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    Deus Avatar von Laidoridas
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    Laidoridas ist offline

    Post [Story]Tremor

    Tremor

    für
    The Lord



    Einer hing am Haken.
    Im ersten Moment hatte Regis geglaubt, dass ihm seine in der Kälte des frühen Wintermorgens zittrig gewordenen Finger einen Streich gespielt hatten, doch als er ein bisschen an der Kurbel drehte, spürte er ganz deutlich eine Straffung der Scbhnur. Kein Zweifel: Da hing einer am Haken.
    „Na endlich. Ich dachte schon, das gibt heute nie was.“
    Aus den Augenwinkeln sah er, wie ihm seine beiden Freunde die Köpfe zuwandten, während er zunächst noch etwas lethargisch, bald aber mit allen aus dem Halbschlaf wiedererwachten Kräften an der Kurbel drehte. Thorben war ein kleines überraschtes Schnaufen entwichen, und Regis konnte es gut verstehen: Obwohl sie nicht darüber gesprochen hatten, musste es natürlich auch Bosper und dem Tischler klar gewesen sein, dass die Erfolgsaussichten ihres gewohnheitsmäßigen Angeltreffens zu dieser späten Jahreszeit alles andere als gewaltig waren. Die meisten der im Hafenbecken lebenden Fische hatten sich bei diesen Temperaturen längst in die wärmeren Gewässer entlang der nördlichen Inselküsten verzogen. Mit fetter Beute war also nicht zu rechnen gewesen, doch das nette Beisammensein mit den beiden Handwerksmeistern hatte Regis trotzdem nicht ausfallen lassen wollen – und da war es Bosper und Thorben offenbar ganz ähnlich ergangen.
    „Da bin ich ja mal gespannt“, brummte Bosper. „Besonders doll zu zappeln scheint er ja nicht gerade.“
    Regis hatte angesichts der überraschend ruhigen Angelschnur gerade den gleichen Gedanken gehabt – aber noch bevor er etwas erwidern konnte, hatte er seinen Fang bereits aus dem Wasser gezogen. Das dunkelbraune Ding hing für ein paar Sekunden tropfend am Angelhaken über der Wasseroberfläche, bevor bei Bosper als erstem der Groschen fiel.
    „Ha“, lachte er trocken auf, „ein Schuh. Wer hätte gedacht, dass man sowas wirklich angeln kann?“
    „Tatsache“, erkannte nun auch Regis und wusste nicht, ob er enttäuscht oder verblüfft sein sollte. Er hatte sich nie besonders viele Gedanken darüber gemacht, wie wahrscheinlich es war, einen Schuh aus dem Meer zu angeln, aber nun, da er diese Gedanken einmal nachholte, kam ihm das Schuhangeln ganz deutlich wie etwas vor, das nur in Märchen und anderen Geschichten den glücklosen Anglern widerfuhr. In Wahrheit brauchte es dafür ganz im Gegenteil sogar eine Extraportion Glück, denn ein Schuh biss ja nicht an, ein Schuh war einfach nur da, gammelte am Meeresboden vor sich hin und musste darauf warten, dass ihn der Haken an der richtigen Stelle erwischte. Vermutlich brauchte es im Normalfall großes Geschick, so einen glitschigen Lederklumpen an Land zu ziehen – selbst dann, wenn man es darauf anlegte. Und nun hatte er genau dieses Kunststück vollbracht, ohne jede Absicht, durch reinen Zufall. Ja, doch, überlegte er sich, darüber durfte er schon verblüfft sein!
    Thorben jedenfalls war es auch, das sah er ihm an.
    „Jetzt erzähl mir bitte nicht, dass das ein Zeichen Adanos’ ist oder sowas“, kam er dem Tischler zuvor. „Da erwarte ich dann schon was anderes als so ein modriges Teil.“
    Kaum hatte er es ausgesprochen, wurde Regis bewusst, dass der Schuh tatsächlich ziemlich unangenehm miefte. Mit spitzen Fingern pflückte er ihn vom Haken und schmiss ihn neben sich auf den kalten Pflasterstein des Hafenkais.
    „Du magst darüber lachen, aber in den Überlieferungen des alten Manawächters Karet, die mir Meister Vatras erst kürzlich ausgeliehen hat, wird davon berichtet –“
    „Moment mal“, unterbrach ihn Regis überrascht und ignorierte Thorbens eingeschnappte Miene. „Wisst ihr was? Das ist einer von meinen!“
    Bosper runzelte die Stirn. „Einer von deinen Schuhen, meinst du?“
    „Ja. Der muss aber schon älter sein, auf die Art mache ich die mittlerweile gar nicht mehr.“ Regis drehte den Schuh, unter dem sich auf dem Stein gerade eine dunkelbraune Pfütze bildete, ein wenig zur Seite, sodass seine beiden Freunde einen besseren Blick auf die entscheidende Stelle werfen konnten, und deutete auf einen dunklen Fleck an der Fersenseite. „Eine einfach gewölbte Hinterkappe, wie ich sie bei meinen ersten Versuchen verarbeitet habe. Meine allerersten Kunden haben solche Schuhe bekommen, aber bei ein paar von denen hat sich die Naht oberhalb des Absatzes gelöst, weil die Hinterkappe zu großen Druck auf die –“
    „Versteh schon“, behauptete Bosper. „Du hast das dann also nachher wieder anders gemacht mit diesen Kappen?“
    Regis nickte. „Außerdem habe ich schon ewig keine Schuhe mehr mit einem so grob gefertigten Spitzenhub hergestellt. Und wenn ich mir das Material der Brandsohle so anschaue... hm, nicht mehr viel davon übrig, aber ich könnte wetten, dass es Razorleder ist. Und das habe ich nur ein einziges Mal gekauft, weil ein paar Seeleute im Hafen waren, die es spottgünstig verscherbelt haben. Merkwürdige Typen waren das... heutzutage würde ich mit solchen Leuten keine Geschäfte mehr machen, aber ihr wisst ja, ich hatte nur das Gold, das ich mir von Lehmar geliehen hatte, und da habe ich genommen, was ich kriegen konnte.“
    „Niemand macht dir einen Vorwurf“, sagte Thorben großmütig. „Also willst du damit sagen, dass du nicht viele Schuhe hergestellt hast, die so aussehen?“
    „Höchstens zehn oder elf Stück“, bestätigte Regis. „Und wie gesagt, das ist schon Jahre her. Vielleicht liegt der schon eine ganze Weile hier im Hafenbecken rum.“
    „Tja, so kann’s gehen“, sagte Bosper und klopfte ihm auf den Rücken. „Da hat dich die Vergangenheit wohl eingeholt, was?“
    „Hm“, machte Regis, ohne den Blick vom nassen, alten Schuh abzuwenden. „Fühlt sich noch gar nicht so lange her an, dass ich den gemacht habe. Und irgendwie... Vergangenheit ist das alles ja noch nicht. Nicht solange ich Lehmar nicht ausgezahlt habe.“
    „Der alte Scheißkerl“, knurrte Bosper und rotzte ins Wasser. „Der hat dich ordentlich verarscht, aber das weißt du ja selber. Wird Zeit, dass du den endlich von der Backe hast.“
    Natürlich hatte Regis längst erkannt, dass ihn Lehmar durch seine regelmäßigen Zinserhöhungen grob über den Tisch gezogen hatte, aber er war es leid geworden, sich darüber zu ärgern. Und spätestens seit er den großen Auftrag für die Stadtwache an Land gezogen hatte, war ihm auch die dazu nötige Wut im Bauch allmählich abhanden gekommen. Sollte sich Lehmar doch ruhig dumm und dämlich an ihm verdienen – bald hatte er die benötigte Summe zusammen, um den letzten Rest seiner Schulden mitsamt aller Wucherzinsen abzuzahlen, und dann hatte er auch dieses allerletzte Hindernis auf dem Weg zum eigenen, unabhängigen Handwerksbetrieb endlich aus dem Weg geschafft. Was kümmerte ihn dann noch ein gewissenloser Geldverleiher? Und so richtig übelnehmen konnte er Lehmar seine zweifelhaften Geschäftspraktiken ohnehin nicht. Denn ohne ihn und ohne sein Geld, das war ihm völlig klar, hätte er seinen Traum von der Schuhwerkstatt damals gleich wieder an den Nagel hängen können. Es ist schon alles gut so, wie es gelaufen ist, dachte Regis, und dann, um den Gedanken laut weiterzuführen, sagte er zu seinen Freunden: „Hättet ihr das vor ein paar Jahren gedacht, dass ich mal einer von euch sein würde? Ein richtiger Handwerksmeister?“
    „Naja, über das richtig reden wir aber nochmal“, erwiderte Bosper grinsend. „Du hast ja nicht mal ’ne ordentliche Lehre gemacht, und einen Meisterbrief hab ich in deiner Klitsche da auch noch nirgendwo rumhängen sehen.“
    „Ach, nun lass doch mal gut sein“, sagte Thorben, der die Frotzeleien des Bogners wie immer eine Spur zu ernst nahm. „Du hast schon recht, Regis. Für mich warst du zuerst nur ein Herumtreiber, der den ganzen Tag vor meiner Werkstatt auf der Bank herumgelungert hat. Noch dazu einer, der mir ein schlechtes Gewissen verschafft hat.“
    „Fängst du jetzt wieder von der Lehrlingsgeschichte an?“, sagte Regis. „Ich hab dir doch schon so oft gesagt...“
    „Mag ja sein“, entgegnete Thorben schulterzuckend. „Aber damals hatte ich nun einmal ein schlechtes Gewissen. Stell dir doch mal vor, wie das ist: Da fragt einer an, ob er Lehrling bei dir werden kann, du lehnst ab, obwohl du gerade offensichtlich keinen anderen Lehrling hast, und dann setzt der sich auf die nächstbeste Bank und guckt dir den ganzen Tag bei der Arbeit zu. Wie soll man denn da kein schlechtes Gewissen bekommen, als Mensch mit ein bisschen Anstand?“
    „So hab ich das damals nicht gesehen“, verteidigte sich Regis. „Das war eben die einzige freie Bank in der Nähe, und ich wollte es nicht verpassen, wenn in irgendeinem Betrieb ein Lehrlingsplatz frei wird. Außerdem habe ich die meiste Zeit gar nicht in deine Richtung geguckt. Die Bank ist ja mehr in Richtung Bosper gedreht.“
    „Wenn ich gewusst hätte, dass du so viel auf dem Kasten hast, dann hätte ich dich natürlich sofort genommen. Aber alles, was ich über dich wusste, war ja, dass du eine Prügelei in Coragons Taverne mit einem Oberstädtler angezettelt hattest, und da war ich dann lieber vorsichtig.“
    „Kein Grund dich zu rechtfertigen“, sagte Regis und drückte freundschaftlich die Hand des Tischlers. „Ich bin euch doch mehr als dankbar dafür, dass ihr beide mich damals nicht haben wolltet. Ansonsten müsste ich jetzt den ganzen Tag Bretter sägen oder Pfeile schnitzen, nee danke...“
    „Und wir hätten heute überhaupt nichts aus dem Meer geholt“, fügte Bosper hinzu. „Das wär ja gar nicht auszudenken gewesen.“
    Vor allem aber, dachte Regis im Stillen, hätte er womöglich niemals Anja kennengelernt. Jedenfalls nicht so, wie man sich kennenlernen konnte, wenn selbst nach langem, ausgiebigem Ausprobieren einfach kein Schuh passen wollte, wenn schließlich Maße für eine Spezialanfertigung genommen werden mussten und wenn die spezialangefertigten Schuhe schließlich auch noch mehrmals nachgebessert werden mussten. Mit dem müssen allerdings, da war es so eine Sache gewesen. Irgendwann, das hatte er sich schon lange vorgenommen, würde er ihr beichten, dass die Schuhe in der passenden Größe zwölf die ganze Zeit über in seiner Werkstatt gestanden hatten, und natürlich würde sie es ihm nicht übel nehmen und gemeinsam mit ihm darüber lachen. Aber es schadete ja nicht, wenn er ein allerletztes winziges, lächerliches Geheimnis hatte, das er noch vor ihr verbergen konnte, und sei es nur, damit es niemals einen freien Platz für ein echtes, ein schlimmes Geheimnis geben konnte. Eines von der Sorte, das die linke Hälfte in Bospers Bett freigeräumt hatte.
    „Ach ja, Anja!“ Bosper hatte wohl angesichts der nachdenklichen Miene seines Freundes den richtigen Gedanken gefasst und grinste gleich wieder, aber Regis konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er es diesmal ein wenig erzwingen musste. „Natürlich, wie konnte ich deine Anja vergessen? Die hättest du dann gar nicht als Kundin bedienen können. Und die kleine Fanni hätt’s dann wohl auch nie gegeben. Mensch, da kannst du ja wirklich von Glück sagen, dass Thorben und ich dich damals nicht ausstehen konnten!“
    „Schon verrückt, wie viel manchmal an solchen Entscheidungen hängt, oder?“, sinnierte Regis. „Ich bilde mir ja gerne ein, dass ich mein Schicksal selber in die Hand genommen habe, aber wenn man’s mal genau nimmt... dann habt ihr beiden genauso über mein Leben entschieden wie ich selber. Und Anja – wenn ihr Vater sie nicht vom Hof verjagt hätte, dann wäre sie vielleicht nie vom Festland weggekommen. Dann hätten wir uns nicht hier in Khorinis treffen können. Es ist wohl wirklich so: Am Ende entscheiden immer auch die anderen Leute für einen, und man kann nur hoffen, dass die richtigen Ergebnisse dabei herauskommen.“
    „Die Götter“, korrigierte Thorben, und Regis war davon überzeugt, dass sich der Tischler zusammenreißen musste, um nicht ermahnend den Zeigefinger zu heben. „Am Ende entscheiden die Götter. Aber dir sind sie offenbar wohlgesonnen, und das wundert mich auch nicht. Innos ist mit den Tüchtigen. Da fällt mir ein, wie sieht es eigentlich mit euren Hochzeitsplänen aus? Eure Kleine ist schon bald ein Jahr alt, und ihr lebt immer noch in wilder Ehe... meinst du nicht, dass manche Leute schon zu tuscheln anfangen?“
    „Die sollen lieber froh sein, dass es überhaupt mal wieder Kinder in Khorinis gibt. Das sah vor ein paar Jahren ja auch noch ganz anders aus.“
    Regis wunderte es nicht, dass Thorben die Gelegenheit genutzt hatte, um auf eines seiner Lieblingsthemen zu sprechen zu kommen, und er zweifelte nicht daran, dass der Tischler selbst zu den allerersten Tuschlern gehört hatte. Tatsächlich hatte sich Regis allerdings in den vergangenen Wochen selbst vermehrt Gedanken über das Thema gemacht, nachdem er eine Einladung des Händlers Lutero zu dessen eigener Hochzeitsfeier erhalten hatte, die am nächsten Abend im oberen Viertel steigen würde. Vielleicht, hatte er überlegt, war es an der Zeit, dass es beim nächsten Anlass dieser Art er selbst war, der die Einladungen verschickte. Er wusste, dass Anja gerne heiraten wollte, und er würde sie nicht mehr lange warten lassen.
    „Aber wenn ich meine Schulden bald los bin... wenn ich ein wenig Geld für eine Hochzeitsfeier gespart habe... Ihr beiden wärt auf jeden Fall meine Trauzeugen, so viel steht mal fest!“
    Thorben strahlte bei diesen Aussichten über beide Ohren, aber noch bevor er etwas sagen konnte, griff Bosper plötzlich zu seiner Angel und kurbelte energisch daran herum – gefangen hatte er aber offenbar nichts.
    „Leute, jetzt ist aber mal gut mit dem Gefasel – wir sind zum Angeln hier, oder etwa nicht?“
    Regis war sich da gar nicht mal so sicher, aber der Bogner hatte offenbar einen Plan gefasst und bückte sich, nachdem er die Angelschnur eingeholt und den alten schlaffen Köder abgepflückt hatte, nach dem kleinen Eimerchen zu seiner Seite, in dem sich allerhand Larven und Würmchen wanden.
    „Wenn die Fische nicht beißen wollen, dann müssen wir vielleicht einfach mal ein paar vernünftige Köder auspacken! Seht euch diese Biester hier an – die habe ich gestern einem Kaufmann von den Südlichen abgekauft. Mit den fetten Dingern kriegen wir die Fische schon an den Haken! Hier, könnt beide ein paar haben!“
    Er beugte sich erst zu Thorben, dann zu Regis hinüber und schmiss jedem ein paar der Tierchen in den Ködertopf. Misstrauisch beäugte der Schuhmacher die tatsächlich ausgesprochen großen Larven, deren dunkelgraue Färbung an vielen Stellen ins Schwarze überging. Im Vergleich zu den wild wuselnden Wanzenmaden, die sich unter ihnen im Topf wanden, bewegten sie sich so wenig, dass Regis im ersten Moment glaubte, sie seien bereits tot.
    „Na hoffentlich jagen die den Fischen keine Angst ein“, murmelte Regis, bevor er sich eine der Larven schnappte und an den Haken spießte. Gräuliches Sekret suppte aus der offenen Wunde im Larvenfleisch, und er wischte seine Hand an einem Lappen ab, den er zum Säubern der Angelrute dabei hatte.
    „Unsinn. Du wirst schon sehen, heute Abend kann dir deine Anja ein ordentliches Seebarschfilet auftischen!“, brummte Bosper betont zuversichtlich, bevor er in spöttischem Tonfall hinzufügte: „Ach, ich vergaß... du kochst ja selbst. Deine Zukünftige ist wohl mehr so die Genießerin, was?“
    „Ich helfe ihr bloß ab und an in der Küche aus. Das ist ja wohl keine große Sache.“
    „Ha, die hat dich ja ganz schön im Griff! Pass aber lieber auf, dass du dich nicht kaputt schuftest, so krumm wie du da sitzt...“
    Im ersten Moment hatte Regis auf Bospers unnötige Provokation eine deutlich pampigere Antwort als zuvor geben wollen, doch er musste stutzen, als er erkannte, dass er tatsächlich eine ziemlich krumme Haltung eingenommen hatte und seinen Rücken nur unter Schmerzen in eine wieder annähernd gerade Position bringen konnte. Vielleicht hatte er sich gestern Abend wirklich etwas zu viel zugemutet, als er Anja nach einem langen Arbeitstag in der Werkstatt noch ein paar Handgriffe beim Staubputzen abgenommen hatte. Aber davon wollte er Bosper lieber nichts sagen. Es war zwar offensichtlich, dass dessen Sticheleien viel weniger mit Regis’ Beziehungsverhältnissen zu tun hatten als mit denjenigen des Bogners selbst, die bloß noch in dessen Erinnerung weiterlebten – aber er wollte Bosper nicht noch mehr Stoff geben, über den er sich lustig machen konnte.
    Dazu allerdings wäre es wohl ohnehin nicht mehr gekommen, denn kaum hatte Regis den Gedanken gefasst, schnellte Bospers Hand erneut an die Kurbel und seine Augen leuchteten triumphierend auf.
    „Na wer sagt’s denn! Da hat was angebissen, ich hab’s euch ja gesagt!“

    Regis strich ein letztes Mal zufrieden über die stabile Sohle des frisch gefertigten Stiefels, dann stellte er ihn neben den anderen ab und ließ den Blick über die übrigen bereits fertiggestellten Stiefelpaare schweifen. Einundvierzig Stück. Fehlten noch neun, und er hatte seine bislang größte Bestellung bewältigt. Hauptmann Wulfgar würde zufrieden sein, da konnte eigentlich gar kein Zweifel bestehen: Das Schuhwerk war aus bestem Moleratleder gefertigt, das Regis in einem Sud aus Waldbeeren und Feuerkraut gebadet hatte, um ihm eine rötliche Farbe zu verleihen. Er war stolz darauf, wie gut er den Farbton der Milizrüstungen getroffen hatte, ganz wie es sein Auftrag gewesen war. Doch so zufrieden er auch mit seiner Arbeit war, so spürte er deutlich, wie seine Anspannung mit jedem weiteren Stiefelpaar, das er fertigstellte, ein kleines Stückchen stieg. Er konnte selbst nicht recht sagen, woran es lag – denn dass Wulfgar die Ware nicht annehmen würde, das hielt er für beinahe ausgeschlossen –, aber er bemerkte immer häufiger, dass er bei der Arbeit nicht richtig bei der Sache war. Allein beim jüngst fertig gestellten Stiefel hatte er gleich drei Nähte wieder lösen müssen, die ihm gründlich misslungen waren, weil er die Nadel mit zu unruhiger Hand geführt hatte. Vielleicht, überlegte er, war es die Aussicht darauf, schon in einer oder zwei Wochen am Ziel seiner langjährigen Pläne angelangt zu sein, die ihm Angst einjagte. Vielleicht wollte er seinem eigenen Glück nicht so recht über den Weg trauen. Womöglich aber, wurde ihm erst jetzt bewusst, war es auch bloß der zunehmend penetranter werdende Gestank nach modrigem, altem Leder, der ihm die Konzentration nahm.
    Regis zuckte nach jahrelanger Gewohnheit bloß noch ein klein wenig zusammen, als hinter ihm in gewohnt stürmischer Weise die Haustür aufgestoßen wurde.
    „Da bin ich wieder!“
    Er richtete sich vom Hocker auf, ignorierte den überraschend heftigen Schmerz, der ihm das Rückgrat entlang fuhr, und gab Anja einen Kuss. Ihre Lippen waren kühl von der abendlichen Kälte auf den Straßen, und Regis beeilte sich, die Tür hinter ihr wieder zu verschließen, um die Behaglichkeit ihrer kleinen Behausung zu bewahren.
    „Na, hast du uns was Schönes aus dem Meer gefischt?“ Anja schaute sich erwartungsvoll im Raum um, rümpfte aber im nächsten Augenblick schon argwöhnisch die Nase.
    „Ein Paar Schuhe“, sagte Regis und deutete auf die beiden vor sich hin müffelnden Lederbatzen, die er unter einem der beiden Fenster abgestellt hatte. „Meine eigenen Schuhe. Nicht zu glauben, oder? Also, nicht nur, dass die da liegen... auch, dass wir dann gleich beide geangelt haben. Ganz schöner Zufall.“
    „Oder ein Zeichen der Götter“, sagte Anja schmunzelnd, „dass wir auch mal wieder was anderes essen sollten als immer nur Fisch.“
    „Jetzt fang du nicht auch noch an wie Thorben“, erwiderte Regis mit sehr halbherzig gespielter Griesgrämigkeit. „Wegen dem hab ich die Dinger überhaupt erst mitgenommen. Bringt angeblich Unglück, die zurück ins Meer zu werfen – irgend so ein Manaheini hätte mal genau den gleichen Fehler gemacht, und dann hätte ihn Adanos ganz furchtbar bestraft oder was weiß ich... du weißt ja, wie er bei solchen Sachen immer ist.“
    „Hat dich ja anscheinend genug beeindruckt, dass du jetzt unsere Wohnung zumiefen lässt.“ Anja hatte die Waranledertasche, die sie bei sich getragen hatte, auf dem kleinen Beistelltischchen neben der Tür abgesetzt und legte nun süffisant lächelnd beide Arme um Regis’ Hals. „Ich glaube, Adanos wird uns das schon durchgehen lassen, wenn wir seine Gaben irgendwo lagern, wo sie ein bisschen weiter weg von unseren Nasen sind. Zum Beispiel im Werkzeugschuppen hinter dem Haus, was meinst du?“
    „Ich glaube auch.“ Da ihr Gesicht so nah war, konnte er nicht anders, als ihr einen weiteren Kuss zu geben, und diesmal waren ihre Lippen schon wieder so gewohnt warm, dass er am liebsten gar nicht mehr aufgehört hätte. Viel zu schnell löste sie die Umarmung wieder und bückte sich nach der Tasche, um darin herumzuwühlen.
    „Schau mal, Regi, wir haben einen neuen Mitbewohner!“ Als Anja die Hand wieder aus der Tasche zog, steckte sie in einem länglichen grauen Wollschlauch, der am vorderen Ende ein großes Maul aus rotem Garn besaß, über dem zwei Kulleraugen aus bemaltem Holz befestigt waren.
    Naa, wer bin ich?“, machte Anja mit drollig verstellter Stimme und bewegte dabei das Maul des Wollwesens mit den Fingern. „Rate mal, Regi!
    Regis überlegte fieberhaft. Bei solchen Sachen durfte er sich lieber keinen Fehler erlauben.
    „Ähm, bist du ein... hm... Lurker?“
    Er wusste gleich, dass er daneben getippt hatte. Anjas enttäuschter Blick ließ keine anderen Schlüsse zu.
    „Och, sieht er echt aus wie ein Lurker? Ich dachte wirklich, man kann ihn wiedererkennen.“
    „Naja, nee, du hast recht, als Lurker müsste er ja Stacheln auf dem Rücken haben“, druckste Regis herum. „Was ist es denn dann für ein Tier?“
    „Ein Sumpfhai“, enthüllte ihm Anja. „Nicht gut getroffen?“
    „Sumpfhai?“ Regis war ein Stück weit erleichtert, dass sich Anja ein so absurdes Vorbild für ihre Handpuppe genommen hatte. Sie hatte ja wohl kaum ernsthaft erwarten können, dass er es auf Anhieb erkannte. „Komm schon, das hast du dir doch ausgedacht.“
    „Nein nein“, versicherte Anja und tauschte einen prüfenden Blick mit ihrer Schöpfung. „Sumpfhaie gibt’s wirklich. Im Minental soll es in manchen Gebieten nur so vor denen wimmeln. Aber na gut, wenn du noch nie davon gehört hast, dann kannst du ihn ja gar nicht wiedererkennen. Ich finde nämlich, ich hab dich ziemlich gut getroffen, nicht wahr, Sumpfi?“
    Regis war kurz davor anzumerken, dass sie das ja wohl genauso wenig beurteilen konnte wie er selbst, aber ihm war nicht nach Frotzeleien zumute. Die Hauptsache war doch, dass sie einen schönen Stricktag mit ihren Freundinnen gehabt hatte und Fanni gleich einen neuen Spielkameraden bekommen würde.
    „Wie wär’s, wenn du mal deiner neuen besten Freundin hallo sagst, Sumpfi?“, wandte sich Regis an die Handpuppe und knuffte ihr in die Nase, die er irgendwo zwischen den Augen vermutete. „Sie schläft zwar schon eine ganze Weile, aber vielleicht ist sie ja wach geworden, jetzt wo ich so laut mit Mama geredet habe?“
    Er ging zur eher schlecht als recht gezimmerten Holzwand hinüber, mit der er den kleineren Wohnbereich des Raumes von der Werkstatt abgetrennt hatte – irgendwann würde er sie durch eine neue, sorgfältig gearbeitete Wand ersetzen, hatte er sich vorgenommen – und lugte um die Ecke, wo Fannis Bettchen stand. Fannis leeres Bettchen.
    „Fanni! Was machst du denn da!“
    Anja quetschte sich an ihm vorbei und stürmte zu ihrer Tochter hinüber, um sie von dem kleinen Eimerchen wegzuzerren, zu dem sie gekrabbelt war. Energisch zupfte sie dem Mädchen eine zappelnde Made aus dem Mundwinkel, pulte eine zweite aus dem linken Nasenloch und griff ihr anschließend kurz entschlossen mit der freien Hand in den Mund, um drei weitere der kleinen Tierchen unter der Zunge hervorzuholen. Fanni guckte ein bisschen erschrocken, ließ die Prozedur aber ansonsten widerstandslos über sich ergehen.
    „Mensch, Regis, du kannst doch nicht einfach deinen Ködereimer vor Fannis Bett stehen lassen!“ Anja warf ihm einen Blick zu, den Regis leider für durchaus angemessen hielt. „Du weißt doch, dass sie sich alles in den Mund steckt, was irgendwo rumliegt!“
    „Du hast recht, das war echt blöd“, sagte Regis zerknirscht, während er sich ächzend nach ein paar über den Boden kriechenden Tierchen bückte, unter denen auch eines von Bospers dicken Biestern war. „Als ich vom Angeln zurückkam, stand schon Gritta mit Fanni vor der Tür, und kaum hatte ich die Kleine ins Bett gelegt, kam eine Kundin vorbei. In dem ganzen Stress habe ich wohl nicht so drauf geachtet, wo ich den Ködereimer hingestellt habe.“
    „Was denn für eine Kundin?“
    Regis hatte schon mit dieser Nachfrage gerechnet, und dieses Mal kam es ihm sehr gelegen, dass Anja durchaus ein bisschen eifersüchtig sein konnte.
    „Carmen“, sagte er und ließ die letzte freilaufende Wanzenmade zurück in den Eimer fallen. „Du weißt schon, wegen ihrer Spezialanfertigung. Hat aber leider noch nicht ganz gepasst, da muss ich nochmal nachbessern.“
    Natürlich hatte er Anja längst davon erzählt. Die Frau von Fernando plante mitsamt ihrem Ehemann eine Reise aufs Festland, um ihre Schwester in Trelis zu besuchen, und wollte bei dieser Gelegenheit offenbar ordentlich Eindruck schinden.
    „Sind das die da drüben?“ Anja hatte tatsächlich das richtige Paar Schuhe am Ende des Raumes erspäht, das allerdings auch alles andere als schwer zu erkennen war. Regis stellte nicht alle Tage Schuhe aus dem Leder von Graslandscavengern her – das Zeug war ebenso teuer wie schwer zu verarbeiten. Die Nachbesserungsarbeiten würden ihn noch einige Mühe kosten, aber er war froh um jede Oberviertelbewohnerin, die ihre Schuhe nicht nur von Überseehändlern kaufte, und wollte Carmen auf keinen Fall als Kundin verlieren.
    „Die sind aber wirklich schön geworden“, sagte Anja, drückte ihm Fanni in die Arme und ging in den Werkstattbereich, um sich die in geheimnisvollem Smaragdgrün glänzende Oberfläche der Schuhe aus der Nähe anzuschauen. „Meinst du, ich kann die mal anprobieren?“
    Regis zuckte erst mit den Schultern und kurz darauf zusammen, als ihm Fanni mit dem Finger knapp unters Auge piekste. „Wieso nicht? Die müssten dir eigentlich sogar passen. Du hast ja eine Größe weniger als Carmen.“
    Anja zögerte nicht mehr lange und entledigte sich ihrer eigenen Schuhe, um anschließend in Carmens zukünftige zu schlüpfen.
    „Du hast recht, die sind ja wie für mich gemacht!“, freute sich Anja und stolzierte begeistert über einen knarzenden, rauen Holzboden, wie ihn die Schuhe unter Carmens Führung sicher so bald nicht mehr zu spüren bekommen würden. „Schade, dass ich die nicht behalten kann.“
    Regis musste ihr im Stillen zustimmen: Die Schuhe waren wie für sie gemacht. Das strahlende Grün des Leders bildete den wunderbarsten Kontrast zu ihrem roten Haar. Am schönsten aber war das Strahlen in ihren Augen, als sie mit ihnen den Raum abschritt. Als Regis sie so sah, da regte sich in seiner Bauchgegend das gleiche warme Gefühl wie beim allerersten Mal, als sie ihn angelächelt hatte, und er konnte die Worte, die ihm gegen die Brust schlugen, nicht länger zurückhalten.
    „Du kannst sie behalten“, sagte er. „Weißt du was? Ich schenk sie dir.“
    Anja machte große Augen. „Meinst du das ernst? Aber Carmen...“
    „Die bekommt dann eben ein neues Paar. Das kann ich ja gleich in der richtigen Größe machen, dann kann ich mir die Nachbesserung sparen.“
    „Und die Kosten?“
    „Die bekomme ich schon wieder rein, wenn ich erst mal die Stiefel für die Miliz verkauft habe.“
    „Regi, das...“ Sie fiel ihm so überschwänglich um den Hals, dass ihm Fanni fast vom Arm gerutscht wäre. „Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Du bist einfach der Beste!“
    „Ist doch halb so wild“, sagte Regis zwischen zwei Küssen von Anja und zwei Wangenpieksern von Fanni. „Wenn ich dir damit eine Freude machen kann, dann mach ich das doch gerne.“
    Insgeheim aber regten sich bereits erste Zweifel in ihm, ob sein spontanes Geschenk wirklich eine so gute Idee gewesen war. Er hatte zwei Tage an den Schuhen gearbeitet, und das Graslandscavengerleder war seit seinem letzten Besuch auf dem Marktplatz mit Sicherheit nicht billiger geworden. Natürlich, Carmen brauchte die Schuhe erst in einer Woche, und das Geschäft mit Wulfgar würde ihn nicht nur von seinen Schulden bei Lehmar, sondern auch darüber hinaus fürs Erste von seinen gröbsten Geldsorgen befreien. In seinem Bauch allerdings hatte sich längst ein deutlich mulmigeres Gefühl breit gemacht als zuvor. Er fühlte sich ohnehin schon geschlaucht von der vielen Arbeit, hatte er sich da unbedingt noch mehr aufbürden müssen? Aber geschenkt war geschenkt, und ein so freudig in Empfang genommenes Geschenk ließ sich natürlich erst recht nicht mehr zurücknehmen. Er würde wohl in den kommenden Tagen noch ein Quäntchen zulegen müssen.
    „Su... Susu... Subi...“
    Die zwischen ihnen eingequetschte Fanni hatte ihrem Vater über den Rücken gelugt und zupfte nun an der Handpuppe herum, die über Anjas Hand gestülpt auf seinem Rücken ruhte.
    „Subi... Subi-Supfi!“
    „Ja, genau, das ist Sumpfi!“, freute sich Anja, hielt die Sumpfhaipuppe vor Fannis Gesicht und warf Regis dabei einen triumphierenden Blick zu. „Siehst du, man kann es eben doch erkennen! – Weißt du was, Fanni? Dein Papa dachte echt, ich bin ein Lurker!
    „Ach, das kleine Fräulein hat uns wohl belauscht, kann das sein?“ Grinsend strich Regis seiner Tochter über die Haare, während die damit beschäftigt war, den Holzaugen erste Kratzspuren zuzufügen. „In solchen Momenten kannst du dann ausnahmsweise mal gut hören, das war ja klar!“
    „Hey, nicht aufessen!“, protestierte Anja und zog die angesabberte Wollhand ein Stück zurück. Fanni reckte sich zappelnd nach der Sumpfhaipuppe und Regis übergab seine Tochter in die Arme seiner Freundin.
    „Hat da etwa jemand Hunger?“, wollte Anja wissen und gab der Kleinen einen Kuss auf die Stirn. „Wie wär’s, wenn Mama uns was Feines kocht? Wir haben noch ganz frische Rüben hier, und die dann schön geröstet in der Pfanne mit ein bisschen was von der guten Schafsbutter...“
    Regis war kein großer Rübenfreund, aber so wie Anja davon erzählte, klang es gar nicht so schlecht. Ehe er sich versah, hatte er schon ein paar Schritte auf den Herd zugemacht und bückte sich nach der Vorratskiste.
    „Ich mach das schon“, sagte Regis, auch wenn ihm sein schmerzender Rücken etwas anderes sagen wollte. „Spielt ihr beiden mal schön mit Sumpfi, die paar Rüben wird Papa ja wohl auch noch gebraten kriegen.“
    „Lieb von dir“, sagte Anja und drückte sanft seine Hand, bevor sie sich mit Sumpfi und Fanni auf den Teppich setzte. „Also, dann stellen wir uns am besten nochmal richtig vor, was meinst du? Du bist Fanni, stimmt’s? Ich bin Sumpfi, ein richtiger Sumpfhai!

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    Deus Avatar von Laidoridas
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    Laut klackerten die Absätze von Anjas neuen Schuhen über das feine Pflaster, als Regis an der Seite seiner Freundin auf die hell erleuchtete Lärmquelle am anderen Ende des ansonsten leblosen Oberviertels zuhielt. Er konnte es seiner Freundin nicht verdenken, dass sie den feierlichen Anlass ausnutzte, um ihr Geschenk einzuweihen, aber ein besonders gutes Gefühl hatte er nicht dabei. Obwohl – oder vielleicht gerade weil – Lutero und Fernando alte Rivalen waren, war es mehr als wahrscheinlich, dass Carmen ebenfalls zu den geladenen Gästen gehörte, und es war schwer einzuschätzen, wie sie auf den Anblick ihrer Schuhe an fremden Füßen reagieren würde.
    „Gritta ist wirklich ein Schatz“, sagte Anja, während sie einen Bogen um den Springbrunnen im Mittelpunkt des großen Platzes machten. „Ich glaub, ich strick ihr demnächst mal was Schönes. Als kleines Dankeschön.“
    „Kleidung hat die doch genug, Thorben sei Dank“, brummelte Regis, der nur zu gerne mit Gritta getauscht hätte. Ein gemütlicher Abend mit seiner Tochter war ihm allemal lieber als das, was ihm nun bevorstand.
    „Ist da etwa jemand immer noch ganz griesgrämig?“ Anja hakte sich bei ihm unter und zog ihn in einer aufmunternd gemeinten Geste ein Stück zu sich heran. „Das ändert sich aber hoffentlich in den nächsten paar Sekunden. Du bist ja schließlich nicht zum Spaß hier!“
    Regis wusste natürlich, dass sie recht hatte: Die Feier war eine hervorragende Gelegenheit, um ein paar lukrative Kontakte im oberen Viertel zu knüpfen, und damit das klappte, durfte er sich nur von seiner besten Seite zeigen. Aber noch waren sie ja nicht am Feiern, und so hatte er auch noch keinen Anlass dazu gesehen, die Griesgrämigkeit aufzugeben.
    „Du bist nervös wegen dieser blöden Rede, kann das sein?“, traf Anja, ganz wie es ihre Art war, voll ins Schwarze. Ansgar, der Diener im Hause Lutero, hatte ihn – und vermutlich auch noch eine ganze Reihe anderer Gäste – darum gebeten, eine kleine Festrede auf Lutero und seine Emilia zu halten. Regis hatte sich mehrere Abende lang damit abgequält, den Text zu schreiben, und war mit dem Ergebnis so unzufrieden gewesen, dass er den Zettel seit der Fertigstellung vor ein paar Tagen nicht mehr angeschaut hatte. Heute Abend würde sich das aber leider nicht vermeiden lassen.
    „So schlecht ist sie doch gar nicht geworden, Regi“, behauptete Anja. „Du wirst das schon machen.“
    „Besonders toll aber auch nicht“, seufzte Regis. „Ich kenne die beiden doch überhaupt nicht, mal abgesehen vielleicht von ihren Füßen. Und über die kann man ja nun keine ganze Rede schreiben.“
    „Hättest du mich das einfach mal machen lassen...“
    „Ja, das wär wahrscheinlich wirklich besser gewesen“, murmelte er, ohne es zu meinen. Wenn er den Auftrag bekam, etwas Persönliches für jemanden zu schreiben, dann machte er das natürlich auch selbst und ließ sich nicht einfach insgeheim von seiner Freundin vertreten. Das war gewissermaßen eine Frage der Ehre.
    „Guten Abend, Regis. Schönen guten Abend, Anja.“
    Regis bekam einen kleinen Schreck, als sich direkt vor ihnen eine bullige Gestalt aus der Dunkelheit schälte und eine Verbeugung andeutete. Erst im zweiten Hinschauen erkannte er die großen, freundlichen Augen wieder.
    „Dir auch einen guten Abend, Ansgar“, begrüßte er den Bediensteten. „Die Feier ist schon im vollen Gange? Wir kommen doch hoffentlich nicht zu spät?“
    „Keine Sorge, die Herrschaften sind erst vor einer guten halben Stunde hier eingetroffen, und es ist noch lange nicht jeder hier. Darf ich euch zum Festsaal begleiten?“
    „Gerne doch“, sagte Anja, und sie setzten sich in Bewegung. Nachdem die eigentliche Hochzeit bereits am späten Nachmittag im Kreise der Familie und der engsten Vertrauten am Feuerschrein vor den Toren des Klosters außerhalb der Hafenstadt vollzogen worden war, wollte man die abendlichen Feierlichkeiten nun im deutlich größeren Rahmen begehen. Lutero hatte sich dazu die große Halle im Rathaus angemietet und, wie Regis nun beim Eintritt erkannte, in einen prunkvollen Festsaal umgestaltet. Vier lange Tische waren mit edlen Tüchern geschmückt und mit reich verziertem Porzellan gedeckt, an den Wände prangten exotische Teppiche aus aller Herren Länder, und von der Decke hing ein schillernder Kronleuchter, wie ihn Regis noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Lutero musste sich in einige Unkosten gestürzt haben, um ihn vom Festland nach Khorinis bringen zu lassen.
    „Ihr kommt gerade recht, in ein paar Minuten wird aufgetischt“, eröffnete ihnen Ansgar. „So lange könnt ihr euch ja unter die Gäste mischen und euch amüsieren.“
    „Am besten, wir gehen gleich zu den beiden rüber und gratulieren ihnen, oder?“, schlug Anja vor, nachdem sich der Hausdiener fürs Erste verabschiedet hatte und sie etwas verloren im Eingangsbereich des schon sehr gut gefüllten Saals verblieben waren. Überall hatten sich kleine Grüppchen von drei oder vier Leuten gebildet, die im Stehen angeregte Gespräche miteinander führten – hinter dem Kopfende des größten der vier Tische tummelten sich allerdings besonders viele Gäste. Der Grund dafür war nicht schwer auszumachen: Im Zentrum dieser kleinen Menschentraube standen Lutero und seine frisch Angetraute, die sich allein schon durch die farbliche Extravaganz ihrer Kleider mühelos von der Menge der Umstehenden absetzten.
    „Ahh, Regis, mein Guter!“ Lutero hatte ihn erspäht, nachdem sie ein paar Schritte auf ihn zugegangen waren. Mit großer Geste winkte er ihn zu sich und seinen Gesprächspartnern heran. „Darf ich vorstellen, meine Freunde? Der Schuhverkäufer meines Vertrauens!“
    Regis lächelte etwas verlegen in die Runde hinein und erntete dabei eine Reihe von Blicken, die irgendwo zwischen desinteressiert und amüsiert lagen. Obwohl er keinen dieser Männer kannte, lag angesichts der teuren Kleidung und der gut genährten Körper die Vermutung nicht fern, dass er einige der einflussreichsten Großhändler Myrtanas vor sich haben musste.
    „Dieser Junge hier –“ Lutero nahm den linken Arm von der Taille seiner milde gelangweilt wirkenden Ehefrau, um mit beiden Zeigefingern auf Regis zu deuten. „Dieser Junge hier hat mich gerettet! Ihr wisst ja, wie lange ich hier festsaß. Den ganzen Krieg über gab es auf der verfluchten Insel hier keinen einzigen vernünftigen Schuh zu kriegen – jahrelang habe ich mir meine Füße an den räudigsten Latschen wundgetreten, die ihr euch vorstellen könnt. Jahrelang! Bis mein guter Regis hier auf den Plan getreten ist und die Schuhe nach Khorinis zurückgebracht hat – und damit meine ich Schuhe, die den Namen auch verdienen! Großartige Schuhe, wundervolle Schuhe! Komm her, komm in meine Arme, Regis!“
    Er stellte sich bereits auf eine der anstrengenderen Umarmungen seines Lebens ein, aber Lutero umarmte ihn entgegen seiner lautstarken Ankündigung gar nicht, sondern schüttelte ihm stattdessen mit einigem Druck die Hand und klopfte ihm dabei mit der anderem Hand mehrmals fest auf die Schulter. Trotz aller Lobesreden trug er an den Füßen natürlich auch keines von Regis’ Werken, sondern ein vermutlich irrwitzig teures Paar seidener Schuhe mit saphirblau schimmernden Absätzen und jeweils einer silbernen Spange auf der Vorderkappe, über der als aufwändige Stickerei das ebenfalls silberne Abbild eines Schattenläuferkopfes prangte. Regis konnte es dem Händler natürlich nicht übel nehmen, dass er Schuhe vom Festland bezog – war er doch immerhin einer der wenigen Oberviertelbewohner, die darüber hinaus auch immer wieder mal bei ihm im Laden einkauften –, aber der Gedanke, dass einige der Umstehenden womöglich annehmen könnten, er selbst hätte die von Lutero zur Schau gestellten Exemplare hergestellt, war ihm kein besonders angenehmer. Sicher, er hatte sich von seinem Besuch auf der Hochzeitsfeier ein paar neue Kunden erhofft, aber er wollte auch nicht, dass die Leute mit völlig überzogenen Erwartungen in seine Werkstatt kamen. Wenn Lutero so weitermachte, dann würden ihm mit Sicherheit ein paar unangenehme Gespräche bevorstehen.
    „Danke dir, Lutero, aber das war wirklich zu viel des Lobes“, bemühte sich Regis daher um Bescheidenheit. „Nun lass mich dir – und natürlich dir, Emilia – erst einmal ganz herzlich zu eurer Vermählung gratulieren. Anja und ich, wir beide wünschen euch von Herzen –“
    Er begann gerade, sich über seine etwas zu steif geratene Gratulationsansprache zu ärgern, da wurde er von einem lauten, hellen Klingeln unterbrochen.
    „Oha!“ Luteros Augen leuchteten auf, als er die Hand von Regis’ Schulter nahm und sich mit ausgebreiteten Armen im Raum umschaute. „Meine Freunde, ihr wisst, was das heißt: Wenn mein guter Ansgar das Glöckchen bimmelt, dann ist es angerichtet! Also alle Mann an die Tische, und lasst es euch schmecken!“
    Sogleich kam Bewegung in die Gästeschar und die kleinen Grüppchen begannen, sich aufzulösen. Während die beiden Frischvermählten am Kopfende des größten Tisches Platz nahmen, wurden die übrigen Gäste von Ansgar und einem halben Dutzend Küchengehilfinnen zu den für sie vorgesehenen Tischen geleitet. Regis und Anja ließen sich von einer kleinen, sehr konzentriert dreinschauenden Frau mit schweißnasser Stirn an den hintersten Tisch führen, der entlang der Wand gegenüber des Eingangs aufgestellt war. Als sich die Stühle nach und nach mit ihren Sitznachbarn füllten, wurde Regis bewusst, dass der Anteil offensichtlich schwerreicher Großhändler an diesem Tisch deutlich geringer auszufallen schien als andernorts: Links von Anja saß Hanna, die Besitzerin des Hotels am Marktplatz, rechts von Regis zupfte gerade der stadtbekannte Frauenheld Valentino seine Serviette zurecht. Regis war wenig begeistert davon, dass sich ausgerechnet der schnöselige Berufserbe neben ihm breit machte, den sein ständig prall gefüllter Geldbeutel mittlerweile sogar schon in den Stadtrat gebracht hatte – was wohl auch seine Anwesenheit auf der Feier erklärte. Zwar war Valentino nach ihrem ersten gewalttätigen Aufeinandertreffen in Coragons Taverne mittlerweile längst zu einem regelmäßigen und durchaus einträglichen Kunden seines Schuhladens geworden, aber das bedeutete noch lange nicht, dass er den Kerl mochte oder sich gar stundenlang mit ihm unterhalten wollte. Während sie auf die Vorspeise warteten, stellte sich jedoch rasch heraus, dass Regis kaum eine andere Wahl blieb: Anja verstand sich offenbar prächtig mit der ihr zuvor nur sehr flüchtig bekannten Hanna, die als zweifache Mutter wohl einigen Bedarf an allerlei Ratschlägen rund um Strickpullis, Ohrenwärmer und lustige Handpuppen hatte. Das noch recht junge Pärchen, das ihnen gegenüber saß – die dunkelhäutige Frau schien von den südlichen Inseln zu stammen, der stämmig wirkende Mann vom nördlichen Festland, vielleicht sogar aus einem der Clans von Nordmar – war bloß mit sich selbst beschäftigt, und Regis hätte ohnehin nicht gewusst, über was er mit ihnen hätte reden sollen. Deren Sitznachbarn wiederum, in denen er ein paar weniger bedeutende Ratsherren von Khorinis wiederzuerkennen glaubte, waren schon in Gespräche mit Leuten verwickelt, die sich außerhalb seiner Reichweite befanden. Ihm blieb also kaum etwas anderes übrig, als Valentinos Monologen über dessen neueste Anschaffungen, den rüpelhaften Umgangston der Hafenstadtbewohner und die Bedeutung gerade gewachsener Zähne für den Genuss feiner Speisen zu lauschen. Umso erleichterter war er, als ihnen nach einigen Minuten endlich die Suppe serviert wurde, und die Gespräche vorerst weitgehend verstummten.
    Regis griff nach dem ziemlich klein geratenen, aber dafür immerhin mit allerlei Schnörkeln verschönerten Löffel, und verrührte das Sahnehäubchen mit dem Rest der dampfenden Suppe – einer würzigen Rahmsuppe vom Feuerwaran, wie man ihnen angekündigt hatte. Der Geruch jedenfalls war ziemlich vielversprechend. Durchaus erwartungsvoll tunkte Regis seinen Löffel in die Suppe, führte ihn zum Mund – und erkannte erschrocken, dass ihm auf dem Weg dorthin beinahe der ganze Inhalt wieder abhanden gekommen war. Glücklicherweise war alles zurück in die Schüssel und nicht auf die Tischdecke getropft, aber dennoch war ihm die Sache umgehend peinlich. Da war er einmal bei einem feierlichen Anlass in bester Gesellschaft, und er brachte es nicht einmal fertig, eine Suppe zu schlürfen! Rasch nahm er einen weiteren Löffel Suppe, hob ihn zum Mund... und sah das Zittern. Seine ganze Hand zitterte, unaufhörlich, von rechts nach links, von links nach rechts, nicht sehr rasch, aber immer wieder, ohne Unterlass. Einen Moment lang war er verwirrt und ein Stück weit schockiert von diesem Anblick, dann beugte er sich hastig vor und riss den Löffel so schnell hoch zu den Lippen, wie er konnte. Ein salziger und dumpf pelziger Geschmack breitete sich auf seiner Zunge aus, aber seine Gedanken waren bloß bei seinen Händen. Er fühlte gar keine ausgeprägte Nervosität mehr wegen seines Vortrags, aber angespannt war er natürlich schon. Vielleicht sogar viel stärker als ihm bewusst war. Seine Hände zitterten manchmal, wenn er nervös war, das kannte er schon, und diesmal war es offenbar besonders schlimm.
    „Schmeckt nicht schlecht, was meinst du, Regi?“
    Er spürte, wie der Schweiß auf seiner heißen Stirn zusammenlief, und das lag sicher nicht an der Würze der Cremesuppe.
    „Ja, stimmt“, brachte Regis hervor und versuchte vergeblich an der Miene seiner Freundin abzulesen, ob sie wohl von seinen Essproblemen schon etwas mitbekommen hatte. Er beschloss, ihr vorsichtshalber eine gute Ausrede zu präsentieren. „Aber der Löffel ist etwas klein, findest du nicht? Man kann ja kaum damit essen.“
    Das stimmte sogar wirklich, fand er. Bei einem so kleinen Löffel mussten einem ja die Finger zittern. Er war sich sicher, dass er mit einem größeren Löffel weniger Probleme gehabt hätte.
    „Findest du?“, erwiderte Anja. „Ein bisschen klein ist er schon, aber es geht doch. Du kannst ja nach einem größeren fragen, wenn du willst.“
    „Gibt es ein Problem mit den Löffeln?“
    Regis hatte gar nicht gemerkt, dass eine der Küchenhelferinnen ganz in der Nähe gestanden und das Gespräch offenbar halb mitbekommen hatte. Er wollte gar nicht darüber nachdenken, ob sie wohl auch seine unrühmliche Zitterpartie beobachtet hatte.
    „Ach, es ist nur, ähm...“, begann Regis zögerlich, beschloss dann aber, die Frage einfach frei heraus zu stellen. „Könnte ich wohl einen größeren Löffel für die Suppe haben?“
    „Achso.“ Die Frau guckte einen Moment lang etwas konsterniert, dann nickte sie und sagte: „Natürlich. Ich bin sofort wieder da.“
    Tatsächlich dauerte es keine Minute, bis sie mit einem neuen und um einiges größeren Löffel zurückkehrte. Diesem fehlten zwar die üppigen Verzierungen seiner kleineren Geschirrgenossen, aber Regis hätte das gleichgültiger kaum sein können. Er bedankte sich und rührte mit dem neuen Löffel noch ein wenig in der Suppe herum, bevor er irgendwann nicht mehr umhin kam, einen neuen Versuch zu wagen. Mit angehaltenem Atem schöpfte er eine ordentliche Menge von der Suppe ab, packte den Stiel so fest er konnte, und – starrte wie versteinert auf den bebenden Löffel. Es war fast noch schlimmer als zuvor, wie das Suppenwasser von links nach rechts an die Ränder der Löffelschale schwappte, bald auch hier und da darüber hinaus kam – wie es zurück in die Schale platschte, während er nichts tun konnte als starren und zittern und – sich rasch vorbeugen, den Löffel in den Rachen stoßen so schnell es ging – und dann noch einmal, einen Löffel nach dem anderen, irgendwie in den Mund befördern – irgendwie die Suppe loswerden, die gegessen werden musste, ein qualvoller Löffel nach dem anderen, während sie alle zuschauten und sich wunderten, vielleicht schon tuschelten, aber in jedem Fall das spätere Tuscheln planten. Der merkwürdige zitternde Schuhmacher, der keine Suppe essen kann.
    Er konnte nicht mehr, ließ den Löffel sinken und schaute hoch. Niemand schaute zurück. Jeder war mit seiner eigenen Suppe beschäftigt. Aber Regis wusste, dass sie geschaut haben mussten. Es saßen so viele Leute in der Nähe, da musste es einfach jemand mitbekommen haben. Und es reichte ja schon einer, damit es bald alle wussten. Er hatte sich völlig lächerlich gemacht, nur weil er sich so einen Kopf wegen der blödsinnigen Rede gemacht hatte. Anja hatte doch recht, so schlimm war der Text gar nicht, er würde die Rede schon hinter sich bringen, es gab gar keinen Grund, so dermaßen angespannt zu sein – aber alle Gedanken halfen nichts, solange sie in seinen Händen nicht ankamen. Als er erneut den Löffel griff, da hatte sich nichts geändert. Echte Panik stieg in ihm auf. Die Schüssel war gar nicht so besonders voll, aber es kam ihm wie die unmöglichste Aufgabe vor, sie leer zu essen. Und er musste sie leer essen, alles andere konnte nur als eine schreckliche Unhöflichkeit verstanden werden. Es half alles nichts, die Suppe musste gegessen werden. Sie musste gegessen werden, und zwar schnell, denn wenn die anderen erst einmal aufgegessen hatten, dann würde es nur noch schlimmer werden. Dann würden alle Blicke auf ihn gerichtet sein, den letzten, der noch aß, und jeder würde sehen, dass er es einfach nicht hinbekam, dass er sich mit jedem einzelnen Löffel auf das Absurdeste abmühte, und sie alle würden nur noch ihn allein in ihren Gedanken haben und die Frage danach, ob er wohl ein völliges Nervenbündel war oder vielleicht krank im Geiste oder – im Körper –
    „Regis?“
    Klappernd traf der Löffelstiel am Schüsselrand auf. Regis begriff erst ein paar Wimpernschläge später, dass ihn keiner seiner Tischnachbarn angesprochen hatte, sondern jemand, der hinter ihm stand.
    „Tut mir leid, wenn ich dich beim Essen störe. Ich weiß, das ist wirklich nicht die feine Art.“ Ansgar machte tatsächlich den Eindruck, dass ihm die Unterbrechung höchst unangenehm war. Dabei war Regis im Augenblick nichts lieber als beim Essen gestört zu werden. „Könntest du bitte kurz mitkommen? Ich brauche eben deine Hilfe, es dauert auch nicht lange.“
    Regis nickte und hoffte, dass man ihm die Erleichterung nicht allzu sehr ansah.
    „Natürlich. Gar kein Problem.“
    Nun schauten doch so einige Leute zu ihm auf, als er den Stuhl geräuschvoll zurückschob, Anja noch einen kurzen Blick zuwarf und sich anschließend gemeinsam mit Ansgar von seinem Platz und schließlich von den Tischen entfernte. Es war befreiend, den Tisch für einen Moment verlassen zu können, allerdings drängte sich rasch die Frage in den Vordergrund, was Ansgar wohl mit ihm vorhaben konnte. Regis kannte den Hausdiener nun schon seit einer ganzen Weile und das mit Sicherheit viel besser als seinen Herren – Lutero und Emilia kamen nur dann zum Beauftragen oder Abholen eines neuen maßgeschneiderten Paars Schuhe in die Werkstatt, wenn es unbedingt notwendig war, sodass Regis die Geschäfte in den meisten Fällen mit Ansgar abgewickelt hatte. Dabei waren sie auch durchaus einmal ins Plaudern geraten und Ansgar hatte hier und da ein paar Details über seine Arbeit für Lutero fallen lassen, die er sicherlich nicht jedem aufs Auge drückte. Allzu vertraulich allerdings waren sie nun auch wieder nicht miteinander – zumal Ansgar doch selbst seine Untergebenen hatte, die ihm bei einem solchen Anlass unter die Arme greifen konnten. Wozu allerdings brauchte er nun ausgerechnet ihn? Bevor Regis zu einer konkreten Vermutung kommen konnte, hatte ihn Ansgar auch schon durch eine Tür in einen dunklen Seitenraum geführt, der offensichtlich nicht für die Gäste vorgesehen und mit allerlei Kisten und Regalen vollgestellt war.
    „Hör mal, Regis, mir ist die Sache etwas unangenehm“, begann Ansgar und sah auch ganz danach aus. Ein Tag wie dieser musste für den maßgeblichen Organisator der Feier ohnehin schon eine gehörige Anstrengung darstellen, aber tatsächlich wirkte er mehr als nur ein bisschen abgearbeitet. „Ich bitte dich wirklich nicht gerne um sowas, aber...“
    „Nun sag schon, worum geht es denn?“
    „Der Mann und die Südländerin, die dir und Anja am Tisch gegenüber sitzen... du weißt doch, wen ich meine?“
    „Sicher“, antwortete Regis auf die etwas überflüssige Frage. „Ich kenn die beiden aber nicht. Wir haben noch gar nicht mit ihnen geredet.“
    „Das ist es ja“, seufzte Ansgar. „Niemand hier kennt die beiden. Mir ist es gar nicht auf Anhieb aufgefallen, aber vorhin hat mich eines meiner Küchenmädchen nach den beiden gefragt, und... du weißt ja, ich habe mich selbst um alle Einladungen gekümmert, aber die beiden haben keine bekommen.“
    „Du meinst, sie sind einfach so hergekommen und haben sich an einen der Tische gesetzt?“, hakte Regis verwundert nach. „Ohne eingeladen zu sein?“
    „Die haben sich anscheinend selber eingeladen.“ Ansgar rieb sich die leicht geröteten Augen und blickte dann plötzlich auf, als er sich offenbar daran erinnerte, dass er noch eine Vielzahl anderer Pflichten hatte. „Die Sache ist die: Ich könnte sie natürlich rausschmeißen, aber wer weiß schon, wie sie reagieren? Wenn sie nicht freiwillig gehen, dann müsste ich die Stadtwache rufen, und am Ende haben wir hier einen handfesten Skandal. Das ist das Letzte, was Lutero bei seiner Hochzeitsfeier will.“
    „Hm“, machte Regis. „Versteh schon.“
    „Wahrscheinlich sind das bloß zwei Herumtreiber, die sich mal auf Kosten eines reichen Händlers so richtig den Bauch vollschlagen wollen. Sollen sie ruhig, wir haben mehr als genug. Solange sie also nur da sitzen und essen, können sie mir egal sein. Aber wenn das zwei Diebe sind, die den Beutezug ihres Lebens machen wollen... dann wäre es mir lieber wenn jemand ein Auge auf sie hält.“
    „Und dieser Jemand bin dann wohl ich.“
    „Genau“, bestätigte Ansgar. „Du sitzt ihnen direkt gegenüber, da hast du sie die ganze Zeit im Blick. Starr sie bloß nicht zu sehr an, ja? Wie gesagt, wahrscheinlich sind die beiden harmlos. Aber mir ist wohler dabei, wenn mir jemand Bescheid sagt, sobald sie irgendwas Verdächtiges anstellen.“
    „In Ordnung“, sagte Regis. „Ich werde sofort nach dir suchen, wenn mir etwas auffällt.“
    „Danke. Du hast was gut bei mir.“ Ansgar schien ein Stück weit beruhigt zu sein, aber Regis konnte sich ausmalen, wie sehr ihn die heikle Situation belasten musste. Er vermied es lieber, weitere Nachfragen zu stellen – etwa danach, ob die beiden nicht womöglich auch Assassinen sein konnten, die es auf einen der Gäste abgesehen hatten – und beschloss, den Hausdiener nicht noch weiter zu beunruhigen. Einen besonders gefährlichen Eindruck hatten die beiden ungeladenen Gäste ohnehin nicht auf ihn gemacht, und vermutlich gab es für ihre Anwesenheit eine völlig harmlose Erklärung.
    Als sie in den großen Saal zurückkehrten, hatte bereits wieder das große Geplauder eingesetzt. Regis fiel ein kleiner Stein vom Herzen, als er sah, dass die Küchengehilfinnen schon dabei waren, die Suppenteller von den Tischen zu räumen. Kurz darauf zerstreuten sich die letzten Zweifel: Auch seine eigene Schüssel hatte man abgeräumt und sich nicht daran gestört, dass sie noch gut gefüllt gewesen war. Er hatte die Suppe überstanden.
    „Ach, da bist du ja endlich wieder.“ Anja wischte sich gerade mit ihrer Serviette den Mund ab und streichelte mit der freien Hand seinen Arm, während er sich setzte. „Was war denn los?“
    Erst jetzt wurde Regis bewusst, dass er sich gar keine Erklärung für Ansgars Hilfegesuch überlegt hatte, die er am Tisch äußern konnte, und dass ihm Ansgar auch keine geliefert hatte. Nicht nur Anja, sondern auch Valentino und ein paar der anderen Ratsherren schienen sich für die Antwort auf diese Frage zu interessieren, und als Regis seinen Blick vielleicht etwas zu hektisch über die ihm zugewandten Gesichter schweifen ließ, blieb er für einen viel zu langen Moment in den Augen der Südländerin hängen.
    „Oh, ähm, eine von Luteros Küchenhilfen hat sich den Fuß – also, den Schuh, meine ich – ganz unglücklich an einer Ecke gestoßen, und da hat er mich gefragt – weil ich mich ja mit Schuhen auskenne – “
    Diesmal war das Klingeln der Glocke der reinste Wohlklang in Regis’ Ohren. Er fragte sich, ob Ansgar wohl geahnt hatte, wie sehr er sich gerade um Kopf und Kragen redete, und ihn absichtlich hatte erlösen wollen, aber es stand wohl auch ohnehin der nächste Programmpunkt an.
    „Lieber Lutero, liebe Emilia!“, begann der Hausdiener mit feierlich vor dem Bauch gefalteten Händen. „Zu diesem ganz besonderen Tag sind wir heute alle zusammengekommen: Eure Familie und Freunde, eure langjährigen Wegbegleiter und engsten Vertrauten. Menschen, denen ihr wichtig seid. Gute Seelen, die euch für eure gemeinsame Zukunft nur das Beste wünschen. Einige von uns haben den Wunsch geäußert, zu diesem schönen Anlass einige persönliche Worte an euch zu richten. Und wieso nutzen wir die Zeit bis zum Hauptgang nicht damit, um die ersten dieser Stimmen zu Wort kommen zu lassen? Wer von euch möchte gerne den Anfang machen?“
    Regis hatte Ansgars Ansprache noch nicht ganz verdaut, da hörte er zu seiner Linken ein verdächtiges, knisterndes Rascheln.
    „Pack das weg!“, zischte er Anja zu, so leise wie es irgendwie ging. „Doch nicht gleich als Erster!“
    Er griff sich den Zettel mit wild bebender Hand, riss ihn von der Tischplatte, zurück in Anjas Handtasche –
    „Ah, da wird schon der erste Zettel gezückt!“, dröhnten Ansgars Worte durch den Saal. „Du möchtest also beginnen, Regis?“

    „Es war doch gar nicht so schlimm wie du sagst, Regi. Hältst du sie mal kurz?“
    Regis nahm seine kleine Tochter aus Anjas Armen entgegen und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Wenigstens bei ihr konnte er sich einigermaßen sicher sein, dass sie ihren Papa nicht für einen Deppen hielt.
    „Natürlich war es schlimm. Ich hab doch kein Wort rausgebracht zuerst, und dann – ich hab sogar Emilie statt Emilia gesagt an einer Stelle, und ausgerechnet am Ende ist mir die Stimme weggebrochen und –“
    Und vor allem habe ich die ganze Zeit gezittert wie ein Nervenbündel, wollte er sagen, aber es kam nicht heraus. Noch immer war da die ganz vage, verzweifelte Hoffnung, dass es vielleicht niemand bemerkt hatte. Sein eigenes Gesicht war ja viel näher an seinen Händen als die Gesichter anderer Leute, sagte er sich, vielleicht kam ihm das Zittern seiner Hände deshalb viel schlimmer vor als es für die anderen aussah. Aber selbst wenn es niemand gesehen haben sollte – und fest daran glauben mochte Regis nun beileibe nicht – so war das verfluchte Zittern doch in jedem Fall schuld an allem gewesen, was an seinem grässlichen Vortrag schiefgelaufen war. Im Nachhinein wusste er gar nicht mehr, was ihn am Text an sich so sehr gestört hatte. Der war vielleicht nicht so persönlich gewesen wie einiges von dem, was nachfolgende Gratulanten vorgetragen hatten, aber im Rahmen der Möglichkeiten, die ihm seine oberflächliche Geschäftsbeziehung zu Lutero und Emilia geboten hatte, war doch ein ganz gelungener Text mit ein paar witzigen Pointen herausgekommen, die auch sicher gut gezündet hätten, wären sie denn angemessen vorgetragen worden. Das Zittern aber hatte alles zunichte gemacht. Er hatte seine eigene Schrift kaum lesen können, weil sie auf dem unruhig wackelnden Zettel vor seinen Augen verschwommen war. Und als ihm bewusst geworden war, dass ihm gerade ein ganzer Saal voller einflussreicher Leute beim Zittern und Stammeln zusah, da hatte ihm die einschlagende Nervosität den Rest gegeben.
    „Du warst eben ein bisschen aufgeregt“, sagte Anja, während sie den Schlüssel im Schloss drehte und die Haustür öffnete. „Das hat dich nur sympathisch gemacht. Und dein Vortrag war ja wohl viel unterhaltsamer als der von diesem Araxos-Typen. Weißt du, wen ich meine? Dieser grauhaarige alte Händler, der nach dir dran war und gar nicht mehr aufhören wollte. Der war vielleicht peinlich! Redet und redet, obwohl der Hauptgang längst auf dem Tisch steht und alle anfangen wollen. Und dann immer diese langgezogenen Silben, dieses eeee und oooo...“
    Regis wusste es zu schätzen, dass sie ihn aufmuntern wollte, aber selbst wenn das Anjas ehrliche Meinung sein sollte – wovon er noch nicht ganz überzeugt war – so unterschied sie sich doch ziemlich offensichtlich von derjenigen der meisten übrigen Gäste. Denn sein eigener Eindruck war gewesen, dass der Rede des Oberhaupts der mächtigen Händlergilde Araxos mit einiger Aufmerksamkeit gelauscht worden war – schließlich handelte es sich bei dem ja auch um einen der einflussreichsten Menschen der ganzen bekannten Welt. Bei so jemandem hatte selbst eine vermeintlich langweilige Rede einiges Gewicht. Was jedoch das verzweifelte Gestammel eines unbedeutenden Schuhmachers anging...
    „Fanni, lass das! Das ist mein guter Mantel!“ Verärgert zupfte er ein paar Büschel schwarz gefärbter Wolle zwischen den zusammengebissenen Zähnen seiner Tochter hervor, die wohl heute wieder einen ihrer rebellischen Tage hatte. „Hat Gritta nichts Vernünftiges mit dir gespielt oder was ist los mit dir?“
    Seine Freundin warf ihm einen ärgerlichen Blick zu, als er hinter ihr ins Haus eintrat und Fanni auf den Boden setzte, wo sie ihm gleich davon krabbelte.
    „Dooch, Gritta hat sich bestimmt ganz lieb um dich gekümmert, oder?“, sagte Anja und strich dem kleinen Mädchen liebevoll über den Kopf. „Du bist nur übermüdet. Ist ja auch kein Wunder, wenn du den ganzen Abend nicht geschlafen hast. Das ist auch ganz schön aufregend, wenn Mama und Papa so lange weg sind, oder? Aber weißt du was: Jetzt bringt dich Mama mal ins Bett, und dann bist du auch ruckizucki eingeschlafen!“
    Seufzend schloss Regis die Haustür ab und legte den Schlüssel auf die oberste Regalplatte. Jetzt hatte er zu allem Ärger auch noch ein schlechtes Gewissen, weil er so grob zu seiner Tochter gewesen war. Es wurde wirklich Zeit, dass er selbst ins Bett kam und den ganzen schrecklichen Tag so schnell wie möglich zu einem Ende brachte.
    Er wollte Anja und Fanni gerade in den Wohnbereich nachfolgen, da erregten ein paar leise, aber deutlich wahrnehmbare Stimmen seine Aufmerksamkeit. Es war ungewöhnlich, dass um diese späte Uhrzeit noch jemand auf den Straßen war, der keinen Dreck am Stecken hatte – aber selbst im Hafenviertel war es in den letzten Jahren ruhiger geworden, nachdem die Stadtwache kurz vor dem Ende des Krieges das Versteck der Diebesgilde in der Kanalisation ausgehoben und auch den meisten kleineren kriminellen Banden ein Ende bereitet hatte. Und sein Haus stand ja nicht einmal mitten im Hafenviertel, sondern bloß an dessen Rande, wo es eigentlich schon längst zum Handwerkerviertel geworden war – auch wenn Bosper gerne betonte, dass er in dieser Hinsicht anderer Meinung war. Vermutlich also waren es andere Besucher der Hochzeitsfeier, die sich nun noch auf den Straßen herumtrieben, und aus Neugier konnte Regis nicht anders, als zum Fenster zu gehen und so unauffällig wie möglich hinauszuschauen.
    Es war eine mondlose Nacht, und im ersten Moment erkannte er überhaupt nichts. Die Stimmen aber hörte er nun umso deutlicher. Was sie sagten, war nicht zu verstehen, aber einmal glaubte Regis zu seiner Verwunderung, seinen eigenen Namen herauszuhören. Und dann, als sich seine Augen an die Dunkelheit dort draußen gewöhnt hatten, schälten sich die Silhouetten dreier Menschen aus der Schwärze heraus: Eine groß und breit, eine kleiner und schmaler, und eine musste ungefähr seine Statur haben.
    Und alle drei standen sie direkt vor seiner Haustür.
    „Regis?“, wisperte Anja, die hinter der Abtrennwand des Wohnbereichs hervorlugte. „Was machst du denn da? Komm ins Bett.“
    „Da draußen ist jemand.“ Er machte einen Schritt vom Fenster weg.
    „Na und?“
    „Ich meine, vor unserer Tür“, flüsterte er. „Drei Leute. Sie sagen irgendwas...“
    „Direkt hier vor unserer Tür?“ Anja trat an seine Seite und nahm seine Hand. Er hörte ihrer Stimme an, dass sie jetzt auch beunruhigt war. „Was wollen die denn?“
    „Keine Ahnung.“
    Einige Sekunden lang herrschte Schweigen, dann sagte Anja: „Meintest du nicht, sie sagen was? Ich höre gar nichts.“
    Tatsächlich waren die Stimmen verstummt. Vorsichtig wagte sich Regis wieder etwas näher an das Fenster heran und schaute hinaus. Es stand niemand mehr vor der Tür, und erst mit dem dritten oder vierten Blick bemerkte er die drei kleiner werdenden Umrisse der Unbekannten, die durch die Handwerkergasse in Richtung des Stadttores davonzogen. Regis konnte nicht erkennen, ob sie die Stadt verließen oder eine andere Abzweigung nahmen, denn sehr bald hatte sie die Dunkelheit vollends verschluckt.
    „Sind weggegangen“, sagte Regis. „Komische Typen.“
    „Vielleicht sind die nur zufällig vor unserem Haus stehen geblieben“, überlegte Anja. „Kann doch sein, oder?“
    „Weiß nicht.“ Regis hatte den Anblick der drei Silhouetten noch vor dem inneren Auge. „Sie haben auf jeden Fall ganz schön lange unsere Haustür angeschaut, das habe ich genau gesehen.“
    „Klingt ja gruselig.“ Anja drückte seine Hand ein bisschen fester. „Hoffentlich sind keine Schwarzmagier in der Stadt oder sowas.“
    „Na, das hätte uns gerade noch gefehlt“, lachte Regis plötzlich etwas zu laut auf, weil er die etwas beängstigende Stimmung nicht länger aushielt. „Aber wenn die Schuhe wollen, dann sollen sie tagsüber kommen wie jeder andere auch. Wie auch immer, jetzt sind sie ja weg.“
    „Okay“, sagte Anja. „Komm, dann gehen wir ins Bett. Fanni schläft auch schon. Die war todmüde, sag ich dir.“
    „Bei mir hätte sie bestimmt trotzdem noch stundenlang rumgequängelt.“ Regis warf noch einen letzten Blick in die Schwärze hinter dem Fensterglas, dann folgte er Anja hinter die Trennwand, wo seine Tochter friedlich schlummernd im Bettchen lag. „Aber wenn die Mama da ist...“
    Das liegt nicht an der Mama, das liegt an mir!“ Anja hob den linken Arm und fuchtelte mit Momo dem Molerat vor seiner Nase herum, ohne dabei trotz gedämpfter Stimme die dazugehörigen und von ihr längst perfektionierten Grunz- und Schnüffellaute zu vernachlässigen. „Momo bringt die kleine Fanni immer gut in den Schlaf, das ist nämlich meine Aufgabe, jawohl! Und dich, Regi, bringt Momo jetzt ins Bett zur Mama, das ist nämlich auch manchmal meine Aufgabe!
    „Na gut, wenn Momo das sagt...“ Regis gab Anja einen Kuss, und für den kurzen Moment ihrer Berührung waren die Sorgen des Tages vergessen. Beim Ablegen des Mantels und Aufschnüren der Schuhe allerdings musste er schon wieder an den Abend im Rathaussaal zurückdenken.
    „Sag mal, das Pärchen, das da mit uns am Tisch saß... Ansgar hat mir erzählt, dass die gar nicht eingeladen waren.“
    „Dieser Blonde?“, hakte Anja flüsternd nach. Sie war bereits unter das Laken geschlüpft und schaute ihm dabei zu, wie er sich Stück für Stück seiner Kleidung entledigte.
    „Genau. Der und die von den südlichen Inseln. Zumindest sah sie so aus, als ob sie da herkommt.“
    „Ja, die saßen uns ja gleich gegenüber. Und die sollen gar nicht eingeladen gewesen sein? Aber wie sind die dann überhaupt reingekommen?“
    „So schwierig ist das wahrscheinlich gar nicht“, vermutete Regis. „Ansgar hat ja nicht die ganze Zeit am Eingang gestanden. Und wenn sie schon ins obere Viertel reingekommen sind... Bürger der Stadt sind die doch bestimmt nicht.“
    „Aber wer macht denn sowas?“ Sichtlich verblüfft hatte sich Anja im Bett aufgerichtet. „Ich meine, man geht doch nicht einfach so zu einer fremden Hochzeit, von Leuten, die man gar nicht kennt. Das ist ja merkwürdig.“
    „Ansgar hat vermutet, dass sie vielleicht einfach nur mal so richtig festlich essen wollten. Was anderes haben sie ja auch nicht gemacht. Deswegen hat mich Ansgar jedenfalls zu sich geholt. Er wollte, dass ich ein bisschen aufpasse, ob sie irgendwas Verdächtiges anstellen. Aber mir ist nichts aufgefallen.“
    „Mir auch nicht“, murmelte Anja. „Ein bisschen merkwürdig fand ich die ja aber schon. Ich hab mich gleich gefragt, woher Lutero die wohl kennt. Die haben auch den ganzen Abend nichts zu uns gesagt.“
    Wir ja auch nicht zu ihnen, dachte Regis, aber er wollte es lieber nicht aussprechen. Nach der Unterredung mit Ansgar hatte er selbst schließlich auch ganz bewusst Abstand von einem Gespräch mit den beiden Fremden genommen.
    „Deshalb warst du so ein bisschen komisch den Abend über“, sagte Anja.
    Vor Erschöpfung laut aufseufzend ließ sich Regis ins Kissen fallen. Endlich war er im Bett angekommen, dort, wohin er sich den Tag über schon des Öfteren gewünscht hatte.
    „Das hat mich eben beschäftigt, ist ja klar.“ Dass es sich dabei nicht um die ganze Wahrheit handelte, behielt er lieber für sich. Wenn er jetzt von seinem nach wie vor beängstigenden Zitteranfall anfing, dann würde sie das wohl so sehr beunruhigen, dass sie gar nicht mehr in den Schlaf finden würde – und er selbst dann am Ende vermutlich auch nicht.
    „Ja, ist ja auch ’ne echt komische Sache.“ Anja schmiegte sich an seine Brust, und er hatte das Gefühl, dass sie mit den Gedanken schon wieder ganz woanders war. „Aber weißt du, womit du dich jetzt mal beschäftigen könntest? Ich wüsste da was...“
    Ihre rechte Hand verschwand unter der Bettdecke, und kurz darauf wusste es auch Regis.
    „Nicht mit dem da im Bett!“ Er nickte mit dem Kopf in Richtung des rosa Wolltiers, das noch immer über Anjas linke Hand gestülpt war und es sich auf der Decke direkt über seinem Brustkorb gemütlich gemacht hatte.
    Molerats brauchen manchmal auch ein bisschen Liebe, weißt du?“ Griemelnd ließ Anja das Molerat in Regis’ Nase beißen, bevor sie sich das Lachen nicht mehr verkneifen konnte. „Ich glaub, ich muss echt aufpassen, dass ich nicht irgendwann noch mal mit denen auf die Straße gehe. Sonst bin ich bald für alle nur noch die verrückte Handpuppenspielerin.“
    Regis war eigentlich viel zu müde für solche Späße, und als Anjas rechte Hand wieder das Ruder übernahm, spürte er, wie sich jede schmerzende Faser seines Körpers gegen die anstehende Anstrengung sträubte. Er wollte schlafen, wollte das Ziehen im Nacken wegschlafen, das Drücken im Rückgrat, das unruhige Kribbeln aus seinen Fingern wegschlafen. Er wollte all die Sorgen und Ängste, die er nicht so recht einzuschätzen wusste, vom Schlaf ordnen lassen. Er wollte Ruhe, einfach ein bisschen Ruhe.
    Aber dann blickte er in Anjas liebe Augen, sah ihr verschmitztes Lächeln und ihre vor Belustigung und Vorfreude gekräuselten Lippen, und plötzlich war jede Faser seines Körpers nur noch dazu da, ihn spüren zu lassen, dass sie die wunderbarste verrückte Handpuppenspielerin war, die es geben konnte auf dieser Welt. Für Anja war keine Anstrengung zu groß. Und vor allem nicht diese.
    Wie von selbst schlangen sich seine Arme um ihren Hals, legten sich seine Lippen auf ihre Lippen, tastete seine Zunge nach ihrer Zunge. Wen kümmerten schon all die Leute da draußen, ob sie nun vor der Haustür lauerten oder sich im Geheimen die Münder über ihn fusselig redeten? Solange Anja bei ihm war, solange sie ihn hielt und küsste und sie gemeinsam waren, solange war das alles nicht von Bedeutung.
    „Ich liebe dich“, wisperte sie.
    „Ich liebe dich“, flüsterte er.
    Ich liebe euch beide“, grunzte Momo das Molerat.

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    Deus Avatar von Laidoridas
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    Regis war niemand, der am Morgen lange Zeit im Bett verbrachte. Wenn er sich nach dem Erwachen auch noch so unausgeschlafen und zerschlagen fühlte, und selbst wenn sich Fanni ab und an einmal als echte Langschläferin erwies, so übernahm doch immer rasch ein innerer Drang die Kontrolle, der ihn wieder auf die Füße beförderte. Mit Nichtstun war ja auch nichts zu erreichen, und Arbeit gab es immer genug – da war auch dieser Morgen keine Ausnahme. Gestern vor der Feier hatte er gerade einmal einen der Milizenstiefel fertig bekommen, sodass ihm immer noch achteinhalb Paar bevorstanden. Und bei Carmens Schuhen würde er natürlich noch einmal ganz von vorne anfangen müssen, daran wollte er am liebsten gar nicht denken. Aber so sehr die Arbeit auch drängte, an diesem Morgen war ihm nach nichts anderem zumute, als sich an Anja zu kuscheln und die Wärme des Bettes zu genießen. Vielleicht war es die Erschöpfung, vielleicht aber auch die Angst vor dem, was seine Hände machen würden, sobald er sie nicht mehr unter sein Kopfkissen quetschte. So lange er so liegen blieb, so lange konnte der vergangene Abend bloß ein übler Traum gewesen sein.
    „Ich musste gerade an Carmen denken“, sagte er nach einer Weile halb ins Kissen hinein, und fügte, bevor Anja auf falsche Gedanken kommen konnte, rasch hinzu: „Sie will ja zum Festland, und ihre Schwester besuchen.“
    „Meinst du, du bekommst die Schuhe bis dahin nicht fertig?“, murmelte Anjas nahes Gesicht halblaut zurück. „Ist es wegen mir? Weil du mir –“
    „Nein, das meine ich gar nicht“, wiegelte Regis ab und strich ihr beruhigend eine Strähne aus dem Gesicht. „Ich dachte nur... meinst du, wir können nicht irgendwann auch mal deine Familie in Montera besuchen gehen? Also, nicht jetzt bald, aber... vielleicht im nächsten Jahr...“
    Ihre Miene verhärtete sich umgehend, und er bereute es schon, das Thema überhaupt angeschnitten zu haben. Manchmal blockte sie dann völlig ab, aber in so kuscheliger Stimmung hielt das Schweigen nur wenige kurze Augenblicke an.
    „Du weißt, dass ich das nicht möchte. Und meine Eltern möchten das auch nicht, glaub mir.“
    „Aber es war doch dein Vater, der dich rausgeschmissen hat, oder? Was ist denn mit deiner Mutter, und mit deiner Schwester? Meinst du nicht, die vermissen dich?“
    Die Traurigkeit hatte nur für einen Moment in ihren Augen gelegen, beim nächsten Wimpernschlag war sie schon wieder weg. Aber Regis hatte sie bemerkt, und er kannte sie schon.
    „Du weißt ja nicht, wie sie sind. Die machen nur, was mein Vater ihnen befiehlt.“
    „Ich dachte nur... es wär doch ganz schön, wenn Fanni mal Opa und Oma und ihre Tante kennenlernen würde. Menschen können sich ja auch verändern. Erst recht, wenn so eine kleine Fanni ins Spiel kommt.“
    Sie seufzte, und ihre warme Hand strich sanft über seine Wange. „Regis, ich wünschte wirklich, du hättest recht. Aber manche Sachen ändern sich nicht mehr. Wir sollten einfach mit dem glücklich sein, was wir haben.“
    „Ich bin ja auch glücklich. Ich dachte nur...“
    „Ich versteh schon“, sagte sie. „Aber lass uns jetzt nicht darüber reden, okay?“
    „Okay.“ Regis wusste, wann es keinen Zweck mehr hatte, und er wollte sie nicht wütend auf ihn machen. Nach allem, was sie ihm über ihren Vater erzählt hatte, konnte er es ihr auch nicht verdenken, dass sie ihn nicht mehr in ihrem Leben haben wollte. Und ganz sicher war er sich ja selbst nicht, ob er diesen Menschen wirklich kennenlernen wollte, der Anja ohne Hab und Gut aus ihrem Zuhause vertrieben hatte, nur weil sie dem Sohn des wohl verfeindeten Nachbarsbauern ein bisschen zu nahe gekommen war. Regis ärgerte sich ein wenig über sich selbst, weil ihm der Gedanke an diesen Nachbarsjungen jedes Mal einen kleinen eifersüchtigen Stich versetzte, so lächerlich es auch war. Anja gab ihm nun wirklich keinen Grund zur Annahme, dass sie noch besonders häufig an ihn dachte, und musste er diesem Kerl nicht sogar dankbar sein? Schließlich hatte er Anja ja über mehrere Umwege letztlich in seine Arme getrieben. Der Gedanke, dass Anja noch immer auf dem Hof ihres Vaters versauern könnte und ihm selbst womöglich niemals begegnet wäre, der war jedenfalls ein noch deutlich unangenehmerer.
    „Wir müssen so langsam mal aus den Federn“, sagte Anja und streckte sich. „Und Fanni auch, sonst kommt sie heute Abend nicht in den Schlaf. Mal sehen, wer von euch Tieren weckt sie denn heute auf...“
    Regis war froh, dass sie ihre gute Laune schon wiedergefunden hatte, als sie in dem kleinen Berg aus Handpuppen herumwühlte, der auf dem Nachttisch aufgetürmt war. Und er wusste etwas, womit er sie bestimmt in noch bessere Stimmung versetzen konnte.
    „Sag mal, was du da gestern meintest... dass du mit den Puppen besser nicht auf die Straße gehen solltest... Vielleicht solltest du genau das doch mal machen.“
    Verwundert drehte sie den Kopf zu ihm um. „Wie meinst du das denn jetzt?“
    „Naja, ich finde, du machst das richtig gut. Also nicht nur das Stricken, sondern auch wie du die Tiere sprichst und alles...“
    „Achja?“, erwiderte sie grinsend. „Da warst du gestern Nacht aber noch ganz anderer Meinung.“
    „Es kommt eben auch auf den richtigen Zeitpunkt an“, entgegnete er mit verdrehten Augen. „Jedenfalls... vielleicht solltest du da wirklich mehr draus machen. Fanni ist ja fast noch zu klein, um das richtig zu schätzen zu wissen. Aber wie viele Kinder gibt es denn in Khorinis mittlerweile? Da kommen doch bestimmt genug Zuschauer zusammen für so ein kleines Handpuppentheater. Und genug Puppen hast du ja wohl auf alle Fälle.“
    Anja schien mit so einem Vorschlag im Leben nicht gerechnet zu haben, aber hinter der Verblüffung blitzte auch schon deutlich sichtbar die Begeisterung aus Anjas strahlenden Augen hervor.
    „Meinst du wirklich, Regi? Vielleicht... auf dem Marktplatz oder so?“
    „Zum Beispiel“, sagte Regis. „Vielleicht lässt dich ja einer der Händler seinen Stand in eine kleine Bühne umbauen.“
    „Ja – und – also, Hannas Kinder würden bestimmt kommen, die sind ja in genau dem richtigen Alter. Die drei von Sonja auch, die Große von Edda... dann noch Fenias Jungs...“
    „Es sind auf jeden Fall genug, dass es sich lohnen würde“, befand er. „Und du würdest das bestimmt ganz toll machen.“
    „Vielleicht machen ja auch Sarah und Lucy mit.“ Anja war längst aus dem Bett gesprungen und hatte voller Tatendrang damit begonnen, sich einzukleiden. „Lucy hat ja letztens auch mal eine Handpuppe gestrickt... auf jeden Fall können sie bei der Planung mithelfen...“
    Sie schnappte sich das erstbeste Tier aus dem Handpuppenberg und piepste mit fiepsiger Fistelstimme: „Und ich übernehme dann die Hauptrolle!
    „Ferdinand Fleischwanze? Na wenn du meinst.“
    „Du hast echt die besten Ideen, Regi!“ Fröhlich hüpfte Anja in ihre Pantoffeln. „Ich werd gleich den anderen davon erzählen! Also, gleich nach dem Frühstück, meine ich.“
    Da war er wieder, dieser innere Drang – verspätet zwar, aber irgendwann kam er immer. Ächzend hievte Regis seinen schmerzenden Körper aus dem Bett, stieg in seine eigenen Hausschuhe und schlurfte in Richtung Herd.
    „Weck du erst mal Fanni auf. Ich kümmer mich schon um das Frühstück.“

    Langsam, ganz langsam näherte sich die unruhig vibrierende Spitze des Fadens erneut der schmalen Öffnung. Einmal verfehlte er sie, ein zweites Mal blieb er an der Kante hängen, und beim dritten Mal...
    „Na endlich“, seufzte Regis auf. Er konnte es nicht fassen, dass er bestimmt zwei oder drei Minuten gebraucht hatte, um den Faden durch das Nadelöhr zu friemeln. Schon in den letzten Wochen hatte er immer mal wieder Probleme dabei gehabt, aber heute hatte er zwischenzeitlich geglaubt, es überhaupt nicht mehr hinkriegen zu können. Zu sehr bebte seine Hand bei allem was er tat, und das eher noch heftiger als am Vortag. Schon die Zubereitung des einfachen Frühstücks war eine kleine Herausforderung gewesen. Und nun – es war noch keine zehn Minuten her, dass Anja zu ihren beiden Freundinnen aufgebrochen war – nun hatte er gerade erst angefangen zu arbeiten, und schon stand ihm der Schweiß auf der Stirn.
    „Fanni – was machst du denn da schon wieder!“
    Hektisch zog Regis den Faden noch ein kräftiges Stück weiter durch das Öhr – er wollte die Prozedur für diesen Schuh auf keinen Fall noch einmal über sich ergehen lassen müssen – und ließ Nadel und Faden fallen, um zu seiner Tochter hinüberzueilen, die sich im Teppich festgebissen hatte. Ärgerlich riss er sie vom Boden und wischte ihr die Wollreste vom Mund.
    „So langsam müsstest du doch alt genug sein, um nicht einfach überall reinzubeißen! Der schöne Teppich!“
    Der schöne Teppich war zwar eigentlich nur ein fleckiges und nicht besonders ansehnliches Schafsfell, das sie günstig vom Schlachter Alwin bekommen hatten, aber trotzdem war er ja nicht dazu da, von Fanni zum Vergnügen zerfleddert zu werden.
    „Pass auf, du kommst jetzt mal auf meinen Schoß, und dann kannst du mir zugucken, wie ich das Futter hier festnähe.“
    Er hatte Fanni gerade in Position gebracht und sich das Leder gegriffen, da klopfte es an der Tür. Es war ein so zaghaftes Klopfen gewesen, dass er sich im ersten Moment nicht sicher war, ob er es sich nicht bloß eingebildet hatte, aber kurz darauf klopfte es erneut, diesmal ein klein wenig fester.
    Unter einigem Stöhnen richtete sich Regis auf, setzte seine Tochter wieder auf dem Boden ab und ließ seinen Besucher herein.
    „Hallo... guten Morgen, Meister Regis.“
    Der verfroren wirkende schmale Mann mit der dicken Pelzmütze auf dem Kopf war bestimmt zehn Jahre jünger als er selbst. Er konnte sich nicht daran erinnern, ihn schon einmal gesehen zu haben, aber seit die Schiffe nach dem Ende des Krieges wieder fuhren, waren neue Gesichter auch nichts Ungewöhnliches mehr.
    „Das Meister ist nicht nötig“, sagte Regis freundlich und bat den jungen Mann mit einer Geste hinein, bevor er die Tür hinter ihm schloss. „Ich bin ja genau genommen auch gar keiner.“
    „Oh.“ Sein Gast rieb sich mit den Händen die Kälte aus den Wangen und blickte sich dabei aufmerksam im Raum um. „Aber ich bin hier doch richtig. Ihr seid der Schuhmacher?“
    „Genau der bin ich“, bestätigte Regis. „Und früher oder später wird mich der Stadtrat bestimmt auch als Handwerksmeister anerkennen. Aber bis das passiert, gibt es auch noch keinen Grund, mich so zu nennen.“
    „Oh“, machte der junge Mann erneut und guckte dann etwas unschlüssig aus der Wäsche.
    „Das heißt aber natürlich nicht, dass meine Schuhe nicht den höchsten Ansprüchen genügen“, bemühte sich Regis klarzustellen, als er erkannte, dass er es mit der Bescheidenheit vielleicht ein wenig übertrieben hatte. „Du kannst dir sicher sein, dass ich das Schusterhandwerk beherrsche wie kein Zweiter auf dieser Insel. Sollen wir gleich hinüber zur Auslage gehen? Ich kann dir ein paar warme Pelzschuhe empfehlen, die wie gemacht sind für die kalte Jahreszeit, und die auch sicher hervorragend zu deiner Mütze –“
    „Nein, nein, also“, unterbrach ihn sein vermeintlicher Kunde, „also, ich bin eigentlich gar nicht hier, um etwas zu kaufen.“
    „Nicht?“ Regis wurde ein bisschen misstrauisch. Hoffentlich würde sein Besucher nicht gleich ein paar Hütchen hervorzaubern und sich als einer dieser aufdringlichen Trickbetrüger entpuppen, die gelegentlich am Hafen herumlungerten. Eigentlich schien er dafür aber nicht der Typ zu sein.
    „Nein, ich wollte, also ich wollte fragen...“ Der junge Mann rieb sich ein paar Augenblicke lang die Nase wund, dann blickte er ihm wieder in die Augen und sagte: „Also, ich heiße Jannik, und ich wollte fragen, ob Ihr noch einen Lehrling braucht.“
    Regis seufzte. Solche Anfragen hatte es von Zeit zu Zeit mal gegeben, und er hatte sie immer abgelehnt. An den Gründen hatte sich bis heute auch noch nichts geändert.
    „Tut mir leid, aber ich kann mir keinen Lehrling leisten.“
    Er hatte mit einem enttäuschten Gesicht gerechnet, aber da hatte er die Hartnäckigkeit seines Besuchers wohl unterschätzt.
    „Aber... Ihr seid der einzige Schuhhändler hier auf Khorinis. Jeder kennt Euch – Ihr habt doch ganz viele Kunden, oder etwa nicht? Ihr müsst doch genug Geld verdienen, um einen Lehrling einstellen zu können.“
    Regis hatte nun wirklich keine Lust, seine finanzielle Situation mit irgendeinem Fremden auszudiskutieren, aber er hatte das deutliche Gefühl, dass nur die Wahrheit seinen Standpunkt verständlich machen würde.
    „Ich habe noch Schulden, die ich abbezahlen muss“, sagte er. „Das sollte zwar demnächst erledigt sein, aber bis dahin möchte ich kein Geld für irgendetwas anderes ausgeben.“
    „Aha“, merkte Jannik auf. „Dann könnt Ihr Euch ja doch bald einen Lehrling leisten? Also, wenn Ihr die Schulden los seid, meine ich?“
    Im Geiste entfuhr Regis ein entnervtes Stöhnen. Einen Teil der Wahrheit hätte er wohl besser aussparen sollen.
    „Ja, aber...“
    „Ihr müsst mir ja nicht sofort etwas bezahlen“, versicherte ihm sein Gegenüber unter aufgeregtem Nicken. „Ich fange erst mal so bei Euch an, und wenn Ihr Eure Schulden los seid, dann könnt Ihr ja anfangen, mir etwas auszuzahlen.“
    „Nein, hör mal“, sagte Regis ruhig. „Ich kann nicht einfach jemanden ohne Bezahlung für mich arbeiten lassen. Und außerdem habe ich dir ja schon gesagt, dass ich gar kein anerkannter Handwerksmeister bin. Der Stadtrat hätte sicher etwas dagegen, wenn ich mir trotzdem einen Lehrling anschaffe.“
    Insgeheim war er sich gar nicht sicher, ob das stimmte. Der Stadtrat hatte sich bisher reichlich wenig mit ihm befasst und schien eine Menge wichtigere Probleme zu haben als einen Schuhmacher, der vielleicht nicht das richtige Papier an der Wand kleben hatte. Aber die Vorstellung, jemand Fremden im Haus zu haben, der ihn die ganze Zeit bei der Arbeit beobachtete, die wollte ihm einfach nicht so recht gefallen. Besonders nicht, wenn er daran dachte, wie schwer er sich bei seiner Arbeit im Augenblick tat.
    „Aber... aber...“ Jannik knetete verzweifelt die Hände und schaute betreten zu Boden. „Aber... ach verdammt...“
    „Tut mir wirklich leid“, sagte Regis, der nun wirklich ein bisschen betroffen war. „Vielleicht hat ja ein anderer Handwerksmeister...“
    „Die haben alle schon Lehrlinge, das wisst Ihr doch bestimmt selbst“, kam es prompt zurück. „Ihr wart meine einzige Hoffnung. Jetzt schickt mich meine Mutter auf den blöden Hof von diesem alten Bauern Lobart, und dann muss ich da den ganzen Tag Rüben pflücken bis zum Rest meines Lebens, und – und –“
    „Jetzt warte mal.“ Regis fasste ihn vorsichtig bei der Schulter, ließ ihn aber gleich wieder los, als ihm bewusst wurde, wie sehr seine Hand bebte. „Immer mit der Ruhe. Du willst also lieber Schuhe herstellen als Rüben pflücken, ja?“
    „Ja.“ Es war Jannik gleich anzusehen, dass er wieder Hoffnung schöpfte. „Also, Schuhe herstellen, Schuhe verkaufen, Schuhe reparieren, Schuhe putzen... ist mir alles ganz gleich. Ich mag Schuhe, ehrlich!“
    „Na gut, na gut.“ Regis atmete geräuschvoll aus. Wahrscheinlich war das eine dieser Entscheidungen, die er gleich wieder bereuen würde. „Du kannst ja erst mal probeweise ein paar Sachen bei mir machen, und ich geb dir ein paar Münzen dafür. In Ordnung? Aber ob du dann mein Lehrling wirst, das müssen wir noch sehen.“
    „Natürlich – ja, natürlich, vielen Dank, Herr Regis!“ Überschwänglich schüttelte er ihm die Hand, was Regis zu seinem Erschrecken einige Schmerzen bereitete. „Ich werde Euch nicht enttäuschen, versprochen!“
    „Ja, mal schauen“, murmelte Regis. „Aber hör bitte mit dem Ihr auf, in Ordnung? Wir sind hier ja nicht im oberen Viertel.“
    „Oh – okay, natürlich, kein Problem!“, versicherte Jannik, zupfte sich die Mütze vom Kopf und legte sie auf einer Regalplatte ab, bevor er die Knöpfe seines Mantels löste. „Also, wo soll ich anfangen?“
    „Jetzt gleich?“, entfuhr es Regis. „Puh, na gut, also...“
    Du könntest meine Tochter beschäftigen, dachte er, aber das war natürlich keine angemessene Aufgabe für seinen möglicherweise zukünftigen Lehrling.
    „Gut, ich weiß, was du machen kannst. Siehst du da drüben die Kiste mit den Schuhen? Die sind noch vom letzten Winter, aber jetzt kommen wir langsam in die Zeit, in der die sich wieder gut verkaufen. Oben im Regal dort drüben findest du den Messstock, damit kannst du die Schuhgröße messen. Und dann nimmst du eins von den leeren Schildchen da auf dem Tisch und schreibst die Größe drauf. Schön groß und leserlich. Alles verstanden?“
    „Ich glaube schon“, sagte Jannik. „Und wenn nicht, dann frage ich dich einfach.“
    „Gut. Aber ich brauche Ruhe bei der Arbeit, also stör mich bitte nur, wenn es auch einen Grund dafür gibt.“
    Fünf Minuten später begann Regis seine Entscheidung zu bereuen. Zwar konnte er Jannik keinen Vorwurf machen – der junge Mann hockte ruhig und offenbar hochkonzentriert in der anderen Ecke der Werkstatt und ließ ihn ganz in Ruhe arbeiten – aber allein, dass da jemand mit ihm im Raum war, der immer mal wieder zu ihm herüberschauen konnte – und bemerken konnte, dass er sich beim simplen Zusammennähen zweier Lederstücke mit seinen zittrigen Fingern so abkämpfen musste, dass ihm der Schweiß von den Schläfen perlte – allein diese ständigen Gedanken waren es, die ihn wünschen ließen, er hätte das Klopfen vorhin einfach überhört.
    Irgendwann wurde ihm klar, dass er so nicht weitermachen konnte. Die Nadelspitze landete mal hier, mal dort, aber nie da, wo er sie haben wollte. Er beschloss, das Nähen auf später zu verschieben und stattdessen damit anzufangen, die wichtigsten Lederteile einzeln an die Sohle zu nageln. Vernähen ließen sie sich dann auch noch zu einem späteren Zeitpunkt, und obwohl das ein eher unübliches Vorgehen war, schien es ihm in Anbetracht der Umstände das sinnvollste zu sein. Hauptsache, er musste sich erst einmal nicht mehr mit der verfluchten Nadel herumquälen. Tatsächlich lag ihm der Hammer gleich ein wenig sicherer in der unruhigen Hand als zuvor die Nadel, die kurzen Nägelchen allerdings rutschten ihm immer wieder zwischen den Fingern durch. Das Herz donnerte ihm heftig in der Brust, als er einen kurzen Blick aus dem Fenster warf und bemerkte, dass die Sonne schon beinahe ganz oben am Himmel stand. Fast Mittag, und er hatte bloß die allerkleinsten Fortschritte beim ersten Stiefel des Tages gemacht! Er versuchte, die beängstigenden Gedanken nicht zu sehr an sich heranzulassen, die unablässig um seine Aufmerksamkeit buhlten, aber er war zunehmend weniger erfolgreich darin. Es war offensichtlich, dass sein ständiges Zittern nichts mehr mit bloßer Angespanntheit zu tun hatte. Schon früher war er angespannt gewesen, manchmal sogar rasend aufgeregt. Sicher hatten dann auch seine Hände gelegentlich ein wenig gezittert, aber niemals so sehr wie in den letzten Tagen. Und hatte diese schleichend ansteigende Unruhe seines Körpers, hatten diese erst kleinen, bald größeren Nachlässigkeiten während der Arbeit nicht schon vor vielen Wochen begonnen? Auch seine Schmerzen im Rücken, das Ziehen in den Gelenken, die merkwürdig krumme Haltung, die er selbst manchmal an sich bemerkte... war all das tatsächlich bloß mit dem hohen Arbeitsaufwand zu erklären, die der Großauftrag für die Stadtwache neben den vielen kleineren Aufträgen für ihn bedeutete? Der Verdacht, der sich spätestens seit dem vergangenen Abend immer häufiger an ihn geheftet hatte wie eine feindselige Klette, der ließ sich nicht mehr so leicht abschütteln. Der Verdacht, dass er nicht nur irgendeine anstrengende Phase durchmachte, sondern dass es etwas ganz anderes war, das ihn zittern und ächzen und leiden ließ. Nichts, was von selbst wieder gehen würde. Nichts, was sich aus eigener Kraft überstehen ließ. Nichts, was nur lästig war. Etwas Ernstes. Eine Krankheit.
    „Soll ich aufmachen?“
    Regis schnappte nach Luft und blickte auf. Einen Moment lang starrte er Jannik verständnislos an, dann hörte er das laute Klopfen selbst. Er wusste nicht zu sagen, wie er das nicht hatte mitbekommen können.
    „Nein... nein, lass nur, ich mach schon.“
    Grundsätzlich gefiel ihm der Gedanke, dass Jannik den Kunden in Zukunft die Tür aufmachen könnte, ohne dass er von seinem Hocker aufstehen musste, gar nicht so schlecht. Die ständigen Unterbrechungen während der Arbeit konnten manchmal störend sein, und viele Gespräche ließen sich auch genauso gut im Sitzen führen. Aber dieses ganz spezielle energische Klopfen glaubte er wiedererkannt zu haben.
    „Guten Tag, Regis“, begrüßte ihn Lehmar ein paar Schritte später und bestätigte damit seine Befürchtungen. Der Geldverleiher wohnte zwar schräg gegenüber von ihm und war damit fast so etwas wie ein Nachbar, aber wenn er vor seiner Tür stand, dann ging es immer um Geschäftliches. Und das konnte nichts Gutes zu bedeuten haben.
    „Hallo Lehmar“, erwiderte er die Begrüßung. „Was gibt es?“
    „Ich will es kurz machen, Regis.“ Das war eine von Lehmars Lieblingsfloskeln. Und sie hatte auch nie etwas Gutes zu bedeuten. „Wie du weißt – ah, wer ist denn der junge Kerl da bei dir in der Werkstatt? Sag bloß, du hast einen Lehrling aufgenommen.“
    Regis hatte ganz bewusst darauf verzichtet, den Geldverleiher hineinzubitten – und das nicht bloß, weil er es genoss, ihn als Rache für seine ungebetenen Besuche wenigstens ein bisschen in der Kälte frieren zu lassen. Aber einen Blick in die Werkstatt hatte Lehmar natürlich erhaschen können, und Jannik saß ganz in der Nähe der Tür.
    „Er... ist nicht wirklich ein Lehrling“, stellte der Schuhmacher mit stolpernder Stimme klar. „Er macht nur ein paar Sachen für mich, auf Probe.“
    „Du planst schon für die Zukunft, was, Regis?“ Lehmar klopfte ihm mit steifem Grinsen ein paar Mal auf die Schulter, und ein kleines Wölkchen aus Werkstattstaub stieg auf. „Immer einen Schritt voraus – sehr gut, Regis, sehr gut!“
    „Wie gesagt, er ist nicht –“
    „Aber lass uns zum Geschäftlichen kommen.“ Lehmar öffnete den obersten Knopf seines Mantels und zog aus einer Innentasche ein zusammengerolltes Stück Pergament hervor, das er Regis in die Hand drückte. „Das sind die neuen Konditionen.“
    „Neue Konditionen? Was soll das heißen?“
    „Ach Regis“, seufzte Lehmar und hob entschuldigend die Arme. „Goldkrise in Bakaresh, Mineneinsturz in Nordmar – du verstehst schon, das geht nicht spurlos an mir vorbei. Aber du bist ja ein Mann der Tat, Regis. Du kommst mit Herausforderungen zurecht.“
    „Das kannst du nicht machen!“, stieß Regis hervor, und hätte nicht zufällig Fanni im gleichen Moment von hinten an seinem Hosenbein gezogen, er wäre Lehmar vielleicht an den Hals gegangen. „Du kannst nicht schon wieder die Zinsen erhöhen! Ich werde zum Stadtrat gehen – du kannst dir nicht alles erlauben, du bist an Gesetze gebunden – !“
    „Glaub mir, mein lieber Regis“, sagte Lehmar verbissen lächelnd, „die Gesetze kenne ich ein bisschen besser als du. Aber du sorgst dich ganz umsonst, die Zinsen sind die gleichen geblieben.“
    Regis stutzte. Anstatt weiter nachzufragen, entrollte er kurzerhand das Pergament und schaute selber nach, was sich geändert hatte.
    „In... in vier Tagen? Das kannst du nicht ernst meinen!“
    „Wenn es um das Geld meiner Kunden geht, dann scherze ich nicht. Das verbietet die Berufsehre.“ Er grinste wieder, diesmal offensichtlich ehrlich belustigt von seinen eigenen Worten. „Ich sehe mich leider dazu gezwungen, eine größere Investition vorzunehmen, und dazu brauche ich meine restlichen neuntausend Münzen von dir. Und zwar alle. Und zwar schnell. Andernfalls... ich glaube nicht, dass wir das noch einmal besprechen müssen, habe ich recht, Regis?“
    Natürlich wusste er zu gut, was unter dem Punkt Vertragsstrafe stand – und daran schien sich auch nichts geändert zu haben. Für den Fall einer nicht fristgerechten Zurückzahlung war eine Strafzahlung in Höhe von dreißigtausend Goldmünzen vorgesehen. Das bedeutete, dass er weiterhin bei Lehmar in der Kreide stehen würde, tiefer als je zuvor, womöglich über Jahre hinweg. Er würde wieder ganz am Anfang stehen.
    „Also schön, dann wäre das ja geklärt.“ Lehmar klatschte in die Hände. „Aber nun lass mich dich nicht länger aufhalten – ich könnte mir vorstellen, dass du einiges um die Ohren hast. Frohes Schaffen, Regis!“
    Als er dem Geldverleiher fassungslos dabei zu sah, wie er gemütlich zu seinem eigenen Haus hinüberging, da wusste er für eine Weile nicht, ob die Wut oder die Verzweiflung in ihm überwog. Dann aber hörte er die Schmatz- und Kaugeräusche aus der Richtung seiner Füße und die Antwort kam von ganz allein.
    Lass verdammt nochmal meine Socken in Ruhe, Fanni!
    Viel zu ruppig riss er sie von seinen löchrig gewordenen Socken weg, die Anja erst vorletzte Woche für ihn gestrickt hatte, stieß die Haustür wieder zu und stürmte mit großen Schritten in den Wohnbereich, wo er Fanni ins Bett fallen ließ. Mit großen Augen guckte ihn seine Tochter von dort aus an, während ihr ein kleiner abgebissener Sockenfetzen aus dem Mundwinkel purzelte. Bevor er sie noch einmal anschreien konnte, wandte er sich ab, schmiss den verfluchten Vertrag in die Ecke und kehrte in den Werkstattbereich zurück, wo er sich den Hammer nahm und mit aller Kraft ein paar schiefe Nägel in die Sohle schlug.
    „Ähm... Herr Regis?“, drang es nach einer Weile vorsichtig an sein Ohr.
    „Was ist denn?“, blaffte er zurück und ballte die zitternde Hand um einen Nagel zusammen, den er nicht zu greifen bekommen wollte.
    „Ich glaube, ich bin dann mit allem fertig.“
    Er war kurz davor, eine weitere patzige Antwort zu geben, riss sich aber gerade noch rechtzeitig zusammen. Jannik konnte ja auch nichts dafür, dass er sich einen sehr ungünstigen Tag ausgesucht hatte, um seine Lehre auf Probe bei ihm zu beginnen.
    „In Ordnung, deine Schrift ist gut zu lesen“, sagte er, als er die Schuhgrößenschildchen besah, die Jannik an den Schuhen befestigt hatte. „Aber die Zahlen kann man ausschreiben.“
    Verwundert blickte ihn der junge Mann an. „Ja, man könnte schon, aber... man kann’s doch auch so lassen, oder?“
    „Wenn ich sage: Man kann sie ausschreiben, dann meine ich: Man schreibt sie auch aus. Das habe ich schon immer so gehalten.“
    „Achso“, erwiderte Jannik. „Na gut. Das konnte ich ja nicht wissen. Dann – dann werde ich sie gleich neu schreiben, das ist ja kein Problem.“
    „Weißt du was?“, seufzte Regis beim Anblick des verunsicherten Lehrlingsanwärters. „Mach erst mal Schluss für heute. Du hast ja sicher gemerkt, dass mich gerade ein paar andere Sachen beschäftigen. Vielleicht habe ich morgen mehr Zeit für dich.“
    „Oh... ja, gut, wenn du meinst.“
    Jannik beeilte sich, wieder in seinen Mantel zu schlüpfen, und nahm sich seine Mütze von der Regalplatte.
    „Ja, also... dann sieht man sich morgen. Äh, in alter Frische.“
    „In Ordnung“, sagte Regis. „Bis morgen, Jannik.“
    Bevor sein neuer Mitarbeiter dazu kam, die Tür zu öffnen, schlug sie ihm auch schon entgegen. Der junge Mann machte einen kleinen Satz zurück.
    „Da bin ich wieder, Re–“ Anja blieb mitten im Wort hängen und starrte Jannik einen langen Augenblick an, bevor sie Regis ansah und fragte: „Wer ist denn das, Regis? Ein Kunde von dir?“
    „Ich bin sein neuer Lehrling“, stellte sich Jannik höflich vor. „Jannik ist mein Name. Wir werden uns ja jetzt bestimmt noch häufiger über den Weg laufen.“
    „Aha“, sagte Anja. „Gut zu wissen.“
    „Jannik, ich habe dir doch gesagt, dass du noch kein richtiger Lehrling bist“, seufzte Regis. „Du kannst erst mal auf Probe ein paar Sachen für mich machen, aber...“
    „Ja, natürlich, das versteh ich doch“, versicherte der junge Mann. „Ich bin dir wirklich sehr dankbar, dass du mir eine Chance gibst, Herr Regis. Bestimmt werden wir alle gut miteinander auskommen.“
    „Du wolltest gerade gehen, nehme ich an?“ Anja öffnete die Haustür noch ein Stückchen weiter.
    „Ge- genau, ja. Dann bis morgen, Regis! Man sieht sich, Frau...“
    „Anja“, sagte Anja.
    „Ah. Frau Anja, natürlich! Bis morgen!“
    Kaum hatte er das Haus verlassen, schlug sie auch schon die Tür hinter ihm zu.
    „Du magst ihn nicht, oder?“, fasste Regis das Offensichtliche in Worte.
    „Keine Ahnung. Ich meine, ich kenne ihn doch gar nicht. Aber ein Lehrling? Was soll denn das, Regis? Können wir uns das überhaupt leisten? Und hättest du das nicht wenigstens mit mir absprechen können?“
    „Es war ja nicht geplant“, verteidigte er sich. „Er hat gefragt, und ich konnte ihm seine Bitte einfach nicht abschlagen. Außerdem ist er ja gar kein richtiger Lehrling, das habe ich ihm auch unmissverständlich klar gemacht.“
    Anja schien mit dieser Erklärung nicht besonders zufrieden zu sein. Mit verkniffener Miene ging sie zum Wohnbereich hinüber, um der im Bett strampelnden Fanni einen Knutscher zu verpassen.
    „Mir gefällt es einfach nicht, dass wir dann dauernd einen Fremden im Haus haben“, sagte sie, als sie zu Regis zurückkehrte. „Vor allem nicht, wenn Fanni hier ist. Und sie kann nicht jeden Tag bei Gritta sein.“
    „Ich weiß schon, was du meinst.“ Vorsichtig griff er ihre Arme und zog sie ein bisschen näher zu sich heran. „Aber der arme Junge wird Fanni schon nichts antun. Der ist doch bloß froh, dass er eine Lehrlingsstelle bekommen hat. Oder zumindest etwas Ähnliches.“
    „Er ist trotzdem ein Fremder“, sagte Anja, aber er sah ihr an, dass sie jetzt beinahe nur noch aus Prinzip schmollte. „Und deine Werkstatt hier ist nun mal gleichzeitig auch unser Zuhause. Ich will nicht, dass sich da jemand... einschleicht. Weißt du, was ich meine?“
    „Das wird er schon nicht. Und vielleicht ist er ja auch bald gar kein Fremder mehr. Pass auf, ich lasse ihn erst mal nur jeden Tag ein paar Stunden hier arbeiten, und dabei behalte ich ihn dann ganz genau im Auge, ja? Wenn mir irgendwas an ihm komisch vorkommt, dann schmeiße ich ihn sofort wieder raus.“
    „Hrmm.“ Anja war offenbar noch nicht ganz überzeugt, aber sie gab ihm einen kurzen Kuss. „Na gut. Ich vertrau dir, das weißt du ja.“
    Regis war froh, dass das Thema damit vorerst aus der Welt geschafft war, aber ein bisschen verstehen konnte er Anjas Sorgen auch. Er war sich selbst noch nicht so sicher, ob er glücklich damit war, dass Jannik nun bis auf Weiteres jeden Tag im Haus sein würde.
    „Und sonst so?“, wollte Anja wissen. „Noch irgendwelche Neuigkeiten?“
    Regis sackte ein Stückchen in sich zusammen. Über die kleine Streiterei wegen des Lehrlings hatte er ganz vergessen, dass sie vom eigentlichen Problem noch gar nichts wusste.
    „Ja.“
    „Keine guten?“
    „Nein“, sagte Regis. „Keine guten.“

    Es war mitten in der Nacht und Regis schlug die Augen auf. Er war direkt hellwach, alles war in seinem Kopf, und er wusste, dass er nicht mehr würde einschlafen können.
    Am Abend hatte er lange mit Anja gesprochen. Sie hatten sich gegenseitig versichert, dass schon alles gut gehen würde. Dass Regis keine vier Tage brauchen würde, um die übrigen Stiefel fertigzustellen und bei der Miliz abzuliefern. Und dann hatten sie sich gegenseitig abgelenkt, bis sie irgendwann eingeschlafen waren. Aber jetzt war Regis wach, hellwach, und Anja war es nicht. Er war allein mit seinen Gedanken. Es war kalt. Und er wusste plötzlich mit großer Gewissheit, dass er es nicht schaffen würde. Keine acht Paar in vier Tagen. Nicht, wenn ihm seine Hände nicht richtig gehorchten.
    Am Morgen würde er es Anja sagen, beschloss Regis, nachdem er sich auf die rechte Seite gewälzt hatte, dann auf die linke, dann wieder auf die rechte. Sie würde es sowieso bald bemerken, das ließ sich gar nicht vermeiden. Und er wollte keine Geheimnisse vor ihr haben. Er wollte nicht, dass es so endete wie bei Bosper.
    Wenn sie erst einmal über das andere, das vielleicht noch größere Problem Bescheid wusste, und wenn sie dann beide gemeinsam überlegten, wenn sie mit vereinten Kräften nach einer Lösung suchten... vielleicht würden sie eine Möglichkeit finden, das Geld noch rechtzeitig zusammen zu bekommen.
    Eigentlich, dachte er, hatte er längst genug Stiefel zusammen, um Lehmar auszubezahlen. Vierzehntausend Goldmünzen hatte ihm Wulfgar für die gesamte Lieferung in Aussicht gestellt, und es fehlten nur noch acht Stiefelpaare. Eigentlich hatte er mehr als genug. Aber er wusste zu gut, dass der Vertrag mit der Stadtwache nur für die gesamte Lieferung galt, für alle fünfzig Paar. Wulfgar hatte sogar einigen Wert auf diese Vereinbarung gelegt. Aber musste er es nicht trotzdem versuchen? Wenn sich Wulfgar umstimmen ließ, wenn er ihm die zweiundvierzig fertig gestellten Paar Stiefel abkaufte, dann würde er genug Gold haben, um sich aus dem Vertrag mit Lehmar freizukaufen. Und vielleicht, wenn ihm diese Last von den Schultern fiel, hatte er dann endlich wieder seine alte Kraft im Rücken und seine Ruhe in den Händen zurück. Vielleicht würde er die übrigen Stiefel dann in kürzester Zeit nachliefern können.
    Plötzlich stand die Entscheidung ganz fest, und es wurmte ihn, dass er nicht gleich am Vortag zur Kaserne gegangen war. Er musste Wulfgar die Situation erklären und ihn um eine Änderung des Vertrags bitten. Der Hauptmann mochte ein etwas bärbeißiger Zeitgenosse sein, aber er würde doch sicher vernünftig mit sich reden lassen. Erst recht, wenn ihm Regis beweisen konnte, dass er den überwältigenden Teil der Abmachung bereits erfüllt hatte. Die Hoffnung war auf einmal so groß, dass er am liebsten aus dem Bett gesprungen und umgehend zur Kaserne gerannt wäre. Vielleicht würde alles doch noch eine gute Wendung nehmen. Vielleicht hatte er sich ganz unnötig den Kopf zerbrochen. Vielleicht...
    Es klopfte dreimal laut an der Tür.
    „Aufmachen, Stadtwache!“
    Im nächsten Moment saß Regis aufrecht im Bett, das Herz unangenehm druckvoll in seiner Brust pulsierend.
    „Regis...?“ Anja quälte sich blinzelnd aus dem Schlaf. „Der... hat doch nicht bei uns geklopft... oder?“
    „Stadtwache, Tür aufmachen!“
    „Einen – einen Moment!“, krächzte Regis mit lauter Stimme durch die Dunkelheit. „Wir kommen sofort!“
    Hektisch tastete er nach der Kerze auf dem Nachttisch und brauchte eine ganze Weile, bis er sie entzündet hatte. Aber der Wachmann vor der Tür schien ihn gehört zu haben und wartete geduldig.
    „Regis, hast du das Fenster aufgemacht?“, flüsterte Anjas Stimme durch das schwach beleuchtete Dunkel.
    „Nein, ich...“
    Regis musste schlucken. Das konnte kein gutes Zeichen sein.
    „Es ist einer eingebrochen“, wisperte Anja und griff nach seiner Hand. „Deswegen ist die Stadtwache hier! Meinst du... meinst du, er ist noch hier drin?“
    „Ruhig“, sagte Regis leise, obwohl er selbst alles andere als ruhig war. Die drei Silhouetten aus der Vornacht schienen plötzlich in jeder Ecke zu lauern. „Wir gehen einfach zur Tür, und dann werden wir schon herausfinden, was los ist. In Ordnung?“
    „Okay.“
    Er hörte, wie sie zischend die Luft einatmete, dann drückte sie seine Hand und machte den ersten Schritt. Im wahnhaft flackernden Kerzenlicht tasteten sie sich an der Absperrwand vorbei in die Werkstatt hinein. Es polterte laut, als Regis mit dem Fuß gegen eine Kiste stieß und irgendetwas Schweres darin umkippte. Und dann, ohne dass sie jemand aus der Schwärze heraus angefallen hatte, legte sich Regis’ zitternde Hand um die Türklinke und drückte sie herunter.
    Loderndes Fackellicht blendete seine schmerzenden Augen. Erst als Anja bereits erschrocken aufgeschrien hatte, erkannte auch Regis, wen der grimmig dreinschauende Stadtwächter in den Armen trug.
    „Das ist doch eure, oder?“
    Anja nickte hastig und nahm Fanni, die sich mit beiden Händen der heißen Fackelflamme entgegen reckte, aus den Armen des Wachmannes entgegen.
    „Solltet besser auf sie aufpassen“, knurrte der Nachtwächter. „Ist mir den ganzen Weg von hier bis zum Südtor hinterher gekreucht. Dachte erst, das ist ’ne Riesenratte oder so’n Vieh. Gut für euch, dass ich immer erst zweimal gucke, bevor ich irgendwas mache.“
    „Sie... war hier draußen auf der Straße?“, brachte Anja hervor und klang dabei so, als ob sie kurz davor war in Tränen auszubrechen – womit sie gar nicht so alleine war.
    „Ja. Ich sag ja, solltet besser aufpassen. Nächstes Mal passiert vielleicht was. Lungern manchmal ’n paar schräge Typen rum hier in der Gegend.“
    Regis musste an das offene Fenster in ihrem Wohnraum denken. Aber konnte Fanni das wirklich alleine geöffnet haben? Er erinnerte sich daran, dass sie schon einmal bis zur Fensterbank geklettert war, und besonders schwierig zu fassen war der Fenstergriff nicht... aber selbst wenn das alles schon irgendwie denkbar war, so gehörte trotzdem noch einiges dazu, damit Fanni sich am Ende tatsächlich draußen auf der Straße wiederfand. So etwas machte ein Kind in ihrem Alter doch einfach nicht.
    „Das Fenster vor unserem Bett war offen“, berichtete Regis dem Wachmann mit bebender Stimme. „Wir... haben die Befürchtung, dass jemand eingebrochen hat. Vielleicht ist Fanni – also, unsere, unsere Tochter – dabei nach draußen geklettert, oder... der Einbrecher hat sie draußen ausgesetzt, oder...“
    „Hmhm. Wenn ihr wollt, komm ich mal eben zu euch rein und schau mir das an“, bot ihnen der Nachtwächer an.
    „Danke“, sagte Regis und kniff im Fackellicht die Augen zusammen, um Fannis rotgelb schimmerndes kleines Gesicht besser erkennen zu können. Verängstigt schien sie nicht zu sein, eher fast ein wenig freudig erregt. Vielleicht, hoffte Regis, war der nächtliche Ausflug für sie nur ein kleines, spannendes Abenteuer gewesen.
    Sie ließen den Stadtwächter eintreten und bemühten sich, rasch so viele Lichtquellen wie möglich zu entzünden, um einen besseren Überblick über die Situation im Haus zu bekommen. Ein Eimer lag umgekippt in der Werkstatt und hatte ein paar Werkzeuge über den Boden verteilt, aber daran war wohl Regis selbst auf seinem Weg zur Tür schuld gewesen. Ansonsten sah alles so aus wie am Abend zuvor. Auch das Fenster im Wohnbereich wies keinerlei Einbruchsspuren auf, wie der Nachtwächter ihnen nach hoffentlich fachkundiger Untersuchung versicherte.
    „Kleine Ausbruchskünstlerin habt’er da“, sagte er, bevor er wieder zur Tür hinaustrat. „Wenn die uns später nicht nochma’ Ärger macht.“
    Regis fand es noch immer schwer zu glauben, dass Fanni tatsächlich mit voller Absicht das Fenster geöffnet haben sollte, um draußen auf der Straße einen Wachmann zu verfolgen, aber im Moment war es die einzige Erklärung, die sie hatten.
    „Vielen Dank, dass du sie uns zurückgebracht hast.“ Anja schenkte dem Wachmann ein schwaches, aber warmherziges Lächeln. „Nicht auszudenken, was sonst noch hätte passieren können.“
    „Keine Ursache. Bin ja auch froh, wenn mal ’n bisschen was los ist auf meiner Schicht. Nacht zusammen.“
    Er nahm sich seine Fackel zurück, die Regis während der Untersuchung für ihn gehalten hatte, nickte ihnen noch einmal zum Abschied zu und trat wieder auf die Straße hinaus. Anja drückte die Tür zu, doch noch bevor sie ins Schloss fiel, hatte Regis plötzlich den Fuß dazwischen. Etwas war ihm ins Auge gefallen, als er dem Wachmann hinterher gesehen hatte. Vielleicht hatte er sich verguckt, vielleicht hatte es nichts zu bedeuten, aber...
    „Eine Sache noch“, rief er ihm nach. Auf der Höhe von Lehmars Haus blieb der Nachtwächter stehen und drehte sich zu ihm um.
    „Ja?“
    Regis trat auf die Straße und ging auf ihn zu. Es kümmerte ihn nicht, dass seine Wollpantoffeln schmutzig werden würden. In seinen Gedanken war nur noch Platz für einen einzigen schlimmen Verdacht.
    „Diese Stiefel, die du da trägst... sind die neu?“
    „Sind’se, ja“, bestätigte der Wächter. „Wurden erst gestern rausgegeben.“
    „Aber... nicht an alle Rekruten, oder? Ich meine...“
    „Doch, doch. Anordnung vom Hauptmann, sollen nur noch die neuen tragen. Die alten war’n braun, die neuen sind rot, ansonsten tut sich nicht viel. Bist der erste, dem das auffällt, glaub ich.“
    Regis spürte den kalten Stein an den Füßen. Und er spürte, wie ihm schwindelig wurde. Er wusste nichts zu sagen auf das, was ihm der Wachmann erzählt hatte.
    „Danke“, sagte er schließlich, als das Schweigen zu lang wurde. „Das war alles, was ich wissen wollte.“

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    Deus Avatar von Laidoridas
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    Es war schon früher Nachmittag, als Regis von seinem Besuch in der Kaserne zurückkam. Wulfgar war nicht gleich zu sprechen gewesen und er hatte drei geschlagene Stunden in der Kälte des Innenhofs ausharren müssen, bis er die Kammer des Hauptmanns hatte betreten dürfen. Endlos lange hatte er die fünf, sechs Rekruten, die an diesem Morgen im Kasernenhof ihre Übungen absolvierten, bei den immer gleichen Schwertschwingern und Ausfallschritten beobachten müssen. Und immer hatte er nur auf ihre Stiefel schauen können.
    Das Gespräch mit Wulfgar war dann, als es erst einmal begonnen hatte, sehr schnell wieder vorüber gewesen.
    „Sie haben mir den Auftrag weggenommen“, sagte Regis, noch bevor er die Haustür ganz hinter sich geschlossen hatte. „Sie haben die Stiefel von einem Händler aus Übersee gekauft. Ich hätte einen Brief bekommen sollen, vor ein paar Tagen schon. Der Bote muss ihn vertrödelt haben.“
    Anja strich langsam und regelmäßig über den Rücken von Fanni, die über ihrer Schulter hing, und sagte lange nichts.
    „Dein Vertrag...“
    „Hat eine Ausstiegsklausel“, sagte Regis. „So hat Wulfgar es genannt. Es tut ihm sehr leid und alles. Die Miliz ist knapp bei Kasse, der Stadtrat hat Druck gemacht. All sowas, du weißt schon.“
    „Das können sie doch nicht machen. Die ganzen Stiefel, die du gemacht hast...“
    „Auf denen bleibe ich jetzt sitzen. Zumindest wenn nicht irgendwer auf dieser Insel in den nächsten paar Tagen seine eigene Stadtwache in den gleichen Farben gründen will.“
    Der laue Witz ödete Regis selbst an, kaum dass er ihn ausgesprochen hatte. Von der Wut im Bauch, die er noch gestern nach dem Gespräch mit Lehmar gespürt hatte, war nichts mehr übrig geblieben. Er fühlte nur noch die große Leere einer vernichtenden Niederlage, bei der er nicht einmal sagen konnte, womit er sie sich verdient hatte. Er hatte wohl einfach Pech gehabt. Zuvor waren eine Menge glücklicher Zufälle zusammengekommen, und nun lief es eben einmal andersherum. Vielleicht war das Gerechtigkeit, dachte er bitter. Und daran ändern ließ sich nun ohnehin nichts mehr. Am Ende entscheiden immer auch die anderen Leute für einen.
    „Regis, ich... du weißt, ich muss jetzt los, ich kann Sarah nicht warten lassen... aber...“ Sie setzte Fanni in seinen Arm, dann legte sie beide Hände auf seine Wangen, führte ihr Gesicht ganz nah an sein eigenes und sagte: „Wenn ich wiederkomme, dann reden wir alles nochmal in Ruhe durch. Wir finden eine Lösung, ganz bestimmt. Wir werden uns nicht noch weiter bei diesem Drecksack Lehmar verschulden, das lasse ich nicht zu. Noch haben wir ein paar Tage Zeit, Regis. Zusammen finden wir eine Lösung.“
    Als sie ihm so nah war und ihm so fest in die Augen schaute, da wollte er es beinahe glauben. Er wollte glauben, dass sie gemeinsam jedes noch so gewaltige Problem aus der Welt schaffen konnten. Aber nie war es ihm so schwer gefallen wie an diesem Morgen.
    Nachdem sie gegangen war, saß er eine Weile lang auf dem Hocker, drückte Fanni an sich und versuchte den Rest zu vergessen. Als das nicht gelang, stand er auf und ging zu dem Tischchen hinüber, an dem Jannik den Vormittag über gearbeitet hatte.
    „Groß schreiben, habe ich gesagt“, murmelte er zu sich selbst beim Anblick der überarbeiteten Schuhgrößenschildchen. „Aber doch nicht in Großbuchstaben...“
    Nachdem er Jannik bereits am Morgen mitgeteilt hatte, dass er ab sofort nur noch vormittags bei ihm arbeiten würde, war natürlich nicht damit zu rechnen, dass der Junge heute noch einmal bei ihm auftauchte. Aber er würde die Kärtchen ohnehin selber neu schreiben müssen, denn dass er Jannik am nächsten Tag eine schlechte Nachricht überbringen musste, das stand seit seinem Besuch in der Kaserne fest. In ein paar Tagen würde er wieder knietief im Schuldenmorast stecken, und dann war an einen bezahlten Mitarbeiter gar nicht zu denken – selbst wenn es nur ein halber Lehrlingsanwärter war.
    Er schaffte es, sich für eine Weile abzulenken, indem er Fanni für ihr längst überfälliges Mittagsschläfchen ins Bett brachte und bei ihr saß, bis sie eingeschlafen war. Das dauerte bei ihm immer lange, aber heute war die Kleine besonders unruhig. Die Probleme ihrer Eltern waren wohl auch nicht ganz unbemerkt an ihr vorbeigegangen. Irgendwann hatte sie die Augen geschlossen, und Regis beobachtete, wie sich der kleine Brustkorb langsam hob und senkte.
    Er musste an Carmens Schuhe denken, und daran, dass er auf den Markt gehen sollte, um neues Graslandscavengerleder zu kaufen, aber dazu hätte er Fanni allein lassen müssen, und das ging natürlich nicht. Was hätte es auch genützt? Er war ja ohnehin nicht mehr in der Lage dazu, Schuhe zu machen. Seine Hände blieben niemals mehr still. Und er wusste, wenn er gleich vom Stuhl aufstehen würde, dann würden sein Rücken und sein Nacken noch ein bisschen stärker schmerzen als am Tag zuvor.
    Regis hatte nicht vor, so bald wieder aufzustehen, es gab ja keinen Anlass dazu. Aber dann, als sich gerade eine tief liegende Müdigkeit als Erlöserin ankündigen wollte, da klopfte es an der Tür, und es gab doch wieder einen Anlass. Fast wäre er trotzdem sitzen geblieben und hätte so getan, als ob er gar nicht zuhause wäre. Es interessierte ihn kaum noch, wer da wohl gekommen war, um ihm den nächsten Tiefschlag zu versetzen. Aber ganz konnte er sich der noch so unwahrscheinlichen Hoffnung nicht widersetzen, dass alles nur ein großes Missverständnis gewesen war, und dass jemand gekommen war, der alles für ihn aufklären würde. Und selbst wenn es nur ein Kunde war, den durfte er auch nicht einfach vor der Tür stehen lassen. Anja würde sicher wollen, dass er zur Tür ging, dachte er.
    Also ging er zur Tür und zog sie auf.
    „Hallo. Darf ich reinkommen?“
    Es war eine junge Frau im modischen Wolfspelzmantel. Sie hatte rot gepuderte Wangen und glattes, blondes Haar, das ihr bis zu den Schultern reichte, und sie roch nach dem üblichen Duft von Blauflieder und Goblinbeere, der sich bei den Damen im oberen Viertel gerade großer Beliebtheit erfreute. Regis hatte aber nicht das Gefühl, dass sie eine Oberviertelbewohnerin war. Er glaubte, ihr Gesicht schon ein paar Mal in der Unterstadt gesehen zu haben, aber hatte keinen Namen im Kopf.
    „Gerne“, sagte er und ließ sie eintreten. Er fühlte sich gleich ein wenig besser. Wenn er ein Kundengespräch führte, dann war er ganz in seinem Element, und heute kam ihm jede Ablenkung gelegen. „Soll es etwas Bestimmtes sein?“
    „Ach, eigentlich nicht.“ Mit einer ausgesprochen eleganten Handbewegung schob sie sich eine Haarsträhne hinters Ohr und schaute sich neugierig im Raum um. „Ich wollte bloß endlich mal dem berühmten Schuhhändler einen Besuch abstatten, von dem immer alle erzählen.“
    „Berühmt bin ich aber auch nur bei den paar Leuten hier in der Stadt“, gab sich Regis bescheiden, während er sich mit einigem Unbehagen fragte, was die Leute sich wohl zurzeit alles über ihn erzählten.
    „Man hört aber so einiges“, sagte sie und schenkte ihm ein kurzes, aber umso ausdrucksstärkeres Lächeln. „Wieso zeigst du mir nicht einfach mal, was du anzubieten hast?“
    „Ähm, natürlich, sehr gern.“ Er räusperte sich und deutete auf die Auslage, die Jannik am Morgen hergerichtet hatte. Die unschönen Schuhgrößenschildchen waren ihm noch immer ein Dorn im Auge, aber daran ließ sich jetzt auf die Schnelle nichts ändern. „Vielleicht darf ich das Augenmerk zuerst einmal auf das aktuelle Sortiment hier vorne richten? Wir haben es dabei mit stabilen Winterschuhen aus allerfeinstem Scavengerleder zu tun, mit einer Sohlenbeschichtung aus wasserundurchlässiger Lurkerhaut und einem eingearbeiteten Knöchelwärmer aus flauschigem Keilerpelz. Sehr modisch, und sehr aktuell. Oder werfen wir einen Blick auf diese großzügig geschnittenen Wolfslederstiefel, die wie gemacht sind für die kalte Jahreszeit. Durch ihr mollig warmes Innenfutter aus feinster Schafswolle... äh... aus... aus feinster... Schafswolle...“
    Regis hatte die etwas schief stehenden Stiefel im Reden gerade rücken wollen, aber nun war er völlig aus dem Konzept geraten. Verdattert starrte er auf die Innenseiten des Stiefelpaars, an denen sich eigentlich das mollig warme Innenfutter befinden sollte. Stattdessen waren da nur noch Fetzen von Wolle, die zerrupft und zerpflückt hier und da am rauen Leder klebten und die Stiefelinnenseiten aussehen ließen wie zwei nachlässig gerupfte Scavengerhäute.
    „Ähm... vielleicht gehen wir als nächstes einmal dort hinüber, wo die ganz besonderen Unikate...“
    „Dieser Winterschuh mit dem Knöchelwärmer“, unterbrach sie ihn, „kann ich den mal anprobieren?“
    Regis nickte erleichtert. „Selbstverständlich. Ich habe alle gängigen Größen vorrätig. Am besten versuchen wir erst einmal eine... hm... eine elf.“
    Er nahm die beiden Schuhe der Größe elf vom Ausstelltisch, gab sie ihr in die Hand und führte sie zum Sessel, in dem seine Kunden für gewöhnlich saßen, wenn sie Schuhe anprobierten. Geduldig wartete er ab, bis sie beide Schuhe angezogen und sie mit den Verschlussbändchen zugeschnürt hatte.
    „Fühlt sich gut an“, sagte sie und strich genussvoll mit der Hand über den weichen Saum aus Keilerpelz. „Aber ich glaube, vorne an den Zehen sitzen sie nicht so richtig.“
    Regis ging vor ihren Beinen in die Hocke, schluckte den Schmerzenslaut herunter, der ihm dabei aus der Kehle springen wollte, und befühlte mit Daumen und Zeigefinger die Spitzen der beiden Schuhe.
    „Der Zehenabstand ist aber genau richtig.“
    Ihm wurde etwas unbehaglich zumute, als er zu ihr hochschaute und ihm bewusst wurde, wie aufmerksam sie seine Handbewegungen beobachtet hatte. Das Zittern konnte ihr gar nicht entgangen sein.
    „Und hier hinten, an der Ferse?“
    „Mal schauen.“
    Er drückte ein paar Mal probeweise auf die Hinterkappe.
    „Da passt er auch sehr gut“, sagte er. „Wenn es noch etwas zwickt, dann gibt sich das beim Einlaufen.“
    „Es zwickt ja nicht“, erwiderte sie etwas schnippisch, und dann sagte sie mit wärmerer Stimme: „Vielleicht fühlst du mal von der anderen Seite.“
    Regis erstarrte, als sie seine Hand griff und sie langsam ihre Ferse entlang führte, bis sie zur Hälfte zwischen glattem Leder und noch glatterer Haut feststeckte.
    „Und?“, sagte sie, plötzlich sehr nah an seinem Ohr. „Spürst du es auch?“
    Für eine Sekunde verschlug es ihm die Sprache. Dann löste er sich aus dem Griff, verbarg die Hand hinter dem Rücken, zittriger denn je, und richtete sich mit zusammengepressten Zähnen wieder auf.
    „Der... also, der Schuh hat hinten ein bisschen Luft, aber das ist auch ganz richtig so“, erklärte er ihr. „Und kleinere Nachbesserungsarbeiten nehme ich kostenlos vor, falls in ein paar Tagen immer noch etwas stören sollte.“
    „Das ist sehr großzügig von dir.“
    Unwillkürlich machte Regis einen kleinen Schritt zurück, als sie sich vom Sessel aufrichtete und ihr Haar schüttelte.
    „In der Größe kosten sie zweihundertdreißig Goldstücke“, teilte er ihr mit, während sie in den Schuhen ein paar langsame Schritte machte. „Ich habe die gleichen auch noch mit Rattenpelz, das würde sich dann auf einhundertsiebzig Goldstücke belaufen.“
    „Nein, nein, ich denke, ich nehme diese hier.“
    „Sehr gern“, sagte er und spürte zum ersten Mal an diesem Tag einen Hauch von Freude. Das war keiner seiner günstigsten Schuhe. Natürlich würden zweihundertdreißig Goldstücke nichts an seiner Situation ändern – dazu hätte seine neue Kundin schon den halben Bestand aufkaufen müssen – doch es blieb trotzdem ein gutes Geschäft.
    „Aber vorher möchte ich sie noch ein wenig ausprobieren.“
    Sie begann ihre Schritte zu beschleunigen, machte dabei hier und da kleine, elegante Sprünge, und drehte zwei große Kreise durch die Werkstatt, bevor sie plötzlich in den Bereich hinter der Absperrwand einbog.
    „Bitte nicht da hinein.“ Regis beeilte sich, ihr hinterher zu eilen. So etwas hatte Anja überhaupt nicht gern, und ihm selbst ging es da ganz genauso. „Das ist der Wohnbereich, bitte hab Verständnis, dass Kunden dort keinen Zutritt haben.“
    Er stockte, als er sah, dass sie direkt vor Fannis Bettchen stand und auf seine schlafende Tochter hinab schaute. Ein etwas merkwürdiger Ausdruck war auf ihr Gesicht getreten, den er so bislang nicht bei ihr gesehen hatte. Aber bevor er sich einen Reim darauf machen konnte, hatte sie sich ihm schon wieder zugewandt und schritt auf ihn zu wie ein Snapper, der ein gut genährtes Molerat gesichtet hatte.
    „Eine schöne Wohnung hast du.“ Sie lächelte ein Lächeln, so direkt, dass Regis kurz wegschauen musste. „So behaglich. Und das kuschelige Bett erst...“
    „Hör zu, es wäre wirklich besser, wenn wir in die Werkstatt zurück gehen und –“
    „Meinst du wirklich? Wir haben uns doch noch gar nicht richtig kennengelernt.“
    Ihr Gesicht war ihm unangenehm nah. Er sah die kleinen gelben Flecken in ihren quallenhaft weißen Augen.
    „Nicht – ich – ich habe eine –“
    Auf einmal klebten ihre Arme an seinem Hals, ihre Hände auf seinem Rücken. Betäubt von Blauflieder und Goblinbeere schmeckte er das bittere Brennen ihrer Lippen. Peitschende Gewitterstöße zuckten durch die gespannten Adern seiner Hände, seiner Arme, seiner Brust. Ein Sturz in die Daunen wie ein Bruch durch morsches Holz. Über ihm ein heißer, dampfender Körper, der sich ihm öffnete, der ihn tiefer und tiefer hinab drückte, der ihn begrub. Eine kreisrunde Wand aus schmerzhaft blondem Haar, die sich über ihm senkte. Blicke, die ihn einschlossen. Fremder Atem auf seinem Gaumen, fremder Speichel auf seiner Zunge. Fremdes Flüstern in seinen Ohren. Ein rot glühender Dorn inmitten der freigelegten Brust. Ein gurgelnder Schmerz, der seinen Magen verließ, der an die Oberfläche wollte.
    Und dann, ein ferner Donnerschlag.
    Eine stürmisch aufgerissene Tür.
    „Da bin ich wieder! Sarah musste schon so früh wieder weg, irgendwas war mit ihrem Stand auf dem Marktplatz nicht in Ordnung. Aber ist wohl besser so, ich war in Gedanken sowieso die ganze Zeit bei dir. – Regis? Du bist doch da, oder? – Regis? –“

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    Deus Avatar von Laidoridas
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    Die Sehne vibrierte bedrohlich, als sie mit festem Griff über den Bogen gespannt wurde. Kurz bevor sie die Einkerbung am oberen Nocken erreicht hatte, wurde es ihr zu viel. Von einem Moment auf den anderen war sie gerissen, und Bosper stöhnte fluchend auf, als ihm das Ende um die Finger flitschte.
    „Scheiße.“ Der Bogner schüttelte die Hand in der Luft und schmiss die beiden unbrauchbar gewordenen Sehnenstücke in die Ecke. „Also, beides scheiße. Die Sache mit deiner Anja natürlich sowieso.“
    Regis hing halb zusammengesackt über dem Verkaufstresen, das Kinn auf den Armen aufgestützt, und wartete darauf, dass Bosper noch etwas sagte. Das konnte ja wohl nicht alles sein, was ihm dazu eingefallen war.
    „Und sie hat dir nicht mal gesagt, wohin sie abgehauen ist?“, fragte er schließlich und verschränkte die Arme vor der Brust.
    „Nicht so richtig“, murmelte Regis in seinen Arm hinein. „Zu irgendeiner von ihren Freundinnen. Wahrscheinlich Lucy oder Sarah, ist doch auch egal. Da ist sie jetzt schon seit gestern Abend. Sie hat gesagt, sie müsste mal... gründlich über alles nachdenken.“
    „Ja, so fing das bei mir auch an“, brummte der Bogner. „Und dann ist sie einfach nicht mehr wiedergekommen. Da sitzen wir jetzt wohl im gleichen Boot. Frauen sind beschissen, was?“
    Regis fragte sich allmählich, ob es wirklich so eine gute Idee gewesen war, mit seinen Sorgen ausgerechnet zu Bosper zu gehen. Anja war nicht beschissen, und er hatte keine Lust dazu, wütend auf sie zu sein. Er wollte sie doch bloß zurückhaben. Sie und Fanni.
    „Deine Frau hatte ja auch allen Grund, dich sitzen zu lassen“, gab er patzig zurück. „Aber ich habe doch überhaupt nichts gemacht! Ich wollte dieser Frau bloß ein paar Schuhe verkaufen, und plötzlich schmeißt sie mich aufs Bett und – ich weiß ja, wonach das für Anja aussehen muss, aber so war’s nicht!“
    „Glaub ich dir ja.“ Bosper legte den ungespannten Bogen zur Seite und stützte sich mit einem Ellbogen vor Regis auf dem Tresen ab. „Dass du aber auch ausgerechnet an so eine geraten musstest. Was war das denn überhaupt für eine?“
    „So eine Aufgebrezelte“, murmelte Regis, der die aufdringliche Kundin am liebsten gleich wieder vergessen hätte. „Blond, ziemlich jung... stank nach Duftöl... ich glaube, die hatte es irgendwie von Anfang an drauf angelegt.“
    „Sachen gibt’s. Hätte die nicht einfach bei mir aufkreuzen können? Also, ich hätte mich bestimmt nicht beschwert.“ Bosper schien selbst zu merken, dass sein Gesprächspartner nicht aufgelegt war für solche Scherze und setzte rasch hinzu: „Aber klar, bei dir ist das jetzt wirklich blöd gelaufen.“
    „Ja“, sagte Regis tonlos. „Alles ist blöd gelaufen. Es ist alles kaputt gegangen. Nur in ein paar Tagen. Mein... ganzes Leben...“
    „Jetzt mach aber mal halblang.“ Bosper klopfte ihm kumpelhaft auf die Schulter, was Regis vor Schmerz noch ein bisschen tiefer zusammensacken ließ. „So schnell wird dich deine Anja schon nicht sitzen lassen. Die weiß doch auch, was die an dir hat. Und... wenn doch... na komm, dann findest du auch gleich wieder ’ne Neue. Du hast doch ständig Frauen bei dir im Laden, und da wird dann schon eine dabei sein.“
    „Ich will keine Neue!“ Ärgerlich richtete sich Regis vom Tresen auf und schüttelte Bospers Hand ab. „Ich will Anja zurück – und meine Tochter! Bis vor ein paar Tagen war noch alles in Ordnung – ich dachte, ich bin der glücklichste Mensch der Welt, und jetzt – es, es kann doch nicht einfach so vorbei sein, alles, auf einmal...“
    „Ist ja gut, versteh ich ja“, brummte Bosper und machte eine abwehrende Geste. „Ich mein ja nur, dass du dir das nicht so zu Kopf steigen lassen darfst. Du zitterst ja richtig.“
    Einen Moment lang starrte Regis auf seine fiebrig schlotternden Hände am Tresenrand, dann zog er sie weg und verbarg sie hinter dem Rücken. Daran hatte er nicht auch noch erinnert werden wollen.
    „Hast die ganze Nacht nicht geschlafen, was?“, erkannte der Bogner. „Vielleicht solltest du dich erst mal aufs Ohr legen. Dann sieht die Welt gleich schon wieder ganz anders aus.“
    Regis wusste ganz genau, dass die Welt noch haargenau so leer und trostlos aussehen würde wie zuvor, solange er seine Familie nicht bei sich hatte. Solange Lehmar ihn im Würgegriff hatte. Solange er nicht mehr dazu in der Lage war, seiner Arbeit nachzugehen. Nichts zog ihn zurück in sein Haus, in dem ihn alles nur daran erinnern würde, wie es vor nicht einmal einer Woche noch gewesen war. Aber mit Bosper hielt er es auch nicht mehr aus.
    „Du hast recht“, sagte er also. „Ich geh dann mal wieder.“
    „Kopf hoch, Kumpel“, versuchte ihn Bosper beim Abschied noch einmal aufzumuntern. „Morgen früh gehen wir mit Thorben erst mal wieder eine Runde angeln vor der Arbeit, dann kommst du auf andere Gedanken.“
    Regis hatte ganz vergessen, dass für den nächsten Tag schon wieder das nächste Angeltreffen vereinbart war, und er wusste nicht, ob er sich darüber freuen sollte. Konnte er eine Angel überhaupt noch richtig bedienen? Aber vermutlich war alles besser, als allein und verlassen in der leeren Werkstatt zu hocken.
    „Mal schauen“, sagte er. „Bis morgen dann.“
    Außer ihm war kein Mensch auf den Straßen an diesem eisigen Vormittag. Vor ein paar Wochen hatten zu dieser Zeit noch Thorbens Gehämmer und die Ambossschläge des Waffenschmieds durch die Handwerkergasse geschallt, aber nun drangen nur noch dumpfe Arbeitsgeräusche aus den verschlossenen Werkstätten.
    Regis beeilte sich nicht auf dem Weg nach Hause. Es würde ja ohnehin niemand dort auf ihn warten. Selbst Jannik war heute Morgen nicht zur Arbeit erschienen, und Regis konnte es verstehen: Er war alles andere als ein guter Lehrmeister gewesen, und angesichts der chaotischen Zustände in seinem Betrieb war Rübenpflücken bei Lobart vermutlich das kleinere Übel.
    Das träge Blöken eines von Alwins Schafen war aus dem Hafenviertel zu hören, als Regis die einsame Holzbank passierte, die ihn jedes Mal an die Zeit zurückdenken ließ, in der er das letzte Mal auf ihr Platz genommen hatte. Bisher hatte ihn der Gedanke daran immer mit Freude und Zuversicht erfüllt: Damals war er ein Niemand gewesen, ein Gestrandeter ohne Geld auf einer fremden Insel. Ein Mann ohne Zukunft, der jeden Tag damit hatte rechnen müssen, von einer einfallenden Orcarmee aus dem Leben gerissen zu werden. Diese Tage lagen nun weit hinter ihm. Die Orcs waren abgezogen, und er selbst war längst kein Fremder mehr in dieser Stadt. Er hatte es zu etwas gebracht. Khorinis war seine Heimat geworden. Und jedes Mal, wenn er an der Bank vorbeigekommen war, seinem alten Bekannten aus schlechteren Zeiten, hatte er seinem guten Schicksal dafür gedankt, was es aus ihm gemacht hatte. Diesmal jedoch wollte sich das Gefühl nicht einstellen. Es war ihm so, als hätte er nur auf der Bank Platz nehmen müssen, um wieder genau da zu sein, wo er vor Jahren einmal gewesen war – bloß ohne die Zuversicht, dass ihm noch einmal bessere Tage bevorstehen konnten. Er hatte schon gestern geglaubt, dass es schlimmer nicht mehr kommen konnte, und er war eines Besseren belehrt worden. Auch wenn es sich so anfühlte, als ob er den Boden der Grube längst erreicht hatte, so war er sich doch sicher, dass es immer noch ein Stückchen tiefer hinab ging. Das Glück hatte ihn verraten, und es würde ihm ein weiteres, ein tieferes Loch graben.
    Regis passierte die Schmiede, nahm die Biegung in Richtung Hafenviertel und war ein paar Schritte später – viel zu schnell – an seinem Haus angekommen. Während er in der Manteltasche nach seinem Schlüssel kramte, fiel sein Blick auf ein paar weiße Stellen ganz hinten an der rechten Hauswand, die er so bisher noch nie wahrgenommen hatte. Der Gedanke an einen Schimmelbefall hätte ihn für gewöhnlich in helle Aufregung versetzt, aber an diesem Tag war er bloß ein weiterer dumpfer Gedanke unter vielen. Um Schimmelflecken handelte es sich aber auch gar nicht, wie ihm bewusst wurde, als er in die kleine Gasse zwischen der Schmiede und seinem Haus eingetreten war: Es waren weiße Striche, die jemand mit einem Kreidestein auf dem dunklen Holz hinterlassen hatte, und die dort mehrere einfache Symbole bildeten. Regis sah zwei mondförmige Sicheln, die einen weißen Punkt einrahmten, und etwas, das wie die miteinander verbundenen Finger einer Hand aussah. In einem weiteren Symbol glaubte er einen menschlichen Kopf zu erkennen. Einen Totenschädel vielleicht.
    Regis blieb nur kurz vor den Kreidezeichnungen stehen, dann wischte er sie mit dem Ärmel ab, so gut es ging. Er wusste nicht, ob ihm da jemand Angst machen wollte, oder ob sich bloß ein paar Kinder an seiner Wand ausgetobt hatten, aber es konnte ihm auch gleichgültiger nicht sein.
    „Regis?“, hörte er plötzlich unverhofft eine Frauenstimme, die ihm bekannt vorkam. „Kann ich herein kommen?“
    Er ging hinüber zur Tür, wo Edda, die Fischsuppenverkäuferin im Hafenviertel, gerade dabei war, mehrmals geduldig anzuklopfen.
    „Ach, da bist du“, erkannte sie mit überraschtem Lächeln. „Ich habe mich schon gewundert, dass du nicht aufmachst. Ich brauche etwas ganz Bestimmtes.“
    „Morgen, Edda.“ Er spürte, dass er heute nicht so leicht in Verkaufsstimmung geraten konnte, aber eine langjährige Kundin wollte er natürlich nicht abweisen. „Komm rein, dann kannst du mir sagen, was du brauchst.“
    Drinnen war es fast genauso kalt wie draußen. Es brannte kein Feuer im Kamin, und die Schuhe, die seine unselige Besucherin vom Vortag bei ihrer raschen Flucht natürlich nicht gekauft, sondern achtlos in die Ecke geschmissen hatte, lagen noch immer in genau dieser Ecke.
    „Also“, begann Edda, „ich brauche ein Paar Stiefel. Möglichst hoch sollten sie sein. Und, achja, rot natürlich.“
    Regis stutzte. „So wie diese hier?“
    Er ging zu den Reihen aus Milizstiefeln hinüber, griff sich mit zittrigen Fingern zwei heraus und bemerkte erst jetzt, dass eines der Paare fehlte. Wo es abgeblieben war, wusste er nicht zu sagen, aber er konnte sich auch nicht dazu bringen, ärgerlich über den Verlust zu sein. Er hatte ohnehin viel zu viele von den verfluchten Dingern.
    „Die sind aber nicht in deiner Größe“, sagte er und hielt einen der Stiefel neben Eddas Füße. „Das hier sind schon die kleinsten, aber ich habe sie ursprünglich für die Milizsoldaten gemacht, und die sind alle sehr kräftig.“
    „Das macht überhaupt nichts.“ Freudig nahm ihm Edda beide Stiefel aus der Hand. „Je größer, desto besser! Wie teuer sind die denn?“
    Die Frage traf Regis unvorbereitet. Er hatte nie damit gerechnet, dass ihm irgendjemand außer Wulfgar einen dieser Stiefel aufkaufen würde, die mit der gegenwärtigen Schuhmode nun wirklich nicht das Geringste zu tun hatten. Hastig rechnete er im Kopf durch, was er verlangen konnte – so viel wie Wulfgar ihm gezahlt hätte mit Sicherheit nicht, denn Edda schwamm ja nicht im Geld.
    „Hundert Goldmünzen“, sagte er schließlich. Das war genug, um die Kosten für die Rohmaterialien wieder herauszuholen und noch ein bisschen Gewinn zu machen. Und es war in jedem Fall mehr Geld, als ihm die Stiefel beim Einstauben in seiner Werkstatt einbringen würden.
    „Puh, da muss ich ja wieder einige Suppen für verkaufen“, erwiderte Edda und drehte den rechten Stiefel prüfend in der Hand. „Aber die halten auch ein Weile, nicht wahr?“
    „Mindestens drei Jahre“, versprach Regis, denn das war auch Wulfgars Anforderung gewesen. „Wenn sie nicht so häufig getragen werden aber sicherlich noch ein paar Jahre länger.“
    „Das ist gut“, sagte Edda, setzte die Stiefel auf seinem kleinen Verkaufstisch ab und machte sich daran, das Gold aus ihrem Lederbeutel abzuzählen. „Die werden nämlich überhaupt nicht getragen.“
    Regis verkniff sich eine Nachfrage. Er hatte keine Lust auf lange Gespräche, und vor allem war er froh, dass er zumindest eines der Stiefelpaare noch losbekommen würde. Wenn er den Kauf infrage stellte, würde sie sich am Ende noch anders entscheiden, und dann würde er sich bloß über sich selbst ärgern.
    „Danke“, sagte er, nachdem er die Goldsumme noch einmal selbst geprüft hatte. „Dann... ja, dann viel Spaß damit.“
    „Den werden wir haben! Auf bald, Regis!“
    Nachdem Edda gegangen war, grübelte er nur noch kurz darüber nach, was sie mit den Stiefeln anstellen wollte. Was brauchte es ihn schon zu kümmern? Ob sie nun Fleischwanzen damit fangen oder Suppe darin kochen wollte – er war die Dinger losgeworden, wenigstens zwei von ihnen, und hatte noch etwas dafür bekommen. Das war das Beste, was ihm seit einer ganzen Weile passiert war, auch wenn es natürlich an seiner Lage nicht das Geringste änderte. Und an seiner Laune, da hatte es auch nur für ein paar kurze Augenblicke etwas ändern können.
    Es dauerte aber nicht lange, da klopfte es erneut.
    Diesmal stand eine kleine Menschengruppe vor seiner Tür: Elena, die Tochter des Großbauern, die seit dem Tod ihres Vaters in der Stadt lebte, und die mittlerweile bürgerlich gewordene ehemalige Rotlichtkönigin Nadja wurden umringt von ihren insgesamt fünf hibbeligen Kindern, die ihn allesamt so erwartungsvoll anschauten, dass er seine Niedergeschlagenheit tatsächlich für den Moment vergaß.
    „Stiefel!“, rief der kleinste von Nadjas Jungs, und Elenas älteste Tochter stimmte begeistert mit ein, bis alle fünf Kinder aufgeregt hüpfend „Stiefel! Stiefel!“ skandierten.
    „Hallo Regis“, sagte Elena grinsend. „Ich glaube, du hast schon gemerkt, weswegen wir hier sind.“
    „War ja auch nicht zu überhören“, kommentierte Nadja, fügte aber sicherheitshalber hinzu: „Fünf Paar große rote Stiefel bitte für unsere Racker hier.“
    „Fünf Paar?“, wiederholte Regis verdattert. „Rote... Stiefel?“
    „Tu doch nicht so überrascht“, entgegnete Elena mit scherzhaft verdrehten Augen und deutete an ihm vorbei in die Werkstatt hinein. „Da drinnen stehen sie doch schon reihenweise.“
    „Ja, ganz schön raffiniert macht ihr beiden das“, gab sich Nadja empört. „Ihr habt ja wirklich Geschäftssinn, das muss man euch lassen. Aber wenn die Kleinen sie halt unbedingt wollen... was soll man da machen!“
    „Ach ja“, sagte Elena mit seligem Lächeln. „Und deine Anja hat das ja so süß gemacht mit den Handpuppen, da sei euch das auch mal gegönnt. Außerdem ist es doch wirklich ein schöner Brauch, den kann man ruhig auch hier bei uns in Khorinis einführen.“
    „Genau“, pflichtete ihr Nadja bei. „Was die Leute in Montera können, das können wir ja wohl schon lange!“
    Regis hatte noch immer nicht ganz verstanden, was ihm gerade widerfuhr, aber dass Anja wohl irgendwie hinter dem plötzlichen Kundenansturm auf seine ungeliebten Stiefel stecken musste, das glaubte er deutlich herausgehört zu haben. Und das, mehr noch als die Aussicht auf weitere fünfhundert Goldmünzen, war es, was sein Herz plötzlich wieder ein Stückchen kräftiger schlagen ließ.
    Fünf Minuten später hatten die fünf strahlenden Kinder mit zehn großen roten Stiefeln in den Armen und zwei um fünfhundert Goldmünzen ärmeren Müttern im Schlepptau seine Werkstatt wieder verlassen, aber damit war es noch nicht vorbei. Den ganzen Tag über kamen Eltern in seinen Schuhladen, nicht selten in Begleitung ihrer vorfreudigen Kinder, und alle hatten sie den gleichen Wunsch: Große, rote Stiefel, ganz so wie diejenigen, die er im Auftrag der Miliz hergestellt hatte. Im Laufe des Nachmittags hob er den Preis nach und nach ein wenig an, und so lagen nach siebzehn verkauften Paar Stiefeln am Abend satte zweitausendsechshundertfünfzig Münzen in seinem Beutel.
    Es war kurz nach Sonnenuntergang, als die Haustür ein weiteres Mal aufgestoßen wurde – aber diesmal nicht von ihm selbst, um einen Kunden willkommen zu heißen, und diesmal auch nicht in der stürmischen Art, an die er sich gewöhnt hatte.
    Ganz leise zog Anja die Tür hinter sich zu und stellte zwei rote Stiefel zu der gelichteten Stiefelreihe. Dann ging sie an ihm vorbei in den Wohnbereich und legte die zappelnde Fanni ins Bett. Regis traute sich nicht sofort, zu ihr zu gehen, aber er hielt das Warten nicht mehr lange aus und setzte sich neben sie, während sie noch dabei war, die Feldräuber-Handpuppe vor Fannis Gesicht mit den Fühlern wackeln zu lassen.
    „Psst“, machte sie, als sie sah, dass er etwas sagen wollte. „Sie schläft gerade ein.“
    Regis schloss den bereits halb geöffneten Mund und schaute zu, wie sich die Mundwinkel seiner Tochter entspannten, wie sich die Ärmchen senkten und die kleinen Lider schlossen. Schweigend beobachteten sie gemeinsam das schlafende Mädchen, bis Anja den Kopf in seine Richtung drehte, nur ein kleines Stück, und fragte: „Hat es geklappt?“
    „Keine Ahnung wie du das gemacht hast“, erwiderte Regis mit gedämpfter Stimme, „aber ich habe siebzehn Paare von den Milizenstiefeln verkauft. Wir haben mehr als zweitausendsechshundert Münzen eingenommen.“
    „Du hättest mehr dafür nehmen sollen“, sagte Anja. „Du hättest sie bestimmt auch für zweihundert pro Paar verkaufen können.“
    „Ich versteh das nicht. Du hast den Leuten irgendwas mit ihren Handpuppen vorgespielt, und dann...?“
    „Es war doch deine Idee, Regis. Dass ich mal mit meinen Puppen auf dem Marktplatz auftreten sollte. Der alte Zuris hat mir seinen Stand zur Verfügung gestellt, und Lucy und Sarah haben mir einen großen roten Vorhang gestrickt. Wir haben ein bisschen geprobt und dafür gesorgt, dass alle Eltern in der Stadt davon erfahren, und heute morgen bin ich dann dort aufgetreten.“
    „Das ist ja großartig, Anja. Wenn du etwas gesagt hättest...“
    „Habe ich aber nicht“, sagte sie leise. „Vielleicht mache ich es ja noch einmal. Dann kannst du zuschauen, wenn du willst.“
    Regis hoffte, dass dieses Angebot einer kleinen Versöhnung gleichkam, aber er wollte sich lieber nicht zu früh freuen.
    „Aber... was hast du denn dort vorgeführt, dass die Leute alle hier in den Laden gelaufen sind?“
    „Naja“, erwiderte Anja und klang dabei zum ersten Mal wieder ein bisschen nach ihr selbst, „ich habe mir gedacht, dass ich meinem jungen Publikum mal einen schönen alten Brauch aus meiner Heimat näher bringe. Die Tiere haben ihnen ein bisschen was von den Kindern in Montera erzählt, die an kalten Winterabenden ein Paar großer roter Stiefel vor die Tür stellen. Wenn sie dann am nächsten Morgen die Tür aufmachen, dann haben ihnen die fleißigen Winterwichtel ein paar schöne Geschenke in die Stiefel gepackt. Meine Tiere waren natürlich ganz begeistert von diesem Brauch und haben ihn gleich mal auf der Bühne nachgespielt... zum Glück hatten sie ein Paar von deinen Stiefeln dabei... und was soll ich sagen, ich glaube, meine lieben kleinen Zuschauer waren auch ganz schön begeistert davon.“
    Verblüfft hob Regis den Blick. „Von so einem Brauch habe ich ja noch nie was gehört.“
    „Du stammst ja auch nicht aus Montera“, gab Anja schnippisch zurück. „Und in Montera kennt den auch nicht jeder. Genau genommen... nur ich. Seit gestern. Aber es ist doch ein netter Brauch, oder?“
    „Sehr nett“, stimmte ihr Regis zu und musste nach langer Zeit einmal wieder grinsen. „Du bist wirklich unglaublich, Anja! Das war die beste Idee aller Zeiten!“
    „Wie gesagt, es war ja auch zur Hälfte deine Idee.“ Endlich schaute sie ihm einmal direkt in die Augen, und Regis sah, dass sie noch immer gerötet waren. Vermutlich ging es seiner Freundin ganz genauso schlecht wie ihm selbst. „Ich hab doch gesagt, dass wir das gemeinsam schon hinkriegen. Es sind noch keine neuntausend Goldmünzen, aber wir haben ja auch noch zwei Tage Zeit. Ein paar Leute werden bestimmt noch kommen wegen der Stiefel, und ein paar normale Kunden werden sicher auch noch vorbeischauen. Wir könnten mal gucken, ob wir ein paar alte Sachen haben, die wir auf dem Marktplatz verkaufen können. Und vielleicht leiht uns jemand etwas – einer unserer Freunde, nicht jemand wie Lehmar. Vielleicht fällt uns auch noch ganz was anderes ein. Die Hauptsache ist doch, dass wir zusammenhalten, Regis. Gemeinsam finden wir schon einen Weg, das hab ich dir doch versprochen.“
    In Regis’ Augenwinkeln wurde es feucht, als sie mit den kühlen Fingern jener Hand, die nicht im Feldräuber steckte, seine eigene zitternde Hand drückte.
    „Anja, wegen der Frau gestern... mir tut das alles so leid... aber es war wirklich so, wie ich gesagt habe, ich würde dich doch niemals...“
    „Ich weiß schon, Regis“, sagte sie und schloss ihn in die Arme, wenn auch nur für ein paar kurze schöne Sekunden. „Ich hab ja gesehen, wie du geguckt hast. Und wer den Spaß seines Lebens hat, der kotzt dabei wohl auch nicht neben das Bett.“
    Er war ein bisschen verwundert darüber, dass sie so ein Wort in den Mund nahm, aber es war ja nicht das erste Mal an diesem Tag, dass sie ihn überraschte.
    „Wieso bist du dann abgehauen? Ich... ich dachte schon...“
    „Ich war eben trotzdem verletzt“, sagte sie leise und schaute für einen Moment wieder weg. „Sowas hatte ich immer befürchtet, weißt du? Dass ich nach Hause komme... und dann liegst du da mit einer deiner ganzen hübschen Kundinnen.“
    „Die interessieren mich doch alle gar nicht“, versicherte ihr Regis und meinte es ehrlich. „Glaubst du denn wirklich, ich lasse dich und Fanni für irgendeine von denen sitzen? Ohne euch... wüsste ich doch gar nicht, was ich mit mir anfangen soll.“
    Anja lächelte ein Lächeln, das beinahe so zittrig war wie seine Finger. „Lass es uns einfach vergessen, ja? Bis übermorgen müssen wir noch mehr als sechstausend Goldmünzen auftreiben, und das ist alles, worüber wir uns jetzt Gedanken machen sollten.“
    Regis war sich unsicher, ob die Sache damit wirklich schon vom Tisch war, aber er hatte auch kein großes Bedürfnis mehr, noch länger darüber zu sprechen.
    „In Ordnung.“
    „Dann sollten wir uns jetzt als allererstes aber mal ums Abendessen kümmern“, beschloss sie. „So wie ich dich kenne, hast du bestimmt den ganzen Tag noch nichts Richtiges gegessen, oder? Wie wär’s mit einem leckeren Pilzeintopf?“
    „Das klingt großartig.“
    Regis konnte noch gar nicht begreifen, wie sich der Tag für ihn entwickelt hatte. Am Morgen war er noch der einsamste Mensch der Welt gewesen, und nun, bloß ein paar Stunden später, war er kurz davor, mit Anja zusammen einen dampfenden Pilzeintopf zu genießen – und da war es wieder, das wunderbare Gefühl in den Eingeweiden, das sich so häufig bei ihm meldete, wenn er seiner Freundin in die Augen sah. Noch bevor er überhaupt richtig darüber nachgedacht hatte, war er auch schon mit knirschendem Rücken aufgestanden und sagte mit vor Schmerzen gepresster Stimme: „Aber das Kochen übernehme ich. Einverstanden?“
    Lächelnd schaute sie zu ihm auf, und fast war es so, als wäre da nie jemand gewesen, der zwischen sie geraten war.
    „Einverstanden, Regi.“

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    „Siehst du – hab’s ja gleich gesagt, dass die Welt bald schon wieder ganz anders aussieht.“ Beseelt von der prophetischen Kraft seines weisen Ratschlags vom Vortag klopfte Bosper seinem alten Freund ein paar Mal auf den Rücken – viel zu heftig für Regis’ lädierte Knochen.
    „Ändert aber nichts daran, dass wir noch lange nicht genug Gold zusammenhaben, um Lehmar morgen auszuzahlen“, antwortete Regis, der keine Lust hatte, Bosper zu seinem Allerweltsspruch auch noch zu beglückwünschen. „Eigentlich sollte ich gar keine Zeit mit irgendwelchen Angelausflügen verschwenden. Vielleicht bleibe ich doch lieber hier.“
    „Ach, nun komm schon, ist doch nur für ’ne Stunde. Und vielleicht kommt dir dabei ja sogar noch die rettende Idee.“
    „Das hat Anja auch gemeint. Aber ich weiß nicht...“
    Anja hatte vor allem gemeint, dass er seine beiden Freunde in gemütlicher Angelrunde danach fragen könnte, ob sie ihnen wohl etwas leihen wollten. Aber damit wollte Regis lieber so lange warten, wie es nur ging. Er hatte noch immer die Hoffnung, dass ihm vielleicht einer der beiden von sich aus ein Angebot machte.
    „Du machst dir aber nicht ins Hemd wegen der Leiche, die sie am Strand gefunden haben? Passiert doch ständig, dass ein Besoffener ins Hafenbecken kippt und nicht wieder hochkommt, das hat uns ja wohl noch nie vom Angeln abgehalten.“
    „Davon hatte ich noch gar nichts gehört“, sagte Regis. „Aber das klingt nach einem weiteren Grund, lieber zuhause zu bleiben.“
    „Guten Morgen, ihr beiden“, begrüßte sie Thorben, der gerade im Türrahmen erschienen war. „Alle bereit?“
    „Klar doch“, sagte Bosper. „Jetzt wo du da bist. Regis muss nur noch eben seine Angel aus dem Schuppen holen, dann können wir los.“
    Damit gab sich Regis geschlagen und verließ gemeinsam mit den beiden Handwerksmeistern seine Werkstatt. Anja würde noch eine Weile bei ihren Freundinnen sein, und alleine würde er ohnehin keinen klaren Gedanken fassen können – da konnte er auch genauso gut mit Bosper und Thorben angeln gehen. Er kannte sich selbst gut genug, um zu ahnen, dass es ohnehin vor allem die in Aussicht stehende unbehagliche Bitte um Geld war, die ihm den Spaß am Angelausflug verleidete.
    „Mit Gritta und Fanni alles in Ordnung?“, wandte er sich an den Tischler, während sie um das Haus herumgingen.
    „Die beiden verstehen sich prächtig“, sagte Thorben lächelnd. „Gritta hat deiner Kleinen sogar verziehen, dass sie beim letzten Mal ein Loch in ihre Bluse gebissen hat, und das würde sie sonst niemandem durchgehen lassen. Ich habe ihr ja schon so oft gesagt, dass sie sich bloß mal einen Mann suchen müsste, um ihre eigenen Kinder zu bekommen, aber das passt ihr natürlich auch wieder nicht.“
    „Du verwöhnst die kleine Göre einfach zu sehr, ich sag’s ja immer wieder“, meldete sich Bosper zu Wort und erntete damit die zu erwartende empörte Reaktion des Tischlers. Regis hörte gar nicht richtig hin – er hatte dieses Gespräch schon häufiger mit angehört – und öffnete die schiefe, knarrende Tür zum Werkzeugschuppen. Ein übler, muffiger Geruch schlug ihm entgegen und erinnerte ihn daran, dass er hier dringend einmal wieder ausmisten musste – nachdem er sich um all die dutzenden Probleme gekümmert hatte, die gerade dringlicher waren als ein stinkender Schuppen.
    Er nahm sich die Angel mit wackeligem Griff, wollte die Tür wieder schließen... und spürte plötzlich eine merkwürdige Schwere, die von der Angel ausging.
    „Gibt’s ja nicht“, staunte Bosper. „Du hast dir den mistigen alten Schuh schon wieder geangelt.“
    Verdutzt blickte Regis auf das Ende der Angelschnur hinab, die über den Boden schliff. Am Haken hing tatsächlich einer der beiden müffeligen Lederklumpen, die er nach ihrem letzten Angeltreffen vor ein paar Tagen in den Werkzeugschuppen gestellt hatte.
    „Die hatte ich ja fast schon wieder vergessen“, murmelte Regis. „Aber wie kann das denn sein, dass der Haken schon wieder genau da oben am Riemen festhängt? So einen Zufall kann es doch gar nicht geben.“
    Er ging in die Hocke – viel zu schnell, wie er gleich darauf unter Schmerzen bemerkte – und prüfte die Stelle, an der das spitze Ende des Hakens im Leder steckte. Vorsichtig löste er den Haken vom Schuh, was ihm überraschend schwer fiel, und bewegte ihn anschließend wieder ein Stück heran. Der Haken war noch gut zwei Fingerbreit vom Leder entfernt, da löste er sich plötzlich aus seinem lockeren Griff und sprang zur gleichen Stelle, an der er auch vorher schon fest gehangen hatte.
    „Was...? Habt ihr das gesehen?“, fragte er seine Freunde.
    Thorben nickte nachdenklich und hockte sich neben Regis auf den Boden.
    „Ich glaube, ich weiß, was da los ist.“ Mit fachmännischem Blick zog er sein Taschenmesser aus einer Gürtelschlaufe. „Darf ich?“
    „Na klar“, sagte Regis. „Die alten Dinger wären längst wieder im Meer gelandet, wenn du mich nicht dazu überredet hättest, sie zu behalten. Also mach ruhig damit, was du willst.“
    Der Tischler ließ sich das nicht zweimal sagen und zerschnitt mit einem geraden Schnitt das Leder am Riemen. Anschließend fummelte er mit Daumen und Zeigefinger in dem entstandenen Loch herum und zog nach kurzer Zeit ein grob rechteckiges, dünnes Metallstück daraus hervor.
    „Ganz wie ich es mir gedacht habe“, verkündete Thorben und glitt mit dem Finger über die dunkel glänzende Oberfläche. „Das ist ein magnetisches Metall. So etwas zieht andere Metalle an sich – das funktioniert ganz ähnlich wie eine Kompassnadel. In Vengard gibt es einen Tischler, der solche Magneten seit Kurzem in seine Schränke einbaut, damit sich die Türen besser schließen. Die sind dann aber sündhaft teuer. Und ich habe noch nie davon gehört, dass ein Magnet in einen Schuh eingearbeitet wurde.“
    „Den habe ich da auch ganz sicher nicht reingepackt“, sagte Regis. „Irgendwer muss das wohl nachträglich gemacht haben.“
    „Wozu sollte man denn sowas im Schuh haben wollen?“, mischte sich Bosper wieder ein, der die beiden mit verschränkten Armen beobachtet hatte. „Bei den Möbeln versteh ich ja was das soll, aber in ’nem Schuh...?“
    Regis war ein merkwürdiger Gedanke gekommen. Er hielt ihn zwar für ziemlich weit hergeholt, aber er beschäftigte ihn so sehr, dass er ihn aussprechen musste.
    „Vielleicht wollte ja jemand, dass wir ihn aus dem Hafenbecken angeln.“
    „Das wäre dann allerdings schon eine Menge Aufwand“, gab Thorben zu bedenken, „und vor allen Dingen ein ganz schön teures Unterfangen. Magnete sind nicht gerade günstig.“
    „Ja, und das alles nur, um deinen Schuppen zum Stinken zu bringen?“, schmunzelte Bosper. „Weiß ja nicht, weiß ja nicht...“
    „Ihr habt ja recht“, gestand ihnen Regis zu. Er wollte auch lieber gar nicht erst in Erwägung ziehen, dass sie womöglich jemand heimlich bei ihren Angelausflügen beobachtet hatte, um herauszufinden, an welcher Stelle sie immer angelten. „Ich kann mir auch keinen Reim drauf machen. Aber zumindest wissen wir jetzt, wieso wir die Schuhe so einfach aus dem Meer fischen konnten.“
    Er hatte sich gerade wieder mühsam aufgerichtet, da hörte er eine gellende Frauenstimme seinen Namen rufen.
    „Regis! Regis, mach die Tür auf! Ich hab euch reden gehört, ich weiß dass ihr noch da seid!“
    Sie klang so hysterisch, dass sich die drei Männer beeilten, zur Vorderseite des Hauses zurückzukehren, wo sie Gritta mit einer rabiat grabschenden und zappelnden Fanni auf dem Arm erwartete.
    „Ach, da hinten wart ihr!“, rief ihnen Thorbens Nichte entgegen und machte gleich ein paar hastige Schritte auf sie zu, während Fanni ein großes Büschel aus ihrem Pelzmantel riss und sich gierig in den Mund steckte.
    „Hier, nimm sie endlich – nimm sie und behalt sie!“, keifte Gritta und drückte Regis seine wild strampelnde Tochter in die Arme. „Das kleine Mistding hat meine ganze Garderobe kaputt gebissen! Da gucke ich einmal nicht hin, und schon sind meine ganzen Klamotten hinüber! Jetzt muss ich mir alles neu kaufen – alles! – und das meiste kriege ich so gar nicht mehr! Da sind Einzelstücke dabei, die wurden nur ein einziges Mal geschneidert, und – und dein verfluchtes Biest hat sie einfach aufgegessen!“
    „Gritta, bitte beruhige dich doch“, versuchte Thorben auf sie einzureden. Regis war nicht entgangen, dass er bei ihrer Ankündigung, alles neu kaufen zu müssen, ganz schön blass geworden war. „Sie ist eben ein kleines Mädchen, da kann so etwas doch schon einmal passieren.“
    „So was macht kein normales kleines Mädchen!“, ereiferte sie sich und machte ein paar Schritte zurück, während sie mit dem Finger auf Fanni zeigte. „Sie hat ein paar meiner Lieblingsmäntel aufgegessen – und ich meine, sie – sie hat sie aufgegessen! Nicht nur ein paar Löcher reingebissen oder ein bisschen Wolle rausgerupft – sie hat sie aufgegessen! Sie sind weg! Regis, mit deiner Tochter stimmt was nicht – aber was immer es ist, lass mich damit in Frieden!“
    Aufgebracht wirbelte Gritta herum und rannte die Straße hoch bis zum Haus ihres Onkels, wo sie mit einem laut durch die Unterstadt schallenden Türknall verschwand.
    „Ich... rede gleich nochmal mit ihr“, meldete sich Thorben als erster wieder zu Wort. „Sie hat das bestimmt nicht so gemeint.“
    „Na großartig“, seufzte Bosper. „Das war’s dann wohl mit unserem Angelausflug. Nehme mal nicht an, dass du Fanni mitnehmen willst.“
    „So lange lass ich sie bestimmt nicht in der Kälte sitzen“, bestätigte Regis die Befürchtungen des Bogners. Ihm war ohnehin weniger nach Angeln zumute denn je. Vielleicht hatte Gritta nicht ganz unrecht damit, dass mit Fanni etwas nicht stimmte. Er würde auf jeden Fall mit Anja darüber reden müssen, sobald sie wiederkam. „Morgen vielleicht?“, schlug er vor, während er Fanni mit einigen Mühen davon abhielt, an seinem eigenen Mantel herumzuknabbern.
    „Ja, was soll’s.“ Resigniert schulterte Bosper seine Angel. „Dann eben morgen. Macht’s gut.“
    „Ich werde dann mal nach Gritta schauen“, sagte Thorben, dem der dramatische Auftritt seiner Nichte offenbar mehr als unangenehm war. „Wir sehen uns morgen.“
    Regis stellte die Angel zurück in den Werkzeugschuppen, was gar nicht so einfach war mit einer beißwütigen Fanni auf dem Arm, und ging zur Haustür zurück. Bosper und Thorben waren schon in ihren Behausungen verschwunden, und die frühmorgendlichen Straßen von Khorinis blieben einsam zurück.
    Die Kälte machte das Zittern seiner Hände nur noch schlimmer. Sekunden verstrichen, während er vergeblich versuchte, den Haustürschlüssel in seiner Manteltasche zu packen zu bekommen. Als er ihn gerade erwischt hatte, da biss ihm Fanni auf einmal mit einiger Gewalt in die Schulter und der Schlüssel glitt ihm aus der Hand.
    „Verdammt!“, fluchte er und setzte seine Tochter auf dem Boden ab. „Was ist nur los mit dir?“
    Er bückte sich ächzend nach dem Schlüssel und schaffte es beim fünften oder sechsten Versuch endlich, ihn mit den Fingern zu umschließen. Unter einigen Schmerzen kam er wieder in die Höhe und machte sich daran, die Tür aufzuschließen, aber das Schlüsselloch zu treffen erwies sich als noch größere Herausforderung als den Schlüssel aus der Tasche zu holen. Trotz der Kälte bildeten sich erste Schweißperlen auf seiner Stirn. Gestern noch hatte er die Tür aufgeschlossen, ohne überhaupt großartig darüber nachzudenken, und einen Tag später... Es wurde schlimmer mit jedem Tag. Er musste endlich Anja von der Krankheit erzählen, und dann musste er Vatras aufsuchen. Der Wassermagier war der einzige Heiler in der Stadt, und Regis hielt ihn durchaus für einen vertrauenswürdigen Mann. Aber ob er mit seiner Krankheit umzugehen wusste, das stand in den Sternen.
    „Fanni!“, schrie Regis auf, als er bemerkte, dass sie nun dazu übergegangen war, an seinem Hosenbein herumzuknabbern, und bereits ein faustgroßes Loch in dem guten Stoff hinterlassen hatte. So langsam verloren sich auch die letzten Zweifel an Grittas Schilderungen. Vielleicht würde er Fanni gleich mit zu Vatras nehmen.
    Aber erst einmal musste er zurück in sein eigenes Haus gelangen. Zwei, drei Minuten lang kam ihm diese eigentlich lächerliche Aufgabe wie eine schier unüberwindliche Hürde vor, dann hörte er endlich das erlösende Klicken im Schloss.
    „So, komm her, Fanni. Papa hat die Tür aufgekriegt, das wurde aber auch Zeit, was? Fanni – komm her, wir gehen rein!“
    Regis zog die Tür auf, wollte eintreten und –
    – fühlte, dass da jemand war.
    Jemand, der gleich hinter ihm stand. Und es war sicher nicht Fanni.
    Es war das Letzte, was er dachte, bevor ihn der Schlag erwischte.

    Regis erwachte, als sich der Gestank durch seine Nase fraß.
    Alles an ihm war nass und schwer. Eine abscheuliche, klammernde Feuchtigkeit hatte sich in seine Kleidung und in seine Haut gesogen, und die Luft war erfüllt von einem lautlosen Brummen. Er hörte das Blubbern eines trägen Baches, der ihn umspülte, und ferne, dumpf hallende Schritte. Lange Zeit hatte er das Gefühl, sich nie mehr bewegen zu können. Bloß seine Finger, seine Finger bewegten sich von selbst, sinnlos und beständig, nur für sich allein. Sie waren der einzige Teil seines Körpers, der noch dazu in der Lage war. So kam es ihm vor, und das für eine lange Zeit.
    Aber dann schlug er die Augen auf, und der Rest seines Körpers erwachte zu neuem Leben.
    Flach atmend drehte er den Kopf, sah sich umgeben von dunklen, feuchten Mauern. Sehr langsam schaffte er es, sich mit den Händen auf dem nassen Boden aufzustützen und sich wegzurobben aus dem Abwasser, in dem er lag.
    Die Kanalisation. Er war nie zuvor hier gewesen, aber es stand außer Frage, dass er sich in den unterirdischen Gewölben von Khorinis befinden musste, die es als Geheimversteck der vor einigen Jahren enttarnten Diebesgilde zu einiger Bekanntheit geschafft hatten. Es war nicht so dunkel, wie es hätte sein müssen. An den Wänden des breiten Steinkorridors hingen mehrere brennende Fackeln.
    „Regis.“
    Er zuckte zusammen, als die blecherne Stimme aus dem Nichts an sein Ohr schallte.
    „Wie schön, dass du erwacht bist. Dann kann es ja endlich beginnen: Das große Finale.“
    Sein Kopf schmerzte so sehr, dass er die Augen nie lange aufhalten konnte. Tropfend und mit heiserem Atem schaffte er es, sich in eine sitzende Position aufzurichten.
    „Wieso kommst du nicht zu mir, Regis? Du kannst das Ende doch sicher genauso wenig erwarten wie ich.“
    Er drehte den Kopf in beide Richtungen, um herauszufinden, woher die Stimme gekommen war, aber beide Seiten des Ganges endeten in Dunkelheit. Er wusste, dass er diese Stimme kannte, dass er sie schon häufig gehört hatte, aber sie klang nicht wie gewohnt.
    „Ich bin hier drüben. Gleich hier drüben, Regis.“
    Jetzt endlich sah er den schmalen Durchgang, der schräg gegenüber in einer schattigen Stelle zwischen zwei Fackeln in der Mauer klaffte. Ein gusseisernes Gitter versperrte den Weg, und hinter dem Gitter stand jemand.
    „Genau hier. An deiner Stelle würde ich nicht zu lange da sitzen bleiben, Regis. Ich habe hier nämlich jemanden bei mir, der dich gerne wiedersehen möchte.“
    „Fanni!“, krächzte er und versuchte ins Stehen zu kommen, aber stattdessen geriet er ins Taumeln und musste sich in gekrümmter Haltung an der klammen Mauer festhalten. Zuckend glitten seine aufgeweichten Finger über den glatten, kalten Stein.
    „Richtig geraten, Regis! Aber das war eine einfache Frage, nicht wahr? Wieso kommst du nicht her und beantwortest eine echte Rätselfrage für mich?“
    Allmählich ließ der Schmerz in seinem Schädel ein wenig nach, zumindest so sehr, dass er wieder zu einem stabilen Stand finden konnte. Es wurde ihm erst jetzt bewusst, dass er seinen Mantel nicht mehr anhatte, aber er glaubte, ihn in einigen Schritten Entfernung auf dem Boden neben der Rinne liegen zu sehen.
    „Komm her, Regis. Komm endlich her zu mir, oder soll deine kleine Tochter unter der Trägheit ihres Vaters leiden müssen? Das kannst du nicht wollen, oder etwa doch, Regis?“
    Er biss die Zähne zusammen und wagte einen sehr wackeligen Schritt nach vorn, dann einen weiteren, und als er merkte, dass er nicht stürzte und an Sicherheit gewann, da beschleunigte er seinen Schritt und hastete mit stolpernden, platschenden Sätzen durch das Abwasser zur gegenüberliegenden Wand.
    „Sehr gut, Regis. Gleich hast du es geschafft.“
    Noch ein Schritt entlang der Wand, noch einer, ein letzter... und er stand vor dem Gitter.
    „Und da bist du. Das hat länger gedauert als geplant, weißt du das? Zum Glück haben wir ja alle Zeit der Welt.“
    Der Mann hinter dem Gitter trug ein Paar silbern glänzender Halbschuhe, eine türkise Pluderhose mit Verzierungen aus schillerndem Brokat und ein so stechend violettes Hemd, dass sich Regis in der schwach glimmenden Dunkelheit beinahe davon geblendet fühlte. Auf den Schultern aber saß ein alter, rostiger Helm, der seiner Stimme offenbar den blechernen Klang verlieh. Das Visier war heruntergeklappt, und vor dem schmalen Streifen seines Gesichts, den es freiließ, lag hinter der Innenseite des Helms ein dunkelgrauer Seidenschleier, der den Blick auf seine Augen versperrte.
    „Fanni“, brachte er unter Husten und Keuchen hervor. „Wo ist sie?“
    „Dachtest du etwa, du könntest sie jetzt gleich sehen?“, antwortete der Mann mit dem Helm. „So einfach geht das aber nicht, Regis. Das musst du dir erst verdienen. Damit kennst du dich doch aus, hab ich recht?“
    Er versuchte, im dunklen Bereich hinter seinem Entführer etwas zu entdecken, suchte nach Zeichen von Fanni, aber da war nur Schwärze.
    „Was soll das alles?“, stieß er aus. „Wieso hast du mich hierher gebracht?“
    „Ah, jetzt wird es interessant.“ Der Mann klatschte offenbar voller Vorfreude in die Hände, und der Knall schallte durch die Katakomben. „Wie ich bereits sagte: Du bist hier, um am großen Finale teilzunehmen. Vielleicht hast du es noch nicht mitbekommen, Regis, aber du und ich, wir spielen ein Spiel. Und jedes Spiel muss irgendwann zu Ende sein. Aber nicht ohne ein großes Finale!“
    „Lass mich zu meiner Tochter!“, brüllte Regis durch das Gitter. „Vorher mache ich überhaupt nichts!“
    „Ich glaube schon“, dröhnte die Ritterhelmstimme des Mannes an sein Ohr. „Denn ich mache die Spielregeln. Du hast es ja auch bald geschafft, Regis. Du kannst deine Tochter bald wiedersehen. Aber nicht bevor du das große Finale bestanden hast. Und der erste Teil des großen Finales ist eine Rätselfrage.“
    Er machte eine Pause, und als nach der Pause nichts mehr kam, schnaufte Regis: „Was für eine Frage?“
    „Schön, dass du interessiert bist. Die Rätselfrage lautet: Wer bin ich? Eine einfache Frage, oder? Aber du solltest dir gut überlegen, was du sagst. Denn im zweiten Teil des großen Finales werde ich dir gleich die hier geben...“
    Der Mann hob den rechten Arm, und in der Dunkelheit blitzte die Klinge einer Axt auf.
    „...und für jeden Versuch, den du brauchst, wirst du sie einmal benutzen müssen. Nicht an mir, so viel kann ich dir schon verraten, Regis. Du wirst sie nicht oft benutzen wollen. Also antworte am Besten richtig, denn man kann das Spiel auch verlieren, weißt du?“
    Regis wusste schon, wozu er die Axt benutzen würde, sobald er sie in die Finger bekam. Aber vorher musste er diese verfluchte Rätselfrage beantworten. Die ganze Zeit über hatte er schon versucht, die Stimme einem Gesicht zuzuordnen, aber es wollte ihm einfach nicht gelingen – jedes Mal wenn er glaubte, einen bekannten Tonfall oder eine schon gehörte Wendung zu erkennen, schwand diese Ahnung gleich mit dem nächsten Satz wieder dahin. Er wusste nur, dass er diese Stimme erst kürzlich gehört hatte, vor noch gar nicht langer Zeit.
    „Ah, das hätte ich fast vergessen“, durchbrach der Mann hinter dem Gitter die verzweifelten Gedankenspiralen in Regis' Kopf. „Du musst nicht nur richtig antworten, sondern schnell. Du hast drei Sekunden für jeden Versuch, und wenn du zu spät antwortest, dann werde ich Fanni holen. Aber nicht alles von ihr, du verstehst, Regis? Dann kann es ja losgehen! Drei... zwei... eins...“
    „Lehmar!“, platzte es aus ihm heraus. Es war der erste Name, der ihm eingefallen war: Lehmar war ein ekelhafter Scheißkerl, dem jede Widerwärtigkeit zuzutrauen war, und er nannte ebenfalls andauernd Regis' Namen, wenn er mit ihm sprach. Außerdem war er reich genug, um in solchen Kleidern herumzulaufen, auch wenn er ihn noch nie in so einem Aufzug gesehen hatte.
    „Deine Antwort lautet also Lehmar“, fasste der Rätselsteller nach einer kurzen, dramatischen Pause zusammen. „Und diese Antwort ist... leider falsch, Regis. Das war dein erster Fehlversuch. Den wirst du gleich noch bereuen, fürchte ich.“
    Regis war nicht überrascht davon, dass er daneben getippt hatte. Lehmar mochte ein Sadist sein, aber er war sicher nicht völlig übergeschnappt. Und das war der Kerl, der ihm gerade gegenüberstand, mit einiger Sicherheit.
    „Du enttäuschst mich ein wenig, weißt du das?“ Der Mann hob die Hand mit der Axt und ließ die Schneide klappernd abwärts über die Gitterstäbe gleiten. „Dabei habe ich dir doch schon einen Hinweis zukommen lassen, vor ein paar Tagen. Zwei Hinweise, um genau zu sein...“
    „Die Schuhe?“, begriff Regis. „Du warst das mit den Schuhen?“
    „Aha, sehr gut! Ganz genau, Regis, die Schuhe. Du selbst hast mir diese Schuhe verkauft, damals, als du deinen Laden gerade erst eröffnet hattest. Wusstest du, dass ich sie gekauft habe, um unser kleines Spiel vorzubereiten? Ja, Regis, so lange habe ich es schon im Sinn. Du kannst dir also vorstellen, dass heute ein ganz besonderer Tag für mich ist. Für uns beide. Aber es wird Zeit für den nächsten Versuch. Einen Namen bitte, Regis! Drei...“
    Fieberhaft ging Regis die Liste seiner frühen Kunden durch. Einer der ersten war Bosper gewesen, aber der kam nicht infrage. Lucy hatte schon am zweiten Tag einen Schuh gekauft, aber die Person hinter dem Gitter war ganz eindeutig männlich. Und Constantino, der hatte längst das Zeitliche gesegnet.
    „Zwei...“
    Es musste jemand Reiches sein, jemand, der sich diesen Aufzug leisten konnte. Ein Bewohner des oberen Viertels. Larius hatte einige seiner ersten Schuhe erworben, das wusste Regis noch genau. Aber der frühere Statthalter lebte mittlerweile in Vengard, und es schien ihm mehr als unwahrscheinlich, dass er für ihn zurück nach Khorinis gekommen war.
    „Eins...“
    Lutero etwa? Aber der hatte eine viel tiefere und angenehmere Stimme. Die Stimme, die unter dem Ritterhelm hervordrang, hätte auch ohne den blechernen Klang an seinen Nerven gezerrt. Es war die Stimme eines selbstverliebten Mannes, eines Mannes, der sich am liebsten selbst reden hörte...
    „Valentino?“, stieß er hervor. „Valentino, was soll diese verdammte Scheiße?“
    Der Mann steckte sich die Axt an den Gürtel und hob den Helm mit beiden Händen von seinem Kopf. Das Gesicht unter dem Helm hatte Regis noch nie so schweißverschmiert gesehen, aber die schmalen, spöttisch gekräuselten Lippen und die selbstzufrieden glotzenden Augen waren unverkennbar.
    „Gar nicht schlecht, Regis“, sagte Valentino und stellte den Helm polternd auf dem Boden ab. „Du hast das Rätsel in nur zwei Versuchen gelöst. Das ist besser, als ich erwartet hatte.“
    „Das ist nicht lustig, Valentino!“ Fassungslos und wütend krallte Regis die Finger im Gitter fest, und es begann ganz ohne sein Zutun zu klappern. „Hör mit diesem lächerlichen Unsinn auf und lass mich endlich zu meiner Tochter!“
    Valentino faltete die Hände vor der Brust und wackelte gemütlich mit den Fingern. „Wieso denn so schnell? Der erste Teil des Finales ist vorbei, aber den zweiten sollten wir noch ein wenig hinauszögern. Um es besser genießen zu können, verstehst du?“
    „Ich verstehe überhaupt nichts!“, brüllte Regis. Nicht einmal damals, als er Valentino zum ersten Mal getroffen hatte, war sein Verlangen so groß gewesen, ihm die Fresse zu polieren. Aber diesmal war ein verdammtes Eisengitter dazwischen. „Was – was soll das hier? Wieso tust du mir das alles an?“
    „Das ist eine sehr gute Frage“, lobte Valentino. „Und das Beste ist: Du weißt ja noch nicht einmal, was ich dir alles angetan habe!“
    „Was soll das heißen?“
    Regis spürte plötzlich, wie ihm schon wieder die Sinne zu schwinden drohten. Er griff mit der anderen Hand nach dem Gitter, aber diesmal bloß, um sich auf den Beinen zu halten.
    „Du glaubst vielleicht, dass alles, was dir in den letzten Tagen widerfahren ist, bloß eine Laune des Schicksals war. Eine verhängnisvolle Reihung ungünstiger Zufälle. Aber damit liegst du falsch, Regis. Lehmar ist ein guter Freund von mir, und er ist einem lukrativen Geschäft nie abgeneigt. Es war ein Leichtes, ihn dazu zu bringen, den Vertrag mit dir ein bisschen... interessanter zu gestalten. Der Überseehändler, der auf einmal mit fünfzig wunderbaren und sehr günstigen roten Lederstiefeln in der Stadt aufgetaucht ist? Du kannst ja mal raten, von wem er die Information darüber hatte, woran Hauptmann Wulfgar gerade interessiert ist. Und als Wulfgar nicht gleich in den Handel einwilligen wollte, was meinst du, welches Ratsmitglied es war, das für die nötige Überzeugungsarbeit gesorgt hat? Du musst darauf nicht antworten, Regis, das war beides ich. Ich war es auch, der einen Batzen Gold in die Hand genommen und die beste Dirne von Khorinis für dich angeheuert hat. Ich war es, der dafür gesorgt hat, dass Sarahs Marktplatzstand ein bisschen umgestaltet wird, damit deine Freundin es nicht zu lange bei ihr aushält und auch zeitig wieder bei dir zuhause ist. Da siehst du mal, was du mir wert bist, Regis. Das habe ich alles nur für dich gemacht.“
    Regis kam bei all dem nicht mehr richtig hinterher. Sein Kopf schmerzte wieder stärker denn je, und als er mit der Hand seinen entflammten Nacken berührte, da schossen heiße Wellen seinen Rücken hinab. Nur noch ein Wort war übrig geblieben, das er seinem Peiniger entgegen spuckte.
    „Warum?“
    Valentino zog die Augenbrauen hoch. „Warum? Das fragst du mich wirklich? Dabei bist du es doch, der das alles begonnen hast. Du hast mich verprügelt, aus heiterem Himmel, bloß weil ich ein paar harmlose Worte an dich gerichtet habe. Glaubst du etwa, ich hätte das vergessen?“
    „Aber... das ist doch ewig her! Es war nur ein Schlag, das kannst du mir doch unmöglich immer noch nachtragen!“
    „Nur ein Schlag! Ja, nur ein Schlag!“ Valentinos edles Gesicht hatte sich mit einem Schlag zu einer hässlichen Fratze verzogen. „Dann schau dir an, was dieser Schlag angerichtet hat!“
    Er hielt sein Gesicht ganz nah an das Gitter und zog mit den Fingern der rechten Hand die Unterlippe so weit hinunter, das Regis sein Gebiss sehen konnte. Es war ein ganz normales, wenn auch überdurchschnittlich gut gepflegtes Gebiss, aber an der linken Seite fehlten im Unterkiefer zwei Backenzähne.
    „Du hast mir zwei Zähne ausgeschlagen“, zischte Valentino, „und das für immer! Jedes Mal, wenn ich in eine Scavengerkeule beiße – jedes Mal, wenn ich ein Stück Keilerbraten esse – jedes Mal, wenn ich an einem kandierten Apfel knabbere – jedes einzelne Mal werde ich daran erinnert, dass du, Regis, dass du mir zwei meiner Zähne genommen hast! Dass du mich verstümmelt hast! Und deine Strafe, die dir die Miliz auferlegt hat? Fünfzig Goldmünzen. Fünfzig lächerliche Goldmünzen! Meine Zähne bekomme ich nie mehr zurück, aber deine fünfzig Münzen, das wusste ich schon damals, die würdest du ganz schnell zurückbekommen können – und natürlich, die hattest du später schon mit dem ersten verkauften Schuh wieder eingenommen! Ich wusste gleich, dass ich selbst dafür sorgen musste, wenn ich wollte, dass du eine echte Strafe – eine angemessene Strafe bekommst. Aber zu der Zeit warst du ein armer Herumtreiber ohne Arbeit und ohne Familie, der den ganzen Tag auf einer Bank herumlungerte. So jemanden kann man nicht bestrafen. Also beschloss ich, zu warten. Monate, Jahre, wenn nötig. So lange, bis du es zu etwas gebracht haben würdest. Und weil ich manchmal ein ungeduldiger Mensch sein kann, habe ich dir ein wenig dabei unter die Arme gegriffen. Wieso sonst hätte ich Stammkunde bei dir werden sollen, als ob nie etwas gewesen wäre? Woher, glaubst du, kamen wohl all deine reichen Kunden aus dem oberen Viertel? Niemand, Regis, niemand hätte sich einen Dreck um dich geschert, wenn ich dich nicht bei all meinen Freunden in den höchsten Tönen gelobt hätte! Was du erreicht hast, das hast du mir zu verdanken! – Und ich bin es jetzt auch, der es dir wieder nimmt. Als du kurz davor warst, den letzten Schritt hin zum unabhängigen Handwerksmeister zu machen – als du schon deine kleine, glückliche Familie gegründet hattest – da wusste ich, dass der richtige Moment gekommen war. Und nun, Regis, fehlt nur noch ein letzter Schritt, um deine Strafe vollständig zu machen. Der letzte Teil des großen Finales. Du hast mich verstümmelt, jetzt wirst du dich selbst verstümmeln.“
    Mit einem Ruck löste er die Axt wieder von seinem Gürtel.
    „Es ist eine wunderbare Wendung des Schicksals, dass du zwei Versuche gebraucht hast, Regis. Du hast zwei Teile von mir genommen, nun wirst du dir selbst zwei Teile nehmen müssen.“
    „Du bist ja völlig wahnsinnig“, fasste Regis das Gehörte in aller Kürze zusammen. „Und vielleicht hast du es noch nicht mitbekommen, aber dein großartiger Plan ist nicht so aufgegangen, wie du dir das vorgestellt hast. Anja hat mich nicht verlassen, und das Geld für Lehmar bekommen wir gemeinsam auch noch zusammen. Siebzehn Stiefel habe ich allein gestern verkauft, trotz allem, was du gegen mich unternommen hast! Die Kunden rennen mir den Laden ein wie nie zuvor, ist das auch Teil deines Spiels?“
    Zu Regis’ Freude war deutlich sichtbarer Ärger in Valentinos Augen aufgeblitzt, aber sein Widersacher hatte sich schnell wieder unter Kontrolle.
    „Ob du gewinnst oder verlierst, das wird sich erst am Ende zeigen“, sagte er. „Die letzte Runde beginnt jetzt.“
    Ohne Vorwarnung ging er in die Knie und schleuderte ihm die Axt durch eine Lücke unter dem Gitter entgegen. Regis machte einen stolpernden Satz zur Seite, und die Waffe landete platschend im Abwasser hinter ihm.
    „Zwei Versuche, zwei Körperteile. Du darfst dir sogar aussuchen, welche. Oh, es kommen aber natürlich nur Arme und Beine infrage – und der Kopf, aber den wirst du nicht wählen wollen.“
    Während Valentino noch sprach, war Regis zur Axt geeilt, aber kaum hatte er sie erreicht, da hörte er schon an der Entfernung seiner Stimme, dass er nicht mehr direkt am Gitter stand. So dumm war er leider nicht.
    „Ein Schuhverkäufer ohne Füße?“, sinnierte Valentino, während er rückwärts durch den Gang hinter dem Gitter schritt. „Das macht sich nicht so gut. Ein Schuhmacher ohne Hände? Das macht die Arbeit sicher nicht leichter. Aber du wirst schon die richtige Entscheidung treffen. Und du solltest sie besser schnell treffen. Denn wenn ich bei deiner Fanni angekommen bin, dann möchte ich gerne einen überzeugenden Schmerzensschrei von dir hören, ansonsten bist du es womöglich, der gleich einen hört... und der wird dir nicht gefallen, Regis...“
    Mit wild pochendem Herzen kauerte Regis in der stinkenden Abwasserrinne und sah, wie Valentinos Umriss in der Dunkelheit verschwand, während seine Schritte in den Tiefen der Katakomben verhallten.
    Arme oder Beine.
    Waren seine Hände nicht ohnehin schon zu nichts mehr zu gebrauchen? Machte es noch einen Unterschied, wenn dort bloß noch zwei Stümpfe waren, wo nun zwecklos zappelnde Gliedmaßen steckten?
    Aber beide Arme konnte er sich ohnehin nicht abtrennen. Ein Arm und ein Bein? Hatte Valentino das erlaubt? Welche Rolle spielte es überhaupt, wenn er auf dem Weg nach draußen ohnehin längst verblutet war? Und wer wusste schon zu sagen, ob der Scheißkerl Fanni nicht trotzdem etwas antat – ob er ihr womöglich längst...
    Sein Blick fiel auf das Eisengitter, an dem sich hier und da Rostflecken zeigten. Aber war das genug, um es brüchig zu machen? Er wusste es nicht zu sagen, aber es war seine einzige Chance. Für diesen Irren würde er sich ganz sicher nicht verstümmeln – erst recht nicht, wenn er nicht einmal wusste, dass es überhaupt einen Unterschied machte. Da war nichts als ein bisschen altes Eisen zwischen ihnen beiden. Valentino würde es noch bereuen, dass er ihm eine Axt gegeben hatte.
    Entschlossen packte Regis den hölzernen Griff der Waffe, sprang in die Höhe – und sah, wie die Axt seinen zittrigen Fingern wieder entglitt. Hellbraunes Wasser spritzte ihm ins Gesicht, als die schwere Waffe einmal mehr inmitten der Abwasserrinne aufkam.
    „Nein... nein...“ Panisch bückte sich Regis erneut nach dem Griff, aber noch während er die Finger um ihn schloss, öffneten sie sich bereits wieder. Immer nur für einen kurzen Moment konnte er seine nervös zuckenden Finger dazu bringen, sich zu krümmen, bevor sie wieder taten, was immer sie wollten.
    „Komm schon“, flüsterte Regis zu sich selbst. „Komm schon, nur einmal fest greifen und dann zum Gitter...“
    Er versuchte es erneut, schaffte es, die Axt bis auf die Höhe seines Knies anzuheben, bevor seine Finger teils erschlafften, teils verkrampften, und ihre Beute wieder im Abwasser versenkten.
    Beim dritten Versuch bekam er nicht einmal mehr eine Faust zustande. Er versuchte es mit der linken Hand, und tatsächlich fühlte er sich im ersten Moment sicherer damit, schaffte es sogar, mit der Axt in der Hand einen Schritt auf das Gitter zuzumachen, bevor sie ihm einmal mehr durch die Finger rutschte.
    Er versuchte es wieder und wieder, mit der linken, mit der rechten Hand, dann mehrmals mit beiden zugleich, aber es hatte alles keinen Zweck. Seine Hände gehorchten ihm nicht. Er hatte keine Kontrolle mehr über sie.
    „Ein netter Trick, Regis.“
    Ohne dass er es bemerkt hätte, war Valentino wieder hinter dem Eisengitter erschienen. Verzweifelt hielt er nach Fanni Ausschau, aber sein durchgeknallter Widersacher hatte sie offenbar nicht mitgebracht.
    „Überraschend kaltblütig von dir, dass du für so eine Finte das Leben deiner Tochter aufs Spiel setzt, aber dennoch: Ein netter Trick. Du glaubst aber nicht wirklich, dass ich darauf hereinfalle, oder?“
    „Das ist kein Trick“, keuchte er. „Meine Hände zittern seit Wochen, und seit ein paar Tagen kann ich sie kaum noch gebrauchen. Ich bin krank, Valentino. Du kannst lange darauf warten, dass ich mir irgendwas abhacke.“
    „Hältst du mich für dumm, Regis?“, zischte Valentino. „Ich glaube, es wird Zeit, dass ich dir ein Stückchen deiner Tochter vorbeibringe, damit du eine kleine Wunderheilung für mich vollbringst.“
    „Du hast doch neben mir gesessen auf Luteros Hochzeitsfeier“, erinnerte sich Regis. „Du wirst mich doch beobachtet haben die ganze Zeit, oder hast du dich etwa zufällig neben mich gesetzt? Du musst bemerkt haben, dass ich meine Suppe nicht essen konnte, weil meine Hand so gezittert hat! Und dass ich meine Rede nicht richtig ablesen konnte, weil ich den Zettel nicht ruhig halten konnte!“
    „Du warst nervös, das ist alles.“ Valentino gab sich unbeeindruckt, aber Regis war sich sicher, dass er Verunsicherung aus seinem Tonfall herausgehört hatte. „Weil du die Gegenwart von Menschen nicht erträgst, die besser sind als du. Weil du genau wusstest, dass du auf dieser Versammlung höherer Männer nicht das Geringste verloren hattest.“
    „Und als ich vor meiner Haustür stand und den Schlüssel nicht ins Schloss bekam?“, setzte Regis nach. „Das war kurz bevor du mich niedergeschlagen hast, das kannst du nicht übersehen haben. Ich habe Minuten gebraucht, um in mein eigenes Haus zu kommen!“
    „Pah“, machte Valentino, und Regis verbuchte es als kleinen Erfolg, dass ihm nicht sofort eine schlaue Erwiderung dazu eingefallen war. „Aber irgendwann hast du es ja doch geschafft. Also wirst du es auch diesmal schaffen.“
    „Nein“, sagte Regis und ließ beide Arme sinken. „Du kannst mir drohen wie du willst, aber wenn du mir etwas abhacken willst, dann wirst du es selber machen müssen.“
    Es war Valentino anzusehen, dass er mit sich rang. Vermutlich war ihm die Aussicht darauf, sich in einen Raum mit Regis zu begeben, genauso wenig geheuer wie die Notwendigkeit, dazu in Kontakt mit stinkenden Abwässern zu geraten.
    „Wie du willst, Regis“, sagte er schließlich und hatte im nächsten Moment einen kleinen kupfernen Schlüssel in der Hand. „Aber dann wirst du nicht mehr derjenige sein, der entscheidet. Zurück zur Wand, Regis!“
    Valentino hatte den Schlüssel offenbar bereits im Schloss versenkt, machte aber keine Anstalten, ihn herumzudrehen. Regis überlegte, was sein Entführer wohl tun würde, wenn er einfach liegenblieb, aber der Gedanke daran, dass der Wahnsinnige womöglich doch noch ernst machen und Fanni etwas antun würde, setzte ihn schließlich in Bewegung. Er schleppte sich zur entgegengesetzten Wand und beobachtete, wie Valentino das Gitter öffnete. Quietschend klappte es zum Abwasserkanal hin auf, und Valentino schritt mit sichtbarem Unbehagen hindurch.
    „Rühr dich nicht vom Fleck, verstanden?“, hallte seine plärrende Stimme durch die Stille. „Eine Bewegung, und ich renne zurück in den Gang und... du weißt, was ich dann mache, nicht wahr, Regis? Das wirst du nicht wollen, Regis!“
    Er antwortete nicht, und er rührte sich nicht. Er schaute dabei zu, wie Valentino mit angewiderter Miene durch das Abwasser watete, bis er die Axt erreicht hatte und sich nach kurzem Zögern dazu durchringen konnte, sie aufzuheben.
    „Ich habe mich noch gar nicht entschieden, Regis.“ Mit der tropfenden Axt in den Händen hatte er nun die Mitte des Kanalkorridors passiert und erreichte kurz darauf das andere Ufer der Abwasserrinne. „Arme oder Beine? Das ist eine so schwierige Entscheidung. Vielleicht... vielleicht nehme ich einfach den Kopf.“
    Regis hörte ein Zittern in Valentinos Stimme. Er rührte sich nicht, als der schmale Mann näher und näher kam, die Axt mit beiden Händen umklammert. Und dann, als er direkt vor ihm stand, da sah Regis, dass er zitterte. Valentino zitterte vor Angst.
    Und das zurecht.
    Nach dem ersten Tritt in den Bauch krümmte sich Valentino bloß zusammen, beim zweiten in die Brust stürzte er hinterrücks ins Abwasser. Bevor er sich aufrappeln konnte, war Regis schon wieder bei ihm und versetzte ihm einen weiteren Tritt in die Magengrube. Er trat seine Beine, er trat seine Arme, und zuletzt, bevor er sich zurückhalten konnte, trat er Valentino mitten ins Gesicht.
    „Du Scheißarschloch!“, brüllte Regis dem blutverschmierten Gesicht entgegen und trat die Axt weg, die noch in der Nähe von Valentinos zuckender rechter Hand gelegen hatte. „Eine Prügelei mit einem Schwächling wie dir gewinne ich auch ohne Hände!“
    Unter röchelndem Gewimmer spuckte Valentino ein paar Zähne ins Abwasser. „Schon... schon gut, Regis. War doch nur... nur’n Spiel... Und du hast... gewonnen, Regis. Du hast gewonnen.“
    „Was hast du mit Fanni gemacht?“, bellte Regis ihn an. „Wieso hast du sie mir nie gezeigt? Ist sie – hast du sie –“
    „Sie ist... bei dir zuhause, Regis“, brachte Valentino mühsam hervor. „Ich schleppe doch keine... keine kleinen Mädchen in die Kanalisation...“
    Regis spürte, wie sich Erleichterung in ihm breit machen wollte, aber noch war er sich nicht sicher, ob er Valentino in dieser Sache trauen konnte. Und selbst wenn es stimmte, was er sagte, dann war Fanni womöglich immer noch ganz alleine dort. Er wusste ja nicht einmal, wie viel Zeit seit seiner Entführung vergangen war.
    „Und stattdessen hast du sie einfach in meinem Haus gelassen? Ohne jemanden, der auf sie aufpasst, kann sie sich genauso gut selbst umgebracht haben!“
    „Tut mir leid, Regis“, murmelte Valentino, während ein rot gefärbter Speichelfaden damit begann, von seinem Kinn zu tropfen. „Tut mir echt... leid...“
    Regis beschloss, keine weitere Sekunde mehr mit diesem Idioten zu verschwenden. Er musste sofort zu Fanni, um sicherzugehen, dass es ihr gut ging. Ohne Valentino noch eines Blickes zu würdigen, rannte er humpelnd auf das offene Gitter zu und gelangte in den unbeleuchteten, schmalen Gang dahinter. Der dunkle Korridor erwies sich als weit weniger lang, als Regis zuvor vermutet hatte, und mündete nach einer rechtwinkligen Biegung in ein etwas größeres Gewölbe, das wieder mit Fackeln ausgeleuchtet war. In einer Ecke standen ein paar alte, halb verrottete Möbel herum: Schränke, ein Bett, die Überreste einer Truhe. Er fragte sich, ob das die alten Habseligkeiten der Diebe waren, die hier vor ein paar Jahren noch gehaust hatten. Hastig sah sich Regis nach einem Weg an die Oberfläche um und wurde auf einen von ein paar Brettern vernagelten Durchgang aufmerksam, hinter dem er den Absatz einer Treppe ausmachte. Ein weiteres Mal nahm er all seine verbliebenen Kräfte zusammen und trat mehrmals fest gegen die Bretter, bis sie endlich nachgaben und eines nach dem anderen geräuschvoll zersplitternd den Weg frei gab.
    Hoffnungsvoll bemerkte Regis, dass die Treppe tatsächlich ein ganzes Stück aufwärts ging, und, wie ihm nach dem ersten Treppenstück klar wurde, in rechtwinkligen Kurven immer weiter nach oben führte. Als er endlich die oberste Stufe erreicht hatte, versperrte eine Holztür seinen Weg – aber nur für einen kurzen Moment. Die Tür war so morsch, dass sie sein Tritt nicht aus den Angeln riss, sondern ein Stück Holz aus ihr herausschlug. Nach dem dritten Tritt war das Loch groß genug, dass Regis sich hindurchzwängen konnte und sich in einem dunklen Raum wiederfand. Vorsichtig tastete er sich voran, als sich plötzlich direkt vor ihm eine Tür öffnete und er in die erschrocken aufgerissenen Augen einer Frau blickte.
    „Hanna?“, erkannte Regis verwirrt. Hinter ihr konnte er eine ihm bekannte Holztheke und die Treppe erkennen, die in das obere Stockwerk führte. Er befand sich ganz offensichtlich im Hotel am Marktplatz.
    „Wie... wie bist du denn...?“, stammelte Hanna im Flüsterton und hielt sich gleich darauf mit der freien Hand die Nase zu. „Bist du etwa durch die... die Tür...?“
    „Ich komme aus der Kanalisation“, erklärte er ihr knapp. „Lange Geschichte.“
    Hanna starrte ihn irritiert an, während er stinkendes Abwasser auf einen ihrer Teppiche tropfte. Dann sagte sie: „Hör mal, Regis, es wäre nett, wenn du das mit der Treppe nach unten... also, wenn du das für dich behalten könntest. Ich... ich weiß nicht, was du dir gerade zusammenreimst, aber, also... wie soll ich sagen... Hauptmann Wulfgar weiß über alles Bescheid, und die Sache ist längst geklärt. Es wäre also nett, wenn du keine unnötigen Gerüchte verbreiten würdest, ja?“
    Sie war drauf und dran, noch weiter auf ihn einzureden, aber Regis hatte dafür keinen Nerv. Irgendwelche geheimen Treppen in Hannas Hotel waren gerade das Letzte, worüber er sich Gedanken machen wollte.
    „Wir reden später darüber, in Ordnung? Ich muss jetzt wirklich dringend los.“
    Ohne eine Verabschiedung abzuwarten, hastete Regis durch den Ausgang hinaus auf den menschenleeren Marktplatz. Die Stände hatten alle schon zugemacht, und die Sonne war gerade dabei, unterzugehen. Eine dürre Mondsichel leuchtete bereits schwach vom Himmel herab. Anja musste längst wieder zuhause sein und sich fürchterliche Sorgen um ihn machen – und Fanni, wie lange die wohl alleine gewesen war, darüber konnte Regis nur mit einiger Besorgnis mutmaßen. Er bemühte sich, seinen Schritt noch weiter zu beschleunigen, aber obwohl ihm die Aufregung dabei half, die Schmerzen zu vergessen, spürte er beim Eintritt in die Unterführung zur Handwerkergasse deutlich, dass ihm jeder Schritt schwerer fiel. Welche Krankheit es auch immer war, die ihn befallen hatte – sie mochte sich vielleicht am deutlichsten in seinen Händen gezeigt haben, aber sie hatte auch den Rest seines lädierten Körpers nicht verschont.
    Als Regis sich an der Schmiede vorbei schleppte und bereits sein Haus sehen konnte – durch das Fenster war kein Feuerschein vom Kamin her auszumachen – da wurde ihm erst bewusst, dass er seinen Mantel und damit auch seinen Haustürschlüssel unten in der Kanalisation liegen gelassen hatte. Nichts hätte ihn in diesem Augenblick weniger stören können, denn er hatte zwar dumpf, aber ausreichend deutlich eine geliebte Stimme vernommen. Anjas Stimme. Sie war zuhause. Ein paar letzte Schritte – und er war es auch. Anja musste fast umkommen vor Sorge um ihn, aber gleich würde auch sie erlöst sein und der Albtraum dieses Tages hatte für alle von ihnen ein Ende.
    Regis wollte klopfen, aber noch während er sich vergeblich darum bemühte, die Finger zur Faust zu ballen, wurde ihm bewusst, dass die Tür einen Spalt weit offen stand.
    Er stieß mit dem Knie gegen das Holz, und die Tür schwang nach innen auf.
    „Sieht so aus, als bekommen wir Besuch“, sagte eine raue Männerstimme.
    Im abendlichen Dämmerlicht brauchte er einen Augenblick, bevor er wieder wusste, woher er die junge Südländerin und den stämmigen Blonden kannte, die in einigem Abstand voneinander mit gezückten Waffen inmitten seiner Werkstatt standen. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, seit er ihnen gegenüber gesessen hatte, einen ganzen Abend lang, ohne dass sie je ein Wort miteinander gewechselt hätten. Erleichtert sah er, dass auch Anja im Raum war, und dass Fanni gerade ihr kleines Köpfchen hinter der Absperrwand zum Wohnbereich hervorstreckte. Beiden ging es gut, aber es war auch offensichtlich, dass etwas nicht stimmte. Anja hatte sich zwischen den beiden merkwürdigen Hochzeitsgästen und der Holzabsperrung aufgestellt und reckte ihnen ihre rechte Hand entgegen, die in Sumpfi dem Sumpfhai steckte. Für einen Moment glaubte Regis, in eine absurde Puppentheatervorführung hineingeraten zu sein, aber die greifbare Anspannung, die in der Luft lag, war ihm nicht entgangen.
    „Regis, geh bitte.“ Kurz zuckten Anjas Pupillen in seine Richtung, dann wechselten sie wieder in schneller Folge zwischen den beiden Fremden hin und her, die ihr gegenüberstanden. „Komm in einer Viertelstunde wieder, ja?“
    „Aber wieso denn?“, wandte die zierliche Südländerin mit gepresster Stimme ein. Sie hatte die Körperhaltung eines in die Enge getriebenen Scavengers, der jederzeit damit rechnen musste, in der nächsten Sekunde von einem Schattenläufer angefallen zu werden. Immer wieder malte sie mit ihrer dünnen Klinge kleine Kurven in die Luft. „Lass ihn ruhig alles mit ansehen. Du kannst ihm nicht ewig etwas vormachen, Natalia.“
    „Natalia?“, wiederholte Regis, während er wie festgefroren im Türrahmen verharrte. „Wieso nennt sie dich so, Anja?“
    „Weil sie so heißt“, gab die junge Frau zurück.
    „Still!“, zischte Anja, und Sumpfi der Sumpfhai zuckte ein Stück nach vorn. „Noch ein Wort –“
    „Und was?“ Die Südländerin rang sich einen herausfordernden Blick ab, zu dem sie sichtlich all ihren Mut aufbringen musste. „Ganz egal welchen du gegen uns einsetzen willst, du kannst uns nicht beide gleichzeitig damit erwischen. So gut bist du nicht, Natalia. Einer von uns wird dich kriegen.“
    „Chani hat recht“, sagte der Blonde, der ein Langschwert auf Anja gerichtet hielt, das viel zu klein für ihn wirkte. „Gib besser auf, solange du noch kannst. Dann können wir das hier alles friedlich zu Ende bringen. Niemand muss verletzt werden.“
    „Sie hat Marlon umgebracht“, setzte die Frau namens Chani dagegen. „Das können wir ihr nicht durchgehen lassen. Aber der Mann und das Mädchen können leben.“
    „Marlon hat sich in mein Haus eingeschlichen!“, entfuhr es Anja plötzlich laut. Nervös leckte sie sich über die Lippen, während sie die beiden Eindringlinge nicht aus den Augen ließ. „Ich bin so lange ruhig geblieben – als ihr mir auf der Hochzeit aufgelauert habt, als ihr nachts um mein Haus geschlichen seid – aber Marlon hat sich als Lehrling an meinen Mann rangewanzt, er hätte ihm alles erzählen können! Damit seid ihr zu weit gegangen, ich musste etwas tun!“
    „Du hättest ihn nicht umbringen müssen.“ Chani näherte sich ihr mit einem winzigen Schritt, von dem sie vermutlich hoffte, dass er nicht bemerkt wurde.
    „Das wollte ich auch überhaupt nicht! Es war nur ein kleiner Windstoß, nur zur Warnung, damit er sich aus meinem Haus fernhält. Woher sollte ich wissen, dass der Idiot nicht schwimmen kann?“
    „Sie lässt nicht mit sich reden, Hrothgar“, sagte Chani, ohne sich zu dem großen Nordmann umzudrehen. „Das hätte uns schon vor Tagen klar sein sollen. Mach dich bereit.“
    „Ich möchte kein Blutvergießen“, beharrte ihr Kampfgefährte. „Aber ich bin an deiner Seite, Cha –“
    Ehe Regis begriffen hatte, was geschah, drehte sich der große Blonde urplötzlich zur Südländerin um und hechtete mit großen Sprüngen auf sie zu.
    „Scheiße!“, quiekte Chani und rollte sich in der allerletzten Sekunde unter Hrothgars wuchtigem Schwerthieb weg. „Das kannst du nicht machen, Natalia!“
    „Ihr lasst mir keine andere Wahl.“ Offenbar hochkonzentriert beobachtete Anja mit ausgestrecktem Sumpfhaiarm, wie Chani von ihrem ehemaligen Verbündeten in die Enge getrieben wurde, mit flinken Sätzen zur Seite ein ums andere Mal seinen kräftigen Schlägen auswich und dabei mehrere kleine Regale und Ausstelltische von sich stieß. Dutzende Schuhe verteilten sich über den Boden, und bei einem hektischen Sprung zurück stieß sie sogar den Sessel um.
    Als sich die junge Frau schließlich in einer Ecke des Raumes wiederfand und sich mit panischen Blicken einen Fluchtweg vor ihrem mit gezückter Klinge heraneilenden Verfolger umsah, konnte Regis den nackten Angstschweiß auf ihrer Stirn funkeln sehen.
    „Natalia – !“
    Regis wollte es nicht mit ansehen und wandte den Blick ab, aber dabei sah er etwas ganz anderes: Fanni war hinter der Holzabsperrung hervorgekommen, krabbelte mit gierigen Augen auf ihre Mutter zu – und sprang plötzlich mit einem großen Satz an ihr Bein.
    „Fanni!“, schrie Anja entsetzt auf, als ihre Tochter rasend schnell an ihrem Körper nach oben kletterte. „Fanni – nicht!“
    Fanni war direkt vor ihrem Gesicht, umklammerte ihren Hals mit einer Hand und grabschte mit der anderen nach der Handpuppe, zerrte sie mitsamt der Hand ihrer Mutter ein Stück zu sich heran – und versenkte im nächsten Augenblick ihre Zähne in die graue Wolle. Stofffetzen wirbelten durch die Luft, als das kleine Mädchen den Sumpfhai mit der Wucht eines Raubtiers zerbiss. Als Anja sie endlich von der Puppe losgerissen und heftig schnaufend auf dem Boden abgesetzt hatte, waren an ihrer Hand nur noch ein paar kümmerliche Reste von Sumpfi dem Sumpfhai übrig. Der überwiegende Teil war in kleinen Fetzen über den Boden verstreut, über die sich Fanni sogleich emsig hermachte, kaum hatte ihre Mutter sie losgelassen. Und inmitten der Sumpfhaireste, zu Anjas Füßen, schimmerten ein paar bemalte, grüne Steinchen.
    „Nicht bewegen.“
    Regis zuckte zusammen, als Hrothgars breites Gesicht vor ihm auftauchte. Eine harte Kühle hatte sich an seine Kehle gelegt, und er musste den Blick nicht senken, um zu wissen, was ihm der Nordmann gerade an den Hals hielt.
    „Schön langsam zurückgehen, Natalia. Schön langsam.“
    Chani hielt Anja die Spitze ihres Degens an die Brust und zwang sie, ein paar Schritte weg von den Überresten der Handpuppe und den kleinen, ovalen Steinchen zu machen, die Anja offenbar darin verborgen gehalten hatte. Derweil trat Hrothgar hinter Regis’ Rücken und drückte ihn unsanft vorwärts, während die kalte Schwertklinge an seiner Haut schabte. Die Südländerin bedeutete Anja, sich vor den erloschenen Kamin zu knien, und Regis nahm auf Hrothgars Anweisung hin neben ihr Platz. Er stieß einen lange angehaltenen Atem aus, nachdem sich die Klinge wieder von ihm gelöst hatte.
    „So kann sich das Blatt wenden.“ Chanis Stimme hatte umgehend deutlich an Festigkeit gewonnen, als sie mit der Degenspitze abwechselnd auf die Gesichter von Regis und Anja deutete. „Vielen Dank an deine liebe kleine Tochter, Natalia. Da hast du ja ein echtes Biest herangezüchtet.“
    „Wieso nennt sie dich Natalia, Anja? Was... was zur Hölle ist hier eigentlich los?“ Regis hatte das Gefühl, vom einen Albtraum in den nächsten geraten zu sein. Die Begegnung mit Valentino und die schmutzige Feuchtigkeit der Kanalisation steckten ihm nach wie vor in Haut und Knochen, und er hatte keine Kraft mehr für was auch immer es sein mochte, in das er gerade hineingeraten war.
    „Ich kann mir vorstellen, dass du ein bisschen überrumpelt bist“, sagte Chani. „Aber glaub mir, du wirst mir noch dankbar dafür sein. Zumindest wenn du diese Nacht überlebst. Was noch nicht ganz entschieden ist.“
    „Chani“, brummte Hrothgar und berührte sie vorsichtig am Arm. „Wir haben, was wir wollen. Lass uns die Runen nehmen und verschwinden.“
    „Nein!“ Zornig schüttelte sie seine Berührung ab. „Noch bin ich nicht mit ihr fertig!“
    „Was für Runen?“, mischte sich Regis wieder in das Gespräch ein. „Kann mir endlich jemand erklären, was hier los ist? Anja, woher kennst du diese beiden überhaupt?“
    Anja presste die Lippen aufeinander und vermied jeden Blickkontakt. Regis konnte sehen, wie die Gedanken in ihr rasten, aber sie ließ keinen von ihnen nach draußen.
    „Deine Anja und ich“, ging stattdessen Chani auf die Frage ein, während sie mit der Degenspitze eine Strähne von Anjas Haar zum Schwingen brachte, „wir beide kennen uns schon seit einer ganzen Weile. Seit den Zeiten der Strafkolonie, um genau zu sein. Aber die Geschichten aus der Zeit wird sie bei euren gemeinsamen Abenden vor dem Kamin wohl lieber ausgelassen haben, nehme ich an?“
    „Du warst in der Strafkolonie?“ Regis wollte nicht glauben, was er da hörte, aber Anjas Verschlossenheit machte es ihm nicht leichter, in Chanis Worten bloße Lügen zu erkennen.
    „Ein paar Jahre lang sogar“, bestätigte ihm die Südländerin. „Was auch immer sie dir über ihre Herkunft erzählt hat, es entstammt nur ihrer Phantasie. Kreativ warst du ja immer, Natalia, das muss man dir lassen.“
    „Anja, ist das wahr? War das alles gelogen mit... mit Montera und deinem Vater und...?“
    Kurz öffnete sich ihr Mund, schloss sich wieder, ohne dass ihm ein Laut entwichen wäre.
    „Anja!“
    Für einen Moment vergaß er die Situation, in der er sich befand, und rüttelte an ihren Schultern, um sie dazu zu zwingen, endlich mit ihm zu reden.
    „Nein“, sagte sie plötzlich, als Regis gerade die Hoffnung verlieren wollte, überhaupt noch einmal ein Wort von ihr zu hören. Ihre Stimme war unerwartet kräftig, gar nicht viel anders als sonst. „Nicht alles. Ich komme wirklich aus Montera. Alles was ich dir über meine Familie gesagt habe, stimmt, Regis. Aber mein Vater hat mich nicht vom Hof gejagt. Er hätte es vielleicht getan, aber die Wachen sind ihm zuvor gekommen. Der Nachbarsjunge, von dem ich dir erzählt habe... er ist mir ein bisschen näher gekommen als mir lieb war, und er wollte auch nicht mehr von mir ablassen. Da habe ich ihn mit der Mistgabel abgestochen.“
    „Du hast... was?“
    „Ihn abgestochen. Mit der Mistgabel.“ Fast noch mehr als ihre Worte verstörte es Regis, dass sie dabei beinahe so unbekümmert klang wie gewohnt. „Er war ein Dreckskerl, das hatte er verdient. Ich bin mir sicher, dass ich vielen anderen Mädchen einen großen Gefallen damit getan habe. Aber für die Wachen war es natürlich Mord, und dafür haben sie mich in die Kolonie geschmissen.“
    „Und da ist sie dann bei mir gelandet – an der Seite des großen Gurus Y'Berion, im Tempel des Sumpflagers“, setzte Chani in einem merkwürdig feierlichen Tonfall hinzu. Hrothgar war währenddessen zu der genüsslich schmatzenden Fanni hinüber gegangen und hatte die kleinen Steine vom Boden aufgehoben, die in ihrer Nähe lagen.
    „Als Sklavin“, sagte Anja.
    „Nur weil du nichts anderes zugelassen hast.“ Chani beugte sich zu ihr hinab und ließ die Degenspitze zitternd auf der gleichen Holzdiele aufkommen, auf der ihr rechter Fuß aufsaß. „Du hast Y'Berions Worte nie an dich heran gelassen. Du hattest nie etwas anderes als Verachtung übrig für ihn und alle anderen. Du hättest die Runensteine nie bekommen dürfen.“
    „Moment mal“, schaltete sich Regis wieder ein, bevor er den Anschluss zu verlieren drohte. „Du warst im Lager von dieser... Sekte? In der alten Strafkolonie?“
    „Sehr gut aufgepasst“, kommentierte Chani spöttisch. „Und als die Barriere gefallen ist, hat sie das Chaos ausgenutzt und ist mit Y'Berions alten Runen davongekommen. Seitdem versteckt sie sich wohl hier in der Hafenstadt – so nah an ihrer alten verhassten Heimat im Sumpf, wer hätte das gedacht? Ich habe viel zu viel Zeit auf dem Festland verschwendet, aber jetzt habe ich dich ja endlich gefunden, Natalia. Und in der Zwischenzeit hast du dir mit den Runen ein schönes Leben gemacht, nicht wahr? Es sind aber auch ein paar sehr nützliche Zauber dabei...“
    Sie ließ ihren Blick über die grün bemalten, ovalen Steine wandern, die Hrothgar in den Händen hielt, und nahm sich nacheinander ein paar heraus.
    „Mit der Sturmfaust hier hast du Marlon erledigt, stimmt’s? Oh, und Schlaf? Unbezahlbar als junge Mutter. Ah, und schau mal hier, Regis, dieser Zauber müsste dir bekannt vorkommen.“
    Sie schloss die Finger um den Runenstein, den sie gerade in die Hand genommen hatte, und richtete die Faust auf Regis, der bereits mit dem schlimmsten rechnete. Aber alles, was er wahrnahm, war ein bekanntes Gefühl, an das er sich in den letzten Jahren längst gewöhnt hatte. Ein innerer Drang, der ihn jeden Morgen aus dem Bett trieb. Der ihn zum Staublappen greifen ließ, bevor Anja es tun konnte. Der ihn zum Herd gehen ließ, wenn Anja bloß erwähnte, dass es Zeit für das Abendessen war. Es war der Drang, alles zu tun und alles zu geben für seine Familie. Ein Drang, der immer ganz von selbst kam, ohne dass er darüber nachdenken musste. Ehe er sich versah, hatte sich Regis aufgerichtet, um vor Chani eine ächzende Verbeugung zu machen.
    Kontrolle. Sehr angenehm, wenn man sich den ganzen Tag bedienen lassen kann, hab ich recht, Natalia?“ Sie legte den Runenstein wieder zu den anderen in Hrothgars offenen Händen zurück, und im gleichen Moment spürte Regis, wie der innere Drang verschwand. Nach einer kurzen, aber umso bestimmteren Geste Chanis nahm er wieder neben der stoisch geradeaus blickenden Anja auf dem Boden Platz.
    „Das ist eine deiner Lieblingsrunen, oder, Natalia?“, giftete Chani. „Schau dir mal an, wie seine Hände zittern – in dem Ausmaß hab ich das ja noch nie gesehen. Aber ich nehme mal an, dass dir die Nebenwirkungen deiner kleinen Zaubereien egal sind, solange du nicht jeden Morgen dein Frühstück selber machen musst, hab ich recht?“
    Regis konnte und wollte nicht glauben, was sie ihm da weismachen wollte. Verzweifelt wartete er darauf, dass Anja etwas sagte, dass sie wütend Widerspruch einlegte, dass sie den Lügen ihrer Widersacherin etwas anderes, etwas Besseres entgegen setzte. Aber sie sagte nichts, und Regis drohte den Verstand zu verlieren.
    „Anja!“, kam es krächzend aus seinem Mund. „Sag was! Du kannst doch nicht... du hast doch nicht wirklich...?“
    „Schau mich nicht so an!“, blaffte Anja plötzlich zurück. „Du wärst doch nicht an einem einzigen Morgen auf die Beine gekommen, wenn ich dich nicht dazu gebracht hätte! Du hättest es nie zu irgendwas gebracht ohne mich, weil du den halben Tag nur im Bett gelegen hättest!“
    „W- was...?“, stammelte Regis.
    „Weißt du eigentlich wie das ist, dein ganzes Leben lang nur von irgendwelchen alten Männern herumkommandiert zu werden? Erst mein Vater, dann dieser ekelhafte Spinner Y'Berion... den ganzen Tag musste ich dem Dreckskerl mit einem Palmwedel Luft zufächeln – den ganzen verdammten Tag lang! Und dann durfte ich nicht einmal mit anderen Leuten sprechen, wenn mal jemand vorbeikam. Der hat mir das Sprechen verboten – einfach so, nur weil er die Macht dazu hatte! Damals hab ich mir geschworen: Wenn ich jemals wieder von da wegkomme, dann werde ich mir nie wieder von irgendeinem Mann was vorschreiben lassen! Und als die Barriere den Bach runter gegangen ist und die ganzen Sektenspinner den Verstand verloren haben, da hatte ich eben die Gelegenheit dazu, meinen Schwur in die Tat umzusetzen.“
    „Du hast Y'Berions Grab geschändet“, fiel ihr Chani grimmig ins Wort.
    „Na und?“, gab Anja unbeeindruckt zurück. „Ich wusste eben, dass seine alten Runensteine da vor sich hingammelten, und bevor ich aus dem Lager verschwunden bin, habe ich die noch eben mitgehen lassen. Dein Y'Berion hätte damit sowieso nichts mehr anfangen können. Und dann, als ich zurück in Khorinis war... dann war es ganz einfach. Ich hatte gedacht, dass ich Jahre damit verbringen müsste, die Magie der Runen zu lernen, aber es war so leicht. Es hat nur ein paar Tage gedauert, da hatte ich es raus. Das ganze Geschwafel über Kreise der Magie – reine Wichtigtuerei! Klar, dass die Baals nicht wollten, dass jeder Novize mit den mächtigsten Zaubern durchs Lager rennt. Aber am Ende – ein Haufen lächerlicher Wichtigtuer, nichts weiter.“
    „Die Zauber dieser Wichtigtuer sind aber gar nicht so lächerlich, oder, Natalia?“ Chani warf ihrer früheren Lagergenossin einen verächtlichen Blick zu. „Die sind dir ja offenbar ganz schnell ans Herz gewachsen.“
    „Wieso hätte ich sie auch nicht benutzen sollen?“ Anja schaute gar nicht in Chanis Richtung, sondern blickte nun Regis direkt in die Augen. „Du hättest mich doch auch nur den ganzen Tag am Herd stehen lassen wie jeder andere Mann auch. Du hättest den Vormittag verschlafen, ein bisschen an deinen Schuhen herumgehämmert, und um alles andere hätte ich mich kümmern sollen. Aber das kannst du vergessen, Regis. Auf so ein Leben habe ich keine Lust mehr.“
    „Aber...“ Regis traute sich kaum, die entscheidende Frage zu stellen, aber sie ließ sich einfach nicht vermeiden. „Aber... liebst du mich denn gar nicht?“
    „Natürlich liebe ich dich“, sagte Anja, als ob es eine Selbstverständlichkeit wäre. „Habe ich dir das nicht oft genug bewiesen in den letzten Tagen?“
    „Die eigentliche Frage“, ging Chani wieder dazwischen, die sich einen weiteren Runenstein gegriffen hatte, „ist ja auch eine ganz andere: Liebst du, Regis, deine Anja? Oder liebst du vielleicht...“
    Während sie sprach, da fiel Regis zum ersten Mal auf, wie angenehm weich Chanis Stimme klang. Er konnte nicht anders, als sich ihr zuzuwenden. Als sie ihn ansah, da blitzte ein ganz besonderes Funkeln in ihren tiefen, dunklen Augen auf, und Regis spürte, wie sich in seiner Bauchgegend ein wohliges Kribbeln ausbreitete, ganz so wie beim ersten Mal, als Anja ihn –
    ...mich, Regis? Liebst du mich, Regis?“
    Gebannt beobachtete er, wie Chanis feucht glänzende Lippen die verheißungsvollen Worte formten, wie sie seinem Gesicht immer näher kamen. Er spürte Chanis vertrauten Atem auf seinen Lippen, blickte in ihre liebgewonnenen freundlichen Augen... den Augen der Frau, die alles für ihn bedeutete... und er sehnte sich nach nichts mehr, als nach einem Kuss von ihr, nach einer einzigen sanften Berührung, nach einem weiteren warmen Atemstoß...
    „Ich liebe dich, Chani.“
    „Schluss damit!“, schrie Anja auf, und Chanis Gesicht entfernte sich wieder von ihm. Eine schreckliche Sehnsucht ergriff Besitz von ihm, aber als Chani den Runenstein zurück in Hrothgars Obhut legte, da verschwand das Verlangen so schnell wieder, wie es gekommen war.
    Freundlich stimmen“, schmunzelte die Südländerin beim Anblick von Anjas zorniger Miene. „Ein schwacher Name für einen Zauber, der so viel mehr kann, nicht wahr? Aber ich frage mich, ob du ihn jemals so gut hinbekommen hast wie ich gerade, Natalia? Ob er dich jemals so sehr geliebt hat, wie er mich gerade geliebt hat?“
    „Lass diese Spielchen“, schnaufte Anja. „Du hast sowieso schon alles kaputt gemacht. Nimm deine Runen und mach mit ihnen was du willst.“
    „Oh nein“, widersprach ihr Chani mit ernstem Blick. „Das hast du gemacht – mit ihnen gemacht, was du wolltest. Ich werde mit ihnen tun, was Y'Berion wollte. Was der Schläfer will.“
    „Du spinnst doch. Y'Berion hat dir den Verstand verdreht. Der alte Sack ist schon lange tot, und du glaubst immer noch an sein Gewäsch über den Schläfer!“
    „Y'Berion hat mir vertraut. Er hat mich in alle Geheimnisse eingeweiht, er hat mir alles über den Schläfer erzählt... und er hat mir den Umgang mit den Runen gezeigt. Er wollte, dass ich sie habe, Natalia, und er wollte, dass ich sie in seinem Sinne einsetze. Er würde wollen, dass ich der Bruderschaft in seinem Namen zu neuem Leben verhelfe.“
    „Du kannst ja gerne versuchen, ein paar Verrückte zu finden“, ging Anja gegen sie an. „Hauptsache du lässt mich da aus dem Spiel und verschwindest endlich aus meinem Haus!“
    „Nicht so schnell.“ Chani ließ den Blick über die Runensteine in den Händen ihres Gefährten schweifen. „Die interessantesten Runen haben wir uns ja noch gar nicht angeschaut. Soll ich vielleicht mal... diese hier an dir ausprobieren?“
    Blitzartig schloss sie die Faust um einen der Steine. Im nächsten Moment schossen dutzende Nägel aus einer von Regis’ Kisten in die Luft und flogen auf Anja zu, wo sie kurz vor ihrem Kopf in der Schwebe verharrten und von allen Seiten mit den Spitzen auf sie zeigten.
    Telekinese! Wie ich das vermisst habe!“, freute sich Chani über ihre beeindruckende Vorstellung. „Y'Berion hat mir einiges beigebracht, wie du siehst.“
    Sie löste die Finger wieder vom Runenstein, und die Nägel prasselten kraftlos über Anjas Haare und Arme zu Boden.
    „Aber es gibt da einen Zauber, den ich noch nicht so häufig ausprobieren konnte.“ Sie nahm sich einen weiteren Stein – wenn Regis richtig aufgepasst hatte, dann war es der letzte, den sie noch nicht in der Hand gehabt hatte, aber im Augenblick war er sich über gar nichts mehr völlig sicher – und drehte ihn voller Vorfreude zwischen den Fingern. „Pyrokinese. Die gerechte Strafe für einen Feind des Schläfers.“
    Regis hatte keine Ahnung, was er sich unter diesem Zauber vorstellen durfte, aber Anjas Blick gefiel ihm überhaupt nicht. Zu keinem Zeitpunkt in den vergangenen Minuten war ihr die nackte Angst so deutlich anzusehen gewesen.
    „Noch ein paar letzte Worte für deinen geliebten Regis, Natalia?“
    „Lass es sein, Chani.“ Hrothgar legte ihr einen Arm auf die Schulter, den sie umgehend wieder abschüttelte. „Das bringt uns Marlon auch nicht wieder zurück. Wir ziehen damit nur unnötige Aufmerksamkeit auf uns.“
    „Es ist unumgänglich“, sagte Chani mit fester Stimme. „Wer einen Bruder tötet, der muss gerichtet werden. Alles andere wäre ein Frevel gegen den Schläfer.“
    „Regis“, sagte Anja und nahm seine zittrige Hand, wie sie es schon so oft getan hatte. Aber diesmal fühlte es sich ganz anders an. „Regis, pass gut auf Fan-“
    Er schrie auf, als ein sengender Schmerz durch seine Finger zuckte. Hastig ließ er Anjas Hand los und starrte wie paralysiert auf die lodernden Flammenzungen, die aus ihren Fingerkuppen hervor zischten. Kreischend schlug Anja mit den Händen auf den Boden ein, um die Flammen zu ersticken, doch sie fraßen sich immer weiter durch ihre Finger, gingen nun auch noch auf den Holzboden über und ließen das Stuhlbein eines umgefallenen Hockers rot aufglühen, als Anja in ihrer Verzweiflung nach ihm griff. Regis wollte aufspringen und Chani die Rune aus der Hand schlagen, ihr die ekelhaft feierliche Miene aus dem Gesicht treten wie er das überhebliche Lächeln aus Valentinos Gesicht getreten hatte. Aber direkt vor seiner Nase schwebte die Spitze von Hrothgars Langschwert, und obwohl sich der Nordmann zuvor noch gegen den Einsatz des Zaubers ausgesprochen hatte, schien er nun keine Anstalten machen zu wollen, seine Glaubensschwester aufzuhalten.
    Hilflos musste Regis mit ansehen, wie grell leuchtende Stichflammen aus Anjas Händen aufstieben, wie sich Anja mit weit aufgerissenen Augen und im Todeskreischen versagender Stimme über den Boden wälzte, wie sie neue Flammenspuren hinter sich herzog und schließlich neben dem Kamin zum Liegen kam. Nur noch ihre brennenden Hände zappelten jetzt noch, während die Flammen nach ihren Armen griffen, und als eine von ihnen das Feuerholz im Kamin berührte, da loderte es hell und blendend auf. Es war, als hätte sich Beliars Höllenfeuer inmitten des Hauses aufgetan.
    Keine Sekunde später raste ein kleiner, wirbelnder Schatten durch den Raum, geradewegs aus der Mitte der Werkstatt auf das entfachte Kaminfeuer zu. Chani entwich ein überraschter Laut, als Fanni ihre Beine zur Seite drückte – Hrothgar schaute sich verwundert zu ihr um – und Regis nutzte seine Gelegenheit. Er riss sich vom Boden los, sprang über eines der am Boden lodernden Feuer hinweg und riss Chani von den Beinen. Schmerzhaft knackte es in seinem Rücken, als er gemeinsam mit der Kultistin zu Boden ging, und klackernd kullerte der kleine Runenstein über den Boden, rollte durch die Werkstatt bis hin zum Kamin...
    ...wo sich eine blasenübersäte, halb verkohlte Hand um ihn schloss.
    Gerade rechtzeitig erkannte Regis, was geschehen würde und rollte sich von Chani weg, bevor ein infernalisches Glühen aus jeder Pore ihres Körpers schoss. Eine gewaltige Stichflamme ragte bis zur Decke des Raumes auf, als Chani mit Haut und Haar, von Kopf bis Fuß in Brand geriet. Sie schrie nicht, sie rührte sich nicht. Von einem Moment auf den anderen war sie nur noch schmelzendes Fleisch.
    „Sie wollte mich leiden lassen“, krächzte Anja und richtete den Runenstein auf Hrothgar, der auf sie zugerannt war, aber nun auf halbem Wege stehen blieb. „Aber das hat sie jetzt davon. Hat sie nicht verdient... dass ich es so schnell gemacht habe.“
    Hrothgar starrte sie mit versteinertem Blick an. Sein Langschwert bebte in der Luft, aber er wusste, dass jeder Schritt in Richtung seiner Gegnerin gleichzeitig sein letzter sein konnte.
    „Wirst du mich jetzt...?“
    „Hau schon ab“, röchelte ihm Anja hustend und spuckend entgegen. „Denkst du, ich mache das gerne? Verzieh dich und komm nie wieder – und vor allem, vergiss den ganzen Scheiß mit dem Schläfer, hast du verstanden!“
    „Danke.“
    Es war alles, was Hrothgar sagte, bevor er sich umwandte und mit strammem Schritt an Regis und seiner verbrennenden Gefährtin vorbei zur Tür ging. Sekunden später waren sie allein, inmitten der sich ausbreitenden Flammen: Er, Anja und Fanni, die sich längst ihre eigene Kleidung vom Leib gefressen hatte, die nackt vor dem Kamin kauerte und ins Feuer starrte.
    Regis wollte etwas sagen, irgendwas – es musste doch etwas gesagt werden nach all dem, was geschehen war. Aber als sich Anja zu ihm schleppte, den Runenstein zu Boden fallen ließ und sich neben ihn auf die Dielen setzte, da wollte ihm nichts in den Sinn kommen.
    Stumm saßen sie Seite an Seite und sahen zu, wie sich die beiden langen, schwarzen Flecken am nackten Rücken ihrer Tochter wölbten. Wie etwas darum rang, an die Oberfläche zu dringen, ans Licht zu kommen. Wie es schließlich durch die Haut brach und sich zu beiden Seiten hin ausbreitete, groß und schwarz und im Flammenlicht schillernd. Kurz standen die beiden schwarzen Flügel, endlich entfaltet, ganz reglos in der Luft, dann aber gerieten sie wieder in Bewegung und Fanni begann zu flattern. Sie drehte sich vom Kamin weg, machte ein paar vorsichtige Hüpfer, dann ein paar gewagtere, und ihre Flügel schüttelten sich das Fett der unteren Hautschichten aus den Poren. Sie sprang zum großen Feuer hinüber, das einmal Chani gewesen war, schwang sich ein weiteres Mal in die Lüfte, und dann flog sie endlich, flog eine Handbreit über dem Boden, und wollte nicht mehr landen.
    Regis und Anja schauten zu, wie sie ihre Kreise um das Feuer zog, bis die Flammen das Dach erreicht hatten.

  7. Beiträge anzeigen #7 Zitieren
    Deus Avatar von Laidoridas
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    Da war er wieder.
    Jahre waren vergangen, vieles war geschehen, aber die Bank war die gleiche geblieben. Sie hatte geduldig auf ihn gewartet, hatte ihn seinen Kram machen lassen, in der sicheren Gewissheit, dass er irgendwann wieder zu ihr zurückfinden würde.
    Jetzt war es so weit, jetzt hatte sie ihn wieder, und alles war wieder wie damals. Er hatte kein Zuhause, keine Arbeit. Keine Zukunft. Aber wenigstens war er diesmal nicht allein.
    „Na, was sagst du, Fanni? Hat dir Mama da nicht was Feines gestrickt?“
    Anjas fröhliche Miene geriet ins Wanken, als ihr Fanni, die vor der Bank in der Luft flatterte, den schönen neuen Strickpulli aus den behandschuhten Händen riss und gierig ein großes Stück heraus biss.
    „Daran werd ich mich wohl erst noch gewöhnen müssen“, seufzte Anja. „Aber wenn sie so mehr Freude daran hat als wenn sie ihn trägt...“
    „Guten Morgen, ihr drei“, grüßte sie Thorben, der gerade gemeinsam mit Bosper vom Angeln zurück kam. „Auch schon so früh auf den Beinen? Und... Flügeln?“
    „Du weißt ja, wie Anja ist“, sagte Regis, obwohl er wusste, dass Thorben keinesfalls wusste, wie Anja war. „Die hält einen immer auf Trab.“
    „Achja, wegen der dicken Biester...“ Bosper war anzusehen, dass ihm die Sache etwas unangenehm war und er sie so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte. „Hab gestern nochmal bei dem Händler von’n Südlichen nachgefragt, von dem ich die hatte... Grabmottenlarven war’n das. Tja. Wär das auch geklärt.“
    „Grabmottenlarven?“, wiederholte Regis.
    „Klingt nicht so schön, ich geb’s ja zu. Und nochmal kaufen würd ich die jetzt auch nicht unbedingt. Aber, wenn man’s so sieht, mit den Flatterdingern und so...“ Bosper nickte knapp in Richtung von Fanni, die gerade Strickpullifetzen mümmelnd ein paar Pirouetten in der Luft machte. „...sieht’s doch eigentlich ganz possierlich aus, oder?“
    „Lässt sich ja jetzt eh nicht mehr ändern“, seufzte Regis, der Bosper gar nicht richtig böse sein konnte. Immerhin war es ja seine eigene Schuld gewesen, dass er Fanni an den Ködereimer gelassen hatte, auch wenn die Folgen natürlich kaum absehbar gewesen waren. Aber Regis war zuversichtlich, dass er sich mit der Zeit schon auf die gewissen Verhaltensauffälligkeiten seiner Tochter einstellen würde. Mittlerweile war es zu einer beinahe liebgewonnenen Routine geworden, sie ständig von irgendwelchen Fackeln, Kerzen und Kaminen wegzuzerren. Und wenn Anja und er sich erst einmal ein paar Lederklamotten zusammengenäht hatten, dann würden sie vermutlich auch nicht länger in zerbissenen Kleidern herumlaufen müssen. Vermutlich war Fannis kleine Besonderheit eine reine Gewöhnungssache.
    „Und wie geht es jetzt weiter mit euch?“, fragte Thorben, vielleicht auch um den Bogner von dem etwas ungemütlichen Thema zu erlösen. „Ihr könnt doch nicht die ganze Zeit hier auf der Bank sitzen.“
    Regis wandte den Blick nach links und schaute die Straße hinab zum großen, schwarzen Haufen aus Asche und Trümmern, der einmal sein Lebenswerk gewesen war. Ob er so etwas wie seine Werkstatt irgendwann noch einmal wieder haben würde?
    „Erstmal schon“, gab Anja zurück. „Aber uns wird schon noch was einfallen. So war das ja bei dir damals auch, nicht wahr, Regi?“
    „Also, du weißt ja, Regis“, brummelte Bosper, „normalerweise könntest du natürlich sofort bei mir als Lehrling anfangen...“
    „Bei mir natürlich auch“, fiel ihm Thorben ins Wort. „Du weißt, ich würde dich liebend gerne als Lehrling nehmen, wenn...“
    „...wenn ihr nicht schon beide einen hättet, ich weiß schon“, beendete Regis den Satz. „Macht euch da mal keinen Kopf, ich komme zurecht. Aufs ständige Pfeile schnitzen und Bretter sägen hätte ich eh keine Lust, wisst ihr doch. Wir können ja bis auf Weiteres im Hotel schlafen, und solange wir nachts ein Dach über dem Kopf haben, ist alles halb so schlimm.“
    „Wirklich zu lieb von Hanna, dass sie uns kostenlos bei sich übernachten lässt, oder?“, sagte Anja und hielt ihrer Tochter das letzte Stückchen Strickpulli an den Mund.
    „Wirklich nicht übel von der“, stimmte ihr Bosper zu. „Würde bestimmt nicht jeder machen.“
    Regis musste ein bisschen in sich hinein lächeln, als er daran dachte, dass auch Hanna ihnen ihr großzügiges Angebot erst nach einem längeren Vieraugengespräch unterbreitet hatte. Letzten Endes hatte ihm Valentino sogar noch einen Gefallen damit getan, dass er ihm die Gelegenheit dazu gegeben hatte, die unterirdischen Gewölbe der Kanalisation zu erkunden.
    „Fanni... lass das bitte...“
    Mit gekräuselter Stirn versuchte Regis seine Tochter davon abzuhalten, ihr Mahl an seinem schon arg zerfledderten Mantel fortzusetzen. Das gefiel ihm auch deshalb nicht, weil er noch immer nicht sicher war, dass wirklich alle Abwässer der Kanalisation aus ihm herausgewaschen waren. Er wollte doch nicht, dass Fanni sich den Magen verdarb.
    „Da hat sich wohl jemand immer noch nicht satt gefuttert“, stellte Anja amüsiert fest. „Mal schauen, was ich hier noch für dich habe...“
    Sie bückte sich nach ihrer Tasche, die sie aus der brennenden Werkstatt hatte retten können, und kramte darin auf der Suche nach etwas Flauschigem herum. Regis sah, wie sich der Schmerz auf ihrem Gesicht abzeichnete, als ihr linker Handrücken über einen Knopf an der Tasche schrammte. Er wusste natürlich, wie es unter den Handschuhen aussah, und er konnte sich nicht dazu bringen, großes Mitleid zu empfinden. Seine eigenen Hände hatte sie ja schließlich auch kaputt gemacht, und obwohl er sich einbildete, dass das Zittern in den Tagen seit dem Brand etwas abgeklungen war, wusste er noch immer nicht zu sagen, ob sie jemals wieder ganz die alten sein würden. Da geschahen ihr ein paar verkokelte Finger ganz recht, fand Regis – auch wenn er diesen Gedanken bisher lieber für sich behalten hatte.
    „Nichts mehr da“, konstatierte Anja. „Hm, und ich dachte, ich hätte noch ein schönes dickes Wollknäuel übrig gehabt. Hast du das etwa gerade heimlich weg gefuttert, Fanni?“
    „Puh“, machte Bosper. „Die Kleine frisst euch ordentlich was aus’m Geldbeutel, was?“
    Regis nickte mit vielsagendem Blick. Noch hatte er ein bisschen was von dem Gold aus den Stiefelverkäufen übrig, das er vor dem Feuer hatte bewahren können, aber das Ledersäckchen wurde mit jedem Tag ein ganzes Stück dünner. Trotzdem konnte er nicht allzu besorgt darüber sein. Anja hatte recht. Gemeinsam würde ihnen rechtzeitig etwas einfallen. Das war doch schon immer so gewesen.
    „Worauf hättest du denn Hunger, Fanni?“, wandte sich Anja an ihre Tochter, die ihr eine Antwort schuldig blieb. „Ein schönes buschiges Keilerfell? Oder ein dickes Büschel frisch geschorener Schafswolle? Naja, wir werden schon irgendwas finden, was dir schmeckt.“
    Als sie ihre Hand wieder aus der Tasche zog, sah er, wie sich ihre Finger langsam um die ovale Wölbung krümmen wollten, die sich unter dem Leder des Handschuhs an ihrem Handteller abzeichnete.
    „Was meinst du, Fanni... wer soll denn mal flugs für dich auf den Markt gehen und was Feines für dich aussuchen? Mama oder Papa?“
    Regis war bereits aufgesprungen, noch bevor sie den Satz beendet hatte.
    „Papa“, sagte er hastig. „Papa geht schon.“
    „Lieb von dir, Regi“, sagte Anja. „Du bist der Beste.“

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