ein Endziel, das er verfolgen kann.
Das Ideal von Justinus hieß Garnau Klaufen, und so wie dieser wollte er werden. Er wollte fremde Länder erforschen und exotische Geschöpfe entdecken – Justinus wusste schon, wie er das erste noch unbekannte und –benannte Wesen benamsen würde, das ihm über den Weg lief, flog oder auch kroch: Garnauis würde sein Nachname lauten. Er träumte davon, die ehrfurchtgebietenden Ruinen einer alten, stummen Kultur auszugraben und zu vermessen, und wenn eine Gottheit ihm einen einzigen Wunsch zu erfüllen bereit wäre, so wäre es der, die wundersamen Geschichten aus den uralten Schriften der Erbauer als wahr zu erweisen, die Bauwerke und Artefakte zu bergen und zu katalogisieren, von denen die Alten in rätselhaften Worten sprachen. Doch das aufregendste Artefakt im Leben des Justinus von Prevorst war eine eierschalenfarbene Plätzchendose aus der Aussteuertruhe seiner Mutter, die möglicherweise mit einem Zauber belegt war, denn wann immer Justinus sie öffnete, entströmte ihr ein Hauch von Zimt und Mandelduft, obwohl sie seit Jahren nur zur Aufbewahrung von Stopfnadeln und Fingerhüten genutzt wurde. Manchmal saß Justinus an seinen einsamen Abenden vor der Plätzchendose und beschwor sie mit all seiner Gedankenkraft, ein Plätzchen aus dem Nichts zu erschaffen, oder es seinetwegen aus einer anderen Welt herbeizuschaffen, aber sie antwortete darauf stets nur mit dem zarten Duft längst vergangener Köstlichkeiten.
Eines Tages wurde Justinus klar, dass er auch die nächsten drei Dekaden seines Lebens darauf verwenden konnte, in seinem purpurfarbenen Schlafrock und den Mokassins aus Schattenläuferfell in seiner einsamen Stube zu sitzen und eine Porzellandose anzustarren, oder dass er sich seinen Traum erfüllen konnte: Er hatte in den letzten Jahren genug Geld verdient, um seinen Beruf an den Nagel zu hängen und, nunja, einfach auszusteigen. Dieser Gedanke kam ihm ganz plötzlich, als er vor dem goldgerahmten Spiegel seiner Garderobe stand und den Goblin in weichem Purpur betrachtete, der ihm entgegensah. Wo war das Feuer geblieben, das in seiner Jugend in seinen Augen gebrannt hatte? Justinus musste sich zwar eingestehen, dass niemand außer ihm, nicht einmal seine eigene Mutter, dieses Feuer je erwähnt hatte oder auch nur bemerkt zu haben schien, aber es war da gewesen. Als er sich so betrachtete, erinnerte er sich an eine blühende Oase, aber eine, die dabei war, zu versanden. Seine Schultern hatten ein wenig von ihrer Spannkraft verloren, seine Augen blickten matt unter den schweren Lidern hervor. Justinus straffte sich, öffnete eine der Schubladen seines Garderobenschranks, nahm eine seiner Heimkehr-Pralinen heraus, mit denen er sich nach seinen Arbeitstagen belohnte, ließ sie im Munde zergehen und träumte von den Abenteuern, die noch vor ihm liegen mochten.
Während Justinus‘ Entschluss in ihm reifte und er nur noch auf eine Gelegenheit wartete, die er beim Schopfe ergreifen konnte, fiel ihm ein Buch in die Hände, das zweifelsohne vielversprechend war. Es war die Geschichte eines großen Krieges – natürlich ging es dabei um eine Frau, wie Justinus mit einer gewissen Erregung feststellte, denn in seinem Leben war es eigentlich noch nie um eine Frau gegangen -, der vor Tausenden von Jahren stattgefunden hatte, ein gewaltiger Krieg, der Tausende von Helden zermalmt und ihre Seelen tief in die Unterwelt hinabgeschleudert hatte. Das Buch erzählte von einem listenreichen Mann, der sich nach nichts mehr sehnte als danach, zu seinem eigenen Weib nach Hause zurückzukehren, eine bemerkenswerte eheliche Treue, die ihn jedoch nicht daran hinderte, auf seiner gefahrvollen Heimreise eine Dame um die andere zu gewinnen, zu lieben und zu verlassen. Als er an die Stelle kam, an der der Held eine weitere Dame in seine starken Arme schloss, eine ebenso schöne wie mächtige Zauberin, da wurde Justinus klar: Der große Garnau Klaufen hatte den Weg in die sagenhafte Welt der Nackthäute anhand alter Schriften entdeckt – war es möglich, dass Justinus den Weg des fast vergessenen Helden mithilfe dieses Buches verfolgte und die Stätten seiner Eroberungen lokalisierte? Ein Schauer überlief ihn. Justinus von Prevorst auf den Spuren des Eroberers, und zugleich in den Fußstapfen des Garnau Klaufen! Am nächsten Tag beauftragte er seine Schwester damit, einen Untermieter für seine Wohnung zu suchen, packte das Nötigste zusammen, trat aus dem Haus, kehrte wieder um, packte auch den unnötigen Rest zusammen und ging voller Spannkraft hinaus zum Hafen.
Als er zwei Wochen später auf seinem Segler saß, konnte er kaum glauben, dass er die letzten Jahre darauf verschwendet hatte, in einem fensterlosen Büro zu sitzen und sich mit dem Unsinn zu beschäftigen, um den die Gedanken anderer Leute offenbar ständig zu kreisen schienen. Über ihm stand am klaren Tageshimmel klein und bleich der Mond. Der Wind vom Meer wehte Justinus das Haar aus der Stirn. Er hörte die gläsernen blaugrünen Wellenkämme heranrollen und dann selbstmörderisch an die Felsen schlagen, wo sie sich selbst zerstörten und dabei ein unendlich kleines Stück des Steines mit sich nahmen. Er atmete den Duft des Meeres ein, Salz und Seetang, und legte den Kopf in den Nacken. Er spürte, wie die Sonne warm auf seine Wangen schien. Das Meer lag vor ihnen wie ein riesiges, blaues Tier. Eine Möwe, die sich bemühte, gegen den Wind Höhe zu gewinnen, malte ein weißes M an den Himmel.
Justinus fuhr die vom Autor des Heldengedichtes beschriebene Route entlang. Es war erstaunlich, wie präzise der alte Poet die Küste beschrieb, als hätte er sie mit eigenen Augen gesehen. Justinus verglich den klassischen Text mit den Gegebenheiten der Landschaft um ihn herum, er maß Entfernungen, stellte Tabellen auf, skizzierte, rechnete und träumte. Hin und wieder ging er an Land, um sich Nahrung und frisches Trinkwasser zu besorgen. Seine Erregung wuchs von Tag zu Tag. Sollte der Dichter tatsächlich Recht behalten, so würde Justinus bald auf das Eiland stoßen, auf dem die mächtige Zauberin den Helden verführt hatte. Diese Zauberin war es auch gewesen, die die Gefährten des Helden in Schweine verwandelt hatte, ein Aspekt, der Justinus nicht so gut gefiel, aber wo kein Risiko, da auch kein Lustgewinn! Andererseits war es denkbar, dass der alte Text als Gleichnis für die sinnliche Macht des Weibes zu verstehen war: Einer liebeserfahrenen Frau dürfte es nicht schwerfallen, aus einem Mann ein wildes Schwein zu machen, allein mit einem Blick ihrer Augen oder dem Spiel des Stoffes, der sich über ihre Hüfte spannte. Justinus schloss die Augen und stellte sich einen Moment lag vor, wie es wäre, in den Armen einer solchen Zauberin zu liegen.
Tags drauf sichtete er tatsächlich eine Insel, die die Einheimischen den Schweinefelsen nannten, wie Justinus bei seinem letzten Landgang erfahren hatte. Und als er den Flecken Land durch sein Fernglas betrachtete, strahlte dieser tatsächlich epische Erhabenheit aus, wenn man das Auge dafür hatte. Justinus lenkte sein Boot in die Hafenmole, wo zwei Fischerboote vor sich hinfaulten. Kaum hatte sein Fuß den Boden berührt, war Justinus erfüllt von der Feierlichkeit, die von diesem Ort ausging. Garnau Klaufen hätte Tränen der Rührung in den Augen gehabt. Justinus betrachtete die Boote näher. Sie sahen so heruntergekommen aus, als wären sie seit Jahren nicht mehr benutzt worden. Dahinter, am steil aufsteigenden Hang, ein paar flache Häuser, die einmal weiß gewesen waren und nun die Farbe des Felsens angenommen hatten. Aus dem Schornstein eines der Häuser stieg eine dünne Rauchsäule. Justinus befestigte sein Boot an der Mole und ging über einen von Zypressen und Ginster gesäumten Weg hinauf zu der Siedlung am Hang. Als er das Haus erreicht hatte, aus dessen Kamin der Rauch aufstieg, fand er die Tür offen. Der Palast einer Zauberin jedenfalls schien es nicht zu sein. Der Putz an der Wetterseite bröckelte, Efeu und Kletterrosen umrankten die Fenster. Eine Holzbohle vor dem Eingang diente als Sitzbank. Er klopfte, doch niemand antwortete. Er zögerte ein wenig, denn er wollte die Bewohner nicht durch rüdes Eindringen in ihr Privatestes verärgern, doch die Neugierde war zu groß.
„Verzeihung?“, rief er in das Dämmerlicht des Hauses, doch niemand kam. Er ging ein paar Schritte hinein, und dann sah er sie.
Sie stand am Herd und rührte in einem schwarzen Kessel, der über der Flamme hing. Sie wandte sich ihm zu und lächelte, als habe sie ihn erwartet. Ihre Augen waren hell wie Wasser.
„Verzeihung“, wiederholte Justinus, „ich habe angeklopft. Darf ich hereinkommen?“
Ihr Lächeln wurde weiter, strahlender und es schien ihm, als würde es heller werden in der Küche.
„Darf ich?“, fragte er noch einmal und zögerte. Er wollte ihr keine Angst einjagen.
Sie nickte mit de Kopf und winkte ihn in die Stube, dann wischte sie ihre Hände an ihrem weiten Rock sauber und gab ihm die Rechte, ohne etwas zu sagen.
„Justinus von Prevorst ist mein Name“, sagte er, und als sie nichts erwiderte, fuhr er ratlos fort: „Mein Boot liegt unten an der Mole.“
Mit einem Nicken gab sie ihm zu erkennen, dass sie verstanden hatte, sie selber brachte aber keinen Laut über ihre Lippen – schöne Lippen, wie Justinus bemerkte. Stattdessen füllte sie ein Glas mit kühlem Wasser und reichte es ihm.
Justinus trank und räusperte sich. Er hielt sich für einen höchst gebildeten Goblin, aber es war ihm plötzlich entfallen, wie man mit einer Dame Konversation betrieb. Er ermannte sich und fragte: „Lebst du ganz alleine hier?“
„Nein“, krächzte da eine Stimme aus dem Dunkel einer Ecke. „Ich bin auch noch da.“
Justinus verschluckte sich an seinem Wasser. Er starrte in die Dunkelheit und erblickte, auf einem Schemel kauernd, ein faltiges Geschöpf mit einem Gesicht so alt, dass nicht mehr zu erkennen war, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Die Nase hing tief über die haarigen Lefzen, Speichel troff aus den eingefallenen Mundwinkeln, und in den Augäpfeln, die weiß waren wie hartgekochte Eier, fehlten die Pupillen. Die Alte – Justinus war fast sicher, dass es sich um eine Frau handelte, denn sie war in ein langes schwarzes Gewand gehüllt, wie Witwen es in diesem Teil der Welt trugen – war offensichtlich blind.
Justinus fragte: „Lebt ihr allein auf dieser Insel?“
„Wir sind die einzigen Frauen hier“, schnarrte die Alte.
„Und Männer? Gibt es hier Männer?“
„Nein, gar keine.“
„Du sagtest, ihr seid die einzigen Frauen?“
„Ja. Zwei Frauen und die Tiere: Zwei Ziegen, ein Dutzend Hühner und die wilden Schweine. Früher gab es hier Fischer, aber sie sind alle fort aufs Festland, wo es mehr zu verdienen gibt.“
„Aber ihr seid geblieben?“ Justinus war berührt von so tiefer Verbundenheit mit der Erde, die die Frauen hervorgebracht hatte.
Die Alte zuckte mit den Schultern: „Wer will schon eine Blinde und eine Stumme?“
„Und wovon lebt ihr?“
„Wir bauen an, was wir brauchen. Im Garte wachsen Paprika, Tomaten, Auberginen und Pfirsiche. Eugleia…“ – die Alte wies mit zitternder Klaue auf die Junge - „…fängt hin und wieder Tintenfische in der Bucht. Und manchmal fangen wir eines der wilden Schweine und tauschen es gegen Mehl und Öl. Sie sieht für mich, und ich spreche für sie.“
Eugleia nickte, um zu bestätigen was die Alte sagte. Justinus betrachtete die beiden Frauen und dachte darüber nach, wie sehr sich hier das Wirken Adanos‘ offenbarte. Es konnte keinen größeren Gegensatz geben als den zwischen den beiden Bewohnerinnen der Insel. Die eine war steinalt und zum Erschrecken hässlich, die andere blutjung und von blühender Schönheit. So wie Licht und Schatten, dachte Justinus und nahm sich vor, diesen poetischen Gedanken später in seinem Reisetagebuch zu notieren. Eugleia wirkte neben der vom Alter entstellten Hexe noch schöner und verlockender, als sie es von Natur aus ohnehin war. Justinus musste sich eingestehen, dass er nie zuvor einer begehrenswerteren Frau begegnet war. Sie trug ein schlichtes Kleid aus Leinen, das ihre Schultern unbedeckt ließ, und ging barfuß. Ihr schwarzes Fell glänzte seidig. Sie bewegte sich frei und anmutig durch den Raum, als würde sie schweben. Sie schien einem Gemälde entstiegen zu sein. Später notierte er in sein Tagebuch, dass die Liebe in dem Moment von ihm Besitz ergriffen hatte, als er sah, wie ihre nackten Füße über den makellos sauberen Boden der Küche glitten.
„Ich hatte gehofft, auf dieser Insel ein Gasthaus zu finden, wo ich für ein paar Tage essen und wohnen könnte“, sagte er und war überrascht, wie leicht ihm diese Lüge über die Lippen ging.
Eugleia lächelte, eilte zum Herd, hob den eiserenen Deckel ihres Kochtopfes und winkte ihn herbei. Der Duft von Auberginen, Tomaten und wilden Kräutern stieg auf. Sie nickte, als wolle sie sagen: Es ist genug für alle da.
Sie füllte ihm Wasser nach und reichte ihm eine Schale mit Trauben und Feigen, die noch warm von der Sonne waren. Er sah sie an und dachte: Ihr Götter, wie schön sie ist!
Dann legte sie sich ein Tuch um die Schultern und bedeutete ihm mitzukommen. Er lief dicht hinter ihr. Sie ging leichtfüßig, ohne sich nach ihm umzudrehen. Sie durchquerten ein von Rosen umranktes Tor. Ausgetretene Stufen im Felsen führten zur Bucht hinunter. Am Ende einer Landzunge setzte sie sich auf einen Stein und lächelte Justinus an. Er setzte sich zu ihr, denn in ihrer Gegenwart verspürte er keine Scheu, und gemeinsam schweigend sahen sie in die untergehende Sonne. Als die feurige Kugel in die Flut eintauchte, erhob sie sich und zog aus einer Felsspalte eine einfache Angel hervor. Der Haken war grob getrieben und ohne Köder, die Leine rau und faserig. Justinus wäre jede Wette eingegangen, dass man auf diese Art keinen Fisch fing.
Der Mond hatte die Sonne bereits abgelöst, da warf sie die Leine ins Meer, legte den Kopf in den Nacken und gab eine Abfolge von Tönen von sich, ein wortloses Lied, das aus der Tiefe ihres Herzens und des Meeres zu kommen schien. Nie hatte Justinus eine so berührende Melodie gehört. Eine Zauberin!, dachte er mit feierlichem Ernst. Da begann das Stück Kork, das als Schwimmer diente, aufgeregt zu zucken und auf dem Wasser zu tanzen, bis es schließlich im schwarzen Meer verschwand. Eugleia stemmte die nackten Füße gegen den Felsen. Sie brauchte alle Kraft, um die straff gespannte Leine zu halten. Justinus eilte ihr zu Hilfe, wobei er ihre Taille umfasste und sie festhielt. Gemeinsam zogen sie einen mächtigen Oktopus an Land. Seine Fangarme waren glänzend schwarz und mindestens einen halben Meter lang, und sie hatten sich so fest mit der Angel verschlungen, dass sie sich auch an Land nicht ablösen ließen. Eugleia ließ sie Angelrute fallen und packte den Tintenfisch. Er umschlag ihre Arme mit seinen Tentakeln, aber es half ihm nichts. Wie ein nasses Wäschestück schlug sie das Tier gegen die Felsen, immer wieder und mit aller Kraft, bis es schließlich schlaff in ihren Fäusten hing. Justinus sah das brennende Feuer in ihren Augen und dachte an die Rachegöttinnen, von denen sein Dichter geschrieben hatte, Rachegöttinnen, die erbarmungslos ihren Feind verfolgten, ihn mit ihren bloßen Händen zerfetzten und erst von ihm abließen, wenn er mit zerschmetterten Gliedern zu ihren Füßen lag. Später gab es gebratenen Oktopus in Öl mit Auberginen und Tomaten, und Justinus hatte nie etwas Köstlicheres gegessen.
„Ihr entgeht kein Fisch“, sagte sie Alte beim Essen. „Sie kennt den Gesang des alten Volkes, der älter ist als der Mond. Wenn Eugleia ihre Stimme erhebt, kommen die Muränen aus ihren Höhlen, um sie zu hören. Sie umkreisen den Kahn so dicht, dass man sie mit den bloßen Händen einfangen kann.“
Eugleia errötete und winkte ab, als wolle sie sagen, dass die Alte maßlos übertrieb.
Justinus verbrachte den restlichen Abend damit, Eugleia anzusehen und hin und wieder der Alten zu antworten, die unaufhörlich zu reden schien. Sie erzählte von ihrem letzten Gast, einem verwegenen Abenteurer aus Biblur, dem ein Ohr fehlte. Er hatte es bei einer Kneipenschlägerei verloren, und als er es anderntags im Staub der Straße wiedergefunden hatte, trocknete er es und trug es als Talisman bei sich. Eugleia und die Alte lachten bei dieser Erinnerung.
Die Alte war nicht daran gewöhnt, dass ihr jemand Antwort gab, so dass Justinus es bald dabei beließ, Eugleias anmutigen Bewegungen zu folgen, als sie den Tisch abräumte, den Kessel auswusch und die Teller trocknete.
Am Ende führte die Alte ihn zu einem kleinen Gebäude aus rohem Stein, das nur wenige Meter entfernt vom Haupthaus neben einem Olivenbaum stand. Es war erstaunlich, wie sicher sie sich trotz ihrer Blindheit bewegte. Sie geleitete ihn in einen Raum, in dem ein breites Bett auf ihn wartete. Es war mit einem weichen Lammfell überzogen und duftete nach Lavendel und Rosen. Justinus streckte sich aus und löschte die Kerze, aber er fand keinen Schlaf. Sein Geist war müde, aber sein Körper empfand etwas, das er zunächst nicht einordnen konnte. Es war etwas, das ihn nun aufstehen, sein Licht entzünden und das Fenster öffnen ließ. Er atmete den Duft der Wildnis ein, lauschte dem Zirpen der Grillen und dem fernen Brausen des Meeres und begann, mit leiser Stimme alle Verse aus dem Heldenlied zu zitieren, die ihm in den Sinn kamen, all die Verse, die von der Liebe zu einer verbotenen Frau erzählten und von der Heimkehr zu einer anderen. Da sah er, wie im drüben im Haupthaus ebenfalls ein Licht entzündet wurde. Eine Gestalt trat ans Fenster, ein Schatten nur, aber voller Anmut und Grazie. Er betrachtete sie. Die Nacht war dunkel und still.
Lass mich hinein, flehte Justinus, oder komm zu mir!
Sie schloss die Fensterläden wieder und löschte das Licht. Die Sterne stiegen aus dem Meer, die Wellen schlugen an den Felsen. Justinus war es, als würde er vergehen und selbst zu einer leisen Klage werden, die sich seufzend in die Luft erhob und mit den Düften und Klängen dort verschmolz. Da öffnete sich die Tür des Haupthauses. Sie bewegte sich leichtfüßig durch die Nacht und tauchte in die Dunkelheit seiner Behausung ein. Justinus konnte nicht erklären, wie es geschehen war, aber auf einmal fand er sich auf dem Lammfell seiner Bettstatt wieder, um ihn herum der Duft ihrer Haut, nach Honig, Ziegenmilch und Heu. Und nach heißem, unstillbaren Verlangen.
Später stand sie nackt am Fenster und blickte in die Nacht hinaus, als würde sie auf etwas warten. Er war erschöpft von ihrem Liebesspiel, doch als sie den Kopf in den Nacken legte und das Muränenlied sang, leise und unendlich kraftvoll, war er verloren.
Meine Zauberin!, dachte er.
So ging es nun Tag für Tag, Nacht für Nacht. Für Justinus endete die Welt in ihren Augen, an ihren Lippen, unter dem Stoff ihres Kleides.
„Wirf dein Kleid weg, Geliebte“, flüsterte er ihr zu, denn er wollte sie nur noch nackt. Es erwies sich nun als Vorteil, dass die Alte blind war. Sie liebten sich, wann immer sie konnten, und wenn sie sich nicht liebten, fingen sie Fische, schwammen im Meer oder lagen am Strand in der Sonne. So verflogen die Tage. Eines Abends, als Justinus zufällig einmal das Buch über den Helden in die Hände fiel, stellte er bestürzt fest, dass er seit über zwei Wochen nicht mehr an Garnau Klaufen gedacht hatte. Das war in den letzten zwanzig Jahre noch niemals geschehen! Doch die Bestürzung verflog schnell, als er Eugleia im Türrahmen stehen sah, nackt und lächelnd und verlockend. Sie glitt auf ihn zu, ihre Hände und Lippen waren überall, und er sollte nie wieder an Garnau Klaufen denken.
Am nächsten Morgen gab ihm Eugleia mit einem Handzeichen zu verstehen, dass er seine Hose anziehen sollte. Justinus ging zum Fenster und sah, dass ein Schiff angekommen war. Zwei Männer machten das bunt angestrichene Boot an der Pier fest. Sie redeten miteinander, lachten und zeigten den felsigen Hang hinauf. Schnell versteckte sich Justinus hinter der Gardine. Plötzlich war er sich seiner Nacktheit auf unangenehme Weise bewusst. Beim Ankleiden stellte er fest, dass er ein wenig zugenommen haben musste – oder sogar recht viel, denn er passte kaum noch in seine Hosen. Der Knopf schnitt ihm schmerzhaft ins weiche Fleisch seines Bauches. Er hatte nicht nur an Leibesumfang zugenommen, auch sein Hals war dicker geworden: Der Hemdkragen ließ sich nicht mehr schließen. Nachdenklich betrachtete er sich im Spiegel. Es musste sich um eine Täuschung handeln, aber es sah fast so aus, als seien sogar seine Ohren größer und fleischiger geworden. Schnell wandte er sich ab.
Kurz darauf betraten zwei Männer in abgerissenen Leinenhosen und fleckigen Unterhemden das Haus. Die Alte bewirtete sie mit Tee und Feigen.
„Wann habt ihr mal wieder ein Schwein für uns?“, fragte einer der Männer.
Die Alte überlegte kurz. Dann sagte sie: „In zwei Wochen. Beim nächsten Neumond.“
„Aber nicht wieder so einen Krüppel wie letztes Mal. Der hatte nur ein Ohr.“
„Isst du etwa die Ohren mit?“, kicherte die Alte.
„Nein, aber so ein Vieh kann ich nur stückweise verkaufen.“
„Dieses Schwein wird das schönste und fetteste Schwein sein, das du je gesehen hast“, beruhigte ihn die Alte.
„Wo haltet ihr eigentlich eure Schweine?“, fragte Justinus, um sich auch einmal einzubringen. Er war auf der ganzen Insel noch keinem einzigen Schwein begegnet.
„Sie leben auf der anderen Seite der Insel. Man sieht sie selten. Sie sind sehr scheu.“
„Wie fangt ihr sie?“, wollte Justinus wissen.
„In einer Fallgrube.“
„Dann graben wir doch eine!“, schlug er vor.
„Jetzt nicht. Es ist nicht die richtige Zeit.“
Justinus seufzte und gab es auf.
Ein paar Tage später fand Justinus im Ziegenstall ein Paar Herrenschuhe. Er zeigte sie Eugleia. Sie lachte, und am Abend erzählte ihm die Alte, dass sie dem einohrigen Abenteurer gehört hatten.
„Er war so ein amüsanter Bursche! Nicht wahr, Eugleia? Wir hatten so viel Spaß miteinander! Aber für die Schuhe hatte er keine Verwendung mehr. Habe ich dir schon erzählt, dass er sein Ohr als Talisman um den Hals trug? Es fühlte sich an wie Schweinsleder.“
Zwei Wochen später, zum nächsten Neumond, kamen die Fischer zurück. Die Alte hatte nicht übertrieben. Als sie das Schwein aus der Grube hievten, mussten die beiden zugeben, nie ein schöneres und fetteres Tier gesehen zu haben.